Wie nehmen Sie andere wahr?
Zur Einschätzung anderer Menschen benötigen wir Informationen. Diese holen wir uns aus aktuellen sowie ggf. auch vergangenen Beobachtungen. Der Rest läuft dann eigentlich automatisch in unserem Gehirn ab. Doch so klug unser Geist auch ist, er kann nur das verarbeiten, was bei ihm ankommt, und dieses auch nur mit dem abgleichen, was bereits als Wissen oder Erfahrung abgespeichert ist. Und genau hier kommt es zu individuellen Einschränkungen und Verzerrungen.
Unser Wahrnehmungsprozess
Über verschiedene Sinnesorgane nehmen wir Vorgänge in uns und unserer Umwelt wahr. Wir sehen einen anderen Menschen, riechen ihn, spüren seine Hand beim Händeschütteln, hören den Klang seiner Stimme. Diese Erfahrungen werden an unsere Großhirnrinde weitergeleitet, werden dort verarbeitet und führen uns schließlich zu einer Reaktion. Automatisch verknüpft werden dabei unsere Wahrnehmungen mit unserer individuellen Lerngeschichte: mit Erfahrungen, Einstellungen und Überzeugungen, Erwartungen und Interessen. All dies führt dazu, dass wir unsere Umwelt auf ganz bestimmte Weise wahrnehmen – eingefärbt und stark selektiv. Wir wählen nämlich unbewusst auch nur bestimmte Dinge aus unserer Umwelt aus. Vieles gelangt gar nicht erst in unser Wahrnehmungsfeld. So erklärt sich, warum wir manche Gegenstände nicht gesehen oder auch Aussagen von anderen nicht gehört haben, während ein anderer Mensch in derselben Situation diese Dinge registriert hat, aber wiederum vielleicht Aspekte, die uns aufgefallen sind, ausgeblendet hat.
Was wir aus unserer Wahrnehmung ableiten
Wenn wir einen anderen Menschen treffen, nehmen wir sein verbales und nonverbales Verhalten wahr: Wie bewegt er sich, wie und über was spricht er, wie geht er mit mir um? Aus diesen Informationen leiten wir dann Beweggründe und Erklärungen für sein Verhalten ab. Wir schreiben ihm folglich ganz bestimmte Eigenschaften zu und entwickeln Annahmen über sein künftiges Verhalten – ein Vorgang, den man in der Psychologie Attribution nennt.
Beispiel: Der ist doch bestimmt …
Der Herr mit Krawatte uns schräg gegenüber in der S-Bahn sieht streng und akkurat aus. Sein Notebook ruht auf seinen Oberschenkeln. Er ist gerade in die FAZ vertieft, als sein Handy schrill klingelt. Es geht um irgendwelche Investments. Sofort schießt uns durch den Kopf: Der ist bestimmt Banker.
Blitzschnell haben wir ein Urteil über diesen fremden Menschen parat. Und oft finden wir unsere Schlussfolgerungen und Erwartungen sogar bestätigt – kein Wunder, denn wir suchen nach Bestätigung! Wir fokussieren uns auf die Handlungen und Äußerungen, die unser Urteil untermauern.
Beispiel: Bestätigt!
Unser Krawattenträger spricht nun von einem Termin in der Bank. Klar, wussten wir's doch: ein Banker! In Wirklichkeit dreht sich das Gespräch vielleicht um eine rein private Angelegenheit und der Mann in Anzug und Krawatte ist Wirtschaftsingenieur auf dem Weg zu einem Kundentermin …
Es ist natürlich leichter, schnell einen Haken hinter einen bestätigten ersten Eindruck zu setzen und damit den Menschen kategorisiert zu haben, als nach weiteren Kriterien Ausschau zu halten, die unser Bild möglicherweise verändern würden. Versuchen Sie dennoch im Sinne einer besseren Menschenkenntnis, umfassender und länger zu beobachten und Ihre Einschätzung infrage zu stellen.
Übung: Schulen Sie Ihre Wahrnehmung
Beobachten Sie andere Menschen: auf Ihrem Weg zur Arbeit in öffentlichen Verkehrsmitteln, beim Schlangestehen vor einer Kasse oder auf einer Veranstaltung. Nehmen Sie möglichst viele Facetten wahr: Kleidung, Mimik, Accessoires, Körperhaltung, Gestik … Was geht Ihnen dabei durch den Kopf? Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie aus Ihren Wahrnehmungen? Überprüfen Sie, wenn möglich, den Wahrheitsgehalt Ihrer Vermutungen. Seien Sie dabei bewusst auf der Suche nach Fehleinschätzungen. Fragen Sie auch Ihre Begleitung, was sie bei diesen Menschen wahrgenommen hat und gleichen Sie Ihre Ergebnisse ab.
Der erste Eindruck
Menschen wirken auf uns. Sie rufen in uns Ideen, Vorstellungen, Sympathie oder Antipathie hervor. Wir spüren sofort, ob wir einem Menschen trauen und ihn für kompetent halten oder nicht. Das alles passiert innerhalb weniger Sekunden. Wir müssen dazu gar nicht mit einem Menschen ins Gespräch kommen, um einen ersten Eindruck von ihm zu haben. Seine nonverbalen Signale, die Körperhaltung, seine Kleidung, sein Gang, der Blick, seine Mimik und Gestik senden uns alles, was wir für eine schnelle Bewertung brauchen. Doch nicht immer bewahrheitet sich unser erstes Bild. Manchmal müssen wir nach einem ersten Austausch mit dem Fremden feststellen, dass wir unser Urteil – zumindest in Teilen – revidieren müssen.
Beispiel: Ein erster Eindruck
Robert steht zu Beginn des zweitägigen Seminars abseits und beobachtet. Dann setzt er sich auf einen Stuhl und blättert in den Unterlagen. Roberts Mine ist versteinert, sein Blick skeptisch. Kontakt zu anderen Seminarteilnehmern sucht er nicht.
Der erste Eindruck, den Robert bei vielen anderen Teilnehmern hinterlässt, ist Arroganz und Ablehnung. Keiner hat das Bedürfnis, auf ihn zuzugehen, weil Robert mit seiner Körpersprache signalisiert, dass er sich nicht unterhalten will. Wie sich später herausstellt, ist Robert tatsächlich kein Mensch, der offen auf Fremde zugeht, sondern eher abwartet. In Gesprächen hat er die Befürchtung, nicht interessant genug für andere zu sein. Daher spricht er lieber weniger und nur über Themen, in denen er sich absolut auskennt. Robert ist schüchtern. Er ist ein introvertierter Typ, der Angst vor Ablehnung hat. Der Eindruck, den er bei den anderen Seminarteilnehmern hinterlassen hat, ist also nur bedingt richtig. Robert wirkt zwar im ersten Moment arrogant. De facto rührt seine Haltung aber aus einer großen inneren Unsicherheit.
Wichtig
Es gibt keine zweite Chance für einen ersten Eindruck. Mit einem zweiten Blick werden Sie jedoch den meisten Menschen eher gerecht.
Der Schein trügt: Wahrnehmungsfehler
Unsere Wahrnehmung unterliegt diversen Verzerrungen und Fehlern. Machen Sie sich daher hin und wieder bewusst, was in Ihnen passiert, um mögliche Fehler zu vermeiden:
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Erwartungen und Vorstellungen: Diese verengen unseren Blick bezüglich einer Person oder Situation. So kommt es, dass sich vieles nach dem Prinzip der „sich selbst erfüllenden Prophezeiung“ entwickelt.
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(Vor-)Informationen von anderen: Verknüpfen wir diese mit unseren Erfahrungen und Meinungen führen oft zu Vorurteilen gegenüber anderen Menschen.
Beispiel: Wie Vorurteile entstehen
Sie haben einen Kollegen in der Nachbarabteilung, von dem Sie wissen, dass er oft krank ist. Von einer anderen Kollegin haben Sie gehört, dass er seine Arbeit nicht besonders schnell erledigt. Für Sie ist nun klar, dass der Kollege zu den „unfähigen Krankmachern“ gehört, die die Firma durchschleppt, während Sie sich zu den Leistungsträgern zählen.
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Subjektive Persönlichkeitstheorien: Der Beobachter hat eine ganz bestimmte Vorstellung davon, welche Eigenschaften zusammengehören. Einen Mensch, der z. B. sportlich aktiv ist, hält er auch für beruflich erfolgreich. Solche Eigenschaften werden automatisch zugeordnet, ohne dass sie beobachtet werden.
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Stereotype: Menschen, die einer bestimmten Gruppe angehören, werden mit denselben Attributen verbunden, die dieser Gruppe zugeschrieben werden, wie z. B.: „Informatiker sind introvertiert und können sich nicht durchsetzen“.
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Ähnlichkeitsphänomene: Wir bewerten einen Menschen besser, der uns selbst in Verhalten und/oder nach Herkunft ähnelt. Auch Vergleiche zwischen anderen Menschen werden unbewusst hergestellt.
Beispiel: Gleiches Aussehen, gleiche Eigenschaften?
Ihr neuer Nachbar sieht aus wie Ihr Chef, mit dem Sie überhaupt nicht klar kommen. Automatisch werden Sie Ihren Nachbarn eher meiden, weil Sie ihm ähnliche Eigenschaften wie Ihrem Vorgesetzten zuschreiben und damit eine angenehme nachbarschaftliche Beziehung für unmöglich halten.
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Projektion: Eigene Wünsche oder Stimmungen werden auf andere Personen projiziert. Dabei spielt die aktuelle Befindlichkeit eine wesentliche Rolle. Eigene Verhaltensweisen werden dann vermeintlich am anderen ausgemacht, der jedoch nur eine Projektionsfläche darstellt. Der unfreundliche Bäcker am Morgen ist also vielleicht nur die Projektion unserer eigenen Morgenmuffeligkeit.
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Attributionsfehler: Ereignisse können verschiedenen Ursachen zugeschrieben werden. Auf der Suche nach Erklärungen laufen wir Gefahr, eine (ungeliebte) Person für Misserfolg verantwortlich zu machen, ohne dabei über andere Ursachen oder widrige Umstände nachzudenken.
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Schubladendenken: Sie haben sie sicher auch, Ihre persönlichen Schubladen, auf denen vielleicht steht: „Geht gar nicht“, „Langweiler“, „Besserwisser“ oder „Dummschwätzer“. Menschen landen schnell in unseren individuellen Positiv- oder Negativ-Schubladen. Aber ist das rasche Urteil gerechtfertigt? Geben Sie diesen Menschen eine Möglichkeit, aus ihrer Schublade wieder herauszukommen?
| Checkliste: Aufmerksam wahrnehmen und einschätzen |
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Wir sehen nur Ausschnitte
Wir können nur das wahrnehmen, was andere uns zeigen – und das ist natürlich immer nur ein Ausschnitt und nicht unbedingt repräsentativ für diese Person. Wir können daher nie von einer Situation auf die ganze Persönlichkeit schließen. Wir müssen immer bedenken, dass das gezeigte Verhalten tagesformabhängig und situationsspezifisch ist. Und oftmals sind andere ja gerade darum bemüht, nur ganz bestimmte Aspekte von sich zu zeigen!
Menschen in Ausnahmesituationen
Menschen (re-)agieren meist in einer für sie typischen Weise, aber eben nicht immer. Aktuelle Gefühlslagen, gesundheitliche Einschränkungen oder außergewöhnliche Bedingungen sorgen dafür, dass ein anderes als das übliche Verhalten gezeigt wird.
Beispiel: Extremsituation
Andreas ist eigentlich ein ruhiger, kooperativer Mitarbeiter, der noch nie negativ aufgefallen ist. Heute aber in der Verhandlung mit dem Kunden rastet er regelrecht aus: Er beschuldigt ihn lautstark, unfair und unzuverlässig zu sein, gestikuliert hektisch und verlässt dann aufgebracht den Besprechungsraum.
Um Andreas' Verhalten zu verstehen, muss man seinen privaten Hintergrund kennen: Sein Vater ist kürzlich verstorben, bei seiner Frau wurde Krebs diagnostiziert, er selbst kämpft mit finanziellen Schwierigkeiten. Er steht unter Stress, was bei ihm untypische und extreme Verhaltensweisen hervorruft.
Auch neue Situationen oder fremde Menschen verursachen in uns oftmals andere Gedanken und Gefühle als ein vertrautes Umfeld. So zeigen wir unterschiedliche Facetten von uns, die für Außenstehende verwirrend sein können.
Menschen in Anpassungssituationen
Für viele Menschen macht es einen Unterschied, ob sie sich im Beruflichen oder Privaten bewegen. Dem machtbewussten Chef oder dem intrigierenden Kollegen gegenüber werden sie sich vermutlich vorsichtig verhalten, auch wenn dies vielleicht gar kein typischer Wesenszug von ihnen ist. Oder sie lassen zuhause ihren inneren Chaoten regieren, während sie in der Firma bemüht sind, ihren Schreibtisch stets aufgeräumt zu halten und immer pünktlich zu Meetings zu erscheinen.
Wir passen uns also den äußeren Umständen an und zeigen oftmals ein rein nutzenorientiertes Verhalten – um uns zu schützen, um Vorteile zu erzielen, um ein positives Bild von uns abzuliefern.
In der folgenden Tabelle sehen Sie einen Überblick: Was in uns vorgeht und was nach außen sichtbar wird, anhand der Figur des Andreas aus dem Beispiel „Extremsituation“.
| Was in Andreas vorgeht | Was andere sehen |
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| Emotionen/körperlicher Zustand | Körpersprache/Stimme |
| Trauer um den verstorbenen Vater. | Hektische Bewegungen, v. a. Gestik. |
| Angst vor dem Tod seiner Frau; drohende Einsamkeit. | Hochgezogene Schultern, krummer Rücken. |
| Hilflosigkeit wegen mangelndem Einfluss auf Krankheitsverlauf. | Angespannte Mimik: zusammengepresste Lippen, fester Kiefer, Stirn in Falten, lacht nicht. |
| Wut auf Ärzte, da sie Erkrankung zu spät erkannt haben. | Kleine, traurige Augen oder vor Wut blitzend. |
| Angst vor finanziellem Ruin → Existenzangst. | Extreme Stimmungsschwankungen (leise, traurig, zurückgezogen/laut, hektisch, aufbrausend). |
| Schlafstörungen → | Verhalten |
| Verspannungen, Kopfschmerzen, Müdigkeit, innere Unruhe, geschwächtes Immunsystem. | Kommt morgens spät, geht früh oder unterbricht Arbeitszeit für ein paar Stunden; an privaten Feierlichkeiten nimmt er nicht teil. |
| Persönliche Instabilität, Überforderung, depressive Verstimmtheit. | In Besprechungen stumm, schaut zum Fenster hinaus. |
| Einstellungen/Motive/Werte | Ist unzuverlässig, macht Fehler. |
| Wie wird die Krankheit verlaufen? Wie soll ich das alles schaffen? Welchen Sinn hat dann mein Leben noch? | Fragt öfters nach, vergisst einfache Erledigungen. |
| Die Arbeit interessiert mich nicht – ich hab' andere Sorgen. Das Wichtigste ist, dass meine Frau wieder gesund wird. Was andere gerade von mir denken, ist mir egal. | Fährt andere plötzlich an, stößt diese mit harten/direkten Aussagen vor den Kopf. |
| Auf einen Blick: Worauf Sie achten sollten |
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