ZWÖLF

Husum, Badestrand Dockkoog, 16.00 Uhr

Sand hatte der Dockkoog zwar nicht zu bieten, trotzdem herrschte am späten Nachmittag viel Betrieb in der Husumer Bucht. Es hatte angefangen zu regnen, doch die Touristen hatten sich mit wetterfesten Jacken ausgerüstet und genossen die frische Seeluft. Trotz des Regens hatte Ulbricht darauf bestanden, unter einem der weit ausladenden Sonnenschirme von „Antjes Imbiss“ im Freien zu sitzen. Drinnen sitzen könne er den ganzen Tag, hatte er seiner Tochter beschieden, während er den Blick über den sattgrünen Dockkoog schweifen ließ.

„Die Pommes sind kalt“, mokierte sich Ulbricht kauend, während der Regen auf den Schirm pladderte und seiner Tochter einen Schauer über den Rücken trieb.

Wiebke, die ihrem Vater gegenübersaß, warf ihrem alten Herrn einen vielsagenden Blick zu. „Papa“, seufzte sie, „wir sind am Meer, und es regnet. Da musst du beim Essen nicht pusten, um dir nicht den Mund zu verbrennen.“

Norbert Ulbricht hatte seine Tochter nach der Rückkehr aus Glücksburg darum gebeten, sich den Dockkoog, wegen dem es offenbar Tote gegeben hatte, mit eigenen Augen ansehen zu dürfen. Dass er hier schon allein gewesen war, störte ihn nicht. Gestern hatte er nicht gewusst, welche Tragödie sich hier gerade abspielte. Nun fühlte er den Husumer Badestrand und versuchte, sich in die Täter hineinzuversetzen. War jemand in der Lage, für den Erhalt des Naturschutzgebietes zu morden?

„Wie gehen wir weiter vor?“, fragte er mit vollem Mund, ohne auf Wiebkes Einwand einzugehen.

„Da war es wieder“, rief Wiebke. „Das kleine Wörtchen ,wir‘.“ Ihr Vater war einfach unverbesserlich, und sie fürchtete ein wenig, dass er nicht tatenlos zusehen würde, bis sie den Fall gelöst hatte. Dabei fiel ihr ein, dass sie noch gar nicht darüber gesprochen hatten, wie lange er blieb.

„Du weißt, wie ich das meine“, entgegnete Ulbricht und lächelte seiner Tochter zu.

„Eben“, nickte Wiebke, „eben.“ Sie trank von ihrem Kaffee, der sie von innen wärmte. Wäre es nach ihr gegangen, hätten sie sich einen freien Platz im Innenbereich des Kiosks gesucht. Sie berichtete ihrem Vater vom Telefonat, das sie im Auto mit ihrem Partner Petersen geführt hatte. Einen dringend Tatverdächtigen hatte man wieder aus der U-Haft entlassen müssen, und nun waren die Karten neu gemischt. Sie hoffte, dass sie schlagfeste Beweise gegen Torben Schäfer finden würden.

„Wer sagt denn, dass wir hier nach einem Mörder suchen?“, fragte Ulbricht.

„Wir suchen nicht – ich suche“, betonte Wiebke, dann runzelte sie die Stirn. „Was meinst du denn? Glaubst du, wir suchen eine Mörderin?“

„Vielleicht auch das.“ Ulbricht musste in Anbetracht der Spitzfindigkeit seiner Tochter schmunzeln. „Aber es sieht doch nicht danach aus, als würden wir es mit nur einem Täter zu tun haben. Während dieser Holger Heiners offenbar qualvoll ertrunken ist, weil er ins nasse Element befördert wurde, hat man auf Heiners’ Frau geschossen.“

„Du meinst wegen der unterschiedlichen Modi Operandi?“ Nun wusste Wiebke, worauf ihr Vater hinauswollte. Sie registrierte, dass er stolz nickte.

„Du beherrschst die Bildungssprache der Polizeischule“, freute er sich kauend. „Aber kein Wunder“, schob er dann hinterher. „Ist ja auch noch gar nicht so lange her, dass du die Schulbank gedrückt hast.“

„Vielen Dank auch.“

„Gern.“ Ulbricht schob den leeren Teller in die Tischmitte und tupfte sich den Mund mit einer Stoffserviette ab. Dann zog er eine zerknautschte Zigarettenpackung aus der Hemdtasche und zündete sich einen Glimmstängel an.

„Jetzt weiß ich, warum du auf Biegen und Brechen draußen im Regen sitzen wolltest“, jammerte Wiebke, „du kannst hier die frische Seeluft verpesten, während ich mir den Tod hole!“

Ulbricht schmauchte den Rauch unter den dunkelblauen Schirm. „Ich wollte einfach die Weite hier draußen genießen.“

„Ja, das muss es wohl sein“, nickte Wiebke und wedelte sich bezeichnend mit der flachen Hand vor dem Gesicht herum.

„Du schweifst ab“, moserte er und klopfte die Asche am Rand des Aschenbechers ab. Er versuchte sich an das zu erinnern, was Wiebke ihm im Auto über ihre Kenntnisse in dem Fall berichtet hatte.

„Mit einem Serienmörder haben wir es nicht zu tun – dagegen spricht die unterschiedliche Art, die Opfer zu töten.“ Er grinste. „Das hast du sehr gut erkannt. Sonst hätte man vermuten können, dass es jemanden gibt, der die Heiners ausrotten will, was wohl eher für eine familiäre Angelegenheit spräche. Geschäftliche Gründe scheiden aus, weil Gabriele Heiners wohl nicht viel mit der Immobilienfirma ihres Mannes zu schaffen hatte. Außerdem war sie Umweltschützerin und konnte nicht mit den Plänen von Holger Heiners, hier ein Ferienressort zu errichten, einverstanden sein.“

„Sie hätte nach seinem Tod den Laden übernommen“, sinnierte Wiebke. „Dann wäre alles so gelaufen, wie sie es gerne hätte.“

„Aber es gab jemanden, der ein berechtigtes Interesse an der Firma hatte.“ Ulbricht grinste, nahm einen Zug an seiner Zigarette und trommelte mit den Knöcheln seiner Hand auf der Tischplatte herum. „Und mit dieser Person habe ich gesprochen.“

„Rohde?“, fragte Wiebke fassungslos. „Christian Rohde, die rechte Hand von Heiners, soll hinter den Morden stecken?“

„Zumindest hätte er ein Motiv: Habgier.“

Wiebke wiegte den Kopf. „Wer sagt denn“, überlegte sie, „dass Rohde die Firma übernimmt, jetzt, da die Heiners nicht mehr leben?“

„Das herauszufinden, ist eure Aufgabe. Ich könnte mir gut vorstellen, dass seine Frau als Erbin für das Unternehmen eingetragen ist. Wie sich die Dinge verhalten, nun, da auch sie unter ominösen Umständen ums Leben gekommen ist, kann ich nicht beurteilen.“

„Papa“, rief Wiebke. „Willst du sagen, dass Rohde die Frau seines Chefs tötet, um an die Firma zu kommen?“

„Ich will gar nichts sagen – ich denke nur laut nach. Aber man könnte ihm unterstellen, dass ihm der Mord an seinen Chef sehr gelegen kam. Somit war sein Ziel, die Firma zu übernehmen, greifbar geworden. Er musste nur noch die trauernde Witwe aus dem Weg räumen.“ Nun grinste er seine Tochter an. „Wie gesagt: Herausfinden und lösen müsst ihr das alles selbst.“

„Schönen Dank auch“, erwiderte Wiebke, als sie ein leichtes Vibrieren in ihrer Jackentasche spürte. Sie zog das Handy hervor und runzelte die Stirn, als sie einen Blick auf das Display warf und Petersens Handynummer erkannte.

„Wann kommst du rein?“, fragte er. Jan Petersen klang distanziert und unterkühlt. Wahrscheinlich ärgerte er sich noch immer über das letzte Telefonat, das sie geführt hatten. Es war wirklich nicht nötig gewesen, dass Friedrichs sich eingemischt und Petersen derart angeblafft hatte.

Wiebke versuchte, die angespannte Stimmung mit einem kleinen Scherz aufzulockern. „Hast du etwa Sehnsucht?“, fragte sie. Als er nicht antwortete, fuhr sie fort: „Gib mir zwanzig Minuten. Ich esse nur eine Kleinigkeit, dann bin ich bei dir. Was gibt es denn?“

„Piet hat Spuren von Waffenöl im Fußraum von Schäfers Auto gefunden. Und Fingerabdrücke, die nicht zu Schäfer gehören, denn den hat er bereits erkennungstechnisch behandelt.“

„Also ist tatsächlich jemand anderes gefahren.“

„Alles deutet darauf hin, und wenn nicht gleich etwas passiert, müssen wir auch Torben Schäfer wieder unverrichteter Dinge auf freien Fuß setzen. Das Verhör hab ich für halb fünf anberaumt. Also gib Gas, Mädchen.“

Wiebke atmete beruhigt durch. Wenn er sie mit väterlichem Unterton in der Stimme „Mädchen“ nannte, dann war er ihr offensichtlich nicht mehr böse. „Ich beeil mich“, versprach sie und beendete das Gespräch.

Ihr Vater hatte das Telefonat aufmerksam beobachtet. „Gibt es Ärger?“, fragte er besorgt.

„Noch nicht.“ Wiebke berichtete ihm, was sie von Jan erfahren hatte. „Deshalb muss ich jetzt schnell zur Wache, damit wir Torben Schäfer verhören können.“

„Der Kreis schließt sich“, murmelte er, während er einen letzten Zug von der Zigarette nahm, bevor er den Stummel im Aschenbecher mit dem Logo der Flensburger Brauerei ausdrückte. „Dann mal los.“

Polizeiwache Husum, 16.25 Uhr

„Papa, bitte … ich glaube, das ist ganz schlecht.“ Sie standen ein wenig unschlüssig im Regen, während Wiebke mit dem Schlüsselbund klimperte. Er sah seiner Tochter an, dass ihr die Situation unangenehm war.

„Aber ich habe einen guten Grund, weshalb ich mitkommen will.“ Ulbricht war enttäuscht, als sich seine Tochter vor dem Eingang der Polizeidirektion an der Poggenburgstraße von ihm verabschieden wollte. Sie hatte ihm den Wohnungsschlüssel hingehalten, doch er hatte keine Lust, in ihrem Haus die Hände in den Schoß zu legen und tatenlos abzuwarten, bis Wiebke die Mörder von Gabriele und Holger Heiners gefasst hatte. Das war absolut nicht sein Ding, und schon längst hatte ihn die Unruhe gepackt. Er fragte sich, warum man hier oben immer vom beschaulichen Norden sprach – seine Tochter jagte gleich zwei Mördern hinterher, die ein Ehepaar aus guten Verhältnissen auf dem Gewissen hatten. In dieser Situation konnte er sie unmöglich allein lassen.

„Ich will keinen Ärger bekommen, Papa.“ Wiebke lächelte ihn schief an und tätschelte seine Hand, als wäre er ein seniler alter Mann. „Geh in die Stadt und schau dich dort ein wenig um, und sobald ich Feierabend habe, lade ich dich im ,Ratskeller‘ zum Essen ein.“

„Es regnet“, brummte er, schlug den Kragen seines altmodischen Mantels hoch und blickte zum Himmel. Prompt landete ein dicker Tropfen auf seiner Nasenspitze. Er schüttelte sich angewidert.

„Dann geh ins ,Tine Café‘. Das liegt direkt am Binnenhafen. Du kannst oben sitzen und hast alles im Blick. Und viele alte Männer sitzen dort, um …“

„Na danke“, schnaubte Ulbricht empört. Kaum war er hier, schob ihn seine Tochter aufs Abstellgleis. „Ich bin also ein alter Sack, der sich in irgendein Café setzen soll, weil es andere alte Männer auch so machen?“

„Tut mir leid.“ Wiebke senkte den Blick.

„Ist klar, Kind. Außerdem – wenn die Eingeborenen mit ihrem komischen Platt losschnacken – sagt man schnacken? – dann verstehe ich eh nur Bahnhof und Koffer klauen.“

„Immerhin – besser als nichts.“ Sie zögerte. „Also, ich muss dann“, schob sie schließlich hinterher.

„Glaub mir, es wäre gut, wenn ich mitkäme“, beharrte er. Ulbricht hatte seine guten Gründe dafür, dass er die Husumer Wache von innen sehen wollte. Wiebke musste ihm unbedingt einen Kriminaltechniker vorstellen. Doch das verriet er ihr nicht – noch nicht.

Wiebke seufzte. „Also gut“, sagte sie. „Dann komm schon. Ich werde Dierks Bescheid sagen, damit er weiß, was auf ihn zukommt.“

„Wem?“

„Matthias Dierks, Erster Kriminalhauptkommissar hier bei uns. Mein Boss.“

Ulbricht schmunzelte. „Du willst deinen Chef also vor deinem alten Vater warnen?“ Als Wiebke nichts erwiderte, fuhr er fort: „Erster Kriminalhauptkommissar bin ich auch, also werde ich sicherlich keine Angst vor ihm haben.“ Er hatte keine Lust mehr, sein Licht länger unter den Scheffel zu stellen, fügte sich aber seinem Schicksal.

„Wie du meinst. Also los, ich habe viel Arbeit.“

Gemeinsam stiegen sie die Stufen der Wache hinauf, er betrachtete das dunkelblaue Schild mit der Aufschrift „Politii“ nachdenklich und erinnerte sich daran, dass es nur ein Katzensprung bis Dänemark war. Darunter stand, unterhalb der deutschen Bezeichnung, das Wort „Kriminåålkontoor“.

„Soso“, brummte Ulbricht. „Meine Tochter arbeitet also beim Kriminåålkontoor.“

„Es ist kein dänisch.“ Wiebke war stehen geblieben und hatte scheinbar seine Gedanken erraten. „Das ist friesisch. Wird hier sogar noch gesprochen, wenn auch selten.“

„Sag ich doch – ich versteh nur Bahnhof“, erwiderte er. „Nee, nee, da fühl ich mich an deiner Seite sicherer, Kind.“

„Schön.“ Sie betraten das Gebäude, und Wiebke führte ihn zu ihrem Büro. Auf dem Gang liefen sie einem dunkelhaarigen Mann entgegen, der ihn entfernt an den Schauspieler Jan Fedder erinnerte. In jungen Jahren, wohlgemerkt.

„Großstadtrevier“ live, dachte Ulbricht. Das wollte er schon immer mal erleben.

„Moin“, grüßte er ihn.

„Morgen“, nickte Ulbricht und warf einen irritierten Blick auf seine Armbanduhr. Er fürchtete, dass der Mann nun friesisch mit ihm sprechen würde, und beschloss spontan, sich in einem Sprachkurs anzumelden. Bei dem Typ musste es sich um Jan Petersen handeln, Wiebkes Partner. Wenigstens der Name passte zu seinem Aussehen, dachte Ulbricht und dachte an den Schauspieler, den er mochte.

„Da bist du ja“, sagte Petersen an Wiebke gewandt. „Wir müssen gleich mit dem Verhör von Schäfer anfangen, Dierks sitzt auf heißen Kohlen, weil Friedrichs Stress macht.“

„Er wollte uns später Gesellschaft leisten“, nickte Wiebke mit säuerlich verzogener Miene. „Ich freu mich schon.“

„Wiebke – kann ich dich mal unter vier Augen sprechen?“ Petersen warf Ulbricht einen Blick zu, den er nicht recht zu deuten vermochte.

„Klar, wenns schnell geht.“ Wiebke nickte ihrem Vater zu und ließ sich von ihrem Kollegen zur Seite nehmen. Obwohl er leise sprach, so verstand Ulbricht doch jedes Wort. Wenn es eines gab, das bei ihm noch hervorragend funktionierte, dann waren das seine Ohren.

„Wiebke, wir jagen einen Mörder, und du schleppst uns einen Penner hier an – was soll das?“

Ulbricht war versucht, dem Kerl die Meinung zu sagen, zog es aber vor, der Unterhaltung schweigend beizuwohnen, so, als hätte er nichts von der Äußerung mitbekommen. Dennoch blickte er peinlich berührt an sich herunter. Der Trenchcoat, sein geliebter Mantel, war in die Jahre gekommen, ohne Zweifel. Das gestreifte Hemd war ungebügelt, dafür wies die hellblaue Jeans eine akkurate Bundfalte auf. Gut, die Schuhe, seine ausgelatschten Hush Puppies, hätte er vor der Fahrt ruhig noch einmal putzen können, aber wie ein Penner sah er nun wirklich nicht aus. Ulbricht schüffelte an sich und konnte keinen unangenehmen Geruch feststellen. Dennoch war er froh, dass Maja Klausen nicht bei ihm war. Ihr wäre eine kritische Anmerkung über sein Äußeres sicherlich eine Genugtuung gewesen. Sie plädierte schon seit Langem dafür, dass er sich modischer kleiden sollte.

„Das ist kein Penner, Jan“, zischte Wiebke und schenkte ihrem wartenden Vater ein entschuldigendes Lächeln. „Er ist mein Vater. Du solltest lieb sein, er ist Erster Kriminalhauptkommissar!“

Na bitte, dachte Ulbricht zufrieden. Dann war sie also doch stolz auf ihren Vater.

„Der?“, fragte Jan gedehnt. „Das soll ein Abteilungsleiter sein? Was leitet der denn?“

Ulbricht hatte genug gehört. „Erstes Kriminalkommissariat im Polizeipräsidium Wuppertal“, stellte er sich polternd vor und hielt Wiebkes Kollegen die Hand hin. Er ergriff sie und drückte fest zu.

So lange, bis sich Petersens Miene schmerzlich verzog. „Hat Ihnen Ihre Mutter nicht beigebracht, dass man einen Menschen niemals nach seinem Äußeren beurteilen soll?“

„Doch … ähm … Hab es wohl vergessen.“ Wiebkes Kollege kratzte sich verlegen im Nacken, nachdem Ulbricht seine Hand losgelassen hatte. „Ich bin Petersen. Jan Petersen, Wiebkes Kollege.“

„Und das da ist Piet Johannsen, unser Schnüffler“, stellte Wiebke ihm nun einen untersetzten Mann mit schlohweißen Haaren und einer Nickelbrille vor, der, mit einer Kaffeetasse bewaffnet, auf dem Weg in die Küche war.

„Na, na“, brummte Johannsen und runzelte die Stirn. Er blickte Ulbricht fragend an.

„Mein Vater, KHK Ulbricht“, stellte Wiebke ihn schnell vor. Wahrscheinlich befürchtete sie weitere peinliche Verwechselungen.

„Angenehm“, nickte Johannsen und wandte sich an Wiebke und Petersen. „Schön, dass ich euch hier erwische. Ich habe das Handy eures Verdächtigen ausgewertet.“

„Jetzt willst du es aber wissen“, grinste Petersen.

„Klar.“

Johannsen nickte. Er schien weniger Berührungsängste vor Ulbricht zu haben als dieser Petersen. „Und stellt euch mal vor, welche Nummer er regelmäßig gewählt hat?“

„Mach es nicht so spannend“, brummte Petersen.

„Torben Schäfer hat mehrere Telefonate mit Beke Frahm geführt. Mal hat er sie, mal hat sie ihn angerufen.“ Piet Johannsen blickte in die überraschten Gesichter seiner Kollegen. „Da staunt ihr, was?“

„Freunde der Volksmusik“, staunte Petersen. „Zwischen den beiden lief was?“

Johannsen zuckte mit den Schultern und umklammerte seine Tasse fester. „Das weiß ich nicht. Aber ich weiß, wann die beiden zuletzt telefoniert haben.“ Sein Blick wechselte von Wiebke zu Petersen. Ulbricht kam sich ein wenig ausgegrenzt vor. „Zuletzt haben sie an dem Abend telefoniert, als Heiners starb. Und zwar um 21.52 Uhr. Das sind die Fakten, und nun macht was draus.“

Petersen pfiff durch die Zähne. „Das passt.“

Wiebke blickte ihn fragend an. „Was passt?“

„Die Alarmanlage des Multimar wurde am Tatabend um 21.55 Uhr deaktiviert. Ich hab da so eine Idee.“ Petersen zog Wiebke am Ärmel fort. „Komm schon, auf das Verhör bin ich gespannt.“

Ulbricht ließen sie einfach mit Piet Johannsen auf dem Flur stehen.

„Darf ich dir `nen Kaffee anbieten, Kollege?“

Ulbricht nickte. „Warum nicht?“ Auch wenn er es hasste, spontan und von fremden Leuten geduzt zu werden, fügte er sich seinem Schicksal. Bei dem Verhör von Torben Schäfer anwesend zu sein, war wohl zu viel verlangt, auch wenn es ihn brennend interessiert hätte.

Es war Wiebke ein wenig unangenehm gewesen, ihren Vater einfach so mit Piet auf dem Gang der Wache stehen zu lassen, doch Petersen brannte auf das Verhör von Torben Schäfer. Offenbar hatte er sich fest vorgenommen, den Fall noch vor dem Meeting am frühen Abend abzuschließen, um Friedrichs einen Erfolg vermelden zu können. So blieb ihr die Hoffnung, dass sich Piet Johannsen ihres Vaters annehmen würde, während sie den fensterlosen Verhörraum betraten.

Es war nicht das erste Verhör, das sie mit Jan Petersen durchführte. Sie wussten, wie sie sich die Bälle zuspielen mussten, um einen Täter zu überführen. Zwar stand Wiebke noch am Anfang ihrer Laufbahn, doch längst hatte sie sich auf Petersens mitunter ruppige Art eingestellt und spielte daher den sanften Part im Verhör. Es war ihre persönliche Masche, das alte ‘Good Cop - Bad Cop’ zu spielen. Dennoch spürte Wiebke eine gewisse Anspannung, als sie die Tür des Verhörzimmers hinter sich schloss. Ihr Puls erhöhte sich schlagartig. Sie atmete tief durch und war bemüht, gefasst zu wirken.

Torben Schäfer saß bereits am Tisch. Er war in sich zusammengesackt, wirkte völlig am Boden zerstört und hatte das gerötete Gesicht in den Händen geborgen.

Als Wiebke und Petersen den Raum betraten, blickte er auf und streckte den Rücken durch.

„Sie glauben nicht ernsthaft, dass ich ein Mörder bin, oder?“ Der Biolehrer gab sich unerwartet offensiv. Wahrscheinlich hatte er den Ernst der Lage erkannt.

Doch Wiebke hatte ihn durchschaut. Sie überlegte, welches Geheimnis dieser Mann barg.

„Das werden wir jetzt herausfinden, Herr Schäfer“, sagte sie, während sie sich einen Stuhl heranzog. Petersen war damit beschäftigt, das digitale Aufzeichnungsgerät in Gang zu bringen, dann setzte auch er sich. Mit monotoner Stimme belehrte er Schäfer über seine Rechte. Der Umweltschützer stierte auf den Tisch und nickte stumm.

„Also“, begann Petersen das Gespräch, nachdem sie die Formalitäten hinter sich gebracht hatten. „Sie geben an, zur Tatzeit betrunken gewesen zu sein.“ Petersen beugte sich weit über die kühle Tischplatte. „Wissen Sie eigentlich, wie viele alkoholisierte Autofahrer unsere Kollegen vom Streifendienst täglich aus dem Verkehr ziehen?“

„Das sind doch so schräge Typen, die besoffen von der Kneipe nach Hause fahren, weil sie nicht mehr laufen können“, erwiderte Schäfer tonlos.

„Du hast wohl `nen Clown gefrühstückt, Meister!“ Dass Petersen automatisch zum „Du“ übergegangen war, schien weder ihn selbst noch Schäfer zu stören.

„Habt ihr eine Ahnung, wie weit es von Treia bis Glücksburg ist?“ Der engagierte Umweltschützer winkte ab, bevor er seine Frage selbst beantwortete: „Vierzig Kilometer. So betrunken, wie wir waren, hätte ich es wohl nicht einmal bis zur Autobahnauffahrt in Schuby geschafft. Sorry, da müsst ihr euch wirklich einen anderen suchen.“

„Ihre Freundin, beispielsweise?“ Wiebke klickerte ein paar Mal mit ihrem Kugelschreiber und klappte den Block, den sie sich noch schnell aus ihrem Büro geholt hatte, auf.

„Lassen Sie Levke da raus, sie hat damit nichts zu tun.“

„Damit?“ Petersen zog eine Augenbraue hoch. „Womit hat sie nichts zu tun? Mit deiner Trunkenheitsfahrt oder mit den beiden Morden am Ehepaar Heiners?“

Wiebke ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Herr Schäfer, wenn Sie mit uns kooperieren, wird sich das sicherlich auf das Ausmaß Ihrer Strafe auswirken.“

„Strafe?“ Schäfers Augen funkelten sie böse an. „Wofür denn? Dafür, dass ich die Nacht mit der Frau verbracht habe, auf die ich schon seit Ewigkeiten scharf war? Dafür, dass man mir den Wagen gestohlen und schließlich wieder zurückgebracht hat, um mir einen Mord anzuhängen? Dafür soll ich in den Knast wandern?“

„Am Fahrzeug wurden keine Einbruchspuren festgestellt, und auch die Zündung wurde nicht kurzgeschlossen“, erinnerte Petersen ihn.

Schäfer tippte sich gegen die Stirn.

„Nach unserem Kenntnisstand sieht es so aus, dass einer von euch beiden den Wagen gefahren haben muss“, führte Petersen an. „Wir haben DNA-Spuren in deinem Auto gefunden, die nicht zu dir gehören. Also fragen wir uns – wer war es, der mit deinem Wagen unterwegs war?“

„Ist doch klar: Der Dieb! Ist das nicht euer Job, so etwas herauszufinden?“

„Natürlich.“ Petersen nickte. „Und das werd ich jetzt auch tun.“ Er zog sich das altmodische Wählscheibentelefon, das auf dem Tisch stand, heran und wählte eine zweistellige Nummer. Irgendwo im Gebäude schlug ein Telefon an. „Ich bin‘s, Jan. Du, schick doch mal ein Auto zu Levke Kühn los.“ Er nannte dem Gesprächspartner die Adresse der jungen Frau. „Holt sie ab und veranlasst mal eine erkennungsdienstliche Maßnahme. Wir brauchen ihre Fingerabdrücke zum Abgleich.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, legte er den schweren Hörer auf.

„So“, sagte er grinsend an Schäfer gewandt. „Bist du nu zufrieden? Gleich wissen wir mehr. Und wenn es sich bei den Spuren um Levke Kühns Fingerabdrücke handelt, dann hat sie ein verdammtes Problem.“

„Lasst Levke da raus – bitte.“ Nun klang seine Stimme flehend.

„Warum nehmen Sie sie in Schutz?“ Wiebke fixierte Schäfer mit Blicken.

„Weil ich sie liebe.“ Er hielt ihrem Blick stand und sprach mit regungsloser Miene. „Ich liebe Levke, seitdem ich sie das erste Mal an der Hermann-Tast-Schule gesehen habe. Sie hat mir schlaflose Nächte bereitet, hat mich um den Verstand gebracht. Leider …“, nun seufzte er, „leider war das eine sehr einseitige Liebe. Sie hatte ja diesen Heiners. Die beiden hatten eine Affäre, und ich blieb auf der Strecke.“ Nun musste er lachen. „Klar, der Armani-Anzugträger gegen den verbohrten Öko, der in Gesundheitslatschen und mit Stricksocken und Wollpullovern herumläuft. Da war Heiners schon eine andere Größe.“

„Und das brachte dich so auf die Palme?“ Petersen zog die Mundwinkel hoch. „So sehr, dass du ihn umgebracht hast?“

Schäfer zuckte die Schultern. Er ging nicht auf Petersens Behauptung ein, und Wiebke hätte ein Vermögen dafür gegeben, in diesem Augenblick seine Gedanken lesen zu können, als er in ruhigem Tonfall und mit völlig regungsloser Miene fortfuhr: „Jedenfalls war ich total hin und weg, als sie gestern Abend bei mir auf der Matte stand. Ich bat sie herein, wir tranken etwas zusammen. Und schließlich landeten wir im Bett. Der Rest geht euch nichts an, nur so viel noch: Wir waren so betrunken, dass wir heute Morgen verschlafen haben und völlig verkatert waren. Ich hatte sie endlich für mich, Levke ist zu mir gekommen, nachdem ich ihr lange wie ein liebeskranker Idiot nachgelaufen bin.“ Nun tippte sich Schäfer gegen die Schläfe. „Aber nun sind wir zusammen, ja. Und deshalb möchte ich, dass ihr sie da raushaltet.“

„Wenn ihre Weste rein ist, wird ihr nichts passieren“, versprach Wiebke.

„Was ich aber noch zu bezweifeln wage“, schob Petersen nach. „Mal was anderes: Hast du eine Knarre?“

„Wie bitte?“

„Ob du eine Waffe hast? Im Besitz eines Waffenscheins bist du jedenfalls nicht, das haben wir schon überprüft.“

„Dann ist die Antwort doch selbsterklärend.“

„Ist sie das?“ Petersen winkte ab. „Du wärst nicht der Erste, der sich illegal eine Knarre unters Kopfkissen legt.“

„Das ist albern.“ Schäfer winkte ab. „Ich bin Umweltschutzaktivist, und ich bin Lehrer und erfülle eine pädagogische Aufgabe. Das wäre ja ein tolles Vorbild, wenn ich mich illegal mit Waffen beschäftigte.“

„Die Waffe könnte Schutz bieten“, erwiderte Wiebke. „Sie sind aufgrund Ihres Engagements als Umweltschützer nicht überall beliebt, Herr Schäfer. Und dass Sie sich mit Heiners und seinen Leuten angelegt haben, hat Ihnen bestimmt schon die eine oder andere schlaflose Nacht bereitet. Wäre es da so abwegig, wenn Sie im Besitz einer Waffe wären?“

„So habe ich das noch nie gesehen.“ Seine Stimme klang belegt. „Ich glaube immer noch an das Gute im Menschen, vielleicht habe ich deshalb trotz meiner Auseinandersetzungen mit Holger Heiners ruhig schlafen können.“

„Wissen Sie, ob Levke Kühn eine Waffe besitzt?“ Wiebke machte sich Notizen. Das ersparte ihr das spätere Abhören der Tonaufzeichnung, wenn sie noch einmal bestimmte Informationen suchte.

„Nein, aber ich kann es mir nicht vorstellen. Sie ist nicht der Typ dafür, wenn Sie verstehen?“

„Nein, verstehe ich nicht.“ Petersen schüttelte den Kopf.

„Dann lassen Sie es.“ Schäfer war wieder zum distanzierten „Sie“ gewechselt. Er wandte sich an Wiebke. „Ich möchte einen Anwalt einschalten.“

„Das können Sie später immer noch“, erwiderte Wiebke in beruhigendem Tonfall. Für sie war Schäfer noch lange nicht als Mörder überführt. „Zunächst müssen wir klären, wer mit Ihrem Auto nach Glücksburg gefahren ist, um auch Gabriele Heiners zu töten. Und nach unserem derzeitigen Kenntnisstand sieht es so aus, als würde Ihre Freundin auf einem Rachefeldzug sein. Sie tötet Heiners, weil sie nicht damit klarkommt, dass er sich nicht von seiner Frau trennen will – das Motiv: Eifersucht und eine enttäuschte Liebe. Und schließlich erschießt sie auch Gabriele Heiners – aus Rache.“

„Das ist völlig an den Haaren herbeigezogen“, murmelte Torben Schäfer leise. Er stierte auf seine Hände, die flach auf der Tischplatte ruhten.

„Dann sagen Sie uns, wie es wirklich war.“ Wiebke schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. Sie spürte, dass sie der Lösung des Falles greifbar nahe gerückt waren.

„Warum fragen Sie denn nach einer Waffe?“ Schäfers Kopf ruckte hoch.

„Weil wir im Auto Spuren von Waffenöl gefunden haben. So wie es aussieht, wurde Gabriele Heiners mit einer Maschinenpistole der Marke Uzi ermordet.“

Schäfer lachte humorlos auf. „Nicht gerade eine klassische Damenpistole, das weiß sogar ich.“

Im Stillen gab Wiebke ihm recht.

„Das werden wir herausfinden, wenn wir die Fingerabdrücke Ihrer Freundin mit denen im Auto abgeglichen haben“, versprach Petersen.

„Bitte lassen Sie Levke da raus.“ Plötzlich klang Schäfers Stimme wieder flehend, fast weinerlich.

Wiebke sah ihm an, wie er einknickte.

Torben Schäfers Hände strichen unruhig über den Tisch, dabei zitterten seine Finger. Sein Gesicht war blass, und sie sah, dass er wirklich Angst um die junge Frau hatte, um die er so lange gekämpft hatte. Hatte er mit allen Mitteln um sie gekämpft, hatte er auch alles riskiert, um ihre Zuneigung zu gewinnen?

„Wer hat Holger Heiners getötet?“, fragte sie einer inneren Eingabe folgend.

„Niemand“, sagte Torben Schäfer leise.

„Fakt ist, dass er tot ist“, hielt Petersen dagegen.

Schäfer zuckte mit den Schultern und schwieg.

„Woher kennen Sie eigentlich Beke Frahm?“, fragte Wiebke und achtete genau auf Torben Schäfers Reaktion. Als er aufblickte, sah sie das Nervenzucken in seinem rechten Augenwinkel. Schweißperlen standen auf seiner Stirn, und sie erkannte die dunklen Flecken in seinen Achseln. Der Mann stand unter Adrenalin bis zum Anschlag.

„Sie ist Umweltschützerin, so wie ich.“ Seine Stimme vibrierte leicht.

„Grund genug, regelmäßig mit ihr zu telefonieren – obwohl du auf Levke scharf warst?“ Spott schwang in Petersens Stimme mit.

Torben Schäfer riss die Augen auf. „Was wisst ihr?“

„Mehr als dir lieb sein kann“, drohte Petersen. „Also wär es günstig für dich, endlich mit offenen Karten zu spielen. Was sind das für Weibergeschichten, die da laufen?“

„Lasst Beke da raus“, bettelte Torben Schäfer nun schon zum dritten Mal.

„Ich hab gerade ein Déjà-vu“, konterte Petersen und blickte Wiebke an. „Hab ich so was nicht eben schon mal gehört, nur dass es da noch um Levke Kühn ging?“

„Das mit Levke ist anders“, beeilte sich Schäfer zu sagen. „Beke ist eine gute Freundin, mehr nicht.“

„Dafür, dass sie nur eine gute Freundin ist, hatten Sie aber sehr innigen Kontakt zu ihr“, mischte sich nun auch Wiebke ein. „Besonders an dem Abend, als Holger Heiners im Multimar ertrank.“ Ihre Hand fuhr auf den Tisch. „Hat Beke Frahm Ihnen den Zugang zum Wattforum ermöglicht?“

Torben Schäfer stierte sekundenlang ins Leere. Sein Gesicht war zu einer starren Fratze verzerrt, und zum ersten Mal hatte Wiebke Angst vor ihm, vor dem Mann, den sie als sanft eingestuft hatte.

„Beke war sehr engagiert, als es um den Erhalt des Dockkoog in seiner ursprünglichen Form ging“, murmelte Schäfer leise. „Sie hat sich in die Bürgerinitiative eingebracht wie kaum ein anderes Mitglied. Ich wusste vom ersten Augenblick an, dass sie den Gedanken des Umweltschutzes lebt. Und natürlich war ihr das Projekt von Holger Heiners ein Dorn im Auge.“

„Nur das Projekt, oder war es auch der Mensch, der hinter dem Bauvorhaben am Dockkoog steht?“, fuhr Petersen ihn ungeduldig an. „Mann, lass dir nicht jeden Popel einzeln aus der Nase ziehen! Es ist an der Zeit, mit offenen Karten zu spielen, wenn dir etwas daran liegt, den Kopf jetzt noch aus der Schlinge zu ziehen!“

Die Luft in dem kleinen Raum war zum Zerreißen gespannt. Wiebke glaubte, winzige elektrische Ströme auf ihrer Haut spüren zu können.

„Wir haben Ihr Handy auswerten lassen“, beschied sie Schäfer in sachlichem Tonfall. „Sie haben zuletzt mit ihr telefoniert, wenige Augenblicke, bevor die Alarmanlage des Multimar ausgeschaltet wurde. Wir sind nicht mehr in der Situation, an Zufälle zu glauben.“

„Ja, verdammte Scheiße, wir haben an diesem Abend telefoniert.“

„Weil Beke Frahm Vollzug melden wollte“, schlussfolgerte Petersen. „Sie hat dich angerufen, um dir mitzuteilen, dass die Luft rein ist. Sie hat dir grünes Licht für die schräge Aktion im Multimar gegeben.“

„Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.“

„Halt uns nicht für dumm“, warnte Petersen ihn mit schneidender Stimme. „Sie hat die Alarmanlage ausgeschaltet, damit du dich mit Holger Heiners im Multimar treffen konntest. Nachts, wenn sich niemand dort aufhält.“

„Warum wollten Sie sich mit Heiners im Multimar treffen?“ Wiebke stieg auf Petersens Spiel ein.

Etwas in Torben Schäfer begann zu bröckeln. Er sackte in sich zusammen, begann nach unsichtbaren Staubpartikeln auf dem Tisch zu angeln. „Ich wollte ihm zeigen, was er zerstört“, murmelte er schließlich leise, fast unhörbar. „Deshalb habe ich ihn zu einer Aussprache ins Multimar gebeten. Wollte ihm zeigen, welche Lebensräume er vernichtet, wenn er das Ferienressort am Dockkoog baut. Habe bewusst das große Becken gewählt.“ Jetzt blickte Schäfer auf. Sein Gesichtsausdruck war der Wirklichkeit entrückt. „Wenn man dort oben am Beckenrand steht und die wundervolle Unterwasserwelt von oben betrachtet, hat das einen ganz eigenartigen Charme. So was kann man nicht erklären oder in Worte fassen – man muss die Atmosphäre spüren und wirken lassen, um es zu begreifen.“ Schäfer lächelte sie an. „Eine fast surreale Szenerie, wenn man am Rand des Wassers steht und den Lebensraum der Nordsee in greifbarer Nähe hat. So faszinierend und doch so todbringend, verstehen Sie das?“

„Ich fürchte, nein“, erwiderte Wiebke kopfschüttelnd.

„Also, noch mal zum Mitschreiben“, murmelte Petersen. „Sie hat die Alarmanlage des Multimar ausgeschaltet und die Türen für die ganze Aktion geöffnet. Danach hat sie dich angerufen, um dir mitzuteilen, dass du freie Bahn hast. Du hast Heiners unter einem fadenscheinigen Grund nach Tönning gelockt. Er ist dir in die Falle gegangen und hat sich mit dir im Multimar getroffen. Ihr seid in den Technikraum oberhalb des Großbassins gegangen, danach hast du ihn ins Wasser geschmissen. War es so?“

„Nein … Um Gottes willen, nein.“ Schäfer schüttelte den Kopf. „Es war ein Unfall“, flüsterte er dann und blickte die Polizisten mit feucht schimmernden Augen an. „Ich habe das alles nicht gewollt.“

Petersen warf Wiebke einen Blick zu.

„War das eben ein Geständnis?“, fragte sie Schäfer.

„Nein, das war es nicht, Frau Kommissarin. Ich habe Ihnen nur gesagt, dass es ein Unfall war.“

„Aber bis zu dieser Stelle stimmen die Vermutungen meines Kollegen?“

„Ja. Genau so war es. Wir trafen uns dort, ich wollte ihm wirklich nur zeigen, was er zerstören würde, wenn am Dockkoog gebaut wird. Und durch Beke Frahm sind wir ins Multimar reingekommen. Ich habe ihm vorgeworfen, dass er ein skrupelloses Schwein ist und nur seinen eigenen Profit im Auge hat, ohne an die Zerstörung der Umwelt zu denken.“ In Schäfers Augen blitzte es wütend. „Doch er hat nur gelacht, hat mich einen weltfremden Spinner genannt. Und er sagte wörtlich, dass ich nur so wütend auf ihn sei, weil er Levke Kühn vögelt und nicht ich. ‘Du kannst es nicht ertragen, dass ich es bin, der es ihr so gut besorgt, dass sie mit keinem anderen mehr vögeln will‘, sagte er. Damit hat er meinen empfindlichsten Nerv getroffen. Ich bin völlig ausgerastet, hatte plötzlich Bilder im Kopf. Bilder, wie er es mit Levke treibt, mit der Frau, in die ich verliebt war. Es war so schrecklich, so unerträglich. Ich bin auf ihn los und habe ihn verprügelt. Er war stark und wehrte sich nicht – Heiners kämpfte defensiv und beschränkte sich darauf, mich auf Distanz zu halten. Irgendwann sind wir dem Rand des Beckens nahe gekommen, sehr nahe. Er rutschte aus und stürzte ins Wasser. Schrie um Hilfe, brüllte, dass er nicht schwimmen könne. Doch er erreichte den Beckenrand nicht. Ich weiß nicht warum, aber zwischen der Wasseroberfläche und dem Rand des Großaquariums liegt eine große Distanz. Zu groß, um sich aus eigener Kraft retten zu können.“

Wiebke schrieb mit und bemerkte, dass die Hand, die den Stift führte, zitterte. Sie wagte nicht, den Umweltschützer zu unterbrechen und spürte, wie ihr heiß wurde.

„Und du hast ihn, obwohl er um Hilfe gerufen hat, ertrinken lassen?“ Petersen schüttelte den Kopf. „Dann müssen die Richter klären, inwieweit das Totschlag ist. Unterlassene Hilfeleistung mit Todesfolge kann dir auch ein paar Jährchen im Knast bringen.“

„Ich habe helfen wollen“, erwiderte Schäfer kleinlaut. „Wollte Hilfe rufen, hatte das Handy schon griffbereit, aber da drinnen hatte ich kein Netz. Deshalb bin ich rausgerannt aus dem Multimar. Noch bevor ich jemanden anrufen konnte, kam ein Windstoß, und die Tür des Personaleingangs wehte zu. Sie schlug ins Schloss, und ich war ausgesperrt. Wie sollte ich Heiners denn jetzt noch helfen? Ich war panisch, wusste, dass es auf jede Sekunde ankam, wollte ich nicht riskieren, dass Holger Heiners ertrinkt. Und ich handelte, ohne zu denken. Plötzlich wurde mir klar, dass ich ein Leben auf dem Gewissen haben würde, wenn nichts geschah. Aber auch wenn ich jetzt noch Hilfe holte, würde es zu spät sein. Bis man die Tür wieder geöffnet hätte, wäre Heiners sicherlich schon längst ertrunken. Das hat mich so fertig gemacht, dass ich mich ins Auto gesetzt habe und wie eine gesengte Sau in der Nacht verschwunden bin. Ich bin gefahren wie ein Wahnsinniger und hätte mehrmals um ein Haar einen Unfall verschuldet. Fragen Sie mich nicht wie, aber ich bin heil in Treia angekommen.“ Schäfer schüttelte den Kopf. „Filmriss“, stammelte er. „Einfach so, verstehen Sie das? Ich weiß noch, wie ich auf die B5 gefahren bin, danach fehlt mir die Erinnerung. Am Morgen bin ich dann ganz normal zur Schule gefahren und habe unterrichtet.“

„Warum haben Sie uns nichts gesagt, als wir Sie dort besucht haben?“, wagte Wiebke einen Vorstoß.

„Ich habe es nicht geschafft“, räumte Heiners leise ein. „Ich stand wohl immer noch unter Schock, und als Sie vom Tode des Immobilienmoguls berichtet haben, in diesem Moment wurde mir klar, was ich getan hatte. Es war nur ein tragischer Unfall, aber ich habe ihm nicht geholfen, deshalb ist er ertrunken.“

Schäfer blickte die Polizisten mit versteinerter Miene an, schien zu wissen, dass es nun kein Zurück mehr für ihn gab. „So“, sagte er schließlich. „Nun wissen Sie alles.“ Er hob beide Arme und hielt den Polizisten die Hände hin, wohl um ihm Handschellen anzulegen. „Verhaften Sie mich. Ich bin bereit, meine Strafe anzutreten.“

„Vor die Strafe hat das Gesetz das Urteil des Richters gestellt“, antwortete Wiebke bewegt. „Was können Sie uns zum Mord an Gabriele Heiners sagen?“

„Davon weiß ich wirklich nichts, so wahr ich hier sitze.“

Wiebke tauschte einen Blick mit Petersen und signalisierte ihrem Partner, dass sie Schäfer vertraute.

„Gibt es für Ihr Fahrzeug einen Zweitschlüssel?“, fragte sie an Torben Schäfer gewandt.

„Natürlich. Aber der hängt in meinem Haus am Schlüsselkasten.“

„Und das Haus? Schließen Sie nachts die Tür ab?“

„Natürlich. Obwohl … Wir waren betrunken, und ich weiß offen gestanden nicht, ob ich gestern Abend abgeschlossen habe.“

Wiebke nickte. Sie hatte genug gehört und erhob sich. „Wir werden das untersuchen.“ Torben Schäfer würde in der Zelle auf sie warten. Wiebke wusste nicht recht, ob sie sich über die dramatische Wendung des Falles freuen sollte. Augenblicklich empfand sie eher Mitleid für den Biolehrer.

Ulbricht war beeindruckt von der Schönheit der Frau, die der Streifenpolizist in Johannsens Büro führte und ihm als Levke Kühn vorstellte. Nun konnte der alte Kommissar nachvollziehen, warum sich Torben Schäfer nach der schönen Referendarin so verzehrt hatte. Levke Kühn trug Sandalen und ein leichtes, geblümtes Sommerkleid mit einem tiefen Ausschnitt. Eine feine Parfümwolke umgab sie. Die langen, blonden Haare fielen wie eine Gloriole um ihr Gesicht, das Make-up war dezent. Schminke hatte sie überhaupt nicht nötig, befand Ulbricht und dachte mit einem schlechten Gewissen an Maja, die nichts davon ahnte, dass er seine knappe Freizeit mit der Klärung eines Mordfalls verbrachte und einer jungen Frau ins Dekolletee schielte. Nichtsdestotrotz handelte es sich um eine Person, die mit einem Mordfall in Verbindung gebracht wurde, und entsprechend distanziert gab sich Ulbricht der fremden Frau gegenüber.

Piet Johannsen hingegen sprang sofort auf und rückte der jungen Frau übereifrig einen Stuhl zurecht.

„Nehmen Sie Platz, Frau Kühn“, bot Johannsen ihr an und schenkte ihr ein entwaffnendes Lächeln. Ulbricht überlegte, ob der norddeutsche Kollege verdrängte, dass es sich bei Levke Kühn um eine mögliche Mörderin handelte. „Möchten Sie etwas trinken? Einen Kaffee, einen Tee vielleicht?“

Ulbricht, der einen der beiden Freischwingstühle besetzt hatte, erhob sich ebenfalls und trat an das Fenster von Johannsens Büro. Er fragte sich, wie schwanzgesteuert der Kollege war, und erblickte prompt einen dicken goldenen Ehering an Johannsens rechter Hand.

„Hier wären die Unterlagen“, murmelte der Streifenpolizist, bevor er sich dezent zurückzog. Ulbricht registrierte die Höflichkeit, mit der man sich hier in Husum begegnete und dachte unwillkürlich an Heinrichs, seinen Assistenten, der üblicherweise ohne anzuklopfen in das Büro seines Chefs gepoltert kam und ohne Punkt und Komma zu reden pflegte.

„Einen Tee nehme ich gern.“ Levke Kühn war angesichts der überschäumenden Höflichkeit, die Piet Johannsen an den Tag legte, etwas verunsichert, was wahrscheinlich auch daran lag, dass man sie eben erst erkennungsdienstlich behandelt hatte. Auch Johannsen schien zu bemerken, dass die schöne Besucherin noch durcheinander war.

„Die ED-Behandlung ist Routine, Sie können beruhigt sein“, sagte Johannsen und nickte Ulbricht zu, bevor er sein Büro verließ.

Ulbricht war mit Levke Kühn allein. „Wie fühlen Sie sich?“

„Fragen Sie das ernsthaft?“

„Natürlich.“

„Man hat mich gemessen, gewogen, fotografiert und eine DNA-Probe genommen. Fragen Sie wirklich, wie es mir geht?“ Levke Kühn schlug die Beine übereinander.

Ulbricht zuckte die Schultern. „Wenn Sie sich nichts vorzuwerfen haben, müssen Sie nichts befürchten. Übrigens können Sie nach zehn Jahren die Löschung der Daten beantragen.“ Er marschierte im Raum auf und ab. „Und?“, fragte er, als er sich vor Levke Kühn aufgebaut hatte. „Haben Sie etwas zu verbergen?“

„Nein“, erwiderte sie mit schriller Stimme. „Das habe ich Ihren Kollegen auch schon mehrfach gesagt. Ich weiß beim besten Willen nicht, was das soll.“

„Gut“, nickte Ulbricht. „Sehen Sie es so: Wir arbeiten nach dem Ausschlussverfahren. Damit kann man mit ein wenig Glück bei Jauch zum Millionär werden. Wir suchen nur einen Mörder, aber jeder, der nur unter Verdacht gerät, kann die Freiheit gewinnen.“

Er machte eine Pause, um Levke die Gelegenheit zu geben, etwas zu erwidern, doch sie zog es vor zu schweigen.

„Wir klären zwei Morde auf, Frau Kühn, da werden ein paar lästige Fragen doch sicherlich gestattet sein.“ Ulbricht klammerte aus, dass er hier seine Freizeit verbrachte und ihn die Klärung der beiden Morde eigentlich nichts anging. Doch dies war der Fall seiner Tochter, und er wollte sie tatkräftig unterstützen. Ohne Wenn und Aber. Und Ulbricht hatte noch einen Joker in der Tasche. Er blickte auf, als Piet Johannsen mit dem Tee im Raum erschien. Der setzte das kleine Tablett vor der Besucherin auf dem Schreibtisch ab und schenkte ihr ein. Danach umrundete er den Schreibtisch und setzte sich. Er griff zu der Mappe, die ihm der Kollege gebracht hatte, und studierte sie minutenlang.

Ulbricht lehnte sich an die Fensterbank und betrachtete den Kriminaltechniker, der sich nachdenklich die Schläfen massierte, während er las.

Levke Kühn beugte sich vor und gab Kandis in die Tasse, bevor sie in kleinen Schlucken trank. Ulbricht wunderte sich, dass die Friesen offenbar zu jeder Tages- und Nachtzeit Tee tranken. Ihm persönlich wäre jetzt ein kühles Bier lieber gewesen. Doch er schwieg und versuchte Levke Kühns Miene zu studieren. Das fein geschnittene Gesicht war regungslos wie eine Maske, doch er konnte förmlich sehen, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete. Es lag auf der Hand, dass sie sich Sorgen machte. Entweder fürchtete sie um ihre eigene Freiheit oder um die ihres Freundes.

„Er ist kein Mörder.“ Die junge Frau strich sich die blonden Haare mit einer lasziven Bewegung aus der Stirn und blickte die Polizisten abwechselnd an. „Torben könnte keiner Fliege etwas zuleide tun, das müssen Sie mir glauben.“

Piet Johannsen blickte von der Mappe auf. Eine steile Falte hatte sich auf seiner hohen Stirn gebildet, und er schob sich die Nickelbrille zurecht, bevor er antwortete. „Ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, Frau Kühn: Sie scheinen ihn ja recht gut zu kennen, und das, obwohl Sie erst seit letzter Nacht ein Paar zu sein scheinen. Zum anderen geht es hier gerade nicht um Torben Schäfer, sondern um Ihre Person.“

Er betrachtete Levke Kühn mit ernster Miene, sein charmantes Lächeln, mit dem er sie eben noch bedacht hatte, war wie ausradiert. Ulbricht vermutete, dass die Ergebnisse der ED-Behandlung gegen sie sprachen, denn anders konnte er sich den Sinneswandel des norddeutschen Kollegen nur schwer erklären.

„Ich habe nichts damit zu tun“, sagte sie, während ihr Blick ins Leere glitt. „Ich bin unschuldig, und es war ganz bestimmt kein Racheakt, weil Holger seine Frau nicht für mich verlassen hat.“

Johannsen kniff die Augen zusammen und fuhr sich mit der freien Hand durch das schlohweiße Haar. „Das sagen Sie.“

„Sie müssen mir glauben!“

„Nein.“ Piet Johannsen schüttelte den Kopf und bedachte Ulbricht mit einem Blick, den er nicht zu deuten vermochte. Führte Johannsen die Frau nun absichtlich aufs Glatteis? Die Ergebnisse der Untersuchung lagen doch auf seinem Schreibtisch, und er hatte den Bericht seines Mitarbeiters eben überflogen. „Glauben gewöhnt man sich in unserem Job ganz schnell ab, Frau Kühn.“

Er klappte die Mappe zu. Dann lehnte er sich weit zurück und legte die Füße auf den Schreibtisch. Dabei ließ er seine Besucherin keine Sekunde lang aus den Augen.

„Ich glaube nur an Fakten, Frau Kühn. Und ich weiß nicht, was die Ermittlungen der Kollegen ergeben, aber ich weiß, dass Sie nicht im Auto von Torben Schäfer gesessen haben. Wir haben jedenfalls keine Spuren im Auto gefunden, die mit Ihrer DNA übereinstimmen.“ Das charmante Lächeln war auf sein rundes Gesicht zurückgekehrt, als er die Füße von der Tischplatte nahm. „Ich kann Ihnen nichts vorwerfen. Von mir aus können Sie gehen.“

Nun entgleisten Levke Kühn doch die aparten Gesichtzüge, und Ulbricht musste sich ein amüsiertes Grinsen verkneifen. Piet Johannsen war ein Stratege alter Schule.

„Meinen Sie das im Ernst?“

„Natürlich.“ Johannsen nickte. „Sie können gehen. Halten Sie sich aber zu unserer Verfügung.“

Levke Kühn stellte die Teetasse auf das kleine Tablett und sprang auf. Sie lächelte unsicher, konnte anscheinend selbst nicht glauben, dass sie eine freie Frau war. Sie bedachte Ulbricht mit einem Nicken. An der Tür blieb sie stehen. „Eine Frage noch: Was wird aus Torben?“

„Er bleibt zunächst in Untersuchungshaft, die Fluchtgefahr ist zu groß. Sobald sich herausstellt, dass er unschuldig ist, kann er natürlich sofort gehen.“

„Danke.“ Levke Kühn nickte erleichtert und stürmte aus Piet Johannsens Büro.

„Was war das denn für eine Nummer?“, fragte Ulbricht, als sie allein waren.

„Kein Theaterstück.“ Johannsen legte den Kopf schräg. „Nur Strategie, aber das sollten Sie als diensterfahrener Kollege selbst am besten wissen.“

Ulbricht schwieg. Er wanderte durch Johannsens Büro und trat an das Fenster. „Wir sollten Levke Kühn trotzdem nicht außer Acht lassen“, empfahl er, ohne sich umzudrehen. „Ich habe da so eine Idee, kann aber noch nicht die richtigen Verbindungen ziehen.“

„Beachtlich, wenn man bedenkt, dass Sie hier Urlaub machen und Ihre Tochter nach vielen Jahren mal wiedersehen wollten“, brummte Johannsen mit unterschwelligem Sarkasmus.

„Was wollen Sie denn hier?“, blaffte der Erste KHK Friedrichs, als er in das Sitzungszimmer der Husumer Polizeidirektion trat. Sein Gesicht verfärbte sich tiefrot, als er Norbert Ulbricht mit den Kollegen aus Husum gemeinsam am langen Tisch sitzen sah.

„Sie ein wenig nerven.“ Ulbricht lächelte den Kollegen aus Flensburg jovial an. Er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, und auch der Umstand, dass seine Tochter Wiebke mit am Tisch saß, störte ihn nicht im Geringsten. Sie war längst kein kleines Mädchen mehr – zwar war sie immer noch seine Tochter, doch sie war erwachsen geworden.

„Das haben Sie schon geschafft“, murrte Friedrichs, nickte mit grimmiger Miene in die Runde und nahm auf dem rechten Stuhl neben Matthias Dierks Platz, der wie gewohnt am Kopfende saß und offenbar eine Konfrontation befürchtet hatte. Links von Dierks saß ein gestriegelter Anzugträger, der Ulbricht vorhin als Staatsanwalt vorgestellt worden war. Fritz Mahndorf schien ein ruhiger Typ zu sein. Sein Kopf pendelte gelassen zwischen Ulbricht, Dierks und Udo Friedrichs hin und her.

Mahndorf betrachtete das Geschehen amüsiert, ohne ein Wort zu sagen. Ulbricht beschloss, den Staatsanwalt sympathisch zu finden. Ganz im Gegenteil zu Friedrichs.

„Ich will Ihnen helfen, also sollten Sie nett zu mir sein.“ Ulbricht faltete die Hände, fast so, als wollte er beten.

„Ich habe Mitarbeiter, die mir helfen“, giftete Friedrichs mit hochrotem Kopf.

„Da habe ich anderes gehört“, konterte Ulbricht unbeeindruckt. „Hier oben im Norden leiden Sie genauso unter Personalnot wie wir im Bergischen Land. Also bitte – wenn uns das nicht verbindet, was dann?“

Friedrichs winkte entnervt ab und schlug seine Mappe auf.

„Nachdem wir uns nun alle so nett kennengelernt haben, können wir jetzt mit der Sitzung beginnen“, meldete sich der Staatsanwalt zu Wort. Er betrachtete den Schlagabtausch zwischen Ulbricht und Friedrichs offenbar als beendet. „Es scheint sich also ein erster Tatverdächtiger herauszukristallisieren, wie ich hörte“, fuhr er fort und betrachtete dabei Wiebke und ihren Partner.

Jan Petersen nickte. „Torben Schäfer hat grundsätzlich gestanden. Ob das Mord, Totschlag oder nur ein Unglück war, muss der zuständige Richter nun herausfinden.“ Mit wenigen Sätzen berichtete Petersen, was sie beim Verhör des Umweltaktivisten herausgefunden hatten.

„Offensichtlich hatte Schäfer keine Tötungsabsichten, als er sich mit Holger Heiners im Multimar Wattforum traf“, konstatierte Mahndorf und machte sich Notizen. „Was hat die Untersuchung seines Autos ergeben, mit dem offensichtlich der Mord an Gabriele Heiners verübt wurde?“

„Nicht viel, fürchte ich.“ Piet Johannsen räusperte sich. „Zwar konnte ich einige Spuren finden, die definitiv nicht zu Torben Schäfer gehören, aber das Profil taucht nicht in einer BKA-Datenbank auf. Demnach handelt es sich um einen Ersttäter.“ Johannsen blickte in die Runde. „Und hier gebe ich die Frage an die anderen Ermittlerteams weiter: Wer käme für eine solche Tat infrage?“

Katja Graf wechselte einen Blick mit Sven Gerkes. „Die Befragungen der Multimar-Angestellten sind zwar noch nicht ganz abgeschlossen, aber jemanden aus dem Team können wir wohl ausschließen.“

„Ich könnte einen DNA-Test für sämtliche Mitarbeiter erwirken“, schlug Mahndorf vor.

„Lassen Sie uns morgen abwarten“, bat Dierks. „Ein groß angelegter DNA-Test wirbelt immer viel Staub auf, und wir haben die Medien am Hals.“

Mahndorf nickte. „Wie Sie meinen.“

„Was ist mit Beke Frahm? Dass sie Torben Schäfer geholfen hat ins Multimar zu kommen, wissen wir ja bereits, aber sie hat außerdem eine geheime Affäre mit Peer Hansen, dem Geschäftsführer der Werft im Außenhafen. Und wir haben von seltsamen Geschäften gehört“, brachte Wiebke nun ein.

Dierks blickte sie interessiert an, deshalb fuhr sie fort: „Es geht um eine geheime Übergabe oder um einen geheimen Transport, der heute Abend stattfinden soll. Und dabei spielt die Kaserne in Oster-Ohrstedt offenbar eine wichtige Rolle.“

„Ich kann mich leider nicht um alles kümmern“, jammerte Friedrichs, der sich einen fragenden Blick von Fritz Mahndorf gefallen lassen musste. „Wir haben es mit zwei Morden zu tun, wovon erst einer aufgeklärt ist, wie es scheint.“

Mahndorf tauschte einen Blick mit Matthias Dierks und schwieg.

„Wie steht es mit der erkennungsdienstlichen Maßnahme von Levke Kühn?“, fragte Petersen in die Runde.

Piet Johannsen räusperte sich und schüttelte das ergraute Haupt. „Negativ, fürchte ich. Sie ist uns weder als Kundin bekannt, noch tauchen ihre Prints in Schäfers Auto auf. Sie ist nicht damit unterwegs gewesen, weder nach Glücksburg noch sonst irgendwo hin.“

„Wie wäre es, wenn sie zu ihm gegangen ist, um ihn abzulenken?“, warf Ulbricht senior ein. Alle Augenpaare ruhten auf ihm. „Ist das so abwegig? Es gibt einen geheimen Partner, der Interesse daran hat, Holger Heiners’ Witwe aus dem Weg zu räumen. Die beiden machen gemeinsame Sache: Für Levke Kühn war es ein Leichtes, Torben Schäfer – für mich ist er trotz des tragischen Zwischenfalls im Multimar ein armer Wicht – abzulenken. Er war scharf auf sie, das hat er euch selbst so gesagt, und hat sie nicht fortgeschickt, als sie bei ihm auf der Matte stand. Während sie sich also, sagen wir, liebevoll, um ihn kümmert, bedient sich ihr Komplize am Schlüsselbrett, nimmt den Zweitschlüssel des Golfs und verschwindet damit nach Glücksburg, um Gabriele Heiners zu töten. Wer auch immer dahinter steckt – er geht davon aus, dass ein solches Attentat nicht ohne Zeugen abläuft. In dem Fall hatte ich die zweifelhafte Ehre, live und hautnah dabei zu sein. Das Auto ist ein ziemlich prägnantes Fahrzeug, und zwangsläufig führt die Spur zu Torben Schäfer. Wer nimmt ihm die Geschichte ab, dass er zu betrunken war eine solche Tat vollbracht zu haben? Niemand. Also ist er der Depp, der ins Gefängnis wandert.“ Ulbricht hatte sich in Rage geredet, und er registrierte befriedigt auch den stolzen Blick seiner Tochter.

„Das ist mir alles ein wenig weit hergeholt“, polterte Friedrichs in die Runde und winkte theatralisch ab.

„Ich sehe das anders.“ Staatsanwalt Fritz Mahndorf streckte den Rücken durch und lächelte Ulbricht freundlich an. „In unserer Situation sollten wir nichts außer Acht lassen.“

Mahndorf wandte sich an Dierks: „Ich empfehle Ihnen eine vollständige Revision von Frau Kühn, ich werde Ihnen vom Gericht eine Freigabe zur Überprüfung ihrer Kontodaten und sämtlicher Telefonverbindungen erteilen lassen.“ Mahndorf wandte sich an Friedrichs. „Was haben Ihre Untersuchungen am Tatort in Glücksburg ergeben?“

„Die Patronenhülsen wurden dem BKA zugeführt – derzeit warte ich auf einen Abgleich mit der Datei und erhoffe mir davon ein Ergebnis. Ansonsten haben wir Fußabdrücke und Faserspuren vor dem Zaun des Grundstückes sichergestellt. Das Ergebnis der Abgleiche steht noch aus, aber ich rechne noch vor morgen früh mit einem Ergebnis.“

Mahndorfs Miene drückte aus, dass er sich vom Leiter der Flensburger Mordkommission mehr erhofft hatte. Andererseits, darüber war sich auch Ulbricht im Klaren, dauerten einige kriminaltechnischen Untersuchungen etwas länger.

„Wir wissen, dass es sich bei einigen der Schuhabdrücke um sogenannte Outdoor-Schuhe handelt. Die Spuren führen zum Zaun und enden an der Stelle, von der aus nach dem Urteil meiner Ballistiker die Schüsse auf Gabriele Heiners abgegeben wurden. Daraus schließen wir, dass es sich um die Schuhe des Täters handelt.“

„Und Herr Schäfer ist nicht im Besitz dieser Schuhe?“ Eigentlich war es eine rhetorische Frage von Petersen, der sich mit einem süffisanten Grinsen zurücklehnte.

„Ich werde auch das überprüfen lassen“, versprach Friedrichs dienstbeflissen.

„Dann trage ich Sorge für den nötigen Durchsuchungsbeschluss“, versicherte Mahndorf und kritzelte einige Sätze auf ein Blatt Papier. Er nickte Dierks zu und löste das Meeting auf. „Wir sehen uns also morgen früh um halb neun zur Frühbesprechung.“