Über den Styx muss jeder alleine

– Fragmente eines Albtraums –

Antonia Schmalstieg

Meiner Schwester J.-H. H. gewidmet, in der Hoffnung, dass wir uns auf der anderen Seite wiedersehen.

Es ist nebelig.

Ich erinnere mich nicht, in diese Höhle gekommen zu sein.

Auch nicht wie.

Wo mein Kopf sein sollte, pocht es dumpf. Als ich nach meinem Gesicht tasten will, erkenne ich, dass meine Hände verbrannt sind. Die aufgeplatzte Haut schält sich von feuergetrocknetem, porösem Fleisch, das stellenweise bis zu den Knochen aufgebrochen ist. Ich erinnere mich gehört zu haben, dass Verbrennungen nässen, doch meine Hände sind nur trockenes, verkohltes Fleisch auf blanken Knochen.

Einige Momente wirkt diese Erkenntnis auf mich, bis sich eine weitere in meinem Nicht-Hirn formt, auch wenn ich sie nicht fassen kann.

Mir wird übel.

Für eine Weile verliere ich meinen Geist und irre - einem Neugeborenen gleich - durch die Höhle, unfähig die grundlegendsten Konzepte der Existenz zu verstehen.

Erst als ich, einem aufkeimenden Instinkt folgend, nach einem grünlichen Licht hasche, es zu Staub zerfallen sehe, kann ich meine Gedanken wieder ordnen.

Ich sehe mich um.

Der Ort an dem ich mich befinde weist keine Ähnlichkeit mit Orten auf, an denen ich je war. Es ist zwar eine Höhle, doch etwas ist anders. Ich sehe weder Tropfsteine noch steinerne Wände. Auch ist es nicht feucht, obwohl dichter Nebel mich umringt. Der Boden fühlt sich seltsam weich und dumpf an, doch traue ich mich nicht in die Knie zu gehen, um ihn anzufassen.

Mit ausgestreckten Armen taste ich mich kreisförmig durch die Höhle. Es dauert einige Zeit bis ich seltsam anmutende Regelmäßigkeiten erkenne.

An gewissen Punkten meiner Bahnen scheint mich eine seltsame Leere zu umfangen, meine Bewegungen werden langsam, schwer und plump. Je weiter ich mich von meinem Ausgangspunkt entferne, desto unmöglicher wird es mir, mich an diesen Punkten auf den Beinen zu halten. An anderen Stellen wiederum gehorchen mir meine Glieder auf eine fast körperlose, transzendente Weise, umfängt mich eine seltsame, süßliche Wärme. Ich übersehe die Erkenntnis, dass mich dieses Zusammenspiel auf einen Punkt zuzutreiben scheint.

So lasse ich mich treiben. Willenlos. Genieße das Zusammenspiel von Anspannung und Entspannung. Zerfließe in dem Wechsel aus Wärme und Auflösung.

Halbe Ewigkeiten vergehen, dann ändert sich die Umgebung. Ich bin mir nicht sicher, ob es daran liegt, dass ich gegangen bin oder mein Umfeld sich unmerklich transformierte. Der Nebel wird lichter und in der Ferne zeichnet sich eine glatte, schwarze Fläche ab. Sie wirkt wie erstarrtes Vulkanglasgestein. Ein implizierter, starker Sog zieht mich in diese Richtung und mit jedem Schritt wird mein Geist klarer. Hoffnungsvoll laufe ich, schneller und schneller, und als ich die Fläche erreiche muss ich erkennen, dass es sich um einen Fluss handelt, der mir den Weg versperrt.

Rasend vor Enttäuschung schreie ich. Es bleibt still, doch selbst mir erscheint der Widerhall meines Schreis angsteinflößend und unnatürlich. Wie von Sinnen beginne ich zu suchen - weiß nicht wonach. Bis ich einen Steg ins Wasser ragen sehe, modrig und fast ebenso schwarz wie das Wasser.

In einer Wolke aus Asche und verbranntem Fleisch hetze ich auf den Steg zu und in kurzer Folge prügeln meine trockenen Fäuste auf das morsche Holz ein. Ich schreie, wüte und genieße das Gefühl von Holzsplittern, die in meinen Fäusten stecken bleiben und sich mit jedem Schlag tiefer in das Fleisch bohren.

Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergeht, und auch nicht, ob die Splitter, die umherspritzen und ins Wasser fallen, von dem Stegholz rühren oder von meinen eigenen Knochen, doch werden meine Bewegungen müde und verlieren an Kraft. Plötzlich bemerke ich, dass vor mir ein Mann aufragt - mager, skeletthaft und unnatürlich groß. Gebeugt stützt er sich auf den Steuerhebel eines altertümlichen Fährkahns. Dieser Kahn mutet fast noch schwärzer an als das Wasser des Flusses. Obwohl er einen überaus alten, abgewetzten und morschen Eindruck macht, scheint er regelrecht darüber zu schweben.

Stumm und ausdruckslos betrachtet der Mann mich eine Weile, wie er es schon längere Zeit getan haben muss. Er trägt einen schwarzen Mantel. Ich sehe kaum sein Gesicht, doch erscheint es mir unglaublich müde. Einen kurzen Moment legt er seinen Kopf schief. Ich glaube, ein Knarren zu vernehmen. Sein Atem ist lang und rasselnd.

»Einen Obolus kostet die Überfahrt.«

Der Klang des Satzes scheint in diese Höhle wie eingegraben zu sein, Milliarden mal gesprochen, so dass der Wiederhall niemals ganz verklingt und tosend anhebt, spricht jemand ihn erneut.

Ich sehe den Fährmann fragend an.

»Ich nehme alles ... Euro, Dollar, Yen ... gib mir einfach eine Münze.« Es wirkt resigniert.

Instinktiv möchte ich in meine Tasche greifen, fühle aber nur Asche. Die Erkenntnis, dass ich bis auf ein paar Fetzen eingebrannten Synthetik-Gewebes nackt bin, schockiert mich fast noch mehr als die Gewissheit, dass mein Fleisch augenscheinlich bis auf die Knochen heruntergebrannt ist.

Panik steigt in mir hoch.

Hilfesuchend schaue ich mich um, sehe Schemen am Flussufer stehen. Sie scheinen mich nicht wahrzunehmen. Verzweiflung schnürt mir die Kehle zu. Ich ringe mir ein Kopfschütteln ab, bevor panische Krämpfe nach meinen Körper greifen. Der Mann wartet bis es vorüber ist. Ich bilde mir ein, so etwas wie Bedauern in seinem Blick zu erkennen.

»Dann wirst du wohl schwimmen müssen.«

Ich nicke abwesend. Doch als ich meinen Fuß in das Wasser strecke, explodiert die Welt um mich. Ich spüre mein Fleisch brennen - schreie, schreie, schreie.

Spüre den Moment meines Todes - immer und immer wieder. Etwas kriecht mein Bein hinauf. Kurz sehe ich das Gesicht einer Frau, dunkel und fahl. Sie wirkt so schwarz wie das Wasser des Flusses. Dann verliere ich mich, um mich herum Flammen. Zu meinen eigenen Schreien gesellen sich die einer anderen Frau. Ich kann sie nicht zuordnen, doch steigern sie meinen Schmerz und meine Verzweiflung ins Unermessliche. Es fühlt sich so unglaublich falsch an. Ich merke, wie ich das Gleichgewicht verliere. Brennende Stützbalken brechen auf mich nieder. Ich taumele zurück ...

Dann ist alles still.

Ich liege auf dem Steg. Der Fährmann betrachtet mich immer noch; wartend, still, müde.

Der aus dem Wasser gezogene Fuß ist von einer Eisschicht überzogen. Als ich aufzustehen versuche, zersplittert er. Ich schreie, eher vor Schreck denn vor Schmerz, denn es tut nicht weh.

Gehetzt sehe ich mich um.

Etwas ... jemand ... fängt meinem Blick. Am anderen Ufer steht eine Frau. Sie ist groß, blondhaarig und trägt ein langes, weißes Kleid. Ich sehe ihr Gesicht nicht, weiß aber, dass ich sie kenne - weiß, dass sie ebenso verbrannt sein müsste, wie ich es bin. Ich begreife, dass ich sie nicht hier sehen will. Nicht will, dass sie hier ist.

Ich möchte bei ihr sein, aber nicht hier!

Ich rufe ihr zu, doch sie scheint mich nicht zu hören. Ich schreie bis mir die Stimme versagt und ich weinend in mich zusammensinke.

»Sie ist bereits drüben«, sagt der Fährmann. Seine Stimme klingt fast sanft. »Du solltest schwimmen, Kind.«

Ich schüttele nur den Kopf.

»Ich werde sterben«, wimmere ich und halte meinen zerbrochenen Fuß.

Der Fährmann betrachtet mich lange. Er kann mir nicht helfen. Ich fühle es.

Apathisch krieche ich erneut auf den Rand des Steges zu. Doch dieses Mal strecke ich nicht nur den Fuß ins Wasser. Mit geschlossenen Augen falle ich hinunter. Die fahle Frau schießt durch die Fluten, hält mich in ihren Armen. Sie drückt mich. Erst sanft, liebkosend, wie eine Mutter, dann immer fester. Ich spüre meine Knochen brechen, meinen Schädel splittern. Feuer tanzt über meinem Fleisch. Ich fühle eine klebrige Flüssigkeit auf meinen Wangen verdampfen.

Feuer. Überall Feuer.

Ich huste vor Rauch, taumle, verliere die Orientierung.

Wo ist sie?

Flüchtig meine ich, irgendwo brennendes, blondes Haar zu sehen. Ich stürze darauf zu. Es knarrt über meinem Kopf. Brennendes Gebälk stürzt auf mich ein. Ich schreie, schreie ihren Namen. Es wird schwarz.

Als ich zu mir komme, rieche ich Rauch. Flammen tanzen über meinen Körper. Ich spüre, wie sich der letzte Rest Haut von meinem Fleisch abschält. Jetzt tut es weh.

Wo ist sie?

Wieder schreie ich ihren Namen.

In einem letzten Aufbegehren meines Wesens erinnere ich mich an das, was der Fährmann mir zurief, als ich ins Wasser fiel: »Über den Styx muss jeder alleine.«