Hinter den Masken

Bernd Teuber

Etwas war sonderbar.

Etwas, das Natalie Uhlen sonst vertraut vorkam. Aber was?

Irgendwo war ein Hauch von Bedrohung - aus einer Richtung, die sie nicht eindeutig bestimmen konnte.

Nachdenklich ließ die junge Frau ihre Blicke über das bunte Farbenmeer schweifen. Venedig, die zeitlose Stadt der Gondeln, bot schon immer ein berauschendes Spiel aus behauenem Stein, Gemälden von Tintoretto, Michelangelo und Tizian, Reliquien längst verstorbener Heiliger, der Architektur Berninis und Träumen, die auf ungezählten Pfählen ruhten, von denen die Gebäude getragen wurden und die nun langsam verfaulten.

Venedig - die Perle der Adria. Eine Wiege der europäischen Kultur. Eine Stadt, die es wie kaum eine andere auf der Welt verstand, Feste zu feiern. Gemein war allen Veranstaltungen, dass Venedig sich von seiner Glanzseite zeigte, und das bereits seit jener Zeit, als noch der Doge über die Piazza San Marco schaute.

Doch in diesem Jahr schien es das Wetter nicht besonders gut mit dem Carnevale di Venezia zu meinen. Dichte Nebelschwaden zogen von der Lagune in die Stadt herein und tauchten die Menschen hinter den bunten Masken in ein verschwommenes graues Licht. Der eben noch sonnige und goldene Februartag hatte sich innerhalb kürzester Zeit in einen düsteren Abend verwandelt.

Natalie wurde von der Menge mitgezogen, fort vom Markusplatz. Minuten später hatte sie das reich verzierte und polierte Venedig hinter sich gelassen und tauchte in eine Welt hinein, die gegensätzlicher kaum sein konnte, und in der nichts mehr von der meisterhaften Schönheit des Dogenpalastes oder der beeindruckenden Pracht der Basilica di San Marco zu erahnen war. Eine kleine schmucklose Brücke führte über einen der unzähligen schmalen Kanäle. Die Gegend war wie ausgestorben. Natalie sehnte sich plötzlich nach der Menschenmenge und der Fröhlichkeit. Doch als sie sich umwandte und gehen wollte, stand auf einmal ein Mann hinter ihr. Er trug das Kostüm des »Pantalone«, eines venezianischen Kaufmanns mit schwarzer Maske und rotem Gewand, das seinen Körper komplett verhüllte. Er versperrte Natalie offenbar willentlich den Weg. Insgeheim wünschte sie sich, ihre Freundin hätte sie niemals dazu überredet, zum Karneval nach Venedig zu fahren. Schuld war einzig und allein Karin!

*

»Nun überlege doch mal«, hatte sie gesagt. »Wir beide beim Carnevale di Venezia

»Ach, ich weiß nicht«, erwiderte Natalie vorsichtig. Sie gehörte nicht gerade zu den abenteuerlustigen Menschen. Ihren Urlaub verbrachte sie meistens an der Nordsee oder im Schwarzwald. Ihr Job als Sachbearbeiterin bei einer Versicherung bot ebenfalls nicht allzu viel Abwechslung. Natalie war Anfang dreißig, wohnte noch bei ihren Eltern und hatte keinen größeren Wunsch, als endlich einen netten Mann kennenzulernen, mit dem sie eine Familie gründen konnte. Nur in einem versteckten Winkel ihres Herzens fürchtete sie sich davor, ihr Leben könnte immer so langweilig bleiben. Warum brach sie nicht aus und suchte irgendwo anders ihr Glück?

Vielleicht bin ich nicht besonders mutig, dachte Natalie, während sie Karin nur halb zuhörte. Aber nun war ihre Freundin zu Besuch aus Dortmund da und machte ihr dieses Angebot. »Ingo hat zurzeit beruflich sehr viel zu tun, und ich denke gar nicht daran, deshalb auf zwei Wochen Venedig zu verzichten«, erklärte sie. Ingo war ihr aktueller Freund. »Also, was ist? Kommst du an seiner Stelle mit?«

»Ich...«

»Ach, Natalie! Willst du nicht ein einziges Mal in deinem Leben etwas richtig Aufregendes tun?« Karin blickte sie prüfend an und meinte dann zufrieden: »Na, siehst du.«

Natalie hatte überhaupt nichts gesagt, aber offenbar verriet sie das Leuchten in ihren Augen.

»Dann ist es also abgemacht?«, freute sich Karin.

»Augenblick mal, was soll ich denn meinen Eltern sagen?«

»Dir wird schon was Passendes einfallen«, erwiderte ihre Freundin lachend.

Natalie zog die Stirn in Falten. Das sagte sich so leicht. Aber wie brachte man den eigenen Eltern bei, dass man plötzlich hinaus in die Welt wollte? Und dann ausgerechnet nach Venedig?

»Du kannst doch nicht ganz allein fliegen«, hatte ihr Vater gesagt. »Da kann dir sonst was passieren. Vielleicht wirst ausgeraubt oder von einem Auto überfahren.«

»Wenn überhaupt, dann von einer Gondel«, murmelte Natalie.

»Was?«

»Nichts, Papa. Mach dir keine Sorgen. Mir wird nichts passieren. Ich kann schon auf mich aufpassen. Außerdem ist ja Karin dabei.«

»Umso schlimmer«, sagte ihre Mutter.

»Hört auf, mich wie ein kleines Kind zu behandeln«, entgegnete Natalie gereizt. »Ich fliege mit Karin nach Venedig, und ich sehe nicht ein, was daran so schlimm sein soll. Schließlich bleibe ich ja nur zwei Wochen weg.«

Sie verließ das Wohnzimmer, rannte hinaus in die eisige Januarluft und atmete mehrmals tief ein. Mittlerweile freute sie sich auf das Abenteuer, auf das Unbekannte und auf den Karneval. Doch je näher die Abreise rückte, desto mehr verließ Natalie der Mut. Und als die beiden Frauen endlich im Flugzeug saßen, war sie nur noch ein Nervenbündel.

Doch das änderte sich, als sie landeten. Auf der Fahrt vom Flughafen »Marco Polo« in die Stadt schaute Natalie aus dem Fenster auf die Lagune. Der Anblick war atemberaubend. Ein Schiff der öffentlichen Bootslinien brachte sie zu einem kleinen, aber eleganten Hotel direkt am Canal Grande, nicht weit vom Fischmarkt. Natalie sah sich die vielen imposanten Palazzi an, die trotz ihrer teilweise bröckelnden Fassaden nichts von ihrer Pracht eingebüßt hatten. Hier und da zweigten kleine Kanäle ab. Sie wurden von Brücken überspannt und wirkten geheimnisvoll, beinahe Angst einflößend. Der Carnevale brodelte durch die Gassen und über die Brücken, zeigte sich in vorbeifahrenden Gondeln und Booten. Masken über Masken, wohin man auch sah. Die einen nicht besonders originell, die anderen offenbar direkt der Commedia dell' Arte entsprungen, der berühmten italienischen Berufskomödie. Da ging ein eleganter »Cassandro« Arm in Arm mit dem weiß gekleideten »Pulcinella« vorbei, dort scherzte ein »Arlecchino« in buntem Kostüm und schwarzer Maske mit der scheuen Dienerin »Colombrina«. Beim Carnevale di Venezia lebte der Prunk vergangener Jahrhunderte wieder auf. Angesichts der vielen neuen Eindrücke schwirrte Natalie der Kopf. Am liebsten hätte sie sich im Hotel ein wenig ausgeruht, aber davon wollte Karin nichts wissen.

»Los komm schon. Wir besorgen uns Kostüme und stürzen uns ins Vergnügen. Ausruhen kannst du dich, wenn wir wieder zu Hause sind.«

Eine halbe Stunde später hatten sich die beiden Frauen in der Theaterschneiderei Il Baule passende Kostüme ausgeliehen und mischten sich unter das fröhliche Volk. Karin stellte in ihrem Kleid aus weißem Satin eine Ballerina dar. Natalie hatte sich für das Kostüm der historischen »Cantatrice«, der Sängerin, entschieden. Über weißem Untergrund lagen reich verzierte Stoffbahnen, schimmerten rot und golden, und gaben ihrem Gesicht einen nie gekannten Glanz. Der Ausschnitt war so tief, dass sie sich in der feucht-kalten Luft bestimmt eine Erkältung holen würde. Allerdings reagierten auch viele Männer auf diesen reizvollen Anblick. Binnen kürzester Zeit war Natalie von Verehrern umzingelt, die ihr eindeutige Angebote machten. Einige wurden sogar aufdringlich und betatschten ihren Hintern. Karin war irgendwo in der Menge untergetaucht.

Natalie verließ den Markusplatz, fand sich in einem Wohnviertel wieder und stand auf einmal dem geheimnisvollen Mann gegenüber. Angst durchfuhr sie. Der Fremde machte zwei Schritte auf sie zu und überreichte ihr einen Briefumschlag.

Natalie zögerte einen Moment. »Was ist das?«

»Eine Einladung, Signora

Erstaunt schaute sie ihn an. »Eine Einladung? Aber von wem?« Sie öffnete den Umschlag, holte eine Karte heraus und begann zu lesen: »Graf Vittorio di Ferroni lädt Sie hiermit zu seinem Maskenball in seinen Palazzo am Canal Grande ein.«

Verwundert schüttelte sie den Kopf. »Ich verstehe nicht. Ein Graf Ferroni ist mir vollkommen unbekannt. Wieso sollte er mich einladen? Liegt hier möglicherweise eine Verwechslung vor?«

»No, Signora«, entgegnete der Fremde. »Mein erlauchter Herr hat mir den Auftrag erteilt, nach einer Person Ausschau zu halten, die mir nobel und distinguiert erscheint. Dann soll ich ihr die Einladung überreichen und sie zum Palazzo bringen.«

»Aber das ist doch verrückt«, entfuhr es Natalie.

»Durchaus nicht. Es ist eine alte Tradition, die mein Herr schon seit etlichen Jahren pflegt. Und ich versichere Ihnen, dass seine Absichten ausschließlich ehrenvoller Natur sind. Sie haben nichts zu befürchten.«

Natalie zögerte noch immer. Irgendwie kam ihr die ganze Situation seltsam vor. Aber war sie nicht nach Venedig gekommen, um etwas Abenteuerliches zu erleben?

»Okay«, sagte sie. »Ich nehme die Einladung an.«

»Mein Herr wird erfreut sein.«

*

Lautlos trug die Privatgondel des Grafen Natalie und den Fremden durch die anbrechende Dunkelheit. Der Palazzo, auf den sie zusteuerten, stammte aus dem 16. Jahrhundert und sah entsetzlich heruntergekommen aus. Die Mauern bestanden aus dunklen wuchtigen Feldsteinen, die mit Moosflechten überwuchert waren.

Das verwinkelte Gebäude wirkte auf befremdliche Art verwirrend. Es gab zahlreiche Vorsprünge und Anbauten. Hier und da ragten aus dem spitzwinkligen Dach schlanke hohe Schornsteine hervor. Natalie spürte die ungeheure Traurigkeit, die in diesen Mauern wohnte. Jeder Stein schien von Tausenden unerfüllter Wünsche zu erzählen.

Als die junge Frau den Palazzo betrat, wurde sie vom Hausherrn freundlich mit einem Handkuss begrüßt. Er trug ein Kostüm aus dunklem Satin und einen roten Umhang. Sein Gesicht wurde von einer goldenen Maske verdeckt.

»Mein Name ist Graf Vittorio di Ferroni«, sagte er. »Und mit wem habe ich das Vergnügen?«

»Natalie… Natalie Uhlen.«

»Es ist mir eine Ehre, Signora. Darf ich Sie bitten, mich zu begleiten?«

Er fasste sie vorsichtig unterhalb des Ellenbogens an und führte sie mit sich. Dieser Mann war sehr zuvorkommend, erkannte Natalie, aber auf eine Art, die jeder Frau gefallen musste. Irgendwie rührend, dachte sie und warf einen Blick in den großen Spiegel auf der linken Seite. Sie wusste, wie gut sie aussah. Ihr Kleid war so einfach, dass es hinreißend extravagant wirkte. Jeder männliche Gast, der sich auf dem Ball befand, würde sie anstarren. Ebenso die Frauen, aber aus gegenteiligen Motiven.

Der festlich dekorierte Saal wurde von einigen Hundert Kerzen illuminiert. Auf der rechten Seite befand sich ein Buffet mit erlesenen Speisen und Getränken. Etwa zwanzig Pärchen waren in dem Raum versammelt. Ihre bunten, fantasievollen Kostüme glitzerten und funkelten. Die Gesichter waren hinter Masken verborgen. Als Natalie und der Graf eintraten, wurden sie von den Anwesenden stumm fixiert.

»Meine lieben Freunde«, sagte Vittorio. »Jetzt, da unser Ehrengast eingetroffen ist, kann unser kleines Fest beginnen.« Tosender Beifall folgte, nachdem der Graf seine kurze Ansprache beendet hatte. »Ich bitte, es mir nachzumachen!« rief er und gab ein Zeichen.

Musik brandete auf. Die vertrauten Klänge des Kaiserwalzers, obwohl bereits zu oft gespielt und an diesem Ort und zu dieser Stunde schon fast kitschig, erfüllten den Saal und hallten mühelos bis zum Canal Grande jenseits der Mauern hinüber. Woher die Musik kam, ließ sich nicht feststellen. Nirgendwo gab es eine Hi-Fi-Anlage oder eine Kapelle. Allerdings hatte Natalie auch keine Gelegenheit, lange darüber nachzudenken. Der Graf di Ferroni forderte sie auf, und die anderen Paare begannen ebenfalls zu tanzen. Nach kurzer Zeit hatte die junge Frau einen Großteil ihrer Nervosität verloren. Kerzenlicht und Musik bildeten die Bestandteile einer romantischen Umgebung. Der Graf bemühte sich um seine Tanzpartnerin, flirtete, zeigte sich von der charmantesten Seite und erzählte Geschichten. Immer wieder übertönten die Klänge der Musik lautes Gelächter. Die Speisen dufteten mit den Getränken um die Wette, die Gerüche der teuren Parfüms vermischten sich.

»Hätte nicht gedacht, dass man hier in Venedig noch so berauschende Feste feiert«, sagte Natalie.

»Aber selbstverständlich tut man das«, antwortete der Graf. »Und dieses Fest findet nur Ihnen zu Ehren statt.«

»Mir zu Ehren?« wiederholte Natalie erstaunt.

Der Graf antwortete nicht. Die junge Frau glaubte plötzlich einen kalten Hauch zu spüren, der von dem Mann ausging, aber das konnte auch Einbildung sein. Sie lächelte ihn an. Obwohl er sein Gesicht hinter einer Maske verbarg, fühlte sie sich aus einem unbestimmten Grund zu ihm hingezogen.

Der unsichtbare Discjockey steigerte ganz langsam die Musik und beschleunigte den Rhythmus. Natalie tanzte immer ausgelassener. Graf Ferroni zog seine Tanzpartnerin an sich und streichelte leidenschaftlich ihre Schultern. Wie Spinnen krochen seine Finger über ihre Haut.

»Kommen Sie«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Es ist soweit.«

»Was meinen Sie?« fragte Natalie erstaunt.

»Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«

Der Graf ging voran und Natalie folgte ihm. Zusammen gelangten sie in den großen Eingangsbereich. Dort öffnete er eine Tür und schob die junge Frau in das angrenzende Zimmer. Der Raum war geschmackvoll eingerichtet. Eine Wand wurde von einem großen Kamin beherrscht. Das Feuer flackerte angenehm und verbreitete eine wohlige Wärme. Davor stand ein schmiedeeiserner Ständer, der eine Feuerzange und einen Haken enthielt. Die Möbel waren aus dunklem Holz gefertigt und gaben dem Raum ein merkwürdig düsteres Ambiente. Es gab zwei Stühle, einen kleinen Tisch und einen altmodischen Schrank. Die Wände waren mit Hartholz getäfelt und hatten denselben dunkelbraunen Farbton wie die Deckenbalken.

Graf Ferroni ging zum Kamin und betätigte einen verborgenen Schalter auf der rechten Seite. Ein leiser ächzender Laut wurde hörbar. Staub fiel aus der sich vergrößernden Spalte zwischen den Holztafeln neben dem Kamin, als ein Teil der Wand langsam nach hinten zurückwich. Die entstandene Öffnung war mannshoch und etwas weniger breit.

»Folgen Sie mir«, sagte der Graf.

Natalie zögerte einen Moment.

Der Anblick des dunklen Eingangs ließ eine merkwürdige Nervosität in der jungen Frau aufsteigen, die sie sich nicht erklären konnte. Trotzdem setzte sie sich in Bewegung und stieg die Stufen hinab. Das Tapsen ihrer Füße erschien ihr ebenso laut wie das dumpfe Schlagen ihres Herzens. Die Treppe endete in einer großen Höhle. Statt der Dunkelheit, die sie anzutreffen erwartete, blickte sie nun in ein sanftes bläuliches Licht, das durch mehrere Ritzen im Felsgestein hereinbrach. Die Luft war wohlriechend und eher lau als feucht. Es war so hell, dass Natalie jedes Detail erkennen konnte. Die Höhle bestand aus Granit und ihre Wände funkelten wie Diamanten. Auf der linken Seite befand sich ein breiter Bootssteg, an dem eine Gondel befestigt war.

»Bitte, nehmen Sie Platz«, sagte der Graf und machte eine einladende Handbewegung.

Zögerlich folgte Natalie der Aufforderung. Vittorio di Ferroni löste das Tau, stieg in die Gondel und stieß sie vom Steg ab. Mit einer langen Stange stakte er das Boot vorwärts. Das Gewässer war nicht tief und die Fortbewegung sehr einfach – wenn man diese Technik beherrschte. Natalie war fasziniert von dem Anblick. Eine so prächtige Höhle hatte sie noch nie gesehen. Doch bald waren sie von dichten Nebelbänken umgeben. Nur hin und wieder ließ der Dunst sie frei und die junge Frau konnte einen Ausschnitt der funkelnden Felswände erkennen. Aber die meiste Zeit waren sie in den bleichen gespenstischen Nebel eingehüllt. Plötzlich musste Natalie an die Worte des Grafen denken.

»Was meinten Sie damit, als Sie sagten, dass das Fest mir zu Ehren stattfinden würde?«

»Es war Ihr Abschiedsfest«, entgegnete der Graf.

»Abschied? Wovon?«

»Vom Leben.«

»Was meinen Sie damit?«

»Dass Sie sterben werden.«

»Sterben?«

Ein eiskalter Schauer lief ihr über den Rücken. Was hatte das zu bedeuten? Befand sie sich in den Händen eines Wahnsinnigen, eines Psychopathen? Dann musste sie so schnell wie möglich aus diesem Boot heraus und ans Ufer schwimmen. Aber wie sollte sie das bewerkstelligen? Die Felswände zu beiden Seiten waren verschwunden. Dort befand sich jetzt nur noch ein formloses Grau, ein Hauch von Ewigkeit und Zeitlosigkeit, was vielleicht sogar beides zutraf.

Der Mann am Ruder schien ihre Gedanken zu erraten. »Eine Flucht ist sinnlos«, sagte er mit tonloser Stimme. »Niemand kann seinem Schicksal entgehen.«

»Was habe ich Ihnen denn getan? Warum wollen Sie mich töten?«

»Das will ich gar nicht.«

»Aber ...«

»Ich habe nur gesagt, dass Sie sterben werden. Jetzt, in diesem Augenblick. Sie haben einen Gehirntumor. Er ist für ihren Tod verantwortlich.«

»Woher wollen Sie das wissen?«, frage Natalie atemlos. »Wer sind Sie?«

»Ich bin Charon, der Fährmann. Ich bringe Sie ins Reich der Toten.«

Es waren die letzten Worte, die sie hörte. Danach gab es nur noch den Nebel, der sie in sich einschloss.