FÜNFZEHN

Tönning, Multimar Wattforum, wenige Tage später

Im Forum des Multimar Wattforum herrschte eine angespannte Stimmung. Rund achtzig Besucher hatten sich bereits auf den Sitzbänken vor der Panoramascheibe des Großbassins niedergelassen und ließen die eindrucksvolle Atmosphäre auf sich wirken. Einige tuschelten wie aufgeregte Schüler in der Kirche, kurz bevor der Gottesdienst losging. Aus verstärkten Lautsprechern drangen sphärische Laute in Dolby-Surround an die Ohren der Gäste, und die einzigen Lichtquellen waren die Beleuchtung des imposanten Aquariums und die kleinen grün-weißen Schilder, die auf den Notausgang hinwiesen.

Im Becken selbst herrschte geschäftiges Treiben. Soeben kletterte der mächtige Hummer gemächlich aus seiner Höhle, fast so, als wolle er seine Zuschauer begrüßen. Ein Katzenhai schwamm in drei Metern Höhe neugierig an der Scheibe entlang, die den Besucherraum von den gut 300.000 Litern Nordseewasser trennten.

Ulbricht tippte seiner Tochter auf die Schulter. „Und da hat er drinnen gelegen?“

Wiebke nickte. „Ja, gleich vor dem großen Felsen, sagte man mir. Das muss ein unheimlicher Anblick für Beke Frahm gewesen sein, als sie morgens als Erste in die Ausstellung kam und den grausigen Fund machte.“ Sekundenlang rauschte die Erinnerung an ihren letzten Besuch in Tönning an ihr vorüber. Die letzten Tage waren wie im Fluge vergangen. Von Tiedje hatte sie seit Längerem nichts gehört, und sie stellte erleichtert fest, dass sie ihn nicht ein einziges Mal vermisst hatte. Der Fall hatte sie zu sehr in Beschlag genommen, und immerhin war ihr Vater nach vielen Jahren bei ihr aufgetaucht.

„Wie dem auch sei – du hast den Fall gelöst.“ Ulbricht war sichtlich stolz auf seine Tochter.

„Ich weiß aber immer noch nicht, warum Dierks am letzten Morgen so gut auf mich zu sprechen war“, gab Wiebke zu bedenken. „Die Arbeit habe ich doch nicht alleine gemacht. Allein die Sache mit der DNA an Rohdes Kuli habe ich dir zu verdanken, mein Lieber!“

Ulbricht grinste. „Ich war doch quasi gar nicht da. Und wer den Stift mitgenommen hat, ist doch egal – bleibt schließlich in der Familie. Und so habe ich Piet den Stift mit der Bitte um Feststellung von Fingerabdrücken und DNA gebeten. Damit war Christian Rohde in der Falle, und wir mussten nur noch nach Schleswig fahren, um ihn festzunehmen.“

Ulbricht hatte sich in ihre Arbeit eingemischt und die Husumer Polizeidirektion aufgemischt, aber dank seines beherzten Eingreifens waren innerhalb weniger Tage zwei Morde und ein illegales Waffengeschäft aufgedeckt und geklärt worden. Ihr alter Herr hatte ganze Arbeit geleistet, so wie sie es schon aus ihrer Kindheit kannte.

„Was hätte ich nur ohne dich gemacht?“, fragte Wiebke lächelnd. Sie war froh, ihren Vater endlich wiederzuhaben. Peer Hansen würde sich wegen illegaler Waffengeschäfte und eines Mordes im Affekt verantworten müssen und sicherlich die nächsten Jahre im Knast verbringen. Auch den Mördern von Holger und Gabriele Heiners wurde in Kürze der Prozess gemacht – sie saßen in Untersuchungshaft und warteten auf das Urteil des Richters. Mit Torben Schäfer hatte Wiebke fast ein wenig Mitleid – er war der liebenswerte Chaot und der ständige Loser. Im Grunde genommen hatte er Holger Heiners nur die Augen für die Schönheiten des Wattenmeeres öffnen wollen. Dass die beiden Männer am Rand des Großbeckens dermaßen in Streit gerieten, dass Heiners dabei ins Wasser stürzte und ertrank, war niemals geplant gewesen, das wusste Wiebke. Sie glaubte dem rührseligen Biolehrer, auch wenn es ihm vor Gericht nicht viel nutzen würde. Nachdem Rohde und Levke Kühn vernommen und hinter Gitter gebracht worden waren, hatte Matthias Dierks Wiebke großzügig ein paar Tage Sonderurlaub eingeräumt. Ihm lag viel daran, dass sich die junge Kommissarin mit ihrem Vater austauschte. Und in den letzten beiden Tagen hatte sie ihm ihre neue Heimat gezeigt. Und sie hatte den Eindruck gehabt, dass Ulbricht die gemeinsame Zeit mit seiner Tochter genossen hatte.

„Du hättest den Fall auch irgendwie gelöst“, war Ulbricht sicher. „Nicht mit der DNA an Rohdes Kugelschreiber vielleicht, aber immerhin bin ich sicher, dass du einen Weg gefunden hättest.“

„Du Schmeichler.“

„Psst, es geht los.“ Ulbricht legte den rechten Zeigefinger an die Lippen und deutete nach vorn. Eine Mitarbeiterin hatte sich mit einem Mikrofon vor der dicken Scheibe aufgebaut und begrüßte die Anwesenden. Wenige Minuten später stieg ein Taucher in das Wasser, um die Fische vor den Augen der Zuschauer zu füttern. Ganz nebenbei plauderte die Mitarbeiterin mit dem Taucher, der über einen speziellen Helm auch zu den Zuschauern sprechen konnte. Im Forum herrschte gebannte Stille, und die Zuschauer verfolgten das faszinierende Schauspiel im Wasser. Sie ahnten nicht, welch tragisches Schicksal sich hinter der sechs Zentimeter dicken Scheibe ereignet hatte.

Während des Spektakels betrachtete Wiebke ihren Vater von der Seite. Sie würden viele Stunden über die alten Zeiten sprechen und zumindest einen Teil der letzten Jahre nachholen. Wiebke atmete zufrieden durch. Ihr Vater war zurück, und auch wenn er sich wahrscheinlich immer wieder in ihre Arbeit bei der Kripo Husum einmischen würde, so war sie unendlich glücklich darüber, den alten Brummbär endlich wiederzuhaben.