Mein Bruder ist kein böser Mensch
Katharina Erfling
Mein Bruder ist kein böser Mensch.
Nein, eigentlich ist er der fürsorglichste Mensch, den ich kenne. Er war immer für mich da und stand immer an meiner Seite. Deshalb war das hier das Mindeste, was ich für ihn tun konnte.
Immer tiefer führte mich mein Weg in den dunklen Wald. Meine Orientierung hatte ich bereits vor langer Zeit verloren, verließ mich einzig und allein auf mein Gespür. Ich spürte, dass ich auf dem richtigen Weg war. Ich war mir darüber genauso bewusst wie über die Tatsache, dass mein Name Jenna war.
Nur spärlich fiel Licht durch die dichten Tannenzweige auf den Weg. Fröstelnd zog ich die Jacke noch enger um mich. Es war ein milder Oktobertag, doch war ich derart überstürzt aufgebrochen, dass ich nicht daran gedacht hatte, mir eine dicke Jacke anzuziehen.
Der düstere Wald machte mir Angst. Überall schienen Gefahren zu lauern. Hinter jedem Baum und unter jedem Stein sah ich Raubtiere, die mich angreifen, oder Menschen, die mich entführen wollten. Und dann könnte ich meinem Bruder nicht mehr helfen, dann hätte ich alles vermasselt.
Seit ich den Wald betreten hatte, ließ mich das Gefühl verfolgt zu werden einfach nicht los. Leise, kaum vernehmbar, hallte eine Stimme durch die Dunkelheit. Rief da jemand nach mir? Die Stimme war zu weit entfernt, ich konnte sie nicht verstehen. War es mein Bruder?
Natürlich!
Halte durch, ich komme!
*
»Bleib stehen!«
Die Tränen liefen meine Wangen hinab, während ich durch das morgenfeuchte Gras stapfte. Immer wieder blitzte das helle Fell auf und kurz schien ich jedes Mal den Kopf des Schafes zu sehen, das nach mir sah, ehe es wieder im Unterholz verschwand. Ich hätte schwören können, dass das kleine freche Tier mich auslachte!
Mein ganzer Körper schmerzte. Die Verfolgungsjagd hatte mich quer über die unebene Wiese geführt, die Hügel hoch und wieder herunter, und durch zahlreiche Dornengestrüppe. Meine Arme waren bereits über und über mit roten Kratzern übersät und auch die Fußgelenke taten mir weh. Immer wieder war ich in Kaninchenlöchern und an Wurzeln hängengeblieben.
Ich durfte dieses Schaf nicht verlieren! Vater hatte es als Geschenk für den Bürgermeister von Hobbedink auserwählt. Wenn er erfahren würde, dass mir dieses preisgekrönte Tier entwischt war, setzte es bestimmt Schläge.
Plötzlich spürte ich, wie ich den Halt verlor und ein Ruck durch meinen Körper ging. Ich versuchte das Gleichgewicht wiederzufinden, doch es gelang mir nicht. Schnell zog ich die Arme schützend vor mein Gesicht, da fiel ich auch schon unsanft ins feuchte Gras. Rasend schnell wechselten sich der graublaue Himmel und das satte Grün des Grases ab, während ich den Berg hinabrollte. Von den unfreiwilligen Purzelbäumen wurde mir ganz schlecht und ich betete, diese Höllenfahrt möge bald ein Ende finden. Ich seufzte, als ich endlich zum Stillstand kam. Langsam und etwas benommen rappelte ich mich auf.
Verdammt, wo war das Schaf? Schnell kamen meine Lebensgeister zurück und mein erster Gedanke war: Vater wird mich umbringen!
Als ich mich umdrehte, sah ich als erstes Beine, die in einer zerschlissenen olivgrünen Hose steckten. Langsam wanderte mein Blick hinauf und fand sein Ziel in einem Paar grünlich brauner Augen, die mich fragend und mit hochgezogenen Brauen ansahen. Die fast pechschwarzen Haare fielen meinem Bruder verwegen ins Gesicht und waren kaum zu bändigen. Wie vom Sturm ergriffen schossen sie in alle Himmelsrichtungen.
Dann wanderte mein Blick wieder hinab und fiel auf das, was er im Arm trug. Mir fiel ein riesiger Stein vom Herzen, als es mich leise blökend begrüßte, ganz als wolle es sagen: »Da bist du ja endlich, warst viel zu langsam!«
»Gott sei Dank, Fynn! Du hast es gefunden!«
Er lachte. »Natürlich habe ich es. Einer musste es doch tun!«
Geknickt sah ich ihn an und vergrub die Hände im weichen Gras.
»Sei nicht traurig«, zwinkerte er mir lächelnd zu. Sein Lächeln ließ mich immer sofort alles Böse vergessen. Wenn er mich anlächelte wusste ich: Alles wird wieder gut!
Mit einer Hand hielt er das Schaf fest, die andere reichte er mir. »Komm schon. Wenn Vater sieht, dass du die Herde allein gelassen hast, gibt’s riesigen Ärger!«
Ängstlich biss ich mir auf die Unterlippe und ließ mir aufhelfen. Während ich neben meinem Bruder den Berg erklomm, dachte ich immer wieder darüber nach, was mein Vater wohl tun würde, wenn er mich erwischte. Er wäre sicherlich tierisch wütend und ich würde meine Unachtsamkeit mit harten Schlägen büßen.
Bald war die Herde wieder in Sicht. Alle waren noch beisammen, es war ihnen nichts geschehen. Ich hatte schon Sorge gehabt, dass ein Fuchs in meiner Abwesenheit die Gunst der Stunde genutzt hatte, um fette Beute zu machen. Vorsichtshalber ließ ich noch einmal den Blick zählend über die Tiere schweifen, doch sie waren vollzählig. Ich atmete auf. Gott sei Dank!
Doch meine Entspannung verflog, als ich eine Silhouette erkannte, die sich auf die Schafe zubewegte.
»Jetzt gibt’s Ärger,« murmelte Fynn leise und ich spürte seinen Arm, der sich beruhigend um mich legte. Er war nur knapp zwei Jahre älter als ich, dennoch überragte er mich um mehrere Köpfe. Seine Ruhe gab mir die Sicherheit, die ich jetzt so dringend benötigte.
Humpelnd kam unser Vater auf uns zu, sein Gesicht wutverzerrt und die Augen zu Schlitzen verengt. Seit einem Unfall im letzten Jahr konnte er sein Bein nicht richtig bewegen. Die Wut darüber ließ er, so oft er nur konnte, an seinen Kindern aus.
»Wo bist du gewesen?«, brüllte er mir entgegen und fuchtelte mit seinem Gehstock wild in der Luft herum.
»Vater, ich kann das erklären ...«
Fynn trat vor und stellte sich schützend zwischen mich und unseren Vater. Ein lauter Knall hallte durch die Luft. Perplex hielt er sich die schmerzende Wange.
»Du brauchst mir gar nichts zu erklären! Du hättest im Stall bei den trächtigen Tieren sein sollen. Was wolltest du hier?«
Mein Bruder wollte zum Reden ansetzen, doch Vater ließ ihn gar nicht zu Wort kommen. »Das wird Konsequenzen haben!« Seine Stimme war vor Zorn ganz leise. Er machte eine rasche Handbewegung. Wir wussten genau was jetzt kommen würde.
Langsam drehten wir ihm den Rücken zu und ließen uns auf die Knie sinken. Fest umschloss Fynns Hand die meine, als der Stock immer härter auf unsere Rücken niedersauste. Wir sahen uns tief in die Augen und halfen uns gegenseitig, die Schmerzen auszuhalten ...
*
Immer mehr beschleunigte ich meine Schritte bis ich gerade so über den Waldboden flog. Meine Brust pochte vor Anstrengung, doch ich konnte mir nicht erlauben, langsamer zu werden. Mein Bruder verließ sich doch auf mich. Ich durfte ihn nicht enttäuschen!
Die Stimme wurde immer lauter, doch noch immer hörte ich nicht mehr als einen Hauch, der durch die Blätter fuhr.
Vorsichtig wich ich den Wurzeln aus, die hoch aus dem Boden hinausragten und mich zu Fall zu bringen versuchten. Doch plötzlich blieb ich stehen, rammte mit aller Kraft meine Beine in den Boden, stürzte beinahe. Erschrocken sah ich, was da vor mir stand; oder besser gesagt, schwebte. Es war die Gestalt einer Frau, viel mehr aber ein heller Schatten, nicht mehr als eine durchscheinende, fast unsichtbare Silhouette, die eine Frau nur erahnen ließ.
*
Ihre Stimme hallte wie heller Glockenklang durch den Wald, als sie sich umdrehte und davonschwebte. Ich spürte die Enttäuschung, die mich tief in meinem Inneren auffraß, doch dann mischte sich unter diese Traurigkeit eine unbändige Neugierde. Wer war diese Frau? Und noch wichtiger. Was war sie? Wieder begann ich zu laufen, verlängerte meine Schritte.
Der helle Schatten huschte vor mir her, versteckte sich hinter Bäumen und schoss wieder hervor. Und stets erklang das helle Lachen. Wütend beschleunigte ich meine Schritte, machte einen Satz über einen Baumstamm, der quer über dem Weg lag. Lachte sie mich etwa aus?
»Hey warte!« Laut rief ich dem Schatten hinterher, doch die einzige Antwort war ein weiteres Lachen. Plötzlich erinnerte ich mich an jenen Tag auf dem Feld.
Doch heute war mein Bruder nicht da, konnte mir nicht helfen. Ich musste es allein schaffen!
Wieder verlängerte ich meine Schritte. Mein ganzer Körper schmerzte, doch ich ignorierte es. Das Wichtigste war, eine Antwort zu finden. Wer war sie?
Der Schatten stoppte in einiger Entfernung. Vor mir lag ein breiter Fluss. Vorsichtig kletterte ich den steinigen Hang zum Ufer hinab.
Das Wasser des Flusses war nahezu pechschwarz, so dunkel, dass man nichts in ihm erkennen konnte. Unsicher sah ich die Frau an. Wieder erklang ihr Lachen. Es schien mir fast, als würde sie mich zu sich winken. So groß auch meine Angst davor war, den Fluss zu überqueren, wollte ich doch wissen, was es mit dieser seltsamen Frau auf sich hatte. Und so nahm ich allen Mut zusammen und tauchte in das dunkle Wasser ein. Erschrocken schrie ich auf, als die ganze Welt um mich herum in der Dunkelheit verschwand.
*
»Warum flüstern die so?«
Gebannt verfolgten wir von unserem Versteck aus unsere Eltern, die unten im Wohnbereich miteinander tuschelten. Was hatten die beiden vor? Immer konnte ich Satzfetzen wie »... das ist unser Ende ...«, oder »... wir müssen irgendetwas unternehmen ...« hören, doch verstand ich nicht, worüber die beiden sprachen. Steckten wir in Schwierigkeiten?
»Mach dir keine Sorgen«, flüsterte Fynn.
Er versuchte mich zu beruhigen, doch ich spürte, dass er genauso viel Angst hatte wie ich.
Unsere Mutter lag wie immer auf ihrem Bett, die Augen starr an die Decke gerichtet, der Mund halb offen. Sie schien Vater nicht wirklich zuzuhören. In den letzten Jahren war sie immer schwächer geworden, hatte immer weniger gesprochen.
Seit dem letzten Winter sprach sie nur wenige Worte, stand nur noch selten aus ihrem Bett auf. Ich konnte ganz genau erkennen, wie sehr es unseren Vater schmerzte.
Plötzlich sah er zu uns hinauf. Schnell duckten wir uns und hofften, dass er uns nicht gesehen hatte. Wenn er uns dabei erwischte, wie wir ihn belauschten, setzte es bestimmt Prügel.
Dann hörten wir seine Schritte. Schnell huschten wir zurück in unsere Betten, doch die Schritte verklangen. Angestrengt versuchte ich zu hören, was in dem Raum unter uns geschah. Ich hörte die dumpfe Stimme meines Vaters, die Tür, die knarrend aufging, dann eilige Schritte die Treppe hinauf. Angst schnürte mir die Kehle zu und ich stellte mich schlafend. Unbarmherzig wurde meine Decke zurückgerissen. Ein harter Griff umfasste meinen Arm und zog mich hoch.
»Aua!«, schrie ich auf, als mein Vater mich hinter sich her zog. Ich sah mich um. Fynn wurde von einem fremden Mann mit sich gezogen.
»Was soll das Vater?«, schrie ich, den Tränen nah. »Was machst du mit uns?«
Doch Vater antwortete nicht.
Er sah mich nur mit einem Blick an, den ich nicht zu deuten wusste.
Ich verstand nicht, warum er uns fortschickte.
Wir wurden unsanft auf einen Karren geworfen. Ängstlich klammerte ich mich an meinen Bruder. Ich spürte, wie schnell sein Atem ging, und sah die gleiche Panik in seinen Augen geschrieben, die auch ich fühlte. Wie Ertrinkende hielten wir einander fest, gaben uns gegenseitig Halt, während die Kutsche über den unebenen Weg rollte. Ein letztes Mal warf ich einen Blick auf mein Elternhaus, auf die Weiden, auf denen ich meine Kindheit verbracht hatte.
Dann wandte ich mich ab.
Tränen verschleierten meine Sicht.
*
Ich fiel immer tiefer in die Dunkelheit. Der Wind strich rasend schnell an meinem Körper vorbei und wirbelte mich durch die Luft. Meine Orientierung hatte ich vollends verloren. Ich wusste bald schon nicht einmal mehr, wo oben und wo unten war. Grell dröhnte das Lachen der Frau in meinen Ohren.
Es schien einfach nicht enden zu wollen. Immer tiefer fiel ich und fürchtete mich vor dem harten Aufprall. Ich spürte, wie ich auf dem Wasser aufschlug und das kühle Nass mich umfing. Rudernd riss ich die Arme hoch, versuchte mich über der Oberfläche zu halten, doch eine unsichtbare Hand zog mich in die Tiefe. Verzweifelt strampelte ich um mein Leben, hustete, als ich die lebensrettende Luft in meine Lungen sog. Immer wieder spürte ich das Nass auf meinem Gesicht. Meine Augen brannten.
Wieder trat ich zu. Diesmal schien ich meinen Angreifer getroffen zu haben. Mit einem lauten Aufschrei gab er mich frei.
Panisch versuchte ich Land zu erreichen, doch durch meine Augen sah ich nur noch wie durch ein milchiges Fenster. Wo war das rettende Ufer? Oder war ich bereits verloren? Immer weiter tastete ich mich vorwärts, hörte ein Ächzen und Stöhnen hinter mir. Mein ganzer Körper spannte sich vor Angst und ich spürte, wie meine Kehle eng wurde. Ich durfte jetzt nicht aufgeben. Nur noch ein kleines Stück weiter ...
Ich seufzte erleichtert auf, als ich ein Büschel Gras zu fassen bekam. Mit letzter Kraft zog ich mich aus dem Wasser. Vorsichtig versuchte ich meine Augen von dem Nass zu befreien, was keine einfache Angelegenheit war. Es schien fast, als wäre es kein normales Wasser, das mir von den Lidern tropfte, sondern ein übelriechender und klebriger Sirup. Nur allmählich konnte ich wieder klar blicken.
Als ich mich umsah, musste ich einen Aufschrei unterdrücken, sprang panisch zurück und spürte die raue Rinde eines Baumes, an den ich mich presste, in meinem Rücken. Wo war ich, verdammt nochmal?
*
»Wo bringen die uns hin, Fynn?«
Meine Stimme zitterte und ich presste mich noch enger an meinen Bruder. Seine Arme schlossen sich fest um mich, versuchten mich zu beruhigen. Doch ich spürte seinen rasenden Herzschlag. Er konnte mich nicht belügen. Er hatte genauso viel Angst wie ich.
»Ich weiß es nicht Jenna.« Seine Stimme war kaum zu hören, schwach und dünn.
Noch immer saßen wir in der Kutsche, die uns in ein neues Leben führen würde.
»Was geschieht nur mit uns?« Ich schluchzte, spürte wie die Tränen unbarmherzig meine Wangen hinabrollten. Was erwartete uns? Und wohin werden wir kommen?
»Hey, Ruhe da hinten!« Der streng nach Fisch stinkende Mann mit dem fast kahlen Kopf drehte sich um. Seine Faust sauste durch die Luft, doch sie verfehlte uns. Panik schnürte mir die Kehle zu. Halt-suchend klammerte ich mich an Fynn.
Die Kutsche fuhr ruckelnd immer weiter. Wir saßen zwischen Kisten, die dem Geruch nach zu urteilen, mit Fisch gefüllt waren. Bei jedem Ruck der Kutsche bewegten sich die Kisten immer wieder zu uns hin und wieder weg. Es war nur noch eine Frage der Zeit bis sie uns rammen würden.
Ich dachte schon, die Reise würde niemals enden. Doch dann, als ich gar nicht mehr damit gerechnet hatte, ging ein Ruck durch meinen Körper und die Kutsche kam zum Stehen.
Was würde jetzt geschehen?
Ein Mann streckte seinen Kopf zu uns hinein. Es war nicht der stinkende Fischmann. Ganz im Gegenteil. Seine grauen Haare lagen gepflegt zurückgekämmt. Und soweit wir es erkennen konnten, zierte ein elegantes Jackett seinen Oberkörper. Naserümpfend zupfte er sich seinen Schnauzbart zurecht und zog dann den Kopf wieder aus der Kutsche.
Wir konnten hören wie sich der Mann mit dem Fischmann unterhielt. Durch den Stoff der Kutsche konnte ich ihre Schatten erkennen. Wild gestikulierend redete der dickbäuchige Fischverkäufer auf den edlen Mann ein. Wovon wollte er ihn überzeugen? Dann hob der Dünnere beschwichtigend die Hände, zählte etwas ab und reichte es dem Fischmann.
Was taten die da?
Handelten sie um Fisch?
Dann öffnete sich wieder der Vorhang. Das Gesicht des Fischverkäufers tauchte auf.
»Bewegt euch!«, zischte er zornig und griff nach unseren Beinen, als wir nicht sofort reagierten.
Hart schlugen wir auf dem Steinweg auf. Der Aufprall vertrieb alle Luft aus meinen Lungen, ich keuchte auf.
Als ich mich aufrappelte sah ich gerade noch, wie die Kutsche um die Ecke bog, bevor sie verschwand. Fynn hielt mir die Hand hin und zog mich hoch. Ängstlich klammerte ich mich an ihn.
»Was geschieht mit uns?«, flüsterte ich ihm ängstlich zu.
Vor uns stand der Mann, der mit dem stinkenden Kerl gehandelt hatte. Abschätzig sah er uns an, begutachtete uns von oben bis unten.
»Nun, zu irgendetwas werdet ihr wohl zu gebrauchen sein«, sagte er und zog wieder die Nase kraus. Er schlug die Hände dreimal zusammen und wartete. Auch wir warteten angespannt, was geschehen würde.
Ein Diener kam gelaufen. Seine stumpfen, braunen Haare waren fast vollständig von einer schiefen Mütze bedeckt, die Kleider am Leib schienen alt und zerschlissen.
Unterwürfig verbeugte er sich vor dem Edelmann. »Wie kann ich Ihnen behilflich sein, Lord Zeniber?«
»Nimm diese beiden mit dir. Schau, ob du nicht irgendetwas für sie zu tun hast.«
Der Diener nickte. »Jawohl, mein Herr!« Er verbeugte sich wieder und wartete bis der Lord verschwunden war, ehe er sich aufrichtete.
Der freundliche Ausdruck auf seinem Gesicht verschwand. Zornig sah er uns an. »Bewegt euch!«, zischte er wutentbrannt. »Macht schon! Oder ich werde euch Beine machen!«
Wir folgten dem Mann in das große Schloss. Staunend sah ich mich um. Diese Gemäuer steckten voller Geschichten. An den steinernen Wänden hingen viele Gemälde. Einige erzählten von großen Schlachten, andere von prachtvollen Hochzeiten und spannenden Turnieren.
»Jenna, hör auf! Der Kerl guckt schon wieder so!«, zischte Fynn mir ins Ohr. Ich beschleunigte meine Schritte, um nicht abgehängt zu werden.
Der Diener blieb vor einer Tür stehen und klopfte an. Eine brüske Frauenstimme rief laut: »Ja?«
Vorsichtig trat er ein und bedeutete uns, ihm zu folgen.
In dem Raum stand eine rundliche, große Frau vor einem dampfenden Kessel, die schulterlangen, rotblonden Haaren zu einem Dutt streng nach hinten gebunden. Erst als der Diener sie erneut ansprach, drehte sie sich um und betrachtete uns von oben bis unten.
Ihr Gesicht verwandelte sich in eine griesgrämige Fratze. »Wo hast du denn dieses Gesindel aufgelesen?!«
Betreten sah ich an mir herunter. Fynn spürte genau, was ich fühlte.
Er legte beschützend seinen Arm um mich.
»Lord Zeniber hat angewiesen, ihnen Arbeit zu geben. Tu mir bitte den Gefallen und nimm das Mädchen. Ich kann mich wirklich nicht um beide kümmern!«
Von der Frau kam nur ein Grummeln. »Na, von mir aus. Mädchen, komm her!«
Doch ich wollte nicht zu dieser unfreundlichen Frau. Wo würden sie Fynn hinbringen? Ich wollte nicht, dass er geht!
„»Fynn, wohin gehst du? Bitte ... ich will nicht hier bleiben. Bitte lass mich nicht alleine!«
»Wirst du wohl!«
Der unfreundliche Diener versuchte nach mir zu treten, doch ich wich gekonnt aus.
»Jenna, ist schon okay,«, flüsterte Fynn mir beruhigend ins Ohr. Er nahm mich sanft in den Arm und strich mir über das Haar. »Ich bin nicht weit weg. Ich lasse dich nicht allein!«
Mit diesen Worten folgte er dem Diener und ließ mich neben der Frau in der Küche stehen. Als ich zu der Rothaarigen hinaufsah, wusste ich schon, dass die nächsten Wochen die Hölle werden würden.
*
Erschrocken presste ich mich noch stärker gegen den Baumstamm. Verdammt, wo war ich hier?
Vor mir leuchtete der Fluss, schien alleine den ganzen Wald zu erhellen. Der Wind trug ein Stöhnen zu mir herüber, das mir durch Mark und Bein ging. Panik schnürte mir die Kehle zu und ich spürte meinen vor Angstschweiß nassen Rücken an der rauen Rinde reiben.
Immer wieder erkannte ich Köpfe, die aus dem Wasser ragten. Aus leblosen Augen sahen sie mich an, die Münder weit aufgerissen. Doch dann verschwanden sie, schwammen davon.
*
Von weitem sah ich etwas auf mich zu schwimmen. Erst schemenhaft, dann immer deutlicher, konnte ich erkennen, was es war: ein Boot. Neugierig sah ich auf und kämpfte gegen die Angst an, die mich lähmte und an den Baum fesselte. Das kleine Boot kam immer näher. Eine Stimme drang zu mir herüber. »Was willst du hier?«
Es war ein Mann auf dem Boot, der zu mir sprach. Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen, sein ganzer Körper war in einen weiten schwarzen Umhang gewickelt, die Kapuze fiel ihm tief ins Gesicht.
Als ich nicht antwortete, fragte er wieder: »Was willst du hier?«
»Ich suche meinen Bruder ...«, flüsterte ich ängstlich.
Der seltsame Mann stützte sich auf eine hölzerne Stake, mit der er das Schiff am Ufer hielt. Und wieder fragte er mich, was ich hier tat. Hatte er mir denn nicht zugehört?
»Ich suche meinen Bruder! Kannst du mir helfen?«, wiederholte ich nun bestimmter. Ich versuchte meine Angst hinunterzuschlucken, was mir auch äußerlich gelang. In mir aber tobte ein wilder Kampf.
»Du gehörst hier nicht hin!«
Verständnislos sah ich den Mann an. »Was meinst du damit?«
»Dies ist nicht dein Platz!«
Langsam verzweifelte ich. Mit jeder Minute, die ich hier vergeudete, geschah mit meinem Bruder weiß Gott was. Ich musste ihn finden und retten!
»Bitte«, flehte ich ihn an. »Du musst mir helfen, meinen Bruder zu finden!«
Der Mann schien zu überlegen. »Ich kann dich über den Styx bringen«, antwortete er schließlich.
Mir fiel ein Stein vom Herzen. Endlich würde mir jemand helfen. Vorsichtig rappelte ich mich auf und ging auf das Boot zu.
»Danke ...«, murmelte ich.
Doch dann wurde ich plötzlich zurückgestoßen. Mit seinem Stock hielt der Mann mich davon ab, auf das Boot zu steigen.
»Was soll das?«, fuhr ich ihn wütend an.
»Du hast nicht bezahlt!«
»Was soll das heißen, ich habe nicht bezahlt?«
Die Gestalt verschränkte die Arme vor der Brust.
»Die Überfahrt kostet einen Obolus!«
Fassungslos sah ich ihn an. Meine Hoffnung, so schnell wie möglich von diesem Ort wegzukommen, schwand dahin. Ich sah mich um. Ich musste den Fluss überqueren, das war der einzige Weg. Aus irgendeinem Grund war ich mir, was das anging, plötzlich sehr sicher. Und schwimmen konnte ich nicht. Die Kreaturen würden mich wieder in die Tiefe ziehen. Das würde ich kein weiteres Mal überleben.
»Aber ich habe doch nichts ...« Ich fühlte, wie sich meine Augen mit Tränen füllten. »Ich habe keine Obolus für die Überfahrt.«
»Dann kann ich dir leider nicht helfen«, erklärte die vermummte Gestalt und stieß sich mit dem Stock vom Ufer ab.
»Warte!«, schrie ich dem Mann verzweifelt nach. »Irgendetwas muss ich doch tun können!«
Ich erwartete, dass der Kapuzenmann einfach weiterfahren und mich nicht mehr beachten würde. Doch er zögerte, schien zu überlegen. Schließlich drehte er sich um. »Es gibt da etwas, das du tun kannst.«
Mir fiel ein riesiger Stein vom Herzen. Freudestrahlend sah ich den Mann an. »Was ist es? Ich würde alles tun!«
»Im Herzen dieses Waldes wächst eine sagenumwobene Frucht. Der süße Geschmack und die feine Frische sind einfach unbeschreiblich. Leider kann ich in den Genuss nicht kommen. Ich bin dazu verdammt, die Seelen zu geleiten, und darf mein Boot nicht verlassen. Würdest du mir eine solche Frucht holen?“
Ich überlegte. Das war ja keine schwere Aufgabe, die er mir gestellt hatte. Über die Schulter sah ich zurück. Düster lag der Wald vor mir. War er gefährlich? Beim Gedanken an Raubtiere, die mich fressen konnten, lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. Aber ich durfte jetzt nicht kneifen. Ich musste meinem Bruder und aller Welt beweisen, dass mehr in mir steckte.
»Ich werde es tun!«, antwortete ich dem Fährmann mit fester Stimme. »Aber, wie sieht die Frucht denn aus?«
Ein raues Lachen ertönte. »Du wirst sie schon erkennen!«
*
Es fühlte sich an, als würde sich mein gesamter Körper vor Nervosität zusammenziehen. Die Fürsten des Umlandes waren in das Anwesen meines Herrn eingekehrt, um mit ihm zu speisen und den Sieg ihres Bundes über das Nachbarland zu feiern. Hedda, die unfreundliche Frau, die mich schon seit Wochen trietzte, hatte mich dazu abkommandiert, die Gemeinschaft zu bedienen. Sie wusste ganz genau, wie unangenehm mir das war. Jede Sekunde, die verstrich, wünschte ich mich mehr an einen anderen Ort.
Ungeschickt balancierte ich die Teller auf meinen dünnen Armen und versuchte mir die Atemtechnik ins Gedächtnis zu rufen, die Hedda mir gezeigt hatte, um das Gleichgewicht zu halten. Doch ich konnte mich einfach nicht erinnern. Und je fieberhafter ich suchte, umso unruhiger wurde ich.
»Verdammt Mädchen! Pass doch auf!« Wie ein tosender Fluss breitete sich der zinnoberrote Wein über dem Gewand des Fürsten und der perlmuttfarbenen Tischdecke aus. Als ich die Platte auswechselte, musste ich mit dem Ellbogen gegen das Glas gestoßen sein.
»Schau, was du getan hast!« Das Gesicht des Fürsten nahm die Farbe des Weines an, so rot war er vor Wut. Zornig erhob er die Hand zum Schlag. Ich duckte mich ängstlich und wartete. Doch der Schmerz, den ich erwartete, blieb aus.
Vorsichtig öffnete ich die Augen und blickte in das lächelnde Antlitz eines jungen Fürsten. Anders als bei den anderen Fürsten, waren seine Haare noch nicht von ergrauten Strähnen fast vollständig durchzogen. Die kurzen Haare leuchteten in einem hellen Haselnussbraun.
»Na aber, Loxlye. Sie werden doch wohl nicht Hand an dieses arme Mädchen legen!« Er gab einem seiner Untergebenen ein Zeichen. »Mein Diener wird Ihnen ein frisches Gewand geben.«
Der Fürst nickte zögerlich. Er wagte es scheinbar nicht, dem seltsamen jungen Mann Wiederworte zu geben. Er wirkte so jung. Warum hatten die anderen Fürsten so viel Respekt vor ihm?
»Es ist alles in Ordnung«, zwinkerte er mir zu und setzte sich wieder an seinen Platz neben meinem Herren, der die ganze Szene argwöhnisch beobachtet hatte.
Ich erwachte aus meiner Starre und lief mit den abgeräumten Platten in Richtung Küche.
»Autsch!« Ich hielt mir die schmerzende Wange. Wütend bäumte sich Hedda vor mir auf. »Du tollpatschiges dummes Huhn! Kannst du nicht aufpassen?«
»Es tut mir leid«, wimmerte ich leise. Der Schmerz in der Wange raubte mir beinahe den Atem.
»Du kannst froh sein, dass sich der junge Herr für dich eingesetzt hat. Ich hätte es jedenfalls nicht!«
Fragend sah ich sie an. »Der junge Herr?«
Hedda schüttelte den Kopf. »Was eine dumme Frage. Natürlich, der Sohn unseres Herrn! Er ist heute aus dem Krieg zurückgekehrt.«
Die Rothaarige drehte sich geschäftig um. Immer wieder hetzte sie von einem Tisch zum anderen, belegte die Platten und rührte in großen Töpfen, die auf dem Herd vor sich hin köchelten. Als der Duft des köstlichen Essens in meine Nase stieg, krampfte sich mein Magen schmerzhaft zusammen. Seit gestern hatte ich nichts mehr gegessen. Und angesichts meines Missgeschicks würde ich heute mit Sicherheit nichts mehr bekommen.
»Hier!«, schnauzte Hedda mich ungeduldig an und drückte mir Platten mit exotischen Früchten und anderen Delikatessen in die Hände. »Und jetzt ab, wieder raus mit dir!«
Mit Unbehagen trat ich durch den Dienstboteneingang in die große Halle, bewegte mich noch vorsichtiger als zuvor, tauschte die geleerten Platten gegen belegte aus und versuchte, nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, als es ohnehin schon der Fall war. Doch ich spürte seinen Blick auf mir, egal wohin ich mich auch bewegte. Nur kurz trafen sich unsere Blicke.
Der junge Herr sprach mit seinem Vater. Dabei horchte mehr dem ungebremsten Redeschwall des Alten, als dass er zu dem Gespräch beitrug. Doch sein Blick lag die ganze Zeit auf mir. Ich wandte meine Augen ab, senkte sie zu Boden. Versuchte mich einzig und allein auf meine Arbeit zu konzentrieren. Doch sein Blick durchbohrte mich und ließ meinen Körper heiß vor Nervosität werden. Ich mochte es nicht – wollte, dass er aufhörte. Doch er tat es nicht. Ich hoffte nur, dass das Essen endlich enden würde und ich vor seinen Augen fliehen konnte. Die Hilflosigkeit zerrüttete mich und diesmal war Fynn nicht da, um mir zu helfen.
Wie eine Irre rannte ich durch den stockdüsteren Wald.
Ich durfte keine Zeit verlieren.
Immer wieder blieb ich an Dornen hängen, welche tiefe Schnitte auf meinen Armen hinterließen, doch ich spürte den Schmerz kaum. Auch die Dunkelheit machte mir nicht so viele Probleme wie sonst. Eigentlich war ich schon immer ein ängstliches kleines Mädchen gewesen, das sich vor vielen Dingen fürchtete.
Doch jetzt war alles egal.
In diesem Moment zählte nur eines: Diese seltsame Frucht zu finden und die Suche nach Fynn fortzusetzen. Er würde dasselbe für mich tun, da war ich mir sicher.
*
Stolpernd lief ich eine Anhöhe hinunter. Ein kleiner Bach plätscherte dort und bahnte sich seinen Weg durch den unebenen Boden. Kleine rote Blumen wuchsen am Wegrand, schienen zu der kleinen Brücke zu führen, die das Gewässer überspannte. Langsam schritt ich auf die Brücke zu. Mein Kopf schien zu explodieren. Immer wieder schrie die Stimme in meinem Kopf, ich solle den Weg verlassen, solle bloß nicht die Brücke betreten.
Hätte ich doch auf sie gehört.
Doch zu spät.
Dann sah ich es.
Fernab des Ufers auf der anderen Seite wuchs eine Pflanze, schön wie die Morgenröte. Sie trug viele geöffnete Blüten, die sich einer nicht vorhandenen Sonne entgegenstreckten. Und doch schienen sie selbst zu leuchten, schienen die Lichtung zu erhellen. Die Blüten strahlten in allen Farben des Regenbogens. In der Mitte der Pflanze wuchs eine rundliche Frucht. Sie schien von einem samtigen gelben Pelz überwachsen zu sein. Kleine Stacheln traten aus der Haut hervor.
Neugierig beschleunigte ich meine Schritte. Dumpf hallten sie auf dem Holz der Brücke wider.
Plötzlich erstarrte ich.
Ein hoher Schrei erklang, fuhr mir durch Mark und Knochen. Ängstlich sah ich mich um.
Was war das bloß?
Auf einmal begann die Brücke unter mir zu beben. Wenige Sekunden blieb ich wie angewurzelt stehen, war nicht imstande mich zu bewegen. Dann kam wieder Leben in meinen Körper. Mit einem Satz sprang ich von der Brücke an das rettende Ufer.
Doch von dem Moment an, da ich das hölzerne Ungetüm verließ, hörte es auf zu rumoren und sich zu winden. Stille trat ein. Ich ließ mich auf dem feuchten Gras nieder und hielt mir den Kopf. Wo war ich hier bloß gelandet?
Dann fiel es mir wieder ein. Die Pflanze! Ich musste dem Fährmann die seltsame Frucht beschaffen, damit ich weiter nach meinem Bruder suchen konnte. Langsam pirschte ich mich an die Blume heran. Nach der Sache mit der Brücke war ich etwas vorsichtiger geworden. Aber was sollte mir eine Pflanze schon anhaben?
Immer näher trat ich auf die große Blume zu, behutsam, ganz vorsichtig, um nichts aufzuschrecken. Die gelbe Frucht schien zum Greifen nah. Doch in dem Moment, als ich die pelzige Oberfläche der gelben Knolle berühren wollte, schien ein Ruck durch die Pflanze zu gehen. Mit Erschrecken sah ich, wie sich sämtliche Äste aufstellten und mich wie Schlangen gierig ansahen, zum Angriff bereit.
Dann fuhren sie auf mich herab.
Mit aller Kraft versuchten sie, mich von ihrem gelben Kern fortzuschieben.
Doch so leicht ließ ich mich nicht abschütteln. Ich setzte mein ganzes Gewicht gegen die grünen Äste. Zentimeter für Zentimeter arbeitete ich mich weiter an die Frucht heran. Meine Arme brannten. Langsam aber sicher hinterließen die Fänge der Pflanze rote Spuren auf meinen Armen. Sie schienen eine Art Säure abzusondern, die in den offenen Wunden wie Feuer brannte.
Ich dachte schon, dass meine Kraft nicht ausreichen würde. Dass ich aufgeben würde, ohne die Frucht auch nur berührt zu haben. Doch dann tauchte sie auf. Wie ein helles Licht im Dunkeln erschien die goldgelbe Frucht vor meinem Gesicht. Begierig griff ich danach.
Als ich die pelzige Haut der Frucht an meinen Fingern spürte, schien die Frucht zu erschlaffen. Von einem Moment auf den anderen hörten die Äste auf, mich fortzustoßen, und hingen wie zuvor an der Pflanze herab. Mit einem kräftigen Ruck löste ich die Frucht aus dem Griff der Pflanze.
*
Ungläubig sah der Fährmann mich an, als ich mit der Pflanze in der Hand zu dem unheimlichen Fluss zurückkehrte. Es war schon ein Wunder, dass ich überhaupt zurückgefunden hatte.
»Hier ist die Frucht!« Ich warf ihm die goldene Knolle zu. »Wirst du mich jetzt über den Fluss bringen?«
Er schien einen Moment nachzudenken. Und kurzzeitig dachte ich, dass er mich einfach hier stehen lassen und fortfahren würde. Doch dann sah er mir wieder in die Augen und begann langsam und mit tiefer Stimme zu sprechen: »Geschäft ist Geschäft ...«, murmelte er und half mir auf das Boot. Seine dürre Hand war eiskalt und fühlte sich an wie die eines Toten.
Mit einem kräftigen Stoß schob er das Boot vom Ufer weg in das offene Bett des Flusses. Schaukelnd bahnte sich der Kahn seinen Weg durch die Wellen. Ich war noch nie mit einem Schiff unterwegs gewesen und der starke Wellengang reizte meinen Magen aufs Äußerste. Ich erschrak, als ich in das dunkle Wasser sah. Und für einen Moment war meine Übelkeit vergessen. Helle Schatten trieben um das Boot herum, schienen das ganze Wasser zu erleuchten. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich Körper, Gesichter, die mich mit vor Entsetzen aufgerissenen Augen ansahen. Panisch schienen sie sich an das Boot zu drängen.
Ängstlich versuchte ich möglichst in die Mitte zu rutschen, doch das Boot war klein. Je weiter ich nach rechts oder links rutschte, umso näher kam ich der anderen Seite. Ich spürte den Blick des Fährmannes auf mir haften, doch ich traute mich nicht aufzusehen.
»Was ist das hier?«, fragte ich mit zittriger Stimme, die fast schon zu versagen schien. »Wo sind wir hier?«
Der Fährmann schwieg.
Das Einzige, was ich hören konnte, war das durchdringende Stöhnen und Schreien, das aus dem Fluss zu uns herüber getragen wurde. Und es wurde immer lauter und eindringlicher.
Ich schrie auf, als helle, fast durchsichtige Hände über den Rand des Bootes krochen und nach mir greifen wollten. Ich versuchte wegzurutschen, doch sofort spürte ich die kalten Hände in meinem Rücken, die von der anderen Seite nach mir griffen. Mit einem dumpfen Klang flog der Stock des Fährmannes durch die Luft und traf die seltsamen Gestalten. Sie zischten wütend, doch dann verschwanden sie.
Aufmunternd flüsterte er mir zu: »Mach dir keine Sorgen! Sie können dir hier nichts tun ...«
Ich kauerte mich auf die kleine Sitzbank und sah ihn unsicher an. »Wo sind wir hier?«
»Das hier ist der Styx ...«
Der Fährmann redete weiter, doch ich konnte ihm einfach nicht zuhören. Ich hatte das Gefühl, dass seine Stimme irgendeinen Einfluss auf mich hatte. Es dauerte nicht lange bis mir die Augen zufielen ...
*
Wieder veranstaltete mein Herr ein großes Fest.
Es gab exotische Speisen, Gesang und Tanz. Und wieder war ich es, die die Gesellschaft bedienen musste.
Eigentlich hatte Hedda mich für eine andere Aufgabe eingeteilt. Seit dem Dilemma auf dem Fest, bei dem ich den Grafen Loxlye endgültig gegen mich aufgebracht hatte, musste ich die niedersten Dienste verrichten: Ich war es, die die großen Gusstöpfe reinigen musste. Und ich war es, die die Innereien der geschlachteten Tiere sortieren musste. Doch es war der Sohn meines Herrn, der mich ganz ausdrücklich für dieses Fest angefragt hatte.
Das Herz schlug mir bis zum Hals. Es raste vor Nervosität, vor Panik ...
Ich wollte nicht auf diesem Fest dienen. Lieber würde ich hundert Töpfe bis zum Glänzen polieren. Es behagte mir nicht, wie der junge Herr mich ansah. Und Fynn ... seit Wochen hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Er war viel auf den Ländereien unterwegs, musste für den Herrn Botengänge machen und arbeitete in den Stallungen. Ich vermisste ihn ganz schrecklich.
Während des ganzen Festes spürte ich den Blick des jungen Herrn auf mir liegen und mich an den Boden nageln. Mein Körper bebte vor Panik und Unbehagen, ich musste mich unheimlich darauf konzentrieren, was ich tat. Ich durfte es mir nicht noch mehr mit Hedda verscherzen ... immerhin erledigte ich immer noch Strafarbeiten für meinen Fehler auf dem letzten Fest.
Und doch blieben Fehler nicht aus. Ich ließ hier einen Teller fallen und verschüttete da die Suppe. Und jedes Mal setzte es eine Ohrfeige. Außerdem hatte ich irgendwie das Gefühl, dass der junge Herr es genoss, mich so wahnsinnig zu machen. Ob er wohl dachte, er mache mich nervös, weil ich ihn toll fand? Es war mir eigentlich egal. Ich wollte nur, dass er aufhörte und mich in Ruhe ließ!
Als das Fest endlich beendet war, empfing mich Hedda mit einem Putzeimer. »So du hast heute so viel verschüttet, das darfst du auch gerne selbst wegwischen!«
Mit hängenden Schultern trottete ich zurück in den großen Raum. Meine Füße schmerzten vom langen Stehen und mein ganzer Körper fühlte sich erschlagen an. Ich war einfach nur froh, wenn der Tag endlich beendet war.
Der Raum war vollkommen leer. Laut hallten meine Schritte auf dem Marmorboden wider. Die langen Tafeln standen noch voller Teller, großen Platten und Gläsern. Und ich hatte keinerlei Hilfe ...
‚Bis ich damit fertig bin, brauch ich gar nicht mehr ins Bett zu gehen’, dachte ich erschöpft, schüttelte den Kopf und machte mich an die Arbeit.
Ich war derart in mein Tun vertieft, dass ich die Schritte nicht hörte, die sich auf mich zu bewegten.
»Du musst doch müde sein ...«, hörte ich plötzlich eine Stimme dicht neben meinem Ohr.
Ich zuckte zusammen, wusste genau, wer hinter mir stand. Ich musste mich nicht umsehen.
Auch wenn ich es gewollt hätte, ich konnte mich nicht bewegen. Mein ganzer Körper schien zu einem Eisklotz erstarrt zu sein. Mir wurde übel, als ich seinen Atem dicht auf meiner Haut und seine Hände auf meinem Körper spürte.
Doch dann hörte ich Schritte, die sich hastig näherten, hörte ein Zischen in der Luft. Ein Stöhnen. Die Hände ließen von mir ab. Ängstlich sah ich mich um und blickte in die sanften Augen meines Bruders, die mich seltsam ansahen.
Mein Blick wanderte zu Boden. Vor mir lag der junge Herr ausgestreckt auf dem Boden, eine rote Lache, die sich immer mehr ausweitete. In Fynns Hand ein blutgetränktes Messer.
»Was hast du getan ...?« Meine Stimme glich einem kratzigen Flüstern. Doch er antwortete nicht. Wir hörten laute Stimmen, die näher kamen. Dann schien Fynn aus seiner Starre zu erwachen. Fest schloss sich seine Hand um meinen Arm. Er zog mich mit sich, durch den Dienstbotengang, der ins Freie führte. Wir liefen immer schneller, immer weiter ins Ungewisse.
*
»Wach auf, Mädchen!«, weckte mich die raue Stimme des Fährmannes.
Schlaftrunken rieb ich mir die Augen.
Wie lange hatte ich bloß geschlafen?
Als der Schleier von meinen Augen verschwunden war, konnte ich erkennen, dass wir an einem Ufer angekommen waren. Wir hatten den Styx überquert. Ich blickte zurück, konnte das andere Ufer aber nicht erkennen. War der Fluss wirklich so breit oder war das ein Trugbild? Ich konnte es nicht sagen.
»Weiter kann ich dich nicht bringen. Den Rest des Weges musst du alleine bestreiten.«
Ich nickte stumm, als der Fährmann mich in Richtung Ufer stieß. Noch einige Zeit sah ich ihm hinterher, wie er und sein Boot immer kleiner wurden und dann am Horizont verschwanden.
Langsam machte ich mich auf den Weg. Fynn zählte auf mich!
Dumpf hallten meine Schritte auf verbrannter Erde wider. So weit das Auge reichte konnte ich keine einzige lebende Pflanze entdecken. Das einzige, worüber ich alle paar Schritte stolperte, waren Steine; große und kleine, in allen Grau-, Schwarz- und Rottönen. Immer wieder fluchte ich, wenn ich an einem solchen hängengeblieben war. Plötzlich ging ein Ruck durch meinen Körper und ich krümmte mich schmerzerfüllt zusammen. Es fühlte sich an, als würde mir das Geröll, das hier herum lag, gegen den Brustkorb donnern. Doch so schnell, wie es gekommen war, verschwand es wieder.
Als ich mich wieder aufrichtete, konnte ich einen großen Turm erkennen, der sich am Horizont erhob. Mit prachtvollen roten Verzierungen stach er bedrohlich aus der tristen Umgebung heraus. Und doch zog es meinen ganzen Körper dorthin. Ich hatte Angst, dennoch machte ich einen Schritt nach dem anderen, immer weiter auf den großen Turm zu. Welches Schicksal würde mich dort ereilen? Was würde dort mit mir geschehen?
Von weitem sah ich die seltsamen Wächter, die mit riesigen Hellebarden bewaffnet den Eingang des Turmes beschützten. Ich spürte den Blick der riesigen Eberartigen Kreaturen auf mir liegen, doch ich spürte auf einmal weder Angst noch Freude. Plötzlich ereilte mich wieder dieser seltsame Schmerz und ich ging keuchend in die Knie. Als ich mich aufrichtete waren die Wächter verschwunden, das große schwarze Tor mit dem roten Torbogen weit geöffnet.
Unsicher trat ich hindurch. Eine Wendeltreppe lag vor mir. Mit einem unguten Gefühl im Bauch nahm ich eine Stufe nach der anderen. Nach schier unendlicher Zeit endete die Treppe und ein großer leerer Raum lag vor mir. Am gegenüberliegenden Ende konnte ich einen Abgrund erkennen und einen Vorsprung, der in diesen hineinzuragen schien. In der Tiefe leuchtete es und erhellte den gesamten Raum. Nicht eine einzige Kerze brannte und doch war der ganze Raum fast taghell.
Ich hatte Angst, doch die Neugierde trieb mich. Wo war ich hier?
Langsam ging ich auf den Abgrund zu und sah hinab. Erschrocken sprang ich zurück, als ich erkannte, was dort war. Die durchsichtig schimmernden Körper von Menschen schwammen wenige Meter unter mir. Ihr Stöhnen und Kreischen erfüllte den Raum und fuhr mir durch Mark und Knochen.
»Was willst du hier?«
Hektisch drehte ich mich um. Ein hochgewachsener Mann in einem dunklen Mantel kam auf mich zu. Seine Augen waren vor Verwirrung weit geöffnet.
»Ich suche meinen Bruder. Wo bin ich hier?«
»Sieh dich doch um. Du bist im Hades!« Die Verwirrung wurde zu Belustigung. Mit der Hand fuhr er sich durch den krausen Bart.
Unsicher sah ich den seltsamen Mann an.
»Wie ... im Hades? Das ist doch nicht möglich ...«
Natürlich kannte ich die Geschichten um den sagenumwobenen Ort der Toten.
Aber es waren doch nur Legenden!?
»So wahr ich hier stehe!« Der Mann kam langsam auf mich zu. Ängstlich tastete ich mich etwas zurück. »Willkommen in der Unterwelt!«
Ich stolperte zurück und fiel, doch bevor ich hart auf dem Boden aufschlug, spürte ich eine Hand, die meinen Arm umschloss und zurückzog.
»Vorsicht!«, lachte er, wurde aber sofort wieder ernst. »So schön es auch ist, solch reizenden Besuch zu bekommen, so frage ich dich mein Kind, warum suchst du deinen Bruder gerade hier?«
Ich überlegte. Wie war ich hierher gekommen? Ich erinnerte mich schemenhaft an die Worte des seltsamen Mannes, die mir den Weg in den Wald gewiesen hatten. Er hatte mir erzählt, dass ich meinen Bruder dort finden würde. Danach hatte ich mich vollkommen auf mein Gespür verlassen. Es hatte mich durch den eigenartigen Wald und zu dem Fährmann geführt, mich zu der Frucht geleitet und bis hier her geführt. Aber warum?
»Nein, das kann nicht sein ...«, murmelte ich. »Er kann nicht hier sein. Wenn er hier ist, bedeutet das ...«
»... dass er tot ist!« vervollständigte der Mann meinen Satz.
Entgeistert sah ich ihn an. Nein, das konnte nicht sein. Fynn war nicht tot!
»Nein! Er kann nicht hier sein! Ich muss mich geirrt haben!«
»Es gibt nur einen Weg ... das herauszufinden.« Der Mann wies auf das hell leuchtende Becken hinter sich.
Zögernd ging ich auf den Abgrund zu. Ich hatte Angst. Angst davor, nach unten zu blicken und Fynn dort in der Strömung treiben zu sehen. Doch ich musste mich vergewissern. Ich war zu weit gereist, um hier kehrt zu machen. Vielleicht hatte ich mich ja auch geirrt ...?
Immer näher tastete ich mich an den Strudel heran. Beinahe konnte ich schon die gespensterhaften Seelen in den Tiefen schwimmen sehen, als mich der Schmerz niederriss. Es war wie zuvor, nur schien er diesmal noch viel stärker. Ich hatte das Gefühl meine Lungen würden explodieren. Mir wurde schwindelig, die Welt begann sich zu drehen. Wie vom Schlag getroffen fiel ich zu Boden. Es wurde schwarz um mich herum, als mein Kopf aufschlug.
*
Langsam öffnete ich die Augen.
Ein weißer Schleier benebelte meine Sicht.
Ich fühlte mich unsäglich schwach. Ganz so, als hätte man mir mit einem Hammer jeden Knochen einzeln zertrümmert. Harte Steine spürte ich, die sich in meinen Rücken bohrten. Wo war ich hier?
»Jenna! Jenna!«
Eine Stimme drang leise an mein Ohr. Erst aus der Ferne, dann immer näher. Wer rief da nach mir?
»Jenna! Jenna, wach auf!«
Ich kannte diese Stimme, doch konnte mich nicht mehr erinnern ...
Eine Hand ergriff meine Schulter, rüttelte an ihr.
»Komm schon! Bitte, du musst aufwachen!«
Ich wusste, wer das war. Als sich der Schleier vor meinen Augen löste, sah ich in vertraute smaragdgrüne Augen. Es war Holly, meine beste Freundin. Aus tränennassen Augen sah sie mich an und ein Lächeln fuhr auf ihr Gesicht. Hinter ihr liefen einige seltsam gekleidete Männer um uns herum. Sie flüsterten sich Worte zu, die ich nicht verstand.
»Jenna! Du lebst!«
Ein starker Schmerz durchzuckte meinen Körper. Leise stöhnte ich auf und schloss kurz die Augen.
»Wo ist Fynn?«, flüsterte ich. Meine Stimme glich eher einem Kratzen.
Unsicher wanderte Hollys Blick umher, sah mich verwirrt an.
»Wer ist Fynn?«
Ungläubig sah ich sie an, doch ich war zu schwach, um zu antworten. Langsam ließ ich meinen Kopf zurücksinken, hatte nicht mehr die Kraft, ihn aufrecht zu halten. Ich sah hinauf zu dem graublauen Himmel, der von Wolken fast vollständig verhangen war, und wusste plötzlich ganz genau, dass dies mein letzter Blick auf diese blaue Schönheit war. Trotz dieser Gewissheit hatte ich keine Angst. Ich hatte keinerlei Angst; weder vor dem, was vor mir lag, noch vor dem, was ich schon erlebt hatte.
Vertraute Augen sahen sanft auf mich herab. Er streckte seine Hand aus und flüsterte mir beruhigende Worte zu.
»Fynn ...«, wisperte ich lächelnd und schloss die Augen. Dann ergriff ich seine Hand.
*
Mein Bruder ist kein böser Mensch.
Nein, eigentlich ist er der fürsorglichste Mensch, den ich kenne. Er war immer für mich da und immer an meiner Seite. Ich habe ihm vertraut, ihn geliebt. Er war der wichtigste Mensch für mich. Der Einzige, der wirklich immer für mich da war.
Doch Fynn existiert nicht wirklich ...
Fynn ... bei dem Gedanken an ihn schleicht sich immer wieder ein Lächeln auf mein Gesicht. Er ist mein Bruder; mein lieber, älterer Bruder.
Noch vor meiner Geburt ist er gestorben, doch ich habe ihn immer bei mir gespürt. Habe ihn in meinen Träumen, und wenn ich wach war, immer an meiner Seite gehabt.
Er war immer bei mir. Hat mir geholfen, mich gestärkt.
Mein Bruder ist kein böser Mensch ...
Doch was ist mit mir?