Das Loch

Steve Kußin

02. Juni 1976

Ich hätte nie für möglich gehalten, worüber ich inzwischen traurige Gewissheit habe: Dass es Kräfte jenseits unserer Erkenntnis gibt, jenseits der theoretischen Erwägungen unserer hellsten Köpfe. Und dass diese wunderlichen Kräfte, Kreaturen und Welten, Tür an Tür mit uns wohnen. Hätten wir gewusst wohin, wir hätten nur unsere Hand ausstrecken müssen, um diese andere Welt zu berühren; ein einziger Blick hinter den Schleier, der unsere leichtgläubigen Augen vor den Schrecken unvorstellbarer Abnormität schützen soll, würde ausgereicht haben, uns in ewiges Vergessen zu wünschen. Denn hinter diesem Schleier liegen blasphemische, an unsere Urängste heranreichende Vorgänge verborgen, die demjenigen, der sie bemerkt, seinen Seelenfrieden auf immer rauben würden.

Ich weiß davon und kann das Folgende erzählen, weil ich hinter diesen Schleier gesehen habe. Heute wünsche ich mir nichts sehnlicher, als die Ereignisse um den 16. und 17. Mai 1976 ungeschehen zu machen. Aber weil ich das nicht kann, will ich mich nur noch in seliges Vergessen stürzen, welches ich, sobald ich dieses Schreiben an Sie ausgehändigt weiß, selbst herbeiführen werde. Ich möchte nur noch vergessen. Möchte die quälenden Überlegungen loswerden, welches Schicksal Officer Hendricks, Larry Fetterman und die anderen spurlos Verschwundenen, vor allem aber meinen Sohn Ben, ereilt haben mag. Ob sie tot sind oder am Leben, und was besser wäre, und auf welche Art – ich will nicht mehr darüber nachdenken, es macht mich wahnsinnig.

Meiner Frau Ellen habe ich meine Tötungsabsicht verschwiegen. Ich will nicht, dass sie versucht mich aufzuhalten – das würde sie nicht schaffen, und das möchte ich ihr ersparen. Sie glaubt noch daran, dass Ben unabhängig von uns aus der Stadt gekommen und in eine der größeren umliegenden Städte geflüchtet ist. Möglich ist das natürlich. Deshalb telefonieren wir die umliegenden Krankenhäuser und Polizeistationen ab, auf der Suche nach Hinweisen. Doch im Gegensatz zu meiner Frau, habe ich keine Hoffnung mehr. Sie hat nicht mit ansehen müssen, was mein inneres Auge seitdem wieder und wieder abspult, wenn ich meine Gedanken unbedacht schweifen lasse: Wie sie verschwanden, sie alle – Martin Hendricks, Larry Fetterman, Murray Young, Chris Filley. Und manchmal sehe ich nicht Young oder Larry, wie sie ins Dunkel gezogen werden, sondern glaube meinen Sohn Ben zu erkennen, dessen Gesicht von nackter Angst entstellt ist. Meinen Sohn Ben, auf dessen Gesicht ich niemals so etwas wie Furcht gesehen habe – außer in diesen schrecklichen Tagträumen, wenn ich meine Gedanken nicht unter Kontrolle behalte. Jene Bilder und das Wissen, welches diese Bilder erklärt, blieben Ellen erspart, und ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, damit das so bleibt. Ich möchte, dass sie weiterhin an eine vorstellbare Welt mit ihren absehbaren Gefahren glauben kann, wo mir selbst keine Hoffnung, kein Glaube, kein Halt und kein Trost mehr gegeben sind.

Ich habe Ellen einen Abschiedsbrief geschrieben, den ich in die oberste Schublade der Kommode gelegt habe. Ich schätze, ich wollte nicht riskieren, dass der Brief mit Blut bespritzt wird. In diesem Brief steht nichts von den abscheulichen Kreaturen, die ich gesehen habe, und von den grotesken Märchen, die der alte Jeff Vaughn zum Besten gab und von denen ich inzwischen befürchten muss, dass sie der Wahrheit verwandter sind, als es uns Menschen lieb sein kann. Im Brief an Ellen stehen jene Gründe meiner Tat, die sie wissen darf und die von dem Verlust Bens handeln.

Ich hoffe, dass ihr Schmerz über den Verlust von Ben und über meinen Verlust jene allzu nachvollziehbare Skepsis überlagern wird, die sie zu Nachforschungen über meine Äußerungen der letzten zwei Tage in Linton führen könnte.

Bitte berichten Sie Ellen nichts von dem Brief an Sie und halten Sie sich, was die Maßnahmen bezüglich Linton betrifft, an das, worüber wir uns geeinigt haben, sollte ich Ihnen die nötigen Beweise vorlegen. Es ist für alle besser so.

Nun möchte ich der Reihe nach erzählen, was genau sich in Linton zugetragen hat. Ich werde nichts, was ich weiß und was mit den Geschehnissen auch nur entfernt in Zusammenhang stehen könnte, verbergen oder wissentlich verfälschen. Ich möchte, dass Sie sich ein eigenes Urteil über die Zustände bilden und dann selbständig entscheiden, in welchem Umfang die nötigen Maßnahmen zu ergreifen sind.

Ich bin davon überzeugt, dass Sie – wie in unseren bisherigen Gesprächen auch – einige Zweifel an meiner Erzählung, und damit an meiner geistigen Gesundheit selbst, haben werden. Ich darf Ihnen jedoch mitteilen, dass ich Ihnen einen unabweislichen Beleg für meinen Bericht in Form einer jener abscheulichen, unirdischen Kreaturen zukommen lassen werde, welche den Mittelpunkt meines Berichts bilden und welche für das Verschwinden (und vermutlich den Tod) jener Männer verantwortlich sind, deren Namen ich bereits genannt habe. Wie ich das Wesen erlegte, spielt keine Rolle. Ich fasste den Plan, nachdem ich bemerkt hatte, dass mir ohne stichhaltige Beweise keiner der Handlungsbefugten glauben würde, und habe eine Woche Zeit, eine ganze Revolvertrommel Munition und meinen restlichen Lebenswillen geopfert, um den Beweis zu erbringen, dass ich nicht verrückt bin und das sofortiger Handlungsbedarf besteht.

Doch der Reihe nach:

Mein Name ist Sean Hooper, ich bin 38 Jahre alt und habe bis vor zwei Wochen das Amt des Detectives im 2000-Einwohner-Städtchen Linton, Florida, bekleidet.

Als meine Frau vor 16 Jahren mit Ben und anderthalb Jahre darauf mit Kelly schwanger wurde, entschieden wir uns, in unserer Geburtsstadt zu verbleiben, und erwarben ein Grundstück an der Stadtgrenze. Hätten wir damals gewusst, welche gotteslästerlichen Geschehnisse sich in unserer Heimatstadt ereignen würden, wir hätten unsere Sachen gepackt und wären in irgendeiner Mietswohnung im Landesinneren untergetaucht.

Aber wer hätte auch ahnen können, dass wir Menschen uns in dem, was wir für möglich – für denkbar – erachten, so sehr irren können?

16. Mai 1976

Ich war im Revier.

Es muss gegen 13.00 Uhr gewesen sein, als das Telefon läutete. Am anderen Ende der Leitung war Dr. Brody und ich erinnere mich noch genau der Worte, mit welchen er mich ins Memorial Hospital zitierte: »Ein paar Jungs sind schwimmen gewesen und einer von ihnen hat sich verletzt. Wohl am Kopf gestoßen! Kommen Sie doch bitte vorbei und bringen die Jungs zum Reden, mir erzählen sie ja nichts.«

Genau das hatte er gesagt. Es war belanglos wie die meisten Meldungen, die auf dem Revier eingingen, aber irgendwo haben sich diese Worte Brodys in meinem Kopf eingenistet und bis heute, da ich all die späteren Geschehnisse auf den Badeausflug der Jungs zurückführen kann, unauslöschlich in mein Gedächtnis eingebrannt.

»Ein paar Jungs sind schwimmen gewesen« hatte die belanglose, aber folgenschwere Meldung gelautet. Und ich fuhr los, um den alltäglichen Job eines Detectives in einem Städtchen ohne Verbrechen zu machen.

Michael Tate hieß der betroffene Junge. Er war nicht ansprechbar, brabbelte nur sonderbare Laute vor sich her, die niemand verstand, und er zitterte am ganzen Körper. Sein Zustand habe sich seit dem Anruf noch verschlechtert, meinte Dr. Brody. Außerdem sei der Junge äußerst schreckhaft und reagiere auf schnelle Bewegungen mit Ausrufen der Angst. Berührt werden dürfe er gar nicht, weil er dann wie toll umherspringen und laut schreien würde, dass sie verschwinden sollten und dass sie kämen, um ihn zu holen – wer auch immer sie waren, meinte der Doc. Aber nach einer Minute würde er sich selbständig ins Bett zurücklegen und wieder diese unverständlichen Laute murmeln.

»Und wie kann ich behilflich sein?«, fragte ich.

»Die anderen Jungs sind im Wartezimmer«, antwortete Dr. Brody. »Finden Sie heraus, was wirklich vorgefallen ist. Und reden Sie ihnen ins Gewissen, solchen Unfug in Zukunft zu unterlassen. Das kindliche Spiel kann nämlich schnell ernste Folgen haben, wie wir hier sehen.«

Im Flur kam mir Officer Hendricks entgegen und schloss sich mir an. Ich gab ihm eine kurze Zusammenfassung dessen, was Dr. Brody berichtet hatte. »Na endlich mal ein richtiger Kriminalfall bei uns«, witzelte er.

Martin Hendricks war einer der beiden Polizisten im Ort. Der andere war ich. Offiziell war ich zwar sein Vorgesetzter, aber wenn man sich von klein auf kannte, wie das bei uns der Fall war, dann brauchte keiner den Vorgesetzten zu spielen und wurden die meisten Entscheidungen gemeinsam getroffen. Martin war damals 37 Jahre alt – bald wäre er 38 geworden.

Nur der Vollständigkeit halber: Auf dem Revier arbeitete auch noch Lorraine Thompson als Sekretärin. Sie kümmerte sich um den ganzen Papierkram und die eingehenden Anrufe, wenn weder Hendricks noch ich im Revier waren.

Jedenfalls haben wir die Jungs – Matt Gardner und die beiden Bukowski-Brüder – aus dem Wartezimmer geholt und sind mit ihnen zu meinem Dienstwagen gegangen. Wir befragten sie nach dem Vorfall und notierten das Nötigste. Aber viel wussten sie nicht zu berichten.

Ihr Wortführer war der Gardner-Junge: Ein hagerer, blasser Bursche, der, obgleich im selben Alter wie Michael und der ältere Bukowski, körperlich wenigstens zwei Jahre jünger aussah als die beiden. Dennoch war er der Anführer der Gruppe und führte den Hauptteil des Gesprächs mit uns, während die Bukowski-Brüder unseren Fragen ebenso wie unseren Blicken auswichen.

Der Gardner-Junge erzählte, sie seien zu viert an den Strand gegangen und hätten nach dem Loch tauchen wollen, wie sie es oft taten, wenn es heiß und langweilig war in Linton. Auf unsere Nachfrage erklärte er, dass »das Loch« ein Durchlass etwa 30 Schritte vor dem Strand sei, auf Höhe der dicken Eiche. Es befände sich auf dem Grund, allerdings wüssten sie nicht, was sich dahinter verbarg, denn so viel Luft habe noch keiner von ihnen aufbringen können, um hindurchzutauchen. Allerdings hätte Michael, der von ihnen der beste Taucher war, dieses Mal geprahlt, er werde durch das Loch tauchen und von dort unten etwas mitbringen.

»Und? Hat er es geschafft?«, fragte Hendricks.

»Keine Ahnung, Sir. Nach etwa einer Minute ist er wieder aufgetaucht, hat geschrien und mit den Armen um sich geschlagen. Der war schneller aus dem Wasser raus als die Olympialeute schwimmen können, aber nach ein paar Schritten ist er einfach vornüber in den Sand gefallen und dort liegen geblieben. Zum Glück war die Mutter von Roy in der Nähe. Die hat uns gleich hierher gefahren. Das ist alles.«

Hendricks und ich schauten einander an. Die Bukowski-Brüder waren sichtlich nervös, aber jedermann wusste, dass sie nicht gerade die Hellsten waren. Doch Matt Gardner wirkte sehr gefestigt in seinen Äußerungen. Vielleicht hatte Michael irgendetwas gesehen – oder glaubte zumindest daran.

»Was hat er denn geschrien, als er aufgetaucht ist?«, fragte ich.

»So Zeugs, dass sie hinter ihm her sind und so.«

Das bestätigten auch die Bukowski-Brüder: »Ja. Und dass sie ihn haben wollen und dass wir schnell weg müssen, hat er gerufen! Und dann ist er einfach umgekippt auf dem Sand!«

Ich weiß nicht mehr genau, was ich damals dachte. Ich versuchte wohl, mir einen Reim auf diese Geschichte zu machen, eine Erklärung zu finden, die alle zufriedenstellen und das Gerücht, dass sich an unserem Strand Monster herumtrieben, schon im Keim ersticken konnte. Haie hatte es an unserem Strand zwar nie gegeben, aber seit diesem Film im letzten Jahr wurden die Leute schnell panisch, wenn von Haien in Strandnähe die Rede war.

Was auch immer Michael gesehen haben wollte, ein Hai war es bestimmt nicht gewesen. Wenn es aber – entgegen aller Wahrscheinlichkeit – nun doch ein Hai war, konnte ich dann einfach über diesen Bericht hinwegsehen? Und wäre ich dann nicht verantwortlich dafür, wenn ein Schwimmer tatsächlich durch einen Hai verletzt oder gar getötet würde?

Also sagte ich zu den Jungs, sie sollten uns zeigen, wo dieses Loch ist.

*

Etwa 14.30 Uhr kamen die Jungs und ich am Strand an.

Dort erwartete uns schon Jeff Vaughn – der Stadtvater, wie er scherzhaft genannt wurde. Dieser Beiname rührte wohl daher, dass Jeff Vaughn – oder auch Vater Vaughn – der älteste Bewohner Lintons war. Wie alt er jedoch tatsächlich war, darüber konnte man nur spekulieren. Er murmelte die ganze Zeit vor sich hin, trank zu jeder Jahreszeit Tee aus einer alten, rostigen Thermoskanne, die er mit einem Gurt umgeschnallt hatte und in den Wirtshäusern unentgeltlich auffüllen durfte, weil er eben Jeff Vaughn war, der Stadtvater, und weil er schon beim Vater und Großvater des Wirtshausbesitzers Tee spendiert bekommen hatte. So wanderte er tagein tagaus murmelnd und Tee trinkend durch die Stadt, die umliegenden Felder und Wälder und Dörfer, den Blick meistens zum Himmel oder zum Boden gerichtet.

Bei aller Absonderlichkeit in seiner Gestalt und seinem Verhalten war er doch der Einzige, der Bescheid wusste. Es ist nicht ganz unwichtig, Vaughn zu beschreiben, weil Sie verstehen müssen, warum es so schwierig war, ihm zu glauben.

Als wir an Vater Vaughn vorbeigingen, sagte er in seinem typischen Brabbelton: »Die Strolche sind durch das Loch auf dem Grund getaucht, nicht wahr? Dabei hab’ ich ihnen hundertmal gesagt, dass sie das nicht tun dürfen, wegen des Pakts! Das hab’ ich ihnen gesagt, wieder und wieder!«

Ich sagte noch: »Ich verstehe nicht!«, da kam auch schon Hendricks mit dem Ruderboot an, das wir uns von Meadows geliehen hatten. Die Bukowski-Brüder zeigten wenig Interesse in das Boot zu steigen, nur Gardner erklärte sich bereit, mit rauszufahren und uns das Loch zu zeigen. Während Hendricks ruderte, blickte ich mich noch einmal zum alten Vaughn um, der meinen Blick auffing. Dann schüttelte er den Kopf und verließ den Strand.

»Hat der alte Vaughn mal irgendwas zu euch gesagt wegen des Lochs?«

»Vaughn erzählt viel, wenn der Tag lang ist«, antwortete der Gardner-Junge. »Auch zum Loch und vielen anderen Dingen. Er will nicht, dass wir da hinuntertauchen. Früher hat er immer gesagt, dass dort Meeresungeheuer hausen die kleine Kinder fressen, aber das hat er nur gesagt, um uns Angst zu machen – und früher hat das auch geklappt.«

Als wir die Stelle erreichten, ließen wir einen der beiden Anker, die Meadows für seine Angelausflüge im Boot hatte, über Bord und konnten mit seiner Hilfe das Loch ausfindig machen. Die Leine war 30 Schritte lang, doch der Anker fand keinen Grund. Also holten wir ihn wieder ein und ruderten an den Strand zurück. Wir wussten nun, dass dieser Durchlass mehr als nur eine kleine Höhle unter sich verbarg. Mehr konnten wir an diesem Tag nicht tun. Die Jungs gingen nach Hause. Ich schickte Hendricks das Boot zurückschaffen und anschließend ins Büro, wo er den Bericht schreiben sollte. Ich selbst lief noch vier oder fünf Stunden den Strand ab und hielt mit meinem Fernglas nach Haien oder anderen Dingen Ausschau, die nicht hierher gehörten. Das schöne Wetter hatte einige Schwimmer geschickt, aber ein Hai war nirgendwo in Sicht.

*

In der Nacht erhielt ich zwei Anrufe. Der erste ging um 1.13 Uhr ein.

Ich war im Wohnzimmer vor dem Fernseher eingeschlafen und fiel fast von der Couch, als das Telefon klingelte. Ich dachte sofort, dass etwas Schlimmes passiert sein musste, und griff fast gleichzeitig nach dem Autoschlüssel auf dem Tisch und nach dem Telefonhörer. Obwohl es mein Privatanschluss war, meldete ich mich instinktiv als Detective Hooper. Der Anrufer war Jeff Vaughn.

Er sprach von irgendwelchen Wesen, die er immer als »Jene, die im Wasser leben« bezeichnete. Er meinte, dass diese Wesen den Jungen einfordern würden.

Damit meinte er Michael, der die Grenze zu irgendeiner unterseeischen Kolonie übertreten haben soll. Die Tat des Jungen verstoße gegen einen Pakt, der schon Jahrhunderte, bevor der erste Europäer seinen Fuß auf amerikanischen Boden setzte, geschlossen worden sei. Auf meine Frage, wovon er eigentlich rede, setzte er zu einer ebenso fantastischen Antwort an, wie seine vorangegangenen Ausführungen sie erwarten ließ, sodass ich ihn abermals unterbrach, ihm sagte, dass es schon sehr spät sei und dass er mich am besten morgen zwischen 9 und 10 Uhr in meinem Büro anrufen solle. Ich hörte noch wie er sagte, dass es dann vielleicht schon zu spät sein könnte, dann hatte ich aufgelegt. Ich ging ins Schlafzimmer und legte mich neben Ellen. Sie fragte nach dem Anrufer und ich nannte ihr den Namen, schlief aber gleich darauf ein.

Der zweite Anruf ging kurz nach 03.30 Uhr ein. Der eigentliche Verursacher war wiederum Jeff Vaughn, den Anruf selbst tätigte jedoch Chrissie Newcombe, die als Krankenschwester im Memorial Hospital angestellt war. Sie entschuldigte sich, dass sie mich zu Hause anrufen müsse, aber das Telefon im Revier sei nicht besetzt gewesen und da habe sie sich keinen besseren Rat gewusst. Als Grund für ihren Anruf nannte sie Vaughn, der ins Krankenhaus gekommen war und Michael Tate entführen wollte. Zusammen mit Schwester Hamilton habe sie den Alten aber überwältigen können. Vaughn liege jetzt auf dem Flur, sagte sie, am Boden gehalten von Schwester Hamilton und einem Patienten, der zu Hilfe geeilt war, als er den Tumult gehört hatte. Vaughn habe immer wieder gerufen, dass man den Jungen dem Meer übergeben müsse, weil es sonst ein böses Ende mit Linton nehme. Dr. Brody befinde sich bei dem Jungen und gebe ihm gerade etwas zur Beruhigung.

Zehn Minuten später hatte ich Vaughn in Handschellen gelegt. Ich erkundigte mich noch nach dem Zustand des Jungen, der wohlauf war, und ging mit Vaughn im Schlepptau zu meinem Dienstwagen. Auf der Fahrt ins Büro wechselte ich kein Wort mit ihm, Vaughn jedoch wiederholte immer wieder, dass der Junge ausgehändigt werden müsse. Im Revier nahm ich ihm die Handschellen ab und sperrte ihn in eine unserer beiden 6-qm-Zellen. Ich rief schnell zu Hause durch, um Ellen zu sagen, dass alles in Ordnung war, damit sie wenigstens noch die zwei Stunden schlafen konnte, bevor der Wecker auch ihren Arbeitstag einläuten würde. Dann ließ ich mir einen dicken, schwarzen Kaffee durch die Maschine laufen und aß einen Joghurt, damit ich irgendwas im Magen hatte. Erst danach, mit brühend heißem Kaffee in meiner Sherifftasse, setzte ich mich zu Vaughn. Durch die Stäbe hindurch reichte ich ihm eine Tasse mit den Worten: »Ganz normaler Kräutertee, mehr haben wir leider nicht im Angebot.«

Vaughn bedankte sich und dann erzählte er von einem alten Pakt zwischen dem Stamm der Calusa und »Denen, die im Wasser leben«. Dieser Pakt war infolge einer Auseinandersetzung, welche viele Tote auf beiden Seiten gekostet hatte, geschlossen worden. Den Menschen sollte das Land gehören und »Denen« das Wasser. Da aber die Menschen das Wasser für die Fischerei benötigten, durften sie das Wasser ebenso nutzen, solange sie ihre Mühen auf das Wasser über dem oberen Meeresboden beschränkten.

Ich stellte Vaughn viele Fragen: Wie diese Wesen aussähen und woher sie kämen. Und ob er einem von ihnen schon einmal leibhaftig gegenüber gestanden habe. Vaughn erzählte bereitwillig, was ich ebenso fasziniert hörte wie akribisch mitschrieb – diese Mitschrift habe ich Ihnen bereits in einem früheren Gespräch übergeben. Aber nach etwa einer Dreiviertelstunde musste Vaughn gedacht haben, dass diese Unterredung noch Stunden andauern konnte, weil jede seiner Antworten zehn neue Fragen bei mir aufkommen ließ. Darum wollte er die Unterhaltung beenden und bat mich, ihm zu helfen, damit »schlimmes Unheil« – wie er sich ausdrückte – verhindert werden könne.

Ich fragte, wie ich ihm behilflich sein könne. Und er antwortete, dass er, wie er mir in der Nacht bereits am Telefon gesagt habe, den Grenzübertreter noch in dieser Nacht aushändigen müsse. Er wisse nicht, was Jene, die im Wasser leben, mit ihm tun würden, aber wir würden den Jungen vermutlich nie wiedersehen. Daraufhin meinte ich zu Vaughn, dass er das vergessen könne und dass ich ihn für übergeschnappt hielte.

Und das stimmte auch, obwohl ich sagen muss, dass seine Art des Sprechens die eines munteren, aufrichtigen und klugen Kopfes war. Und dass auch die innere Logik seiner Märchen, die ich im Gespräch mehr als nur einmal zu widerlegen versucht habe, voll und ganz stimmig war, wenn der Zuhörer nur bereit gewesen wäre, an solche Dinge zu glauben. Nur leider konnte ich seinen Worten damals nicht glauben und musste seine Art des Sprechens, die so aufrichtig und wahrhaftig war, einem Menschen zuschreiben, dessen Klugheit im Ausdruck zwar erhalten geblieben, im Inhalt jedoch dem Wahnsinn oder wenigstens der Einbildung gewichen war.

So denken wir Menschen eben und denken nicht einmal darüber nach, dass diese angebotene fantastische Geschichte des Gegenübers wahr sein könnte, und wiegen uns in der Sicherheit, dass uns niemand verurteilen kann, wenn wir an dieser Stelle die einzig vernünftige Entscheidung fällen.

Vaughn bot mir eine unvernünftige Welt an, an welche ich nicht glauben konnte, an welche ich nicht glauben wollte. Ich handelte, wie jeder gehandelt hätte – leider falsch.

17. Mai 1976

Um 12.15 Uhr fuhren Hendricks und ich zum Strand.

Wir hatten uns zu 12.30 Uhr mit Larry Fetterman verabredet. Fetterman war ein ehemaliger Marinetaucher, zählte schon 52 Jahre, war aber in erstaunlich guter körperlicher Verfassung. Im Wasser hatte jeder das Nachsehen gegen Fettermann, mochte er auch noch so jung und sportlich sein. Wasser war einfach sein Element. Er konnte tauchen und schwimmen wie ein Weltmeister.

Fetterman kam mit seinem Motorboot angefahren. Zu dritt fuhren wir über die Stelle, wo wir das Loch vermuteten. Wir warfen das Lot aus, doch obwohl die Leine im Ganzen 100 Schritte lang war, fanden wir keinen Boden unterhalb des Lochs. Diese Tiefe versetzte Fetterman in Staunen, der nie etwas von diesem Loch gehört hatte und normalerweise drüben beim Riff oder weiter draußen auf See tauchte, weil der Strand wenig interessant für ihn sei. Nun aber war Fetterman ganz begierig darauf, sich in seinen Taucheranzug zu begeben und hinabzusteigen – jedoch nicht tiefer als 70 Schritte, wie er meinte, für einen tieferen Tauchgang sei er gar nicht ausgerüstet. Dass er im selben Moment schon darüber nachdachte, am nächsten Tag mit einem Mischgas hinabzutauchen, stand für Hendricks und mich außer Frage.

»Pass aber auf wenn die Fischmonster kommen«, sagte Hendricks und wir lachten.

Im Übrigen kann ich heute nicht mehr sagen, was wir überhaupt zu finden erhofften, wofür wir rausgefahren waren. Wollten wir durch einen Hai Gewissheit erhalten? Wollten wir ein komisches Gebilde im Wasser finden, vielleicht einen alten Einkaufswagen, den Rost und Algen zu einem Wesen geformt hatten, das im dunklen Wasser und durch die Augen eines Kindes gesehen leicht zum »Es« werden konnte? Oder waren wir inzwischen selbst neugierig geworden, welche Tiefen dort unten lauerten? Worauf Fetterman jedoch tatsächlich stoßen sollte, damit hatte keiner von uns gerechnet.

Fetterman tauchte hinab, während ich die Lotleine festhielt. Falls Fetterman etwas fand, wollte er den Gegenstand an die Leine binden und uns Zeichen geben, damit wir die Leine einholen konnten. Wir rechneten nicht mit Zwischenfällen, aber starrten trotzdem wie gebannt auf die Stelle, wo das Lot ins Wasser stach, und waren, wie ich an Hendricks nervösen Regungen und seinen Fragen merkte, beide gespannt, was Fetterman wohl ans Tageslicht befördern würde.

Dann aber zuckte das Lot so plötzlich und kräftig in die Tiefe, dass es mir aus der Hand gerissen wurde. Das Boot kippte beinahe um und hätte Hendricks mich nicht festgehalten, wäre ich über Bord gegangen. Sofort griff ich nach der Leine und zog aus Leibeskräften. Auch Hendricks zog mit ganzer Kraft, aber von unten schien ebenfalls etwas zu ziehen und zu zerren. Mühsam erkämpften wir uns Fuß um Fuß, doch war die gesamte Leine ausgeworfen worden und wir hatten erst 10 Schritte eingeholt – wer aber konnte sagen, in welcher Tiefe sich Fetterman inzwischen befand?

Wir zogen so kräftig und mit dem ganzen Gewicht unserer Körper, dass Hendricks in dem Moment, wo unser unterseeischer Widersacher von der Leine abließ, hintenüber ins Wasser fiel. Ich selbst schlug gegen die Bootswand und zog mir eine üble Platzwunde am Hinterkopf zu, welche ich aber erst später bemerkte, denn gleich nach dem Sturz sprang ich wieder auf die Füße und holte den Rest der Leine ein – noch 60 Schritte –, obwohl dort nichts mehr dran hing, wie ich merkte – noch 40 Schritte –, da kletterte Hendricks wieder ins Boot – noch 20 Schritte –, und plötzlich durchbrach auch Fetterman die Wasseroberfläche. Hendricks und ich packten ihn unter den Armen und zogen ihn an Bord. Wir nahmen ihm die Atemmaske ab und fragten, ob er verwundet sei. Doch Fetterman sagte, er sei nicht weiter verletzt und das Blut, das ihn umgab, sei größtenteils von dem Wesen, das ihn angegriffen habe.

Ich versuche nun, den ersten Bericht, den Fetterman gleich im Boot erstattete, so genau wie möglich wiederzugeben.

»Ich weiß nicht, was das war. Es hat mich plötzlich gepackt. Ich habe gar nicht gesehen, wie es an mich rangekommen ist. Es hatte zwei Arme mit Klauen dran und hat mich damit von hinten umklammert, aber im nächsten Moment hatte ich mein Messer in der Hand und konnte mich irgendwie von ihm befreien und zu ihm umdrehen. Und dann sah ich es, dieses hässliche Viech, das halb Mensch und halb Fisch war und mich aus ekligen Fischaugen anstarrte. Mit einem Mal hat es angefangen auf mich einzuprügeln und ich habe mit meinem Messer zurückgestochen, aber es hat immer weiter auf mich eingeschlagen. Ich konnte ihm noch ein paar Schnittwunden zufügen, dann aber traf mich ein so wuchtiger Schlag am Kopf, dass ich zurückgeworfen wurde und für einen kurzen Moment die Besinnung verlor. Da packte es plötzlich nach meinem Fuß und wollte mich nach unten ziehen, aber irgendwie bekam ich die Leine zu fassen und gleich darauf habt ihr gezogen. Ich habe mich mit beiden Händen an die Leine geklammert, mein Messer war fort, und da habe ich nur noch wie wild nach dem Vieh getreten, um mein anderes Bein freizubekommen. Aber sein Griff war zu fest. Doch irgendwie habe ich eine meiner Fackeln entzündet und da hat sich der Griff ein bisschen gelockert und mit einem kräftigen Tritt konnte ich mich ganz davon befreien. Dann schwamm ich am Lot nach oben und hab nur darauf geachtet, dass ich die Leine nicht verliere, denn dann hätte ich vielleicht das Loch verpasst. Keine Ahnung, ob es mich verfolgt hat. Ich wollte nur wieder durchs Loch durch.«

*

Hendricks hat Fetterman ins Memorial fahren sollen, aber Fetterman lehnte dankend ab. Er wollte sich kurz zu Hause verarzten – die paar Flecken seien schließlich nicht der Rede wert, wie er meinte –, und wollte gleich anschließend mit seiner Harpune und seinem Motorboot die Strandgegend nach dem Tier absuchen, um es zu erlegen. Ich verbot ihm jedoch aufs Wasser zu fahren, weil das zu gefährlich war, solange wir nicht wussten, was das für ein Tier war und ob es vielleicht noch mehr von denen gab. Wenn er allerdings etwas tun wolle, sagte ich, dann könne er beim Absperren des Strands helfen. Ich funkte Lorraine im Büro an und gab ihr ein paar Namen durch, welche sie zur Rekrutierung für unsere Strandwache anrufen sollte. Um 14.30 Uhr begannen Hendricks und zwei Helfer entlang des etwa eine halbe Meile langen Strandabschnitts Verbotsschilder aufzustellen und Absperrbänder zu ziehen. Eine Viertelstunde darauf waren auch Fetterman und ein weiterer Helfer am Strand angelangt. Fetterman hatte sich bei seinem Notaufstieg die Taucherflöhe eingefangen, aber er meinte, er habe bereits reinen Sauerstoff geatmet und die Verfärbungen gingen bald wieder weg, er fühle sich wohl. Ich schickte die beiden ans andere Strandende, damit sie dort mit dem Absperren anfingen. Ich selbst überwachte den mittleren, am häufigsten begangenen Strandabschnitt und wies jene Badelustigen zurück, welche die Sonne uns entgegentrieb.

Dann sah ich etwas auf der Wasseroberfläche treiben. Mit jedem Wellenschlag kam es dem Strand näher. Mein Fernglas verriet mir, dass es sich dabei um das Wesen handeln musste, welches Fetterman angegriffen hatte. Aber ich hatte kein Boot und wäre wohl auch nicht imstande gewesen, das große Tier allein an Bord zu hieven. Also funkte ich Hendricks an, er solle die beiden Männer allein weitermachen lassen, Larry abholen und dann zu mir kommen. Gleich darauf rief ich im Memorial an und ließ mich mit Dr. Brody verbinden. Ich sagte, er solle mit einem Krankenwagen herkommen. Es gehe um das Wesen, das der Junge gesehen haben will – es gebe dieses Wesen tatsächlich. Als der Krankenwagen und Hendricks mit Fetterman eingetroffen waren, zeigte ich den Neuankömmlingen, was die Wellen an unseren Strand gespült hatten.

Auf meinen Wunsch hin war der Fahrer des Rettungsdienstes im Auto geblieben – ich wollte die Sache vorerst so geheim wie möglich halten. Vielleicht war die ganze Angelegenheit mit diesem toten Ungetüm auch schon erledigt und der Rest war nur für die Wissenschaftler interessant, hatte aber nichts mit meiner Stadt zu tun. Warum die Bürger unnötig verängstigen?, hatte ich gedacht.

»Sein Kopf ist nicht ganz Fisch, nicht ganz Lurch, sondern etwas dazwischen«, meinte Dr. Brody, der eine erste Untersuchung vor Ort vornahm. »Die Arme und Beine sehen sehr kräftig, sehr fleischig aus; vermutlich legen diese Tiere sehr große Entfernungen zurück, wenn sie auf Beutefang sind oder laichen – wobei wir natürlich nicht hoffen, dass sie laichen! Schwimmhäute hat es, aber diese Krallen sind ansonsten ... sehr menschenähnlich. Sehen Sie« – er nahm die Kralle der Kreatur und bewegte deren Finger – »jede einzelne Fingerspitze kann mühelos den Daumen der Hand berühren, ein Merkmal, wie es in der heutigen Zoologie nur bei den Menschen bekannt ist. Mit dieser Befähigung kann das Wesen greifen wie wir, und zumindest anatomisch – man müsste für eine genauere Beurteilung freilich noch das Gehirn sezieren und den Lebensraum des Tieres untersuchen – scheint es ähnlich unser Gattung befähigt, Werkzeuge zu handhaben und womöglich sogar herzustellen. Natürlich im Rahmen der Möglichkeiten, die unter Wasser gegeben sind. Doch könnten diese Hände, wenn das Wesen keine Werkzeuge verwendet, niemals diese Greifanatomie beibehalten haben, sondern hätten sich zu bloßen Schwimmhilfen zurückentwickelt. Erstaunlich, und wider alle wissenschaftliche Theorie: Ein Tier, dass dem Menschen vergleichbare Greifwerkzeuge hat, aber ansonsten, wie wir hier an den Kiemen und dort an den Schuppen erkennen, ganz klar ein Tier des Meeres geblieben ... oder vielmehr geworden ist?! Außerdem stellen mich insbesondere diese Muster im Bauchbereich vor ein Rätsel: Das Muster besteht, wie ich meinen möchte, aus drei Teilmustern und wiederholt sich über die gesamte Bauchpartie – wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass es Schriftzeichen sind. Schriftzeichen, die man ihm eingeritzt hat.«

»Die paar Einstiche hier dürften von meinem Messer herrühren«, fügte Fetterman hinzu und deutete auf einige tiefere Einschnitte. »Diese anderen jedoch, die Muster – ich bin da unten sehr nah an dem Viech dran gewesen, und diese Muster hat es vorher nicht gehabt. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche, Doc!«

Zu viert luden wir das Tier in den Krankenwagen. Ich sagte noch zu den anderen, dass wir kein Wort über unseren Freund verlieren sollten. Dann fuhren Fetterman und ich in meinem Wagen und Hendricks in seinem dem Krankenwagen hinterher. Auch im Memorial waren wir vier es, die das Ding verdeckt unter einem Leichentuch in den Keller fuhren. Dort gab es einen kleinen Raum für gerichtsmedizinische Zwecke, der meines Wissens nie zuvor Anwendung gefunden hatte. Hier lagerten wir das Tier von der Trage auf den Seziertisch um.

»Und was machen wir jetzt, Detective?«, fragte Fetterman.

Einen kühlen Kopf bewahren, dachte ich und stellte eine Gegenfrage: »Was schlägt die Armee in solchen Fällen vor, Larry?«

»Es gibt ein altbewährtes Sprichwort bei den Marines: Wenn es dich töten will, ist es der falsche Zeitpunkt für eine Teepause!«

»Das heißt?«, erkundigte sich Dr. Brody, dessen Augenmerk jedoch dem Sezierwerkzeug galt, das er sorgfältig vor sich auf dem Tisch ausbreitete.

»Das bedeutet«, erklärte Hendricks, »dass wir jetzt zum Strand fahren und diese Mistviecher eins nach dem anderen abknallen!« So heißspornig kannte ich ihn gar nicht. »Ich meine, es hat diese Zeichen auf dem Bauch, die vorher nicht da waren. Das heißt, dass es noch weitere von denen geben muss. Darum sage ich, dass wir denen in den Arsch treten, bevor sie uns in den Arsch treten. Ich meine, wir haben doch Kanonen. Und die sind nur Fische mit Armen!«

»Nein«, sagte ich. »Wir werden uns nicht auf einen offenen Kampf einlassen. Wir haben doch überhaupt keine Ahnung, wie viele von denen dort draußen sind und wozu sie imstande sind.«

»Und was ist, wenn wir dieses Loch einfach zustopfen?«, überlegte Fetterman. »Ich meine, dieses Loch, wie die Jungs es genannt haben, das ist eigentlich vielmehr eine Art Tunnel von etwa dreieinhalb Schritt Länge. Das ist genug Bodenmaterial, um das Loch mit einer kontrolliert durchgeführten Unterwassersprengung für alle Zeit dicht zu machen.«

Niemand sagte etwas. Alle dachten nach. Fetterman entschied die Situation: »Okay, ich geh runter. Was ist nun, wollt ihr den ganzen Tag Däumchen drehen oder bringen wir die Sache jetzt zu Ende?« Zu Hendricks sagte er: »Setz mich bei mir zu Hause ab, dann hol ich das Sprengmaterial und komme mit meiner Lissy direkt zum Strand. Die hat nämlich ein bisschen mehr auf den Rippen, als das kleine Motorboot von heute Mittag. Außerdem will ich, dass du mir Chris Filley holst. Ich kenne niemanden in der Gegend, der so gut mit einer Harpune umgehen kann wie er – außer mir natürlich. Außerdem will ich Jeffrey Gordon dabeihaben. Der kann ein Boot steuern. Falls sie rummucken, sag ihnen, dass ich dich geschickt habe und dass ich sie selbst holen komme, wenn sie nicht gleich ihren Arsch in deinen Wagen kriegen.«

»Ich werde noch ein paar Anrufe tätigen«, fügte ich an. »Zwei zusätzliche Schützen wären vorteilhaft, falls wirklich mehrere von denen auftauchen.«

*

Kurz vor 16 Uhr verließen Hendricks und Fetterman das Krankenhaus. Wir wollten uns um 18.00 Uhr an der dicken Eiche treffen.

Im Keller, gegenüber dem Fahrstuhl, fand ich ein Telefon. Ich rief ein paar Nummern durch, bis ich schließlich vier Leute zusammenhatte. Mehr wollte ich nicht. Was würde ich mir auch anhören müssen, wenn letztlich nichts passierte. Darum rief ich niemanden mehr an, worüber ich heute froh bin, aber aus anderen Gründen: Ein weiterer Helfer hätte nicht mehr genützt, er wäre nur ein Toter mehr gewesen.

Danach rief ich auf der Wache an und sagte Lorraine, sie solle mir Vaughn ans Telefon bringen. Ich fasste ihm die Ereignisse der letzten Stunden zusammen und er hörte geduldig zu. Auch unser Vorhaben, das Loch zu verschließen, hörte er sich kommentarlos an.

Als ich fertig war, fragte er mich im ruhigsten Tonfall: »Und jetzt wollen Sie, dass ich Ihnen sage, was das für Symbole auf dem Bauch sind, nicht wahr?«

»Ja«, erwiderte ich, »ganz genau das will ich.«

»Ich kenne ihre Schriftzeichen nicht. Nur eines, das besser nicht dabei sein sollte. Es besteht aus fünf Linien, welche in der Mitte zusammenlaufen. Jede Linie schlägt eine Welle im Uhrzeigersinn. Und eine einzige Welle fußt auf einem weiteren, einem sechsten, kürzeren Strich, auf dem das gesamte Schriftzeichen steht.«

Aber genau dieses Zeichen war mir im Gedächtnis geblieben, da es am häufigsten abgebildet war. »Was bedeutet dieses Zeichen?«

Stille. Dann: »Evakuieren Sie die Stadt, Detective. Bevor es zu spät ist.«

»Nein, das kann ich nicht«, erwiderte ich. »Ich kann nicht einfach die ganze Stadt evakuieren, nur weil irgendein seltsames Tier angespült wurde. Hören Sie, ich muss jetzt Schluss machen. Ich glaube, Brody hat mich gerufen.« Dann legte ich auf.

Ich ging zu Dr. Brody zurück, wollte mich verabschieden und noch einmal das Tier ansehen. Vielleicht hatte der Doktor irgendetwas herausgefunden, was uns behilflich sein konnte. Unwahrscheinlich in den vergangenen zehn Minuten, aber möglich.

Als ich die Tür zur Gerichtsmedizin auftat, stockte mir der Atem. In nicht einmal fünf Schritt Entfernung stand mir das totgeglaubte Fischwesen gegenüber und hielt Dr. Brodys Kopf zwischen seinen Klauen. Ein Großteil der Wände war mit Blut bespritzt. Das Tier, das seitlich zu mir stand und mich aufgrund der seitlich angebrachten Augen einäugig anstarrte, warf mir in einer unerwartet schnellen Bewegung den Kopf des Doktors entgegen, den ich instinktiv wegschlug, und überbrückte die Entfernung zur Tür mit einer grotesken Fortbewegungsart, zu der es alle vier Gliedmaßen verwendete, die teils affenartig aussah, aber auch etwas anderes, ganz Fremdartiges in sich barg, was ich bei noch keinem mir bekannten Tier gesehen habe. Durch den heranfliegenden Kopf des Doktors und den eigenen Schreck stolperte ich im gleichen Moment ein paar Schritte nach hinten, nicht mehr als zwei oder drei, aber diese dazugewonnene Distanz war es, die zwischen uns beide zwei glücklich platzierte Kugeln aus meinem .38er-Revolver ermöglichten, die in den Oberkörper des Angreifers traten und ihn zurückwarfen.

Das Vieh war keineswegs tot, aber mit diesen Befreiungsschüssen hatte ich mir Platz und Zeit verschafft, um es so ins Visier zu nehmen, dass es die nächsten Schüsse nicht überleben würde. Eine Kugel verfehlte ihr Ziel, die anderen beiden durchschlugen den Kopf, wie ich an der Blutfontäne an der gegenüberliegenden Wand erkannte. Die letzte Kugel jagte ich ihm, als das Mistvieh schon regungslos am Boden lag, dort hinein, wo beim Menschen das Herz gewesen wäre. Dann trat ich ihm das, was von seinem ekligen Fischgesicht noch übrig geblieben war, zu Brei.

Meine Augen tränten. Es musste von der Schusswaffe oder vom Gestank dieser widerwärtigen Kreatur kommen. In meinen Ohren hallte das monotone Fiepen, dass in diesem engen, fast leerstehenden Flur vorprogrammiert war. Ich lud die Waffe nach und verließ das Krankenhaus.

Ich hatte keine Ahnung, wie ich irgendwem erzählen sollte, was dort unten vorgefallen war – zu meiner großen Überraschung schien aber im Erdgeschoss niemand etwas gehört zu haben. Darüber war ich sehr froh, denn ich wollte in diesem Moment nichts so wenig, wie mit Menschen reden, und nichts so sehr, wie dieses verdammte Loch zumachen.

Die übrige Geschichte, das Ende unseres »Wir-retten-die-Stadt«-Abenteuers, ist leider viel zu schnell erzählt:

Ich erreichte den Strand.

Er war ausreichend abgeriegelt und es hatten sich keine Zwischenfälle ereignet, berichtete Hendricks. Jeder der Anwesenden war über unser Vorhaben, seinen persönlichen Beitrag dazu und unseren Gegner informiert worden. Ich musste mehrfach beteuern, dass dies kein Scherz war. Ich hatte schon eins von den Viechern erlegt, sein Blut klebte an meinem Schuhwerk, sein Geruch hing mir in der Nase – so etwas kann einen sehr überzeugend machen.

Zusammen mit Filley machte Fetterman den Käfig zurecht. Die anderen luden ihre Waffen, rauchten und schauten stumm aufs Meer. Wir hatten vereinbart, dass alle Vorbereitungen noch am Strand gemacht werden sollten. Rausfahren, abtauchen, Lunte an, auftauchen, zum Strand fahren, dann der große Knall und alles war vorbei – so der Plan. Keine Verzögerungen, keine Zwischenfälle, rein, raus, fertig. Eigentlich ganz einfach, könnte man meinen.

Gegen 18.30 Uhr waren wir startklar.

Jeffrey Gordon steuerte unser Boot, die »Lissy«. Er sollte, was auch geschehen würde, am Steuer bleiben. Chris Filley übernahm die Steuerung für den Haikäfig und konnte uns mit der Harpune unterstützen. Außerdem waren noch Jack Backlinie und Murray Young mit an Bord, jeder mit einer Schrotflinte ausgestattet. Hendricks und ich waren ebenso mit Schrotflinten bewaffnet und hatten jeder seine .38er-Dienstwaffe im Halfter. Am Strand hielten Dennis Dreyfuss und Jay MacCorkindale ihre Jagdgewehre bereit.

Wir reichten unserer Strandunterstützung die Hände, wünschten viel Glück, lachten dabei. Dann fuhren wir los.

Wir waren über dem Loch, ließen jedoch kein Lot herunter. Wir wollten nicht riskieren, unsere Meeresfreunde dort unten vorzeitig auf uns aufmerksam zu machen. Fetterman sagte, das Loch befände sich genau unter uns, und keiner erhob Einspruch. Hendricks und ich waren backbords, wo sich auch der Käfig befand. Steuermann Gordon war wie vereinbart einen Bogen gefahren und wir schauten mit dem Bug zum Strand, um uns im Notfall schnell aufs Trockene retten zu können, wo wir uns den Kreaturen überlegen glaubten. Unseren Fluchtweg zum Strand sollten Dreyfuss und MacCorkindale freihalten. Young war steuerbords und Backlinie stand am Heck und sicherte uns zum offenen Meer hin ab. Fetterman stieg in den Käfig und gab Filley ein Zeichen, der seinerseits zum Land winkte, dass es jetzt losgehen würde.

Ich schaute ein letztes Mal auf die Uhr, 18.37 Uhr.

Der Käfig tauchte ins Wasser und verschwand unter der Oberfläche. Ich befürchtete, jetzt würden die qualvollen Minuten des Wartens beginnen, in denen man nicht wusste, ob die Mission scheiterte oder gelingen würde. Und wo man die ganze ereignislose Zeit über für den einen entscheidenden Moment vorbereitet sein musste, in dem man alles gab, weil man sonst alles verlieren würde.

Aber es kam viel schlimmer.

Der Käfig war noch keine 20 Sekunden unter Wasser, da tauchte Fetterman ohne Käfig auf, spuckte sein Atemgerät aus und schrie: »Löcher, überall sind Löcher! Verschwindet!« Dann verschwand er.

Im nächsten Moment legte sich das gesamte Boot ruckartig nach Backbord, vielleicht 20°, was ausreichend war, um die meisten von uns ins Schwanken zu bringen. An der gespannten Kette, die zum Käfig führte, erkannte ich, dass die Biester daran zogen. Am Heck platschte es – ich wusste es zu dem Zeitpunkt nicht, aber Backlinie würde ich ebenso nie wieder sehen. Hendricks und ich hatten an der Reling Halt gefunden und ich schrie ihn an, obwohl er gleich neben mir stand, dass er schießen solle. Dann gab ich drei Schüsse entlang der Kette ab und Hendricks ebenso.

Geistesgegenwärtig versuchte Filley, die Kette vom Boot zu lösen. Ich sah aus dem Augenwinkel, dass Young seinen Posten verließ und zum Heck rannte. Er muss versucht haben, Backlinie zu retten. Gordon startete den Motor und schrie, dass wir die Kette lösen sollten, womit Filley gerade in diesem Moment fertig wurde. Ich hatte drei weitere Schüsse in Richtung Kette abgegeben, wo ich die Tiere vermutete. Dann musste ich nachladen und auch Hendricks Flinte war leergeschossen. Ich rief, dass er die Schrotflinte hinlegen und mit seinem Revolver aufpassen solle, falls welche von den Viechern auftauchten, während ich die Waffen nachladen und ihm hintereinander geben wollte. Beim Nachladen glitt mein Blick erneut Richtung Steuerbord, wo ich diese entsetzlichen Krallen über die Reling greifen sah und gleich darauf die dazugehörige Kreatur, die sich an Bord schwang und mich mit ihren riesigen Fischaugen fixierte.

Mir stockte das Herz, dann knallte es und die Kreatur schlug mit voller Wucht aufs Deck, wo sie unbeweglich liegen blieb. Natürlich, Dreyfuss oder MacCorkindale mussten sie vom Strand her erwischt haben!

Ich wollte das Gewehr weiterladen, da sprang eine zweite Kreatur Steuerbord an Deck, ein Schuss vom Strand ging daneben, die Kreatur watschelte mit einer ungeheuerlichen Geschwindigkeit zum Heck, ich sah Filley, wie er nach seiner Harpune griff und der Kreatur nachlief. Ich selbst drückte Hendricks die geladene Schrotflinte in die Hand und rannte Backbord Richtung Heck, zog meinen Revolver und sah, wie die Kreatur von der Harpune in den Rücken getroffen ins Straucheln geriet, Young an der Schulter packte und mit ihm über Bord ging. Filley und ich kamen am Heck an und schauten ins Wasser, Young schwamm nah hinter dem Boot, griff danach, wollte sich raufziehen. Filley und ich packten jeweils eine Hand von ihm und zogen, da schoss eine der Kreaturen wie ein Delphin aus dem Wasser, packte Filley mit der einen und verfehlte mich nur knapp mit der anderen Klaue, und verschwand wieder im Wasser. Filley und Young waren ebenfalls fort.

Das war der Moment an dem ich sicher war, dass ich sterben würde. Ich drehte mich zu Hendricks um, er schaute Richtung Steuerbord und schoss. Von hinten packte ihn eine der Kreaturen, die aus dem Wasser in die Höhe gesprungen war, und Hendricks kippte rückwärts über die Reling und verschwand. Auch ich hatte meinen Posten verlassen, es war meine Schuld. Ich lehnte mich an die Reling und wartete darauf, dass mich einer der Springer packen würde. Hier hinten konnte mich keiner mehr sehen: Den Strandleuten war das Schiff im Weg und unser Steuermann Gordon hatte nur noch Augen für das rettende Ufer, auf das er zuhielt. Was soll’s, dachte ich.

Dann strandeten wir und ich rannte von Deck, aber mein Kopf war leer und ich fühlte nichts mehr, gar nichts, auch kein großes Bedürfnis, mein Leben zu retten. Ich rannte, weil die anderen rannten, und ich rannte immer weiter, sprang geistesabwesend in meinen Dienstwagen, fuhr nach Hause, lud meine Frau Ellen und meine Tochter Kelly in den Wagen und verließ Linton.

Meine Frau schrie mich an, ich solle ihr sagen, was los sei und warum wir nicht Ben suchen gingen, wenn etwas Schlimmes in der Stadt passierte. Doch ich sagte nur, dass wir schnell weg müssten. Das wiederholte ich immerfort, auch wenn sie mich schlug und mir ins Lenkrad griff, ich sagte nur, dass wir schnell von hier weg müssten. Ich weiß nicht, warum ich Ben nicht suchen ging.

*

In unserem ersten Gespräch haben Sie mir gesagt, dass weder Gordon noch Dreyfuss oder MacCorkindale aufzufinden seien. Das hat mich immer gewundert, weil es einer von den dreien gewesen sein muss, der die Evakuierung veranlasst hat. Sonst wären heute weitaus mehr als nur 300 Menschen verschwunden. Aber entgegen den Berichten Ihrer Experten sind diese Menschen nicht spurlos verschwunden.

Ich habe es gesehen, ich war dort, als ich eines der Biester erledigen wollte. Sie haben sehr viele Hinweise hinterlassen: Fotoalben, Briefe, Urkunden, Hochzeitsgeschenke, Haustiere. Menschen auf der Flucht haben keine Bedenken, einen teuren Fernseher zurückzulassen, aber ihre Identität, ihre Erinnerungen nehmen sie immer mit! Das müsste Ihren Experten aufgefallen sein, wenn sie die Häuser der Geflohenen mit den Häusern der spurlos Verschwundenen verglichen hätten. Und dass sie in den Häusern der Verschwundenen keinerlei Anzeichen für Einbruch oder Gewaltanwendung haben finden können, beweist nur, dass die Kreaturen über Fähigkeiten verfügen, die über ihre bloße Anzahl und körperliche Kraft weit hinausgehen.

Auch der Umstand, dass im Memorial weder die Überreste von Dr. Brody noch die des erlegten Tieres zu finden waren und dass Fettermans Boot samt aller beim Gefecht Getöteten spurlos verschwunden ist, beweist, dass wir es mit äußerst intelligenten und sorgsam vorgehenden Gegnern zu tun haben; insbesondere, wenn wir noch den Befund Ihrer Taucher einbeziehen, nach welchem kein einziges Loch auf dem Meeresgrund gefunden wurde.

Damit möchte ich diesen Bericht beenden.

Ich danke Ihnen, dass Sie sich die Zeit genommen haben, dies zu lesen, und die Zeit nehmen werden, meine Leiche und die der Kreatur im Hotelzimmer zu finden und zu untersuchen. Tun Sie mir bitte noch einen letzten Gefallen und überreichen den Brief in der Schublade meiner Frau Ellen.

Sonst bleibt mir nichts mehr zu sagen.

Passen Sie auf sich und ihre Lieben auf.

S. Hooper