SECHS

Die Wohnmobile hatten ihn auf den letzten Kilometern genervt, wohl auch, weil sein alter Vectra nicht schnell genug war, um die rollenden Ferienheime auf der Landstraße zügig überholen zu können. Am Ende der Autobahn hatte der Weg an grünen Feldern vorbei nach Husum geführt.

Die „graue Stadt am Meer“, so hatte der Dichter Theodor Storm Husum genannt.

Ihm konnte das egal sein, denn mit einem Poeten verband ihn nichts. Er war bodenständig und lebte im Hier und Jetzt, nicht in den literarischen Ergüssen eines Dichters, der lange schon nicht mehr lebte. Sein Assistent war so nett gewesen, ihm ein paar Dinge über sein Reiseziel im Internet zu recherchieren. Schließlich wollte er nicht völlig unbedarft in Nordfriesland ankommen. Auf der Anfahrt hatte er überlegt, ob er gleich zu ihr nach Hause fahren sollte, den Gedanken jedoch gleich wieder verworfen. Sicherlich arbeitete sie noch. Wahrscheinlich, so dachte er ein wenig stolz, hatte sie nie pünktlich Feierabend. Wenigstens etwas, das sie nach all den Jahren der Trennung noch miteinander verband.

Bevor er sich einen Parkplatz suchte, fuhr er eine Ehrenrunde durch das kleine Städtchen und musste sich eingestehen, dass Husum ein durchaus heimeliges Flair verbreitete – sah man einmal von den quietschbunt gekleideten Touristen ab, die die kleinen Straßen bevölkerten. Ein Schild wies den Weg zum Badestrand. Das klang nach Nordsee, nach Urlaub und nach Freiheit. Spontan setzte er den Blinker und bog rechts von der Hauptstraße ab. Linker Hand lag ein kleines Hafengebiet, das irgendwie nicht zur nordfriesischen Idylle passen wollte. Hier sah alles nach harter Arbeit aus, und wären da nicht die Schiffe im Hafenbecken, hätte er denken können, sich im Industriegebiet seiner Heimatstadt zu befinden. Fabrikhallen, Kräne, alles sah aus wie in anderen Gewerbegebieten auch. Dennoch, das musste er sich eingestehen, war die maritime Stimmung nicht zu übersehen. Als er das Seitenfenster einen Spaltbreit öffnete, drang die würzige Luft der Nordsee in das Wageninnere. Sie erfrischte seine Lungen, und er atmete ein paar Mal tief durch. Dann fragte er sich, ob er sich nicht schon verfahren hatte. War dies wirklich der Weg, der zum Badestrand führte?

Er vertraute der Beschilderung und folgte der Straße. Kurze Zeit später hatte sich die Natur den Boden zurückerobert. Ja, dachte er zufrieden, das sieht schon eher nach Urlaub aus. Auf der schnurgeraden Fahrbahn fuhr er automatisch schneller als die erlaubten fünfzig Stundenkilometer, aber er rechnete nicht damit, dass man hier die Geschwindigkeit messen würde. Eine Gruppe von Radfahrern überholte er in weitem Bogen.

Etwas weiter hinten ragte ein rechteckiger Backsteinblock in den Himmel. Wahrscheinlich ein Hotel, dachte er, und tatsächlich wurde sein Verdacht wenig später durch ein Schild bestätigt. „Nordsee-Hotel“, las er die Inschrift im Vorbeifahren.

„Na“, grinste er. „Da hat sich der Besitzer aber mal einen aussagekräftigen Namen einfallen lassen.“

Links der Deich, rechts ein Parkplatz. Er suchte eine freie Lücke und stieg aus. Jetzt spürte er, dass seine alten Knochen von der stundenlangen Autofahrt lahm geworden waren. Er streckte sich, dann marschierte er los. Vielleicht, so dachte er, war es gut, sich erst einmal den frischen Wind um die Nase wehen zu lassen, bevor er seine Mission begann.

Außenhafen Husum, 14.05 Uhr

Petersen hatte den Wagen gleich vor dem Verwaltungsgebäude der Werft geparkt. Kaum dass sie ausgestiegen waren, sprang ein rundlicher Mann im ölverschmierten Overall von seinem Gabelstapler und ruderte hektisch mit den Armen. Wiebke vermutete, dass sein Arbeitsanzug wohl irgendwann einmal blau gewesen war. Dafür leuchtete der Sturzhelm in einem beinahe heiteren Gelb.

„Hier könnt ihr nicht stehen bleiben, ihr Pappnasen!“, rief er aufgebracht. „Da kommt gleich ein Laster, und der kommt da nicht durch.“ Seine kurzen Arme wirbelten durch die Luft und deuteten auf ein blaues Hinweisschild. „Könnt ihr nicht lesen? Der Parkplatz ist da hinten!“

Wiebke hätte schwören können, dass sich Jan Petersen nicht als „Pappnase“ titulieren ließ, und rechnete schon mit dem Schlimmsten, als ihr Kollege dem Werftarbeiter jovial auf die Schulter klopfte. „Mensch Fiete, halt mal den Ball flach!“ Er grinste. „Oder glaubst du ernsthaft, dass du hier draußen bei der Arbeit einen auf dicke Hose machen kannst? Ich glaub, ich muss mal mit deiner Elke reden.“

„Petersen?“ Der Arbeiter blinzelte, als benötige er dringend eine Brille.

Wiebke sah strahlend blaue Augen in einem dreckigen, unrasierten und fast runden Gesicht. Sie war erleichtert, als sie registrierte, dass sich die Männer offenbar kannten.

„Bist du das wirklich?“

„Nee, ich bin mein Zwilling.“ Petersen schüttelte den Kopf. „Klar bin ich das.“

„Was treibt euch zwei Hübschen denn hierher?“ Fietes Stimme klang versöhnlich, und Wiebke verkniff sich ein Grinsen, als sie seine forschenden Blicke bemerkte.

„Wir sind geschäftlich hier“, erwiderte Petersen und zeigte seinem Bekannten die Dienstmarke.

Fietes Augen wurden groß. „Ach du Scheiße, du bist Bulle?“

„Nee, Kommissar. Wir müssen mal dringend mit dem Chef schnacken.“

„Hat er was angestellt?“

„Klar, er hat einen alten Gauner wie dich eingestellt“, feixte Petersen. „So, wo schläft er denn nun, dein Chef?“

Fiete zog eine Grimasse. „Oh, das ist ganz schlecht, oder habt ihr einen Termin gemacht?“

„Die Firma, für die wir arbeiten, vereinbart im Voraus keine Termine, das müsstest du doch am besten wissen.“

„Na denn …“ Er machte eine einladende Geste und deutete auf den Eingang des zweistöckigen Bürogebäudes. „Mir nach.“

Er ging vor und besann sich in letzter Sekunde auf seine gute Erziehung. So hielt er Wiebke die Tür auf und führte die Besucher in die obere Etage. Der verschlissene Teppich dämmte ihre Schritte. Graue Türen zweigten von einem breiten Korridor ab, alle Türen waren zu. Wohl in Ermangelung eines Vorzimmers gab es am Ende des Ganges einen Arbeitsplatz, der offenbar von Peer Hansens Sekretärin benutzt wurde. An dem Schreibtisch saß eine hagere Frau Ende fünfzig. In ihrem braunen Kostüm mit der altmodischen Perlenkette und der Brille erinnerte sie Wiebke an eine strenge Lehrerin. Sie betrachtete die Frau nachdenklich. Hansens Sekretärin schien völlig in ihre Arbeit versunken zu sein. Während ihre rot lackierten Fingernägel über eine flache Tastatur flogen, starrte sie gebannt auf den Monitor. Sie saß vornübergebeugt auf ihrem Stuhl und wirkte mit ihrer grauen Haut und der langen schmalen Nase ein wenig wie eine Spitzmaus.

Erst als Fiete sich vernehmlich räusperte, kehrte sie in die Realität zurück. Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sie die Störung nicht sonderlich schätzte. Sie betrachtete den Werftarbeiter wie ein lästiges Insekt.

„Moin, Frau Schlick. Ist der Boss da?“, fragte Fiete ein wenig kleinlaut.

Die Spitzmaus warf einen Blick auf die Telefonanlage, die sich am rechten Rand des Tisches befand.

„Telefoniert.“

Offenbar bemerkte sie Wiebke und Petersen erst jetzt. „Haben Sie einen Termin?“

„Das scheint ja hier ganz angesagt zu sein“, brummte Petersen und zückte zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit seine Dienstmarke. „Wir haben ein paar Fragen an Herrn Hansen. Es ist dringend, und wir sind in Eile.“

„Das tut mir leid, ich kann ihn jetzt nicht stören.“ Ihre Stimme klang eiskalt.

„Dann übernehmen wir das für Sie.“ Petersen nickte Fiete zu und gab Wiebke ein Zeichen, dann marschierte er auf die Tür links neben dem Schreibtisch der Sekretärin zu. Sie sprang hektisch auf und warf dabei fast ihren Stuhl um.

„So warten Sie doch, ich werde Sie bei Herrn Hansen anmelden.“ Nun versuchte sie, sich zwischen Petersen und die geschlossene Bürotür zu schieben.

„Nicht nötig, danke.“ Wiebke drückte Hansens Sekretärin sanft aber bestimmt zur Seite, dann standen sie im Büro des Geschäftsführers.

Peer Hansen blickte überrascht auf, nahm Haltung an und murmelte ein eiliges „ich ruf dich wieder an“, ins Telefon, dann legte er auf und widmete sich den Besuchern. Er trug ein blütenweißes Hemd, dazu eine weinrote Krawatte und eine dunkle Stoffhose. Seine Haut war gebräunt, die Hände wirkten gepflegt. Wahrscheinlich war er körperliche Arbeit nicht gewohnt.

„Was fällt Ihnen ein …“, rief er, doch Petersen winkte ab.

„Sie können ganz entspannt bleiben, wir sind von der Kriminalpolizei Husum.“

Wieder kam die Marke zum Einsatz, doch diesmal fand sie keine Beachtung. Hansen funkelte seine Sekretärin böse an. „Frau Schlick, warum haben Sie nicht dafür gesorgt, dass ich …“

„Sie sind gleich durchmarschiert, und ich hatte keine Chance“, murmelte sie, blass vor Angst.

Schlick war der passende Name für diese graue und dennoch arrogante Maus, dachte Wiebke. „Wir haben ein paar Fragen an Sie, Herr Hansen.“ Sie konnte beobachten, wie er um Fassung rang. „Es geht ganz schnell, dann halten wir Sie nicht mehr auf.“

„Also gut.“ Er blickte an den Polizisten vorbei. Fiete hatte längst das Weite gesucht. „Es ist in Ordnung, Frau Schlick. Bitte lassen Sie uns allein.“

Sie nickte stumm und zog sich zurück. Nicht ohne Petersen und Wiebke mit einem letzten wütenden Blick zu bedenken, zog sie die Tür von außen zu.

Hansen wartete einige Sekunden und nestelte an seinem Krawattenknoten herum. Wiebke nutzte die Zeit, sich im Chefbüro der Werft umzublicken. Der Raum war etwa fünfzehn Quadratmeter groß, es gab rechts einen langen Besprechungstisch, auf dem sich Aktenordner stapelten. Die linke Wand wurde von einem deckenhohen Bücherregal eingenommen, in dem Wiebke technische Fachtitel rund um den Schiffsbau entdeckte. Da es sich um ein Eckbüro handelte, gab es zwei große Fensterfronten. Eine lag in Hansens Rücken, die zweite erlaubte einen Blick auf das Werftgelände. Dort unten wurde gehämmert und geschweißt. Ein Gabelstapler rumpelte über den Hof. Es war auffällig, dass es keinerlei persönliche Gegenstände in Hansens Büro gab. Keine Pflanze, kein Bild an der Wand, nicht einmal das Foto seiner Frau auf dem Schreibtisch. Nun, die Erklärung dafür kannte Wiebke.

„Ich werde Ihnen keine Auskünfte geben“, durchbrach Hansen das Schweigen nun. Er verschanzte sich hinter seinem Schreibtisch, ohne den Besuchern Platz anzubieten. „Sollten Sie Fragen stellen wollen, müssen wir auf meinen Anwalt warten.“

„Haben Sie ein schlechtes Gewissen?“ So leicht ließ sich Petersen nicht aus der Ruhe bringen. „Sie wissen doch gar nicht, weshalb wir hier sind.“

„Ich habe zu tun“, wich Hansen aus und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. „Also – stellen Sie Ihre Fragen und dann lassen Sie mich arbeiten.“

„Wenn Sie zu tun haben, können wir Sie auch gern bei Ihnen zu Hause besuchen, um Sie über Ihr Verhältnis zu Beke Frahm zu befragen. Oder wir laden Sie vor.“

Hansen war ein schlechter Schauspieler. Er war sichtlich um Fassung bemüht, und dennoch konnte er nicht verhindern, dass ihm das Blut ins Gesicht schoss. Bezeichnend legte er den rechten Zeigefinger auf die Lippen. „Nicht so laut“, zischte er. „Also gut – was kann ich für Sie tun?“

„Es geht ganz schnell“, versprach Wiebke noch einmal. „Wir wollen nur wissen, wo Sie die letzte Nacht verbracht haben. Bei Ihrer Frau nehme ich an?“

„Was soll der Blödsinn? Ich war bei Beke, wie Sie sich nach dieser Frage vorstellen können.“

„Und Ihre Frau macht sich keine Gedanken und fragt sich nicht, wo Sie übernachten?“

„Sie ist in London. Wahrscheinlich wieder mit einem ihrer Jungs. Ab und zu mietet sie sich einen Playboy, mit dem sie einige Zeit verbringt, bevor sie ihn abschießt.“ Abscheu schwang in seiner Stimme mit. „Unsere Ehe ist kaputt und besteht nur noch auf dem Papier.“

„Warum halten Sie dann damit hinter dem Berg, dass Sie ein Verhältnis mit einer anderen Frau haben?“ Wiebke setzte sich nun unaufgefordert auf einen der beiden Stühle vor Hansens Schreibtisch.

„Das ist ganz einfach. Die Firma gehörte Brigittes Vater. Und als ich in die Familie einheiratete, wurde ich dazu auserkoren, den Laden eines Tages zu übernehmen. Brigittes Eltern überwachen unser Leben mit Argusaugen. Sie machen sich ein schönes Leben in der Provence, kommen aber immer wieder mal auf Stippvisite in den Norden, um zu sehen, wie hier alles läuft. Sobald sie erfahren, dass unsere Ehe gescheitert ist, werde ich gefeuert.“ Er schüttelte den Kopf. „Das sind keine rosigen Aussichten, oder?“ Nun hob Hansen beschwörend beide Hände. Er sprach leise. „Also – bitte behandeln Sie meine Angaben mit der nötigen Diskretion.“

„Geschenkt.“ Petersen nickte. Er trat an eines der Fenster und blickte hinab auf das Werksgelände. „Sie sind Geschäftsführer der Werft und Ihr Posten hängt davon ab, wie glücklich Ihre Ehe ist. Dann würde ich es als glattes Eigentor bezeichnen, mir eine jüngere Frau anzulachen.“

„Ich wüsste nicht, was Sie das angeht. Ich werde mich beschweren. Matthias Dierks ist ein guter Freund. Und ich werde ihn anrufen, sobald Sie mein Büro verlassen haben. Aus diesem Grunde darf ich Ihnen anraten, sich die Fragen, die Sie mir stellen möchten, gründlich zu überlegen.“

„Bitte schildern Sie uns, wie Sie Ihre Freizeit gestern nach Dienstschluss verbracht haben.“ Wiebke versuchte, die Kuh vom Eis zu holen.

„Ich habe lange gearbeitet, bin erst gegen zwanzig Uhr aus dem Büro gekommen. Danach bin ich sofort zu Beke nach Oldenswort gefahren.“

„Das Haus, in dem sie lebt, liegt doch sicher unter Ihrem Niveau“, warf Petersen ein.

Hansen überhörte die Bemerkung großzügig und fuhr fort. Sein Blick ruhte auf Wiebke. „Ich habe schon darüber nachgedacht, ihr eine Wohnung hier in der Stadt zu kaufen. Dann hätte sie mit Heiners’ Machenschaften nichts mehr zu tun gehabt und hätte nicht fürchten müssen, eines Tages auf der Straße zu stehen.“ Hansen hob die Hände nach oben. „Aber das hat sich ja nun wie von selbst erledigt.“ Er blickte Petersen feindselig an. „Es hätte aber auch andere Annehmlichkeiten, wenn sie in Husum leben würde: So könnten wir uns beispielsweise häufiger sehen. Allerdings, und das ist der Grund, weshalb ich die Umstände der Fahrerei nach Oldenswort in Kauf nehme, liegt der Ort weit weg vom Schuss. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir zusammen von einem meiner Geschäftspartner oder Mitarbeiter gesehen werden, ist dort denkbar gering.“ Er lehnte sich weit über die Schreibtischplatte und brachte jetzt sogar ein Lächeln zustande.

„Aber zurück zu Ihrer Frage: Ich traf gegen halb neun in Oldenswort ein. Beke hatte uns etwas gekocht, sie hat Kerzen aufgestellt und uns einen romantischen Abend bereitet.“ Seine Augen leuchteten. „Das kann sie wundervoll. Sie ist eine sehr liebenswerte Person, und es tut mir in der Seele weh, dass wir uns nicht offiziell zu unserer Liebe bekennen dürfen. Aber meine berufliche Existenz steht auf dem Spiel, deshalb treffen wir uns heimlich.“

„Die Nacht haben Sie auch gemeinsam verbracht, nehme ich an?“

Hansen nickte. „Ja, das haben wir. Und heute Morgen war sie ein wenig spät dran, deshalb habe ich sie nach Tönning gebracht, wo sie die schreckliche Entdeckung im Großbassin machte.“

„Sie wissen also, weshalb wir hier sind?“ Wiebke wunderte sich über den Ausbruch des Managers. Als intelligenter Mann hätte er sich an den Fingern einer Hand abzählen können, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis ihre Ermittlungen sie in sein Büro führten. Dass er dennoch so abwehrend und emotional reagiert hatte, verwunderte die junge Kommissarin.

„Natürlich. Ich habe sie auch abgeholt, nachdem sie es im Multimar nicht mehr ausgehalten hat. Dann bin ich zu einem Termin nach Garding aufgebrochen.“

„Haben Sie das Haus in Oldenswort erst heute Morgen wieder verlassen?“

„Ja.“ Er nickte, dann warf er einen Blick auf die Armbanduhr. „Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, mein Terminkalender ist voll heute.“

Petersen ließ sich nicht beirren. Er stand mit dem Rücken zu Hansen am Fenster und blickte hinaus auf das Werftgelände. „Das da unten sind Bauteile einer Windkraftanlage, oder?“

„Wir arbeiten im Dienstleistungsbereich auch in Sachen Offshore und schweißen Baugruppen zusammen, richtig.“ Hansen erhob sich und trat neben Petersen. „Ich bin der Meinung, dass Husum und die Windenergie zusammengehören. Die Hamburger sollen sich gefälligst da raushalten. Ich bin sicher, dass es nicht nur um die Messe geht, die sie uns abnehmen wollen. Aus diesem Grund mache ich mich für unsere heimische Wirtschaft stark. Oder ist das jetzt auch verboten?“ Spott klang in seiner Stimme mit, doch Petersen ließ sich nicht provozieren. Er schwieg und blickte aus dem Fenster.

Wiebke wollte verhindern, dass die Lage wieder eskalierte, und sprang von ihrem Stuhl auf. Die Streitereien um die Windmesse zwischen Hamburg und Husum waren lange genug durch die Presse gegangen. „Danke, dann haben wir erst mal keine Fragen mehr an Sie, Herr Hansen.“ Petersen wandte sich mit überraschter Miene zu seiner jungen Kollegin um, sagte aber nichts.

„Wir finden allein heraus.“

Petersen folgte ihrem Zeichen, dann standen sie im Flur des Verwaltungsgebäudes. Frau Schlick arbeitete an ihrem Schreibtisch und blickte keine Sekunde auf. Wiebke nahm das zum Anlass, ihr überfreundlich einen angenehmen Tag zu wünschen. Dann verließen sie den Verwaltungstrakt der Werft.

„Hey, Petersen, wart mal einen Moment!“ Fiete schien unten auf sie gewartet zu haben. Er verließ den Schatten eines offen stehenden Schuppens, in dem Maschinenteile gelagert wurden. Hastig trat der Werftarbeiter auf die Polizisten zu.

„Ich weiß ja nicht, was ihr von Hansen wolltet, und es geht mich auch nichts an …“ Er blickte über die Schulter und vergewisserte sich, dass sie ungestört waren. Als Petersen nicht antwortete, nahm Fiete das zum Anlass, weiter zu plaudern. „Der Alte hat Dreck am Stecken.“

Petersen wechselte einen Blick mit Wiebke, die unmerklich die Schultern zuckte. Er legte einen Arm um Fietes Schulter und führte ihn in den Schuppen, aus dem er gekommen war.

„Hier sind wir ungestört“, versprach er. „Dann leg mal los.“

„Ich kann da gar nicht viel zu sagen“, entgegnete Fiete nun. „Aber ich weiß von einem Treffen, zu dem Hansen fährt. Es geht um eine Ladung, die er irgendjemandem übergeben will – keine Ahnung, was das für ein Geschäft ist, würd mich nicht wundern, wenn da was in Richtung Waffengeschäfte läuft.“

Petersen kicherte. „Sach mal Fiete, hast du gesoffen?“ Er trat näher. „Hauch mich mal an!“

Fiete tat ihm den Gefallen nicht, sondern schob stattdessen beleidigt wie ein kleines Kind die wulstige Unterlippe vor.

„Eine Lieferung?“ Wiebke trat näher. Sie kannte den Werftarbeiter nicht gut genug, um sich über ihn ein Urteil bilden zu können, so wie das offensichtlich bei ihrem Partner der Fall war. Deshalb ging sie sachlicher an den Hinweis heran. „Wofür hat Hansen denn seine Mitarbeiter? Das muss ja ein wichtiges Geschäft sein, wenn er eine einfache Lieferung zur Chefsache macht. Was hat Ihr Chef denn mit Waffen zu tun?“

„Keine Ahnung, wirklich nicht. Von der Übergabe habe ich auch nur zufällig gehört, als er hier unten war und einen Anruf bekam. Er hat geglaubt, allein zu sein, aber ich habe alles mithören können.“ Nun hob er die ölverschmierten Hände. „Ihr müsst jetzt nicht denken, ich hätte gelauscht. Aber er hat so laut gesprochen, da konnt ich gar nicht anders.“

„Selbstredend.“ Petersen nickte. „Und was hat eine kuriose Lieferung mit Waffengeschäften zu tun?“ Er tippte sich bezeichnend an die Schläfe.

„Morgen Abend um elf Uhr gibt es eine Übergabe in Ohrstedt, an der alten Kaserne.“

Wiebke wusste, dass es in Oster-Ohrstedt, mitten in einem Waldgebiet gelegen, einen Bundeswehrstandort gab. So recht wusste aber niemand, was dort geschah. „Die Bundeswehr arbeitet irgendwie für den Afghanistan-Einsatz“, überlegte Wiebke. War es möglich, dass Hansen krumme Geschäfte machte, die mit dem Einsatz der Truppe zusammenhingen?

Petersen schien ihre Gedanken erraten zu haben. „Nee, Mädchen, das ist ein Logistik-Bataillon, wenn ich mich nicht irre. Die haben mit Munition und Waffen nicht allzu viel an der Hutkrempe.“ Er wandte sich an Fiete. „Aber dir danke ich für den heißen Tipp. Vielleicht werden wir an dem ominösen Treffen teilnehmen.“ Er klopfte dem Arbeiter auf die Schulter. „Bist ein Guter.“

Wiebke fragte sich, woher sich die so unterschiedlichen Männer kannten. Sie beschloss, ihren Partner bei Gelegenheit darauf anzusprechen.

„Jetzt hab ich was gut bei dir, Petersen“, rief Fiete ihnen nach, während die Polizisten zum Auto gingen.

„Aber sicher“, nickte Petersen, ohne sich noch einmal zu Fiete umzublicken. „Ich lass dich das nächste Mal laufen, wenn du meine Exfrau mal ausraubst.“ Nun blieb er stehen und drehte sich doch noch einmal zu seinem Bekannten um. „Vorausgesetzt, du beteiligst mich am Gewinn!“

Husum, Außenhafen, 14.25 Uhr

Wenn Petersen hungrig war, dann wurde er unerträglich. Wiebke wusste das, und auch aus diesem Grund hatte sie keine Einwände gehabt, als er sie gefragt hatte, ob er sie auf ein Fischbrötchen zum „Blinkfüer“ im Außenhafen einladen konnte. Jetzt löffelte sie eine Krabbensuppe. Dazu gab es Mineralwasser. Petersen hatte sich für Bratkartoffeln mit Krabben an Rührei und eine Portion Salat entschieden.

Sie hatten einen der freien Tische im Außenbereich des Restaurants ergattert und genossen ihre spartanische Mahlzeit, die Petersen gut gelaunt als „nordfriesisches Fastfood“ bezeichnete. Inzwischen hatte die Sonne auch die letzten Wolken über dem Hafenbecken vertrieben, und so hatte Petersen die Jacke ausgezogen und über den freien Stuhl zwischen ihnen gelegt. Ein kleines Motorboot tuckerte gerade dem Dockkoog entgegen, und über dem Hafenbecken kreischten die Möwen um die Wette, stets in der Hoffnung auf Beute. Touristen standen am Kai und bestaunten das blauweiße Schiff der Wasserschutzpolizei.

Während Jan Petersen genüsslich kaute, machte er einen sehr zufriedenen Eindruck. Er blickte zum Wasser hinaus, atmete tief durch und schien mit sich und der Welt im Einklang zu sein. Vielleicht wäre er besser zur See gefahren, anstatt bei der Polizei anzuheuern, überlegte Wiebke, als er einem gerade auslaufenden Schiff wehmütig nachblickte. Oder vielleicht zur Wasserschutzpolizei gegangen – das Gebäude der Kollegen lag gleich gegenüber vom „Blinkfüer“.

„Was bedrückt dich?“, fragte sie, nachdem sie lange überlegt hatte, ob dies der rechte Moment war, ihn auf sein seltsames Verhalten anzusprechen.

Petersen tupfte sich den Mund mit einer Papierserviette ab und spülte mit einem Schluck zuckerfreier Cola nach. Er betrachtete sie nachdenklich und lächelte matt.

„Was meinst du?“

„Du bist komisch.“

„Schönen Dank auch.“ Er lachte. „Wie – ich bin komisch?“

„Na, seit heute Morgen machst du einen bedrückten Eindruck. Dann der Ausraster beim Meeting und das Bier auf der ,Nordertor‘ während der Dienstzeit. Jan, so kenne ich dich nicht.“

Er winkte ab und wirkte von einer Sekunde zur anderen wieder sehr verschlossen. „Ist nichts“, murmelte er und schob sich mit den Fingern eine Krabbe in den Mund.

Doch so leicht wollte Wiebke sich nicht zufriedengeben. „Liegt es wirklich an deiner Exfrau? Hat sich ihr spitzfindiger Anwalt wieder etwas Neues einfallen lassen, um dich zu ärgern? Hast du finanzielle Probleme?“

„Natürlich fehlt mir das Geld an allen Ecken und Enden. Ich wohne in einer kleinen Bude, kann mir kein Auto leisten und muss jeden Cent dreimal umdrehen, bevor ich ihn ausgeben kann.“ Er lächelte gequält. „Aber in diesem Monat kommt es besonders hart – eine Nachzahlung vom Finanzamt, die Endabrechnung der Mietnebenkosten und meine ganzen Versicherungen …“

„Wenn ich dir irgendwie helfen kann?“

Petersen schüttelte den Kopf. „Nein. Ist doch alles nur Geld. Aber ich weiß nicht, wie ich meine Miete bezahlen soll, und das geht mir schon an die Nieren. Ich habe Angst, rauszufliegen.“

Wiebke empfand Mitleid mit ihm. Petersen war ein feiner Kerl, und sie konnte ihn wirklich gut leiden. „Du solltest mit deinem Vermieter sprechen, vielleicht lässt er sich darauf ein, dass du später bezahlst.“

„Offen gestanden ist es mir unangenehm.“

„Aber es wird wohl nötig sein“, erwiderte Wiebke. Irgendwann hatte sie von ihm erfahren, dass Jan Petersens Mutter früher Tänzerin gewesen war. Allabendlich war sie in der Kneipe des Vaters vor einem fast ausschließlich männlichen Publikum aufgetreten. Und sie hatte immer dafür gesorgt, dass der kleine Jan dann in der Wohnung über der Kneipe saß und sich anders beschäftigte.

Es wäre für sie unverzeihlich gewesen, wenn er ihr beim Strippen zugesehen hätte. Petersen war in einfachen Verhältnissen aufgewachsen, er kannte Gott und die Welt und hatte sich angeeignet, Gut von Böse unterscheiden zu können. Umso mehr schmerzte es Wiebke, ihn so verschlossen zu erleben. Das Wissen, dass ihm etwas schwer im Magen lag, und die Hilflosigkeit, nicht an ihren Kollegen heranzukommen, machten sie wahnsinnig.

„Ich weiß.“ Er nickte.

„Wenn es nur das Geld wäre …“

„Aber das ist es nicht?“ Sie hatte die Frage wie eine Feststellung ausgesprochen.

Er schüttelte kauend den Kopf. „Nee.“

„Willst du drüber schnacken?“

„Noch nicht.“

„Gib mir einen Tipp, damit ich weiß, aus welcher Richtung du auf mich schießt.“ Sie lächelte ihn an.

„Liebe.“

„Du hast Liebeskummer?“ Damit hatte Wiebke am allerwenigsten gerechnet. Sie waren seit einigen Jahren ein Team und verbrachten einen Großteil des Tages gemeinsam. Sie teilten sich ein Büro, den Dienstwagen und redeten über alles. Mit keiner Silbe hatte Petersen erwähnt, dass es eine neue Frau in seinem Leben gab. Und auch die anderen Indizien waren nicht vorhanden gewesen. Keine Anrufe auf dem privaten Handy, kein „ich muss heute pünktlich raus“ und keine verdeckten Andeutungen.

Petersen blickte sie unverwandt an, doch sie erkannte die tiefe Trauer in seinen braunen Augen.

„Ich werd nicht jünger, Wiebke. Und ich habe verdammt noch mal keine Lust, den Rest meines Lebens allein zu verbringen. Aber es fehlt mir einfach die Zeit, mir eine Frau zu angeln.“ Als ihm seine Formulierung auffiel, musste er schmunzeln.

„Es gibt Partnerbörsen und es gibt das Internet“, schlug Wiebke ihm vor.

Petersen winkte ab. „Bleib mir weg mit so einem anonymen Kram. Anderes Thema: Wie läuft es bei Tiedje und dir?“

Damit hatte Wiebke nicht gerechnet, und die direkte Frage war ihr ein wenig unangenehm. „Es läuft nicht“, erwiderte sie schließlich. „Wir sehen uns ab und zu, aber ein Paar sind wir nicht. Keine Ahnung, ob er gerade in diesem Augenblick fremdgeht. Wenn man überhaupt von Fremdgehen sprechen kann.“ Sie hatte keine Lust, Petersen zu gestehen, dass sie ab und zu eine gemeinsame Nacht mit Tiedje verlebte, wenn ihr nach körperlicher Nähe war.

„Hm.“ Jan Petersen blickte sie mit einem Dackelblick an. „Und du bist nicht in ihn verliebt?“

„Ganz bestimmt nicht.“ Wiebke schüttelte den Kopf.

„Ich meine nur, ihr hattet große Pläne: Deine Strandkneipe, sein Shuttleservice zum Strand.“

Tatsächlich hatte Wiebke immer davon geträumt, in einer kleinen Bar mit Meerblick Gäste zu bewirten, die ihr Tiedje mit einem geländegängigen VW-Bulli an den Strand kutschierte. Doch sie wusste nicht, ob es das war, was sie sich für ihre Zukunft wünschte: In der Gastronomie zu arbeiten und das Geschäft mit ihm gemeinsam führen. Dass alles klang wie eine kindliche Schwärmerei, seitdem sie bei der Kripo in Husum arbeitete.

„Vergiss es“, murmelte sie und kratzte mit dem Plastiklöffel den Rest der Krabbensuppe aus dem Einwegteller. „Das war ein anderes Leben.“ Sie legte den Löffel in den Teller und tupfte sich die Lippen mit einer Papierserviette ab.

Petersen blickte sie an und nickte. „Bist im Leben angekommen, was?“

Nun musste Wiebke lachen. „Noch lange nicht, Jan.“ Ihr Blick glitt an Petersen vorbei zum Hafenbecken. Dort stand ein Mann von fast zwei Metern Körpergröße und blickte auf das Wasser hinaus wie ein alter Seemann, der auf die Ankunft seines Schiffes wartete. Gedankenverloren, einsam, stand er regungslos da und rauchte. Die etwas zu langen, dunklen Haare waren von silbernen Fäden durchzogen. Er trug eine altmodische Jeans mit Bundfalten, dazu ausgelatschte Schuhe und einen dünnen Sommermantel. Obwohl sie ihn nur von hinten sah, erinnerte sie der Mann an ihren Vater.

Fast wie Papa, dachte sie wehmütig. Würde Petersen das Schicksal ihres Vaters nun teilen? Auch Norbert Ulbricht war Kommissar gewesen. Er war verheiratet gewesen, aus dieser Ehe war Wiebke hervorgegangen. Doch bald schon hatte ihre Mutter die Nase voll davon gehabt, dass die kleine Familie die meiste Zeit ohne Vater und Mann auskommen musste, weil dieser Verbrecher jagte. Mutter hatte ihn in einer Nacht- und Nebelaktion verlassen und war an die See gezogen, um mit der kleinen Wiebke ein neues Leben zu beginnen. Natürlich dachte sie als Mädchen oft an ihren Vater und vermisste ihn sehr, doch irgendwie hatten sie sich aus den Augen verloren.

Und jetzt Petersen. Seine Frau hatte ihn aus dem gleichen Grund verlassen.

„Scheiß auf die Liebe – wir müssen Verbrecher jagen“, riss seine Stimme sie aus den Gedanken, als das Klingeln eines Handys immer lauter wurde. Er kratzte den Rest Rührei zusammen und zupfte das Telefon aus der Jackentasche. Nach einem Blick auf das Display nickte er Wiebke zu. „Das ist Dierks. Wahrscheinlich hat Hansen sich schon über mich beschwert.“

Wiebke trank einen Schluck Mineralwasser und folgte dem Telefonat ihres Kollegen.

„Wer sagt das? … Piet? Ich denk, der ist in Kiel bei der Obduktion? … Ach so. Aber das müssen wir ihm erst mal beweisen – wär‘ ja ein Hammer. … Unsinn, nein, wir bleiben trotzdem am Ball, klar. … Ja, Mattes, wir müssen schnacken, aber nicht jetzt. … Sicher, wir fahren sofort los. Tschüss!“

Petersen drückte die rote Taste und ließ das Handy in seiner Tasche verschwinden. „Es gibt Arbeit“, kommentierte er und leerte sein Glas. „Ich erzähl dir alles unterwegs.“ Als sie zum Dienstwagen eilten, war der hochgewachsene Mann am Kai wie vom Erdboden verschwunden.

Husum, Gewerbegebiet Ost, 14.45 Uhr

Auf dem Weg ins Gewerbegebiet berichtete Petersen ihr, was er von Matthias Dierks erfahren hatte. Im Auto war es warm, und Wiebke hatte die Seitenscheibe einen Spaltbreit geöffnet. Der Wind spielte mit ihrem dunklen Haar. Die Stadthäuser schienen an dem Mondeo vorbeizufliegen.

„Piet hat die Fingerabdrücke, die er in dem Technikraum des Multimar gefunden hat, ausgewertet. Natürlich gab es zahlreiche Spuren, die von Mitarbeitern stammen.“

„Heißt das, dass Piet sämtliche Mitarbeiter bereits erkennungsdienstlich erfasst hat?“ Wiebke staunte nicht schlecht.

„Dierks hat ihm Verstärkung gegeben“, nickte Petersen. „Sonst wär das in den paar Stunden nicht möglich. Aber er hat auch Prints im Multimar gefunden, die keinem der Mitarbeiter zugeordnet werden konnten.“

„Sondern?“

„Es sind eindeutig die Fingerabdrücke eines gewissen Jörn Holst gefunden worden.“ Petersen grinste zu ihr herüber. „Na, klingelt`s, Mädchen?“

Wiebke überlegte fieberhaft, woher sie den Namen Jörn Holst kannte. Dann fiel es ihr ein. „Der Bauunternehmer Jörn Holst?“

„Bauunternehmer ist zu viel gesagt. Er hat sich stark verkleinert und macht nur noch Handlangerarbeiten, das soll er uns aber gleich selbst mal erzählen.“ Vor einer roten Ampel stoppte Petersen. Nervös trommelte er auf dem Lenkrad herum.

Nun verstand Wiebke, warum ihr Partner plötzlich so hektisch war. „Moment, Moment. Wenn Piet die Fingerabdrücke in seinem System gefunden hat, dann bedeutet das doch, dass Holst schon einmal auffällig geworden ist.“

„Exakt.“ Die Ampel wurde grün, und Petersen trat das Gaspedal bis zum Bodenblech durch. Er schien keine Zeit verlieren zu wollen. „Jörn Holst ist unserem Verein bereits bekannt. Er ist vorbestraft – gegen ihn hat es vor einiger Zeit eine Anzeige wegen Körperverletzung gegeben. Und nun rate mal, wem er damals an den Kragen wollte?“

Wiebke musste nicht lange überlegen. Petersens Fahrstil sprach seine eigene Sprache. „Du meinst, Heiners und Holst sind schon mal aneinandergeraten?“

Petersen nickte. „Wie Dierks am Telefon sagte, ging es bei dem Streit um die Dumpingpreise im Baugewerbe. Jörn Holst hat für Heiners gearbeitet. Der hat ihm die Preise diktiert, sodass Holst nicht viel verdient haben kann.“ Er blickte kurz zu Wiebke hinüber. „Wir sind mit den Kollegen vom Streifendienst verabredet. Sie verstärken uns, falls Holst wieder Ärger macht und sich gegen die Festnahme wehrt.“

„Festnahme?“ Wiebke runzelte die Stirn. „Das geht mir jetzt doch zu schnell. Wenn ich dich recht verstehe, dann hat Holst sich mal mit Holger Heiners geprügelt?“

„So sieht es aus. Heiners hat damals die Anzeige erstattet, und seine Anwälte haben im Nachhinein noch ein empfindliches Schmerzensgeld rausgeschlagen, das Holst an den Rand der Pleite brachte. Seit diesem Vorfall kämpft er um jeden Auftrag. Eine Bankauskunft hat unseren Verdacht bestätigt: Er krebst so am Rand der Insolvenz herum und muss zusehen, dass er seine Leute und die Materiallieferanten bezahlen kann, sonst ist es bald zappenduster.“

„Er muss Holger Heiners gehasst haben“, schlussfolgerte Wiebke. Der Grund für die körperliche Auseinandersetzung zwischen Heiners und Holst lag auf der Hand.

„Ich habe eine Theorie: Piet weiß, dass Jörn Holst für das Multimar tätig war. Als Handwerker ist er mit den Gegebenheiten dort vertraut – ich behaupte sogar, dass er weiß, wie er in das Gebäude kommt.“

„Rache“, spann Wiebke den Faden weiter. „Er bittet Heiners zu einem klärenden Gespräch ins Multimar, lockt ihn an den Rand des Großbeckens und stößt ihn ins Wasser. Dass Heiners keine Chance hat, musste Jörn Holst gewusst haben, wenn er im Multimar gearbeitet hat. Also brät er ihm eins über und verschwindet. Das Resultat kennen wir.“

„Jetzt müssen wir ihm seine Tat nur noch beweisen“, knurrte Petersen, als er einen Kreisverkehr verließ und in eine Straße abbog, die direkt in das Gewerbegebiet im Husumer Norden führte.

„Ich denke, für die Untersuchungshaft genügt das, oder?“

„Aber hallo“, stimmte ihr Petersen zu. „Wir haben den Mörder von Holger Heiners, Wiebke.“

Er lenkte den Wagen auf einen Betriebshof an der Otto-Hahn-Straße. Mehrere Flachdachgebäude, die wahrscheinlich als Lagerhallen genutzt wurden, und eine Art Container, der wohl als Verwaltungsgebäude diente, zeugten nicht gerade vom Wohlstand des Bauunternehmens. Wiebke ging voran, dicht gefolgt von Petersen. Ihre Ankunft war beobachtet worden; hinter einem der Fenster im Bürocontainer nahm Wiebke einen Schatten wahr. Die Sonne brach sich im staubblinden Glas der Scheibe, sodass sie nicht genau erkennen konnte, wer sich drinnen aufhielt. Doch gleich würde sie es wissen, dachte sie und legte eine Hand an die Dienstwaffe, als sie den Container betraten.

„Das ist absolut lächerlich!“ Jörn Holst zupfte an seinen Hemdsärmeln herum und krempelte sie hoch. Ihm war sichtlich warm geworden. „Ich soll ein Mörder sein?“

Petersen war in das stickige Chefbüro des Betriebs gestürmt und hatte den Geschäftsführer mit den Vorwürfen, hinter dem Mord an Holger Heiners zu stecken, konfrontiert.

Wiebke lehnte am Fenster des Containers. Durch das Glas der Scheibe spürte sie die wärmenden Strahlen der Sonne. Die Luft in dem Bürocontainer war stickig, und Wiebke war froh, wenn sie hier wieder rauskamen. Petersen hatte sich breitbeinig vor dem Schreibtisch des Bauunternehmers aufgebaut. Die Männer maßen sich sekundenlang mit Blicken. Wiebke schätzte Jörn Holst auf Ende dreißig. Er war von stämmiger Natur, hatte blondes, dichtes Haar und trug einen sorgsam gestutzten Kinnbart. Das Oberhemd stammte wahrscheinlich nicht vom Designer, und auch Schuhe und Hose wirkten eher wie einfache Kaufhausqualität. Das Einzige, was Wiebke in die Kategorie Dekadenz einordnete, war die protzige goldene Armbanduhr an Holsts Handgelenk.

„Ich werde meinen Anwalt anrufen und euch eine Klage wegen Verleumdung anhängen, darauf könnt ihr euch verlassen!“ Die Augen des Firmeninhabers funkelten wütend, als seine Blicke zwischen Petersen und Wiebke hin und her irrten.

„Tun Sie, was Sie nicht lassen können.“ Wiebke ließ sich vom aufbrausenden Gehabe dieses Mannes nicht beeindrucken. Sie wusste, dass der Ton in dieser Branche mitunter ein wenig herb war, und hatte sich auf der Fahrt zum Gewerbegebiet darauf einstellen können. Sie musterte Jörn Holst und fragte sich, ob er zu einem Mord fähig war. Immerhin, so resümierte sie insgeheim, hatte er eine große Klappe. Und die vorliegende Anzeige wegen Körperverletzung deutete darauf hin, dass er aufbrausend und gewaltbereit zu sein schien.

„Sie haben sich vor einiger Zeit mit Holger Heiners geprügelt“, stellte sie in sachlichem Tonfall fest. „Warum?“

„Er hat mich provoziert.“ Holst lehnte sich auf seinem Bürostuhl zurück. Der Stuhl quietschte. „Haben Sie eine Ahnung, wie gut er das kann?“ Er räusperte sich. „Ich meine … wie gut er das konnte?“

„Nein. Ich habe ihn nie persönlich kennengelernt.“ Wiebke erinnerte sich daran, dass Torben Schäfer eine ähnliche Äußerung gemacht hatte.

„Sie sind ein gestandener Unternehmer, Herr Holst. Wollen Sie mir ernsthaft weismachen, dass Sie sich so leicht provozieren lassen? Und zwar so, dass Sie ihn zusammenschlagen? Wer kümmert sich um Ihren Laden, wenn Sie im Gefängnis sitzen?“

„Ich habe ihn nicht zusammengeschlagen – das ist Quatsch.“

„Darüber gibt es ärztliche Atteste“, mischte sich Petersen nun ein, der vorhin mit Matthias Dierks telefoniert hatte.

„Die er fingiert hat. Heiners war ein reicher Sack – er hat sich die Atteste für viel Geld von seinen Ärzten fälschen lassen, um das Schmerzensgeld in die Höhe zu treiben.“

„So hoch, dass Sie fast daran pleite gegangen wären.“ Wiebke betrachtete den Unternehmer aufmerksam und achtete auf jede Regung in seinem Gesicht. „Wenn das kein Grund für eine Rache ist.“

Petersen spann den Faden weiter, während er in dem staubigen Büro auf- und ablief. „Es kam zu einem Treffen im Multimar, wo Sie ihm eine zweite Abreibung verpasst haben. Eine sehr nasse Abreibung, um genau zu sein. Heiners ist qualvoll ertrunken.“

„Am liebsten hätte ich ihn in ein Haifischbecken geworfen.“

Wiebke horchte auf. „War das eben ein Geständnis?“

„Natürlich nicht!“ Jörn Holst blickte sie böse an. „Was erlauben Sie sich? Ich hätte ihn am liebsten in ein Haifischbecken geworfen. Hören Sie mir nicht zu? Ich ,hätte‘, habe ich gesagt.“

„Man hat Ihre Fingerabdrücke am Tatort gefunden“, stellte Wiebke klar.

Holst blickte sie sekundenlang wie einen Geist an, dann wurden seine Augen groß. Die Lippen, die er eben noch zu einem schmalen Strich zusammengepresst hatte, verzogen sich zu einem breiten Grinsen.

„Ist nicht Ihr Ernst“, sagte er dann und schien plötzlich sichtlich amüsiert zu sein. „Wenn Sie gut in Ihrem Job sind, dann sollten Sie wissen, dass ich für den Laden arbeite.“

„Mit Tötungsdelikten scherzen wir üblicherweise nicht.“ Wiebke warf Petersen einen Hilfe suchenden Blick zu.

„Sicherlich haben Sie Rechnungen für die Leistungen geschrieben, die Sie dort erbracht haben“, half er ihr.

„Natürlich. Die Rechnungen kann ich Ihnen gern zeigen – natürlich werden es Ihnen die Leute in Tönning auch gern bestätigen. Unser Geschäftsverhältnis ist durchweg gut. Ich arbeite zügig, und sie bezahlen schnell ihre Rechnungen.“

Petersen band es dem Bauunternehmer nicht auf die Nase, dass Matthias Dierks ihn am Telefon längst gebrieft hatte und er wusste, dass Holst nicht log. „Wann waren Sie zuletzt dort im Einsatz?“

„Vor gut einer Woche, das kann ich aber herausfinden.“

„Bitte.“

Jörn Holst machte sich an seinem Computer zu schaffen. Er bewegte die Maus, und der Rechner erwachte aus dem Ruhezustand. Es wunderte Wiebke nicht im Geringsten, dass Holst sich eine barbusige Schönheit als Bildschirmhintergrund eingerichtet hatte. Holst erfüllte alle Klischees, und wahrscheinlich pfiff er den jungen Mädchen auf der Baustelle auch hinterher. Fehlte nur noch der Kasten „Flens“ in der Ecke des Büros.

„Letzten Montag war das.“ Sein puterrotes Gesicht erschien hinter dem Monitor. „Eine Reparatur im Technikraum.“ Nun grinste Holst überheblich. „Das erklärt wohl meine Fingerabdrücke. Noch Fragen?“

„Ja.“ Petersen nickte. Das arrogante Gehabe seines Gegenübers begann ihn zu nerven. Er trat an den Schreibtisch, stützte beide Hände darauf und beugte sich zu Holst hinab. Wiebke sah ihrem Kollegen an, dass er ihm am liebsten an die Gurgel gegangen wäre. „Wo waren Sie letzte Nacht zwischen zweiundzwanzig Uhr abends und sechs Uhr morgens?“

Holst tat, als würde er angestrengt nachdenken. Dann lächelte er Petersen süffisant an. „Ich habe die Nacht mit einer Dame verbracht.“

„Mit Ihrer Frau?“, bellte Petersen ihn an. „Freundin?“

„Weder noch. Ich habe mir ein Mädchen aus einem Escort-Service gegönnt.“ Sein Grinsen wurde noch eine Spur breiter, und der lüsterne Blick, mit dem er jetzt Wiebke betrachtete, bereitete ihr Ekelgefühle. „Das tu ich ab und zu, wenn ich mal abschalten und vergessen will. Geht Ihnen doch sicher auch so, Kommissar?“

„Hauptkommissar, so viel Zeit muss sein.“ Petersen stieß sich von der Schreibtischkante ab und wanderte durch das kleine Büro. „Name und Adresse?“

„Wie bitte?“

„Ich will den Namen des Mädchens und den Ort, wo Sie die Nacht mit ihr … verlebt haben.“

„Ach das.“ Jörn Holst lachte gewinnend, fast so, als würde er erst jetzt verstehen. „Kann ich Ihnen geben.“

„Bitte.“

„Das Hotel ,Alte Schule‘ sagt Ihnen sicher etwas.“ Holst nahm ein Stück Papier aus einer Plexiglas-Zettelbox, griff zu einem Kugelschreiber und kritzelte etwas darauf. Dann reichte er den Zettel Petersen, der einen Blick darauf warf, ihn einmal zusammenfaltete und in die Hemdtasche stopfte.

„Ich hätte gern die Hotelrechnung gesehen“, sagte Petersen.

„Das tut mir leid – ich habe sie weggeschmissen. Muss doch keiner wissen, was ich in meiner Freizeit mache.“ Holst tat bedauernd.

Petersen glaubte ihm kein Wort. Er nickte Wiebke zu. Sie erwiderte das Nicken und nahm ihre Handschellen vom Hosenbund, um sie zu entriegeln. Petersen griff zur Waffe, um seine junge Kollegin zu sichern und ließ Holst keine Sekunde aus den Augen.

„Haben Sie mir nicht zugehört?“, widersprach Jörn Holst wütend. „Ich habe Ihnen ein Alibi genannt. Das sollten Sie vielleicht überprüfen, und dann werden Sie feststellen, dass ich mit dem Mord an Heiners nichts zu tun haben kann, verdammt noch mal!“

„Eins nach dem anderen“, brummte Petersen. „Erzählen Sie uns nicht, wie wir unseren Job zu machen haben. Sie kommen mit, den Rest besprechen wir auf der Polizeiinspektion. Offen gestanden schätze ich Sie so ein, dass Fluchtgefahr besteht. Und das wollen wir nicht riskieren, also sollten Sie den Anweisungen meiner Kollegin Folge leisten.“

„Das ist Behördenwillkür“, protestierte Holst, doch er leistete keinen Widerstand und ließ sich schweigend von Wiebke die Handschellen anlegen. Wahrscheinlich wusste er, dass er verloren hatte, doch das würde eine Überprüfung seines Alibis ergeben.

Wiebke atmete einmal tief durch, dann gab sie ihrer Stimme einen festen Klang: „Herr Holst, Sie sind hiermit verhaftet. Sie stehen unter dringendem Tatverdacht, Holger Heiners im Multimar getötet zu haben.“