5. KAPITEL

Feathers wollte ihr das nächste Foto zeigen, aber Carol hielt ihn zurück.

„Warten Sie, bitte. – Dieser Mann neben meiner Freundin, wer ist das?“

„Er hieß Brent, mehr weiß ich nicht über ihn. Bei meinen Führungen gebe ich jedem Teilnehmer ein kleines selbstklebendes Schild, auf das er seinen Vornamen schreiben soll. Wenn jemand eine Frage stellt, dann kann ich ihn direkt mit seinem Namen ansprechen. Das gefällt den Leuten und macht die Führung persönlicher. Schwierig ist es nur bei Asiaten, die aus Gewohnheit Schriftzeichen statt Buchstaben schreiben. Ich kann zwar etwas Chinesisch sprechen, aber nicht lesen“, erklärte er.

Das war Carol momentan völlig egal. Sie versuchte, sich ihre Aufregung nicht anmerken zu lassen.

„Ich finde das Foto von meiner Freundin sehr schön. Gibt es noch mehrere Aufnahmen, wo sie mit diesem Brent zu sehen ist?“

„Schauen wir doch mal“, meinte Feathers und klickte durch die übrigen Bilder, die er während des Rundgangs gemacht hatte. Es gab noch drei weitere Fotos, auf denen Tricia gemeinsam mit Brent zu erkennen war.

„Ist meine Freundin eigentlich mit diesem jungen Mann gekommen?“, fragte Carol.

„Nicht dass ich wüsste. Glauben Sie, er hat etwas mit ihrem Tod zu tun? Heute Morgen kam im Radio die Meldung, dass die Polizei den Täter verhaftet hat.“

Carol wollte ihren Verdacht erst einmal für sich behalten, denn ihr fehlten die Beweise. Wenn sie jetzt behauptete, anstelle der Polizei den wahren Täter fassen zu wollen, würde Feathers sie für verrückt halten und das Gespräch beenden.

„Ja, der Mörder sitzt schon im Gefängnis. – Ich habe eine große Bitte, Mr. Feathers. Könnten Sie mir diese Fotos auf mein Handy schicken? Ich hätte sie gern als Erinnerung.“

„Kein Problem, Miss Garner. Ich fürchte nur, dass ich Ihnen ansonsten nicht helfen konnte.“

„Oh, Sie haben mir sehr geholfen. Ich möchte einfach nur erfahren, wie Tricia am Tag ihres Todes ihre Zeit verbracht hat.“

Und das war noch nicht einmal gelogen. Carol erhoffte sich dadurch, den wahren Mörder zu finden. Das sagte sie Feathers allerdings nicht. Nachdem sie ihm ihre Handynummer gegeben hatte, sandte er die Fotodateien bereitwillig auf ihren Apparat.

Sie bedankte sich für die Einladung zum Tee und verließ das Lokal. Carol brannte darauf, Eve die Neuigkeiten mitzuteilen. Doch das Handy ihrer neuen Mitbewohnerin war ausgeschaltet. Wahrscheinlich zog sich der Besuch bei ihrem Professor in die Länge.

Carol konnte jedenfalls nicht mehr warten. Während sie ziellos von der Soho Street Richtung Oxford Street schlenderte, ging sie mit ihrem internetfähigen Handy online. Den Nachnamen von Brent hatte sie schnell herausgefunden. Auf der Teilnehmerliste, die sie heimlich abfotografiert hatte, gab es nur einen Brent, nämlich Brent Temple.

Eine Verwechslung war unmöglich. Als Carol bei dem Netzwerk London Faces diesen Namen eingab, erschien sofort sein Eintrag. Carol musste zugeben, dass er auf seinem Passfoto noch besser aussah als auf dem Schnappschuss von Arnold Feathers. Sie konnte schon verstehen, dass Tricia mit ihm geflirtet hatte. Aber bei der Vorstellung, dass er ihr Mörder war, drehte sich Carols Magen um.

Sie presste ihre Lippen aufeinander. Noch gab es nicht den geringsten Beweis dafür. Schließlich hatte auch die Polizei die Teilnehmer der Führung unter die Lupe genommen. Aber Inspektorin Victoria Shepley kannte nicht Tricias Männergeschmack. Sonst wäre ihr dieser Brent nämlich sehr verdächtig vorgekommen. Das war jedenfalls Carols Meinung.

Sie checkte das Profil bei London Faces intensiver.

Brent Temple stammte nicht aus London, sondern war in Bristol geboren. Er studierte seit einem Jahr Journalismus und war drei Jahre älter als Carol. Zu seinen Hobbys gehörte neben feiern gehen auch noch Bogenschießen und Joggen. Bogenschießen? Das war zumindest ein ungewöhnlicher Sport. Sein Lieblingsautor war Edgar Allen Poe. Das passte zusammen. Wer die düsteren unheimlichen Geschichten dieses amerikanischen Schriftstellers liebte, der meldete sich auch für einen gruseligen Abendspaziergang durch Whitechapel an.

Carol musste diesen Brent unbedingt kennenlernen. Wenn sie ihm gegenüberstand, dann würde sie sofort spüren, ob er ihre Freundin auf dem Gewissen hatte. Davon war sie fest überzeugt.

Es war nicht schwer, seine Adresse herauszubekommen, die zwar nicht bei London Faces angegeben war, aber dafür in der Online-Version des Telefonbuchs stand. Brent lebte in Brixton.

Carol fuhr mit der U-Bahn bis zur Endstation auf dem anderen Themseufer. Brixton war ein Stadtteil, in dem hauptsächlich Schwarze aus der Karibik und aus Afrika lebten. Die Atmosphäre war mindestens so exotisch und aufregend wie in Camden Town, aber davon bekam Carol kaum etwas mit. Sie hoffte, das Rätsel um Tricias Tod in den nächsten Minuten aufklären zu können. Erneut versuchte Carol, Eve zu erreichen. Es war nicht so clever, dem Verdächtigen allein gegenüberzutreten. Aber sie konnte nicht länger warten. Außerdem war Eves Handy immer noch ausgeschaltet.

Brent lebte in einem schäbigen Haus in einer Seitenstraße. Die Klingelschilder waren unleserlich oder mit Graffiti übersprüht. Carol fragte eine korpulente dunkelhäutige Frau im Erdgeschoss nach Brent.

„Der wohnt im ersten Stock, Schätzchen“, antwortete sie.

Carol bedankte sich und stieg die Treppe hinauf. Es roch nach exotischen Gewürzen. Carol glaubte, dass irgendjemand im Haus mit Bongos üben würde. Aber dann wurde ihr bewusst, dass das Geräusch von ihrem eigenen beschleunigten Herzschlag stammte. Wenn sie Brent nun nicht antraf? Schließlich waren Semesterferien. Aber das hieß noch lange nicht, dass ein Student tagsüber zu Hause hocken musste. London bot unendlich viele Möglichkeiten, etwas Spannendes zu erleben. Wenn Brent sie angreifen würde? Oder wenn er inzwischen geflohen war?

Wenn, wenn, wenn – Carols Hand zitterte, bevor sie an seine Tür klopfte. Aber als ihre Fingerknöchel das lackierte Holz berührten, war sie plötzlich ganz ruhig. Von drinnen ertönte leise Popmusik aus dem Radio. Dann wurde die Tür geöffnet.

Brent war schlank und ungefähr einen Kopf größer als Carol. Er trug eine verwaschene Jeans und ein dunkles T-Shirt, das seine sehnigen Arme betonte. Er war kein Muskelmann, aber auch kein Schwächling. Genau richtig sozusagen. Er blickte Carol mit seinen dunklen Augen direkt an.

„Hallo. Kennen wir uns?“, fragte er.

Brents Stimme hatte einen angenehmen Klang. Aber Carol ließ sich davon nicht blenden.

„Ja, vom Studium“, log sie. „Kann ich dich mal sprechen, Brent?“

Er zuckte mit den Schultern. „Sicher, komm rein. Aber mein Gedächtnis ist wirklich nicht das Beste. Ich könnte schwören, dich noch nie gesehen zu haben.“ Plötzlich lächelte er, was ziemlich süß aussah. „Ich würde mich bestimmt an dich erinnern.“

„Ach ja?“, antwortete Carol einsilbig.

Sobald sie die Tür von innen geschlossen hatte, flammte ihr Hass wieder auf. Sie war innerlich zerrissen. Einerseits war ihr dieser Brent auf Anhieb sympathisch, andererseits hatte er vermutlich Tricia ermordet.

Brents Apartment war winzig. Es bestand nur aus einem Zimmer, einer Nasszelle und einer kleinen Küchenzeile an der Schmalseite des Raums gegenüber dem Fenster. Doch es war geschmackvoll eingerichtet. Er schaltete das Radio aus, bevor er Carol fragend anschaute. Sein Blick machte Carol nervös. Flirtete er mit jeder Frau sofort so hemmungslos? Brent gab ihr das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Aber sie durfte sich von seinem Charme nicht blenden lassen, denn er war vermutlich ein skrupelloser Mörder, der ihre Freundin auf dem Gewissen hatte.

„Du hast mir deinen Namen noch gar nicht verraten“, meinte er.

„Ich bin Carol. Hättest du etwas zu trinken für mich? Dann redet es sich besser.“

„Klar, allerdings habe ich nur Wasser und Cola.“

„Ein Wasser wäre super.“

Carol stand mitten im Zimmer und wartete ab. Sie rechnete damit, dass Brent sich jeden Moment auf sie stürzen würde. Doch er drehte sich nur zu seiner Mini-Küche um und öffnete den Kühlschrank.

In diesem Moment entdeckte Carol das Messer.

Es war ein ganz normales zum Brotschneiden und befand sich auf der Ablage über dem Kühlschrank. Als Brent sich bückte, sodass Carol nur noch seinen Rücken sehen konnte, verlor sie die Nerven. Gleich würde er mit dem Messer auf sie einstechen. Sie musste ihm zuvorkommen. Links neben dem Herd stand ein eiserner Kerzenhalter auf einer Anrichte. Carol packte den Kerzenhalter, holte damit aus und schlug ihn Brent über den Hinterkopf!

Er gab einen erstickten Laut von sich und sackte vor dem offenen Kühlschrank zusammen. Doch in seiner Hand war nicht das Brotmesser, sondern die Mineralwasserflasche!

Carol war über ihre Kurzschlussreaktion völlig schockiert. Brent hatte ihr wirklich nur ein Glas Wasser anbieten wollen. Ob sie ihn ernsthaft verletzt hatte? Carol ließ den Kerzenhalter fallen und umfasste seinen Oberkörper. Sie legte ihre rechte Hand auf seine Wange und drehte vorsichtig seinen Kopf. Mit schmerzverzerrtem Gesicht schaute er sie an. Erleichtert stellte Carol fest, dass er nicht bewusstlos war.

„Spinnst du, Carol? Was habe ich dir denn getan?“, murmelte er.

„Es tut mir leid, Brent. Es kam plötzlich über mich, ich hatte mich nicht mehr unter Kontrolle.“

„Das habe ich gemerkt“, erwiderte er, während er sich aufzurichten versuchte.

Carol stützte ihn schließlich ab und verfrachtete ihn auf sein Sofa. Stöhnend fasste er sich mit beiden Händen an den Hinterkopf.

„Ist es sehr schlimm?“, fragte Carol besorgt.

„Wenigstens blute ich nicht. Aber eine Beule wird mir wohl als Andenken an deinen Besuch bleiben. Ich habe immer noch nicht kapiert, was du eigentlich von mir willst.“

In diesem Moment konnte sich Carol nicht vorstellen, dass Brent wirklich Tricias Mörder war. Wäre er es gewesen, dann hätte er ihr die spontane Attacke doch gewiss brutal heimgezahlt, statt auf dem Sofa seinen Schädel zu betasten. Oder täuschte er seine Schwäche nur vor, damit sie sich in Sicherheit wiegte? Sein Blick wirkte jedenfalls so, als ob er ihr nicht böse wäre. Und dafür musste es einen Grund geben.

Carol wollte sich keine Lügengeschichte ausdenken, deshalb sagte sie Brent, dass sie ihn für den Mörder ihrer Freundin gehalten hatte.

Brent war sprachlos. Es ging ihm inzwischen wieder etwas besser, jedenfalls waren seine Wangen nicht mehr ganz so bleich. Es dauerte ein paar Minuten, bis er den Mund öffnete.

„Und jetzt, Carol? Glaubst du immer noch, ich hätte Tricia auf dem Gewissen?“

„Ich bin mir nicht sicher. Ausschließen kann ich es jedenfalls nicht“, erwiderte sie.

Brent atmete tief aus. „Wow, das ist eine heftige Ansage. Aber wenigstens bist du ehrlich. Das imponiert mir. Die Polizei hat mich verhört, so wie alle Teilnehmer der Jack-the-Ripper-Tour. Die Inspektorin wollte wissen, ob mir etwas Ungewöhnliches aufgefallen wäre. Ich sagte nein. Aber jetzt frage ich mich, ob diese Aussage richtig war.“

„Wieso?“, hakte Carol nach.

„Weil deine Freundin kurz mit mir geredet hat. Aber das ist doch nicht ungewöhnlich, oder?“

„Das kommt darauf an.“ Carol holte ihr Handy hervor und zeigte die Schnappschüsse, die Feathers gemacht hatte.

Brent warf ihr einen verblüfften Blick zu. „Du hast mich ja richtig ausspioniert.“

„Sonst wäre ich wohl kaum heute hier“, entgegnete sie. „Also worüber hast du mit Tricia gesprochen?“

„Wir haben nur kurz miteinander geplaudert. Tricia fragte mich, ob ich nach der Jack-the-Ripper-Tour noch etwas vorhätte. Ich antwortete, dass ich mit einer Frau verabredet wäre. Daraufhin zeigte sie mir sofort die kalte Schulter und würdigte mich keines Blickes mehr.“

Carol musste zugeben, dass dieses Verhalten Tricia ähnlich sah. Ihre Freundin hatte es nie ertragen, wenn ein Typ, den sie toll fand, eine andere bevorzugte. Dann tat sie immer so, als ob sie sich nie für den Mann interessiert hätte.

„Wie ist es denn mit dieser Frau gelaufen, Brent?“, fragte Carol misstrauisch, die von Brents Geschichte noch nicht völlig überzeugt war.

„Nicht so besonders. Wir waren zum Essen im West End verabredet. Aber es stellte sich an dem Abend heraus, dass wir zu verschieden sind. Wir werden uns nicht wiedersehen.“

„Wann hast du dich denn mit dieser Frau getroffen?“ Carol ließ nicht locker.

„Gegen acht Uhr. Wir waren in einer Pizzeria und haben uns um zehn Uhr verabschiedet. Warum fragst du? Wegen meines Alibis?“

„Genau. Tricia wurde nämlich kurz nach halb neun umgebracht. Wenn du verabredet warst, dann müsste dein Date die Angaben bestätigen können.“

Brent lächelte plötzlich. „Okay, Carol. Die Frau heißt übrigens Valentine Boone. Lass uns gemeinsam zu ihr gehen, damit du merkst, dass ich kein Lügner bin. – Und danach werde ich dir noch etwas erzählen, das dich interessieren könnte.“

Carol war erstaunt. Was konnte das wohl sein? „Warum sagst du es mir nicht gleich?“, bohrte sie nach.

„Nein, nicht jetzt. Erst will ich dir beweisen, dass ich deine Freundin nicht getötet habe.“

Carol war es nur recht, wenn sie Brents Alibi überprüfen konnte. Mittlerweile musste sie sich nämlich eingestehen, dass er ihr immer besser gefiel. Sie wollte ihn sich nicht als kaltblütigen Mörder vorstellen, obwohl er im Gegensatz zu Phil Gordon ein Motiv hatte. Wenn nämlich er Tricia angemacht hätte und abgeblitzt worden wäre, könnte er sie aus gekränkter Eitelkeit getötet haben.

Brent und Carol begaben sich auf den Weg und fuhren per U-Bahn ins Zentrum von London. Dort arbeitete Valentine in einem großen Markt für Unterhaltungselektronik. Sie räumte gerade Spielkonsolen von einer Palette ins Regal. Brent ging direkt auf sie zu, während Carol ihm folgte. Valentine war von Kopf bis Fuß eine typische Tussi. Ihre Haut war sonnenstudiogebräunt, ihr Haar blondiert. Carol fragte sich, wie sie mit solchen langen Fingernägeln überhaupt arbeiten konnte. Unter dem Uniformkittel des Elektronikmarktes trug sie offenbar ein Minikleid.

Valentine klimperte mit den langen Wimpern, als sie Brent und Carol erblickte. „Ah, der Oberlangweiler! Ist das deine neue Freundin? Die passt super zu dir, die ist bestimmt genauso spießig wie du.“

Brent ging gar nicht auf ihre giftigen Sprüche ein, sondern kam ohne Umschweife auf den Grund ihres Besuches. „Hallo Valentine. Wir wollen dich nicht lange stören. Das ist Carol. Sie möchte nur von dir erfahren, wann und wo wir uns getroffen haben.“

Valentine lachte affektiert und wandte sich dann Carol zu. „Na, so was! Bist du etwa eifersüchtig, Kleine? Dein blöder Traumprinz Brent war am Dienstag mit mir im West End Pizza essen. Das ging ungefähr von acht bis zehn, und es waren die langweiligsten zwei Stunden meines Lebens. Aber du kannst diese Schnarchnase gerne für dich allein behalten, ich will garantiert nichts von ihm.“

Am Dienstag war Tricia ermordet worden, Brent hatte also die Wahrheit gesagt, wie Carol erleichtert feststellte. Sie fand Valentine völlig unsympathisch, aber sie glaubte ihr. Warum hätte die gestylte Verkäuferin lügen sollen?

Carol und Brent verließen den Elektronikmarkt so schnell wie möglich.

„Die Rechnung von der Pizzeria habe ich auch noch irgendwo herumliegen“, meinte er. „Darauf müssten sogar Datum und Uhrzeit ausgedruckt sein.“

„Jetzt muss ich mich wohl bei dir entschuldigen. Es tut mir leid, Brent. Ich glaube jetzt nicht mehr, dass du Tricias Mörder bist.“

„Entschuldigung angenommen“, erwiderte er lächelnd.

„Super. – Und, äh, da war doch noch etwas, das du mir mitteilen wolltest“, erinnerte sie ihn.

„Ja, genau. Es ist eine Sache, die mich selbst völlig überrascht hat.“

„Nämlich?“, fragte sie neugierig.

„Ich habe mich in dich verliebt.“