ELF

Polizeidirektion Flensburg, Norderhofenden, 13.50 Uhr

Udo Friedrichs war ein unangenehmer Zeitgenosse. Schon als der Erste Kriminalhauptkommissar Wiebke am Empfang der Wache abholte, fiel die Begrüßung der jungen Kollegin sehr unterkühlt aus. Sein kahler Kopf war gerötet, und die Art, wie er Wiebke betrachtete, war ihr unangenehm. Spöttisch, von oben herab, blickte er sie an. Und doch war da noch etwas in seinem Blick, das ihn ansatzweise menschlich erscheinen ließ: Mitleid. Lag das daran, dass Wiebkes Vater sich in ihre Ermittlungen eingemischt hatte und zu einem wichtigen Zeugen in einem Mordfall geworden war?

Friedrichs Stimme klang schneidend, fast so, als würden Knochen brechen. „So“, sagte er mit einem aufgesetzten Grinsen, bei dem nur seine schmalen Lippen lächelten, während der Rest seines Gesichts regungslos blieb. „Dann folgen Sie mir mal unauffällig.“

Wiebke beschloss, eine Versetzung nach Flensburg ein für alle Mal auszuschließen. Friedrichs war ein Ekelpaket, das sah sie ihm auf den ersten Blick an. Sie war froh, dass Matthias Dierks ein umgänglicher Vorgesetzter war.

„Ich hoffe, es ist Ihnen bekannt, dass ich die Ermittlungen im Mordfall Holger Heiners leite“, bemerkte er beiläufig.

„Dafür haben Sie sich bisher recht selten in Husum blicken lassen.“ Wiebke hatte keine Lust, sich für ihren Einsatz in den letzten beiden Tagen zurechtweisen zu lassen. Sie war auf dem Gang des Behördengebäudes stehen geblieben und hatte trotzig die Hände in die Hüften gestemmt.

Friedrichs war sekundenlang sprachlos, dann schürzte er die Lippen. „Ich muss Ihnen bestimmt nichts von der Personalsituation der Schleswig-Holsteinischen Polizei erzählen, oder? Aber Sie veranstalten ja einen ziemlichen Wirbel in Ihrem schönen Husum.“

„Einer muss es ja tun. Wir haben gestern einen Mordverdächtigen festgenommen. Jörn Holst, ein Bauunternehmer, der Probleme mit Heiners hatte und für seine Gewaltbereitschaft bekannt ist. Heute ist es zu einer weiteren Festnahme gekommen: Torben Schäfer, er ist Mitbegründer der Bürgerinitiative ,Rettet den Dockkoog‘. So wie es aussieht, steckt er hinter dem Mord an Gabriele Heiners.“

„Es wird Zeit, dass ich mich um den Fall kümmere“, brummte Friedrichs. Offenbar hatte er zu seinem Sarkasmus zurückgefunden. „Sonst verhaften Sie noch halb Husum, bis sie die Verdächtigen nach dem Ausschlussverfahren wieder auf freien Fuß lassen.“

„Es ist Ihr Fall“, erinnerte Wiebke ihn. „Also treffen Sie Entscheidungen. Aber wann?“

„Ich wäre längst in Husum gewesen, wenn mich Ihr Vater nicht aufgehalten hätte“, entgegnete Friedrichs schnippisch.

„Er hat uns nur unterstützt und trägt wohl kaum die Schuld an dem Mordanschlag auf Holger Heiners’ Frau.“

„Sie sind genauso frech wie Ihr Vater.“ Nun musste Friedrichs schmunzeln, und zum ersten Mal schien er wirklich amüsiert zu sein. Er machte sogar einen Schritt auf Wiebke zu. Als er ihr die Hand reichte, wusste Wiebke nicht recht, wie ihr geschah.

„Frieden?“

Zögernd ergriff Wiebke die Hand des Ersten Kriminalhauptkommissars und brachte ein Lächeln zustande, das abrupt unterbrochen wurde, als um ein Haar ein Schmerzenslaut über ihre Lippen kam. Sein Händedruck war fest, sehr fest.

„Frieden.“ Sie nickte. „Bringen Sie mich nun zu meinem Vater?“

Friedrichs nickte. „Unter einer Bedingung: Wenn Sie mir versprechen, ihn mitzunehmen und ihn von weiteren Ermittlungen abzuhalten!“

„Ich tu mein Bestes“, versprach Wiebke. Seite an Seite betraten sie das Büro von Hauptkommissar Friedrichs. Norbert Ulbricht stand am Fenster und blickte in den Innenhof des Polizeigebäudes. Als sich die Tür öffnete, fuhr er herum.

„Wiebke“, rief er erfreut. „Schön dich zu sehen, Kind. Hier behandelt man deinen alten Vater wie einen Verbrecher. Sogar Fingerabdrücke hat man mir schon abgenommen.“

„Was machst du denn für einen Wirbel?“ Sie trat näher und betrachtete ihren Vater. Er war also immer noch der Mann, den sie als Kind so verehrt hatte. Stets für das Gute und die Gerechtigkeit im Einsatz – daran hatte sich bis heute nichts geändert.

„Kennst mich doch.“ Er lächelte seine Tochter dankbar an. „Ich kann es nicht lassen.“

Friedrichs hatte hinter seinem Schreibtisch Platz genommen und das Vater-Tochter-Gespräch verfolgt. Nun räusperte er sich. „Schluss jetzt mit den Sentimentalitäten.“

Wiebke und Norbert Ulbricht blickten den Hauptkommissar fragend an. Unaufgefordert setzte sich Wiebke auf einen der knarrenden Besucherstühle vor Friedrichs’ Schreibtisch. Ihr Vater wanderte unruhig durch das helle Büro.

„Wie ist der Stand der Dinge?“, erkundigte sich Wiebke so beiläufig wie möglich.

Friedrichs massierte sein kantiges Kinn und räusperte sich. „Wir haben inzwischen herausgefunden, dass Gabriele Heiners das Immobilienunternehmen ihres Mannes geerbt hätte – sie ist als Alleinerbin im Testament ihres Mannes eingetragen. Insofern hätte sie ausgesorgt gehabt. Sie galt als sehr geld- und machtgierig. Da die Ehe der beiden schon seit einiger Zeit nur noch auf dem Papier bestand, konnten wir ihr ansatzweise ein Interesse an der Übernahme der Firma nachweisen. In letzter Zeit hat sie sich oft in der Verwaltung am Ballastkai aufgehalten und die Mitarbeiter auf Trab gehalten. Dabei ist sie mehrmals mit Christian Rohde aneinandergeraten.“

„Wer ist der Kerl?“, fragte Ulbricht und setzte sich nun doch auf den letzten freien Besucherstuhl vor Friedrichs’ Schreibtisch. Frau Heiners hatte ihm zwar von Rohde erzählt, doch das verschwieg er.

„Er galt als Heiners’ rechte Hand. Und er passte gut zu Heiners’ Idealvorstellungen eines Geschäftsmannes. Strebsam, ehrgeizig und eiskalt, wenn es um den Profit geht. Nicht sehr beliebt bei den Mitarbeitern, es liegt sogar eine Anzeige wegen sexueller Nötigung einer Sachbearbeiterin vor. Er soll sie bedrängt haben, und als sie sich gegen seine Annäherungsversuche wehrte, hat Rohde nur wenige Tage nach dem Vorfall für die Kündigung der Mitarbeiterin gesorgt.“

„Durfte er das denn?“ Wiebke runzelte die Stirn. „Ich meine, die rechte Hand des Geschäftsführers durfte eine Angestellte feuern? Bedarf das nicht in der Regel der Zustimmung des Chefs?“

„Das regelt jedes Unternehmen anders“, erwiderte Friedrichs und strich sich über die Glatze. „Im vorliegenden Fall war das aber so, dass Rohde personelle Dinge ohne die Zustimmung von Holger Heiners regeln durfte – übrigens auch eine Sache, die Gabriele Heiners sehr missfiel.“

„Sie haben Heiners’ Unternehmen bereits durchleuchtet?“ Wiebke zog anerkennend die Mundwinkel nach oben.

Udo Friedrichs strahlte. „Ja denken Sie denn, wir legen die Hände in den Schoß, während Sie Husum und die Umgebung auf den Kopf stellen?“ Er schüttelte den kantigen Schädel. „Nein, junge Frau: Flensburg ist unser Bezirk, hier liegen unsere Stärken, und hier kämpfen wir an der Front. Hier wissen wir, wie der Hase läuft.“ Sein Grinsen wurde breiter. „Und genau das haben wir getan, während Sie Callgirls befragen und einen armen Bauunternehmer inhaftieren lassen.“

„Sie wissen …?“ Wiebke war wirklich erstaunt. Wahrscheinlich hatte Matthias Dierks dem Kollegen von der Mordkommission bereits einen Lagebericht zukommen lassen. Manchmal lief die Bürokratie schneller als einem lieb sein konnte.

„Natürlich weiß ich das alles. Immerhin leite ich die Ermittlungen in diesem Fall. Da wäre es eine Schande, wenn ich nicht wüsste, was meine Leute gerade tun.“

Wiebke passte es nicht, dass er sie großzügig zu seinen Leuten zählte, verkniff sich aber einen Kommentar.

„Sie sollten Ihrem Partner übrigens nahelegen, dass er Levke Kühn verhaftet. Sie steht unter dem dringenden Tatverdacht, an Holger Heiners’ Tod mitschuldig zu sein.“

„Sie ist klein und zierlich und wäre nicht in der Lage, Holger Heiners in das Wasser zu stoßen und so seinen Tod herbeizuführen“, entgegnete Wiebke und band ihm nicht auf die Nase, dass Petersen und sie insgeheim hofften, Frau Kühn würde ein entscheidender Fehler unterlaufen.

Friedrichs schüttelte den Kopf. „Es könnte sich um einen Unfall gehandelt haben.“

„Dann müssten sie noch eine Möglichkeit haben, nach Geschäftsschluss ins Multimar zu gelangen“, gab Wiebke nicht auf. „Außerdem wissen wir seit einer guten Stunde, dass sie ein Verhältnis mit dem Initiator der Bürgerinitiative ,Rettet den Dockkoog‘ hat.“

„Nachdem sie eine Affäre mit Heiners hatte“, nickte Friedrichs und warf Ulbricht einen Hilfe suchenden Blick zu. „Sie sind alt und erfahren, Herr Kollege“, bemerkte er.

„Sagen Sie Ihrer Tochter, dass Eifersucht eines der häufigsten Mordmotive ist. Und Levke Kühn war eifersüchtig – sie konnte nicht damit leben, dass Heiners sich nicht von seiner Frau trennen wollte. Resultat: Blinde Eifersucht und ein daraus resultierender Streit mit Todesfolge. Aber der Reihe nach: Sie treffen sich zu einer Aussprache in Tönning, geraten am Rand des Beckens aneinander, und es kommt zum Unglück. Hilflos sieht sie zu, wie er ums Überleben kämpft.“ Friedrichs schlug die Hände aneinander. „Und schon haben wir den perfekten Mord. Sie flüchtet in Panik und hat keine Ahnung, wie sie sich verhalten soll. Prompt sucht sie Hilfe bei Torben Schäfer, dem Biolehrer.“ Friedrichs blätterte in einem Ordner und nickte dann. „So heißt er doch, oder?“

Als Wiebke nickte, fuhr der Leiter der Mordkommission fort:

„Er ist froh endlich ihre Zuneigung zu genießen und nimmt sie mit offenen Armen bei sich auf. Sie schlafen miteinander, und Schäfer gibt ihr ein passendes Alibi.“

Friedrich stutzte. „Danach haben Sie Frau Kühn doch sicherlich gefragt, oder?“

Wiebke war ehrlich erstaunt, das Friedrichs offenbar sogar über den Besuch und die anschließende Verhaftung bei Torben Schäfer Bescheid wusste. Als sie gerade etwas erwidern wollte, klingelte ihr Handy. Sie zog es hervor und sah auf dem Display, dass der Anruf von Petersen kam.

„Halt mich jetzt nicht für verrückt, Mädchen“, fiel er mit der Tür ins Haus. „Aber Torben Schäfer hat es nicht vorgetäuscht.“

Petersen sprach in Rätseln. „Jan – was hat er nicht vorgetäuscht?“, fragte Wiebke.

Sie schaltete den Lautsprecher des Telefons ein, sodass ihr Vater und Hauptkommissar Friedrichs mithören konnten.

„Der Autodiebstahl letzte Nacht. Es hätte alles so schön gepasst: Die beiden machen gemeinsame Sache. Er rasiert sich den Bart ab und ist plötzlich kaum wiederzuerkennen, sie outen ihr Verhältnis demonstrativ in der Schule und riskieren das Getuschel im Kollegium. Er meldet seinen Wagen als gestohlen, und sie haben Narrenfreiheit.“

„Aber?“ Wiebke verstand nicht, worauf ihr Partner hinauswollte.

„Man hat den Golf Country gefunden. Er stand ein paar Straßen von Schäfers Hof in Treia. Wahrscheinlich hat er im besoffenen Kopf noch eine Runde durch den Ort gedreht. Sie hatten viel getrunken und offensichtlich einen Filmriss. Jedenfalls Entwarnung: Der Golf Country ist wieder da.“

Ulbricht, der dem Gespräch ungewohnt ruhig gefolgt war, sprang wie von der Tarantel gestochen von seinem Stuhl auf. „Unsinn: Offenbar hat sich den Wagen jemand geliehen, während die beiden Turteltauben sich in der letzten Nacht vergnügt haben.“

„Wie bitte?“ Petersen klang verwirrt. „Wiebke, wer ist da bei dir?“

„Mein Vater.“ Sie biss sich auf die Lippen. „Und Hauptkommissar Friedrichs.“

„Was war das für eine Karre, die dieser Schäfer fährt?“ Ulbricht gab nicht auf. Er beugte sich über das Telefon in Wiebkes Hand, sodass Petersen ihn besser verstehen konnte.

„Ein Golf Country, hab ich doch eben gesagt.“

„Ha, das ist es!“ Ulbricht warf Friedrichs einen Blick zu. Jetzt wanderte er in Friedrichs’ Büro auf und ab.

Den Leiter der Mordkommission hielt jetzt auch nichts mehr in seinem Sessel. „Nach dem Mord an Gabriele Heiners flüchtete der oder die Täter in einem grünen Golf Country!“

„Und die Dinger sind sehr selten auf Deutschlands Straßen“, nickte Ulbricht.

Am anderen Ende der Leitung seufzte Petersen. „Und was hat das nun zu bedeuten?“

„Wenn der Wagen geklaut worden ist, um damit einen Mord zu begehen, dann muss es Einbruchspuren geben“, überlegte Ulbricht. „Das Türschloss geknackt, eine Scheibe eingeschlagen, die Zündung kurzgeschlossen, so was eben. Gab es etwas in dieser Richtung?“

„Nein, nichts dergleichen.“

„Dann ist der Täter mit einem Zweitschlüssel unterwegs gewesen, den er sich wahrscheinlich im Vorfeld beschafft hat. Das sollten Sie prüfen, junger Mann!“ Ulbricht war in seinen gewohnten Befehlston verfallen und fing sich dafür prompt einen missbilligenden Blick von seiner Tochter ein.

Friedrichs grinste zufrieden. Plötzlich schien es ihn nicht mehr zu stören, dass Wiebkes Vater sich in die laufenden Ermittlungen einmischte und sogar ihrem Partner Anweisungen gab. Ein wenig konnte sie sich vorstellen, wie er mit seinen Mitarbeitern in Wuppertal umsprang.

„Stell den Wagen von Schäfer sofort sicher“, rief Wiebke aufgeregt. „Da darf keiner mehr ran. Piet soll die Kiste auf der Stelle untersuchen. Ich will alle Spuren haben!“

„Wiebke, warum …“

Udo Friedrichs nahm ihr das Telefon aus der Hand. „Hören Sie, Petersen. Machen Sie, was Frau Ulbricht Ihnen gesagt hat, sonst reiße ich Ihnen den Arsch auf! Ich bin in zwei Stunden spätestens in Husum, dann will ich die Ergebnisse der kriminaltechnischen Untersuchung sehen!“ Er drückte den roten Knopf und reichte Wiebke das Telefon. „Manchmal ein bisschen träge, Ihr Kollege, was?“

Als weder Wiebke noch ihr Vater etwas erwiderte, zuckte Friedrichs mit den Schultern. „Sie haben es gehört – es gibt viel zu tun. Vielleicht könnten Sie jetzt wieder die Arbeit aufnehmen, Frau Ulbricht. Und Sie …“, er wandte sich an Norbert Ulbricht, „Sie sollten sich fortan aus meinen Ermittlungen heraushalten, damit das ein für alle Mal geklärt ist!“

„Das klang eben noch ein wenig anders“, murrte Ulbricht. „Abgesehen davon fällt mir noch etwas ein: Es gibt einen Jepsen; er sitzt im Yachtclub Glücksburg im Vorstand. Man sagt ihm nach, dass er ein Verhältnis mit Gabriele Heiners gehabt haben soll. Vielleicht befragen Sie ihn nach seinem Alibi. Ich könnte mir vorstellen, dass die beiden gemeinsame Sache gemacht haben. Jepsen war scharf auf die Immobilienfirma, wenn Sie mich fragen.“

„Ich frage Sie aber nicht“, entgegnete Udo Friedrichs. „Abgesehen davon halte ich Ihre Idee für eine sehr gewagte Theorie. Als Vorstandsmitglied in einem Yachtclub hat er es ganz sicher nicht nötig, Heiners zu töten, um über Umwege an dessen Vermögen zu gelangen. Und außerdem ist das ein heißes Eisen, Ulbricht senior.“ Friedrichs bedachte Wiebke mit einem Seitenblick, den sie nicht zu deuten vermochte, dann fuhr er fort: „Bei Hinnerk Jepsen handelt es sich um den Direktor der Nord-Ostsee-Bank. Ich glaube nicht, dass er seiner Geliebten bei einem Mord assistiert.“ Friedrichs sank in seinen Bürostuhl. „Aber wir werden das selbstverständlich überprüfen, darauf können Sie sich verlassen.“

„Wiebke“, entfuhr es Ulbricht erfreut, als sie zu ihrem alten Passat gingen. Sie hatte ihren Privatwagen im Hof der Polizeidirektion zwischen zivilen Einsatzfahrzeugen geparkt. Trotz des biblischen Alters war der Wagen in einem tadellosen Zustand. Ulbricht deutete auf das Kennzeichen. „Du hast dir als Andenken an deine Heimatstadt ,WU‘ als Buchstabenkombination auf das Nummernschild machen lassen!“ Er strahlte wie ein kleiner Junge, dann zwinkerte er ihr verzeihend zu. „Aber du hast wohl vergessen, dass nicht ,WU‘, sondern ,W‘ für Wuppertal steht.“ Eine wegwerfende Handbewegung. „Macht aber nichts, ich weiß ja, was gemeint ist.“

Die Zentralverriegelung schnappte hörbar, als Wiebke den Schlüssel in der Fahrertür bewegte. „Mensch, Papa“, rief sie ihm augenrollend über das Wagendach zu. „Das ,WU‘ steht doch nicht für ,Wuppertal‘!“

„Nein?“ Er war verdutzt, als er die Beifahrertür öffnete, den altmodischen Columbo-Trenchcoat abstreifte, ihn auf die Rücksitzbank warf und sich in den Sitz sinken ließ.

„Nein.“ Wiebke startete den Motor. „Die Buchstaben auf dem Nummernschild stehen für ,Wiebke Ulbricht‘ – meine Initialen, Papa!“

Eigentlich klar, dachte er, während er seiner Tochter dabei zusah, wie sie den Wagen geschickt im Rückwärtsgang aus der engen Einfahrt rangierte. Die Mittagssonne hatte den alten Passat aufgeheizt, und Ulbricht kurbelte das Seitenfenster herunter. Sofort drang die frische Seeluft ins Wageninnere. Ulbricht war ein wenig stolz auf seine Tochter, die inzwischen, ganz wie er, Mordfälle bearbeitete. Dass ihr momentaner Vorgesetzter in dieser Sache, Erster Hauptkommissar Friedrichs, ein arroganter Sack war, tat ihm fast ein wenig leid. Am liebsten hätte er Maja in Hameln angerufen, um ihr von seinem Kind zu berichten.

Dann kreisten seine Gedanken wieder um den Fall. Er versuchte, die Ereignisse der letzten Stunden in ein chronologisch richtiges Gefüge zu ordnen und befragte Wiebke nach ihren Ermittlungsergebnissen, über die er noch nichts Genaueres wusste.

„Was mich stutzig macht“, überlegte er halblaut, während er aus dem Seitenfenster blickte, „es passt zeitlich nicht: Ihr wart bei diesem Umweltschützer und der Lehrerin …“

„Referendarin“, verbesserte Wiebke ihn, ohne den Blick von der Straße abzuwenden.

„Von mir aus auch das.“ Ulbricht machte eine ungeduldige Handbewegung. „Ihr wart bei den beiden, die angeblich die Nacht zusammen verbracht haben. Er hat euch angerufen, weil er sein Auto als gestohlen melden wollte.“

Als Wiebke keine Einwände hatte, fuhr er fort: „Und trotzdem wurde mit dem Wagen ein Mord verübt. Zeitgleich, sozusagen. Es klang plausibel, den Wagen einfach als gestohlen zu melden, um aus eurer Schusslinie zu gelangen, doch jetzt sind die Karten neu gemischt.“

„Das ist, glaube ich, nicht ganz richtig. Wenn ich das so grob schätze, hätte Schäfer genug Zeit gehabt, nach Glücksburg und zurückzufahren, bevor wir bei ihm aufgetaucht sind. Aber das müsste man noch genauer bestimmen.“

„Wenn der Verkehr nicht so stark war, hätte es eventuell klappen können, aber vielleicht hat er auch nicht gelogen und der Wagen wurde tatsächlich gestohlen“, fuhr Ulbricht fort.

„Deshalb habe ich meinem Kollegen eine KTU des Golf Country empfohlen“, nickte Wiebke und ordnete sich auf der zweispurigen Straße Norderhofenden links ein.

„Gutes Mädchen“, lächelte Ulbricht und klammerte sich am Haltegriff des Dachholmes fest. Er war ein denkbar schlechter Beifahrer und bremste mit, sobald ein anderer Verkehrsteilnehmer im dichten Gewimmel der Flensburger Innenstadt vor der Haube des Passats die Spur wechselte. Wiebke schien sich auszukennen; sie ordnete sich nach links in Richtung Glücksburg auf den Hafenkai ein. „Sag mal, wo liegt eigentlich dieser Ballastkai?“, fragte er so beiläufig wie möglich, als linker Hand ein Ausläufer der Flensburger Förde im Sonnenlicht glitzerte. Boote schaukelten auf dem Wasser auf und ab, und nun fühlte er sich tatsächlich ein wenig wie im Urlaub. Um ein Haar hätte Ulbricht vergessen, dass er vor kurzer Zeit noch mit einer Frau gesprochen hatte, die vor seinen Augen ermordet worden war.

Vor einer roten Ampel stoppte Wiebke den Wagen und blickte ihren Vater entgeistert an. „Warum?“

Er grinste jungenhaft. „Nur so.“

„Vergiss es“, rief sie kopfschüttelnd. „Ich werde nicht zu Heiners’ Firma fahren, damit du dich dort umsehen kannst. Das haben Friedrichs’ Leute längst getan. Und ich habe keine Lust auf noch mehr Ärger mit ihm. Er ist ein ziemlich arrogantes Arschloch und hält sich für den Größten.“

„Aber er ist gut?“ Ulbricht betrachtete seine Tochter. Die Ampel sprang auf grün, und sie fuhr los.

„Ja, allerdings. Er hat eine ziemlich gute Aufklärungsrate. Trotzdem ist es ein Hohn, wie er mit seinem Team umspringt. Er behandelt sie wie dumme Kinder und akzeptiert keinen, der mindestens so gut ist wie er, vielleicht sogar besser. Friedrichs ist der Beste – jedenfalls glaubt er das. Und er setzt alles daran, damit das auch so bleibt.“

Ein wenig fühlte Ulbricht sich, als hätte ihm seine Tochter einen Spiegel vorgehalten. Er selbst hasste es, wichtige Aufgaben zu delegieren. Niemand seiner Mitarbeiter kooperierte wirklich gern mit ihm, dem alten Brummbär. Ulbricht war nicht nur privat, sondern auch im Job einsam alt geworden. Ein ehemaliger Kollege hatte sich ins Diebstahlkommissariat versetzen lassen, nur um nicht mehr mit ihm in einer Abteilung arbeiten zu müssen. Natürlich hatte Ulbricht die Schuld dafür niemals bei sich gesucht. An manchen Tagen kamen ihm seine Mitarbeiter wie hirnlose Kinder vor, ein Umstand, unter dem eigentlich kein Kommissariat der Polizei funktionieren konnte. Er ließ sich die Butter nicht gern vom Brot nehmen, wenn es darum ging, einen Fall zu lösen. Und nun hatte er es zum ersten Mal am eigenen Leib erfahren, wie es war, sich einem Mann wie Udo Friedrichs gegenüber für sein Verhalten rechtfertigen zu müssen.

Unwillkürlich dachte Ulbricht an den jungen Kommissar, den ihm die Polizeipräsidentin höchstpersönlich vor zwei Jahren an die Seite gestellt hatte, um ihm „ein wenig zur Hand zu gehen“, wie sie es damals wohlwollend gemeint hatte. Frank „Brille“ Heinrichs war ein elender Speichellecker, jung, unerfahren und völlig übermotiviert, doch Ulbricht musste sich eingestehen, dass sich der Knabe in der letzten Zeit gemausert hatte. Würde Heinrichs zu seinem Nachfolger werden, wenn er den Dienst quittierte? Ulbricht wusste es nicht, und es war auch nicht der richtige Augenblick, um sich darüber Gedanken zu machen.

„Du musst hungrig sein“, bemerkte er, als links ein Hinweisschild zum Ballastkai auftauchte. Gleich neben der Einfahrt zum Kanalschuppen erblickte er eine Fischhalle. Laster parkten an der Rampe des Schuppens, ein Gabelstapler rumpelte über den mit Kopfsteinpflaster belegten Hof. „Das sieht doch gut aus da: Flensburger Fischmarkt.“ Er zog einen Zehn-Euroschein aus der Tasche und knisterte vor Wiebkes Nase damit herum. „Ich lad dich zum Essen ein. Meinen Wagen können wir danach immer noch abholen, und Petersen und dieser Friedrichs sind auch erst mal beschäftigt. Sie kommen noch eine Stunde ohne uns aus.“

„Uns?“ Wiebke legte die Stirn in Falten. „Hast du gesagt, dass sie eine Stunde ohne uns auskommen?“

„Ohne dich, meine ich natürlich“, erwiderte er schnell und registrierte, dass seine Tochter längst den Blinker gesetzt hatte und nach links in den Hafenkai abbog. Nun lag der Fischmarkt auf der linken Seite. Wiebke suchte einen freien Parkplatz, während Ulbricht bereits die Hinweisschilder zum Ballastkai erblickt hatte und sich seinen Plan zurechtlegte.

Husum, Polizeidirektion Poggenburgstraße, 14.15 Uhr

Wütend rauschte Petersen in das Büro von Matthias Dierks, der erschrocken aufblickte. Jan Petersen hasste es wie der Teufel das Weihwasser, wenn er bevormundet wurde. Sein Puls raste, und am liebsten hätte er den ganzen Kram hingeschmissen. Doch seine persönliche Situation ließ es nicht zu, dass er den Job an den Nagel hängte. Also suchte er ein klärendes Gespräch mit seinem Vorgesetzten.

„Was hat das denn zu bedeuten?“, rief er wütend.

„Moin, Jan.“ Dierks ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Setz dich doch.“

„Danke, ich steh lieber.“ Petersen baute sich vor dem Schreibtisch seines Vorgesetzten auf und verschränkte die Arme vor der Brust. „Bist du eigentlich mein Boss?“

„Natürlich.“ Matthias Dierks nickte. „Wer denn sonst?“

Petersen berichtete ihm von seinem seltsamen Telefonat mit Wiebke. „Was bildet sich dieser Friedrichs eigentlich ein? Er macht mich zu seinem Sklaven und befiehlt Piet die Untersuchung von Schäfers Auto. Was soll das?“

Matthias Dierks lehnte sich zurück und betrachtete seinen ehemaligen Partner erst einmal mit regungsloser Miene. Dann zog er ein Schloss an seinem Schreibtisch auf und nahm eine Flasche und zwei Gläser hervor. „Ich weiß nicht, was jetzt wieder los ist, aber es ist höchste Zeit, dass du mal runterkommst, Jan.“

„Ich will nicht saufen, ich will Klarheit.“

Unbeeindruckt schenkte Dierks ihnen zwei Klare ein. „Eins nach dem Anderen.“

Petersen setzte sich nun doch. Prompt fühlte er sich ein wenig wie beim Arzt in der Sprechstunde. Er griff nach dem Klaren, kippte das Glas hinunter und schüttelte sich. Das Zeug brannte höllisch in seiner Kehle.

„So, und nun will ich wissen, wer mir was zu sagen hat.“

„Ich.“

Dierks trank auch, allerdings schüttete er den Schnaps nicht in einem Zug in sich hinein, sondern nippte nur daran. „Ich bin dein Vorgesetzter, Jan. Und allein das scheint dir augenblicklich Probleme zu bereiten. Hinzu kommt, dass wir es aktuell mit einem Tötungsdelikt zu tun haben. Und da ist die Bezirkskriminalinspektion Flensburg uns gegenüber weisungsbefugt. Insofern muss auch ich mich für die zum Affen machen.“ Er beugte sich über die Schreibtischplatte. „Aber das ist es doch nicht, Jan.“

„Und dieser Ulbricht? Hat der mir auch was zu sagen?“

„Wer?“

„Ulbricht, Wiebkes Vater. Er hat mich angemault und mir Befehle gegeben.“

„Keine Ahnung, was der damit zu tun hat. Wahrscheinlich will er uns nur helfen. Wie dem auch sei: Ich werde mit Wiebke reden.“

Minutenlang kehrte Schweigen im Büro des Ersten Kriminalhauptkommissars ein. Die Geräusche der benachbarten Räume drangen gedämpft an ihre Ohren.

Dann hob Petersen den Kopf und blickte seinen ehemaligen Partner mit versteinerter Miene an. „Es kotzt mich an, von dir abhängig zu sein, Mattes.“ Lange hatte er versucht, sich die richtigen Worte zurechtzulegen. Natürlich war es ihm schwergefallen, die Karten auf den Tisch zu legen. Eigentlich war Petersen kein Mensch, der sich öffentlich seine Schwächen eingestand. „Du hast mich in der Hand, Mattes.“

„Wovon redest du?“ Er legte die Stirn in Falten und drehte das Schnapsglas in den Händen.

„Das weißt du ganz genau.“ Petersen hatte diesen Augenblick gefürchtet. Er hasste es, im Kollegenkreis offen über seine Gefühle zu sprechen. Normalerweise trennte er Berufs- und Privatleben strikt voneinander. Sogar Wiebke sah er in der knappen Freizeit nur selten. „Ich lebe nur noch, weil du mich leben lässt.“

Matthias Dierks schüttelte energisch den Kopf. „Du redest Blech, Jan.“

„Eben nicht“, fuhr Petersen auf und hielt seinem Vorgesetzten das leere Glas hin.

Dierks schenkte schweigend nach.

„Früher sind wir zusammen zur Schule gegangen, haben das Abi gemacht und haben uns gemeinsam auf der Polizeischule angemeldet. Dann waren wir ein Team, und irgendwann stand eine Beförderung an. Du hast den Jackpot gezogen und warst der Glückliche, der fortan hier was zu melden hat. Ich sag das nur ungern, Mattes, aber du bist mein Boss, und du bist schon lange nicht mehr der gute Freund, den ich früher hatte.“ Petersen nahm das Glas, setzte es an und trank. „Du hast dich verändert, Mattes.“ Diesmal brannte der Klare schon nicht mehr so sehr wie beim ersten Mal.

„Und das macht dich so fertig?“ Dierks schien es nicht glauben zu können.

„Nicht nur. Ich habe eine gescheiterte Ehe hinter mir und gehe finanziell auf dem Zahnfleisch, das muss ich dir nicht erzählen. Meine Ex zieht mich bis aufs letzte Hemd aus, ich verbringe jeden Abend einsam in meiner Bude und trinke zu oft und zu viel. Du hingegen fährst immer schön nach Hause zu deiner Familie, den fast erwachsenen Kindern und der Frau, die dich nach all den Jahren als Bulle immer noch liebt und sich jeden Abend freut, wenn du nach Hause kommst.“

„Du bist ziemlich einsam, Jan.“

„Das ist es nicht.“ Petersen schüttelte den Kopf und blickte auf seine Schuhspitzen. „Jedenfalls ist es das nicht allein.“ Er schämte sich plötzlich dafür, seinem ehemaligen Partner sein Herz ausgeschüttet zu haben. Früher hatten sie alles bei einem Feierabendbier besprochen. Und es war ihm peinlich, auf das, was Dierks in den letzten Jahren erreicht hatte, neidisch zu sein. Dennoch sah er die Dinge realistisch: Er war von Dierks abhängig, beruflich und privat.

„Dann sag mir endlich, was dich so fertig macht, und ich werde sehen, wie ich dir helfen kann.“ Dierks lächelte ihm aufmunternd zu.

„Ich kann dir diesen Monat keine Miete zahlen, Mattes.“ Petersens Kopf ruckte hoch. Er blickte Dierks lange an, versuchte, in dessen Gesicht zu lesen.

Plötzlich begann Matthias Dierks zu lachen. Er schien über Petersens Sorgen amüsiert zu sein – ein Umstand, der Petersen noch wütender machte. Was bildete sich dieser arrogante Kerl eigentlich ein?

„Sag mal, spinnst du?“, fragte er und schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch seines Vorgesetzten. „Hast du mir nicht zugehört? Ich habe nicht genug Geld auf dem Konto, um dir die Miete zu bezahlen.“ Hätte er doch damals bloß nicht das Angebot angenommen, in eines der Häuser von Matthias Dierks einzuziehen. Streng genommen gehörten die Häuser seiner Frau, die sie mit in die Ehe gebracht hatte. Als Petersen kurz nach seiner Scheidung eine neue Bleibe gesucht hatte, war es eine gute Fügung gewesen, dass eines der kleinen Traufenhäuser in der Süderstraße frei geworden war. Die Mieterin war verstorben und das Haus heruntergekommen. Dierks war ihm mit dem Mietpreis entgegengekommen und hatte auf eine Kautionszahlung verzichtet. Im Gegenzug hatte Petersen ihm damals versprochen, das Haus nach und nach in Eigenregie zu sanieren. Er fühlte sich wohl in seinem Hexenhaus, wie er es liebevoll wegen seiner schiefen Wände nannte.

„Mach dir doch über so einen Scheiß keinen Kopf, Jan.“ Dierks war ernst geworden. „Ich bitte dich – wir kennen deine finanzielle Situation, und ich bin bestimmt der Letzte, der dich deshalb vor die Tür setzt. Keine Angst, du musst nicht unter der Brücke schlafen. Zahl einfach so, wie du es kannst. Ich rede mit Elke, und sie wird meiner Meinung sein, jede Wette.“

Elke war die Frau von Matthias Dierks. Ein liebenswertes Wesen mit großem Herzen und für Dierks, der offenbar auf der Sonnenseite des Lebens wohnte, ein echter Glücksgriff. Ihre Ehe verlief seit sechsundzwanzig Jahren harmonisch.

„Geht das denn? Ich meine, ihr müsst doch für das Haus jeden Monat an die Bank …“

„Vergiss es.“ Dierks winkte ab. „Die Finanzierung ist längst durch, Jan. Deshalb fällt es uns auch nicht schwer. Ich habe mir so etwas übrigens gedacht. Deshalb habe ich gleich nach unserem Gespräch vorhin mit Elke telefoniert. Sie hat keine Einwände, wenn wir dir die Miete bis auf Weiteres erlassen.“

„So einfach ist das?“ Petersen konnte es einfach nicht glauben. Ihm war, als würde der Ballast, den er die letzten Tage mit sich herumgetragen hatte, einfach von ihm abfallen.

„Ja.“ Dierks nickte. „So einfach ist das.“ Die Schnapsflasche verschwand wieder in der Schreibtischschublade, und er erhob sich. „Was gibt es Neues zum Fall?“

„Warten wir die Untersuchung des Golf Country ab“, schlug Petersen vor. „Auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, was das bringen soll.“

Dierks brachte ihn zur Tür. Dort angekommen, schlug er Petersen auf die Schulter. „Wie gesagt – mach dir nicht immer so einen Kopf. Vielleicht sollten wir mal wieder alte Traditionen aufleben lassen und ein Bier zusammen trinken gehen.“

„Ja.“ Petersen nickte erleichtert. „Das sollten wir, ganz bestimmt sogar.“ Dann war er draußen, und plötzlich fühlte er sich wieder so, als könne er Bäume ausreißen.

„Jan, kommst du mal?“ Auf dem Weg zu seinem Büro kam Petersen an Katja Grafs Arbeitsplatz vorbei. Die Tür stand offen, weil sie Sven Gerke zum Kaffeeautomaten geschickt hatte.

„Was gibt es, Katja?“ Er betrat den Raum und zog sich einen Stuhl heran, um sich falsch herum darauf niederzulassen. Nach dem Gespräch mit Matthias Dierks fühlte er sich wieder ein wenig wie der Alte. Dierks war nicht nur sein Vorgesetzter, sondern auch sein Vermieter. Und er hatte sich als äußerst großzügiger Vermieter gezeigt, indem er Petersen die Miete erlassen hatte. Blieben nur noch die einsamen Abende, die er verlebte. Doch Petersen war sicher, auch eines Tages die Frau fürs Leben zu finden. Er musterte Katja Graf unauffällig.

„Ich musste Jörn Holst rauslassen.“

Petersen machte große Augen. „Du musstest … was?“

„Er ist seit einer Viertelstunde auf freiem Fuß.“

„Wieso denn das?“ Petersen fürchtete, plötzlich vor dem Nichts zu stehen.

„Er hatte für die Tatzeit doch noch ein Alibi – ein unfreiwilliges allerdings.“ Katja lächelte, und er verliebte sich einen Augenblick lang in ihre lustigen Grübchen. „Wir haben ihn gestern Abend geblitzt.“

„Wo und wann war das genau?“

„Auf der B 201, bei Schleswig. Das war gegen zweiundzwanzig Uhr.“

„Dann wird es Zeit, zu überprüfen, wann im Multimar die Alarmanlage entsichert wurde. In modernen Anlagen wird so etwas ja dokumentiert.“

„Hab ich schon längst getan“, lächelte Katja. „Und es passt – oder auch nicht, je nachdem aus welcher Perspektive du es sehen willst. Die Abschaltung der Anlage erfolgte gegen 21.55 Uhr.“

„Mist.“

„Weil du jetzt ohne deinen Hauptverdächtigen dastehst?“

„Vielleicht.“ Petersen hieb sich vor die Stirn. „Warum habe ich das nicht gleich zu Anfang prüfen lassen?“

„Weil du nicht gut drauf warst in den letzten Tagen, Jan.“

Katjas Stimme klang sanft und mitfühlend. „Irgendwie hat keiner daran gedacht, aber nun haben wir es ja schwarz auf weiß, denn ich habe mir den Ausdruck des Journals vom Multimar mailen lassen.“

„Immerhin“, sagte Petersen anerkennend, ohne auf ihren mitfühlenden Einwurf zu reagieren. Es war ihm unangenehm, dass nicht nur Wiebke aufgefallen war, dass etwas nicht mit ihm gestimmt hatte. Dass ausgerechnet Katja Graf daran eine Teilschuld trug, wollte er ihr nicht auf die Nase binden. Letzten Endes machte sie sich noch Vorwürfe, und das wollte er ihr auf keinen Fall zumuten.

„Wie geht es jetzt weiter?“, fragte sie, als er plötzlich nachdenklich auf sie wirkte.

„Ich bin an einer anderen Spur dran, aber ich will Dierks nicht vorgreifen. In der Nachmittagssitzung bringen wir uns gegenseitig auf Stand, und morgen sind wir garantiert durch mit dem Fall, Katja.“

Sie nickte, dabei hüpfte eine ihrer blonden Haarsträhnen auf und ab. „Das wäre schön.“

„Ja.“ Er stand auf, stellte den Stuhl an seinen Platz zurück und grinste.

„Jan?“

Petersen, der schon einen Fuß auf dem Flur hatte, verharrte und wandte sich zu ihr um. „Was?“

„Hast du mal Lust, mit mir essen zu gehen? Im ,Ratskeller‘ soll es ausgezeichnete Steaks geben.“

Sie war ein wenig errötet und hatte die Stimme gesenkt.

„Klar – warum nicht?“ Er gab sich Mühe, seine Freude zu verbergen und versuchte vergeblich gleichgültig zu klingen. Dabei fiel ihm auf, wie niedlich Katja mit roten Wangen aussah.

„Gibts hier was zu tuscheln?“

Weder Katja noch Petersen hatten bemerkt, dass Sven Gerke mit zwei Bechern bewaffnet vom Automaten zurückgekehrt war.

„Klar“, grinste Petersen. „Wir lästern gerade über unseren Azubi ab.“ Als er in Gerkes überraschtes Gesicht blickte, ließ er die beiden allein.

Flensburg, Ballastkai, 14.30 Uhr

„Mist, jetzt hab ich mein Telefon im Auto vergessen.“ Ulbricht schüttelte den Kopf und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Es steckt in der Manteltasche, und der Mantel liegt auf dem Rücksitz. Muss wohl noch mal los.“

„Wozu brauchst du dein Telefon?“ Wiebke legte den Kopf schräg. „Soviel ich weiß, hast du Urlaub und musst nicht zwingend erreichbar sein. Und deine vollständige Familie sitzt dir im Flensburger Fischmarkt gegenüber – von dieser Seite ist wohl auch keine Störung zu befürchten.“ Wiebke lächelte ihren Vater verstehend an und reichte ihm den Autoschlüssel. „Aber bitte mach mir keine Scherereien. Ich habe keine Lust, dein Verhalten wieder bei Friedrichs erklären zu müssen.“

Sie ahnte, was er vorhatte. Kein Wunder, dachte er ein wenig stolz, immerhin war Wiebke seine Tochter. Sie konnte eins und eins zusammenzählen und arbeitete bei der Kriminalpolizei. Also konnte sie sich denken, dass er ganz andere Dinge vorhatte, als sich sein Telefon aus dem Auto zu holen, das er dort angeblich vergessen hatte. Dennoch machte Ulbricht einen zerknirschten Gesichtsausdruck, als er sich von seinem Stuhl in dem Fischrestaurant mit wundervollem Ausblick auf die Förde erhob. „Tut mir wirklich leid“, murmelte er. „Vielleicht rauch ich mir auch gleich noch eine Zigarette – wenn das für dich in Ordnung ist.“

„Du bist erwachsen, Papa.“ Sie zuckte die Schultern. „Also mach, was du willst. Das gilt übrigens nicht nur für das Rauchen.“

Ulbricht zögerte sekundenlang. „Verlass dich auf mich, Wiebke.“ Dann wandte er sich ab und verließ das urig eingerichtete Fischrestaurant. Draußen umschmeichelte eine sanfte Brise sein Gesicht. Er drehte den Kopf nach Westen und sah die Wasseroberfläche im Sonnenlicht glänzen. Ein Segelboot fuhr gerade auf die Ostsee hinaus. Möwen begleiteten das Boot, während auf der Straße am Westufer der Verkehr zu stocken schien. Im warmen Licht der Sonne wirkten die Fassaden der prächtigen Gebäude, als würden sie leuchten. Ulbricht begann das nordische Ambiente zu lieben. Er atmete tief durch, als er zum Parkplatz schritt. Vor ihm ragten drei, vier neumodische Wohn- und Bürogebäude in den fast wolkenlosen Himmel. Sicherlich war das Wohnen und Arbeiten hier sündhaft teuer, überlegte er. Immerhin lebte man in bester Lage von Flensburg und konnte den Blick auf das Wasser genießen.

Im ersten Block war im Erdgeschoss eine Postfiliale untergebracht – vielleicht handelte es sich auch um eine privat betriebene Postagentur, so genau konnte man das heutzutage nicht mehr unterscheiden. Ulbricht blieb stehen und betrachtete die modernen Gebäude. Jeder Block hatte seine eigenen Parkplätze, die von einer pedantisch gestutzten Hecke umgeben waren. An den Häuserfronten wechselten sich große Glasflächen mit kleinen, stilisierten Bullaugen ab, die unter einem halbrunden Dach lagen. Man zeigte sich detailverliebt, denn auch die Hinweisschilder vor den Gebäuden waren mit einem kleinen, halbrunden Dach versehen. Ulbricht erstarrte, als er vor dem Haus Ballastkai 5 den Eintrag einer Immobilienfirma erblickte, unter dessen Logo der Name „Holger Heiners“ prangte. Er überlegte. Vielleicht konnte ein kleiner Besuch nicht schaden, schließlich wollte er sich ja nur einen Eindruck von der Firma des Toten verschaffen. Im gleichen Augenblick war er sich darüber im Klaren, dass er dort keinesfalls als Hauptkommissar vorstellig werden durfte. Es lag ihm fern, Wiebke Probleme zu bereiten.

Ulbricht lehnte sich gegen die gläserne Eingangstür, die nur angelehnt war, und fand sich im nächsten Augenblick in einem nüchternen Treppenhaus wieder. Nun gab es für ihn kein Zurück mehr. Die Verwaltung von Holger Heiners’ Immobilienimperium nahm das gesamte erste Stockwerk in Beschlag. Dort angekommen fand er sich an einer Art Empfangstresen wieder. Dahinter lag ein hell eingerichtetes Großraumbüro mit fast zehn Arbeitsplätzen. Auf der linken Seite zweigten Türen ab – dort residierten wohl die Chefs.

„Moin.“ Die schlanke Sekretärin lächelte ihn freundlich an. „Was kann ich für Sie tun?“

„Morgen. Ulbricht ist mein Name. Ich würde gern mit Herrn Christian Rohde sprechen.“

Das Lächeln auf dem aparten Gesicht der Angestellten fror ein. „Ich nehme an, Sie haben einen Termin?“

„Nein, dafür war keine Zeit – nicht in Anbetracht der aktuellen Geschehnisse.“

„Sind Sie von der Polizei?“

„Nein, wie kommen Sie darauf?“, fragte Ulbricht mit empörter Miene. „Es geht um einen meiner Mandanten. Er sorgt sich um den Fortbestand seiner Immobilien auf Sylt. Und deshalb bin ich auch hier.“

„Das können Sie sicherlich mit einem unserer Sachbearbeiter klären“, erwiderte die Sekretärin schneidend.

„Ich fürchte, nicht.“ Ulbricht beugte sich zu der Sekretärin hinab. „Die beiden sind nämlich so.“ Er legte den Mittelfinger seiner rechten Hand um den Zeigefinger und symbolisierte so eine dicke Freundschaft. Das hatte er mal irgendwo im Fernsehen gesehen und fand es gut.

„Ach so. Ich werde Herrn Rohde fragen, ob er Zeit hat, Sie zu empfangen.“ Ohne seine Antwort abzuwarten, griff sie zum Telefon, tippte zwei Tasten und lauschte dem Freizeichen. Dann wurde offenbar abgenommen. „Hier ist ein Herr Ulbricht“, säuselte sie mit dem typisch freundlich-distanzierten Sekretärinnengeflöte in den Hörer. „Er möchte Sie sprechen.“ Sie lauschte, blickte lächelnd zu ihrem Gast auf und nickte. „Danke.“ Dann legte sie auf. „Sie haben Glück“, beschied sie Ulbricht. „Wenn es nicht lange dauert, können Sie jetzt zu ihm. Dritte Tür links. Soll ich Sie bringen?“

„Nein danke, das wird nicht nötig sein.“ Ulbricht trommelte auf den Empfangstresen und machte sich auf den Weg. Dabei versuchte er, möglichst viele Eindrücke zu sammeln. Es war auffällig, dass die Sachbearbeiter im Großraumbüro mit mobilen Rechnern arbeiteten. Man lächelte ihm höflich zu.

Ulbricht hatte die dritte Tür links erreicht und klopfte. Als von drinnen ein zackiges „Herein“ ertönte, öffnete er die Tür und fand sich in einem luxuriös eingerichteten Büro mit Blick auf die Förde wieder. Hinter dem gläsernen Schreibtisch saß ein sonnenbankgebräunter, hochgewachsener Anzugträger von höchstens fünfunddreißig Jahren. An seinem Handgelenk glänzte eine goldene Uhr, ein feines Aftershave hing schwer im Raum. Als er den Besucher erblickte, erhob sich Rohde von seinem Ledersessel und umrundete den Tisch.

„Herr …“ Den Namen seines Besuchers hatte der oberflächliche Kerl also auch schon wieder vergessen, stellte Ulbricht fest.

„Ulbricht, Norbert Ulbricht“, half er dem Anzugträger auf die Sprünge.

„Natürlich“, lachte er. „Angenehm. Bitte, so nehmen Sie doch Platz!“ Er deutete mit einer ausladenden Geste auf einen freien Stuhl vor seinem Schreibtisch, bevor er sich selbst dahinter verschanzte. „Also“, sagte er, nachdem er die Fingerspitzen beider Hände aneinandergelegt hatte. „Was kann ich für Sie tun?“

„Das sind ja ganz schreckliche Ereignisse, die Ihr Unternehmen da in die Schlagzeilen bringen“, ging Ulbricht in die Offensive.

„Ja, allerdings.“ Zerknirschtes Nicken. Rohde griff zu einem Kugelschreiber, der vor ihm lag. Er tickerte ein paar Mal mit der Miene, dann lehnte er sich in seinem Sessel zurück und kaute auf dem Stift herum.

„Und deshalb macht sich Herr Hansen auch Sorgen um seine Immobilien, die Sie auf Sylt für ihn verwalten. Er fragt sich verständlicherweise, wie es denn dort nun weitergeht.“ Ulbricht beugte sich vor. „Werden Sie die Geschäfte nach Herrn Heiners’ Tod nun fortführen?“

„Zunächst einmal bin ich Ihr Ansprechpartner.“ Rohde machte ein Pokerface.

„Wollen Sie den Laden denn übernehmen?“

Christian Rohde schien ein wenig erschrocken über den saloppen Tonfall seines Besuchers zu sein. Doch er hatte sich schnell wieder unter Kontrolle und lächelte charmant. „Diese Firma ist mein Leben“, sagte er ausweichend. „Sicherlich können Sie sich vorstellen, wie schwer mich der Tod von Holger Heiners und seiner Frau getroffen hat.“

„Frau Heiners ist auch tot?“, tat Ulbricht erstaunt.

Rohde stockte, dann nickte er. „Ja, sie wurde ermordet.“

Ulbricht zog sein kleines Notizbuch aus der Hemdtasche und blätterte darin. „Oh“, sagte er dann. „Ich habe leider keinen Stift. Wenn Sie mir vielleicht …“

„Natürlich.“ Rohde nickte und reichte Ulbricht den Kugelschreiber, mit dem er gerade noch herumgespielt hatte. „So, und nun müssen Sie mir sagen, was genau ich für Sie tun kann. Von welchen Objekten auf Sylt sprechen wir denn?“

Diese Frage hatte Ulbricht befürchtet. Er spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte und ihm heiß wurde. Hastig legte er sich eine Antwort zurecht. Doch bevor er reagieren konnte, wurde die Bürotür aufgestoßen.

Plötzlich stand Wiebke im Büro, dicht gefolgt von der Sekretärin, deren Hauptaufgabe es offenbar war, lästige Besucher auf die nötige Distanz zu halten.

„Es tut mir leid“, rief sie aufgeregt. „Aber die Dame ist von der Polizei, das ist Kommissarin Ulbricht, und Sie …“

„Danke“, lächelte Wiebke und betrachtete ihren Vater. „Hier stecken Sie also“, sagte sie vorwurfsvoll.

Ulbricht, der sich wunderte, warum er plötzlich von seiner Tochter gesiezt wurde, erhob sich. Kugelschreiber und Notizblock verschwanden wieder in der Hemdtasche. „Was soll das denn jetzt?“, fragte er.

Rohde war aufgesprungen. „Polizei?“, rief er. „Denen habe ich schon alles gesagt.“ Dann musterte er Wiebke. „Moment, wie war Ihr Name?“

„Ulbricht, von der Kripo.“

„Aber er hier“, Rohde deutete auf Ulbricht, „er sagt, er hieße Ulbricht.“

„Keine Sorge.“ Wiebke lächelte. „Ich bin auf der Suche nach unserem Herrn Mayer.“ Sie tippte sich bezeichnend an die Schläfe. „Er befindet sich in psychologischer Behandlung.“ Dann schüttelte sie den Kopf. „Haben Sie wieder meinen Namen verwendet, um …“

„Wir gehen jetzt besser“, unterbrach Ulbricht seine Tochter. Sie hatte keine Einwände, nahm ihn an der Hand und führte ihn aus dem Büro wie einen kleinen Jungen.

„Entschuldigen Sie noch einmal die Störung“, rief sie Rohde und seiner Sekretärin über die Schulter zu, dann waren sie draußen.

„Was war das denn für eine schräge Nummer?“, fragte Ulbricht seine Tochter, kaum, dass sie das Bürogebäude am Ballastkai verlassen hatten.

Sie grinste. Es tat ihr sichtlich gut, ihm eins ausgewischt zu haben. „Nun steht es eins zu eins“, sagte Wiebke und führte ihn zum Auto. „Wenn du glaubst, mich reinlegen zu können, dann schlage ich zurück. Also bist du ein geistig verwirrter, alter Mann, den ich als Polizistin betreue. Aber es ist ja alles gut gegangen, und sogar dieser aalglatte Manager hat uns die Story abgenommen.“

Ulbricht war stehen geblieben und musterte seine Tochter mit finsterer Miene. „Moment“, rief er dann. „Den ,alten Mann‘ nimmst du auf der Stelle zurück!“

„Wenn ich dafür ,verrückt‘ stehen lassen darf, dann gerne!“ Sie stiegen ein. „Was hattest du da drinnen eigentlich vor?“, fragte Wiebke, während sie den Wagen in Richtung Glücksburg steuerte. Dort parkte noch immer Ulbrichts alter Vectra vor dem Haus der Heiners’.

„Ich wollte mich einfach mal umschauen“, behauptete er.

„Und prompt ist mir aufgefallen, dass auf jedem Schreibtisch ein Laptop stand.“

„Kein Wunder“, lachte Wiebke. „Friedrichs hat wahrscheinlich längst sämtliche Rechner einkassiert und lässt nun die Festplatten durchleuchten.“

„So hat jeder seine Methode, Beweise zu sammeln“, murmelte Ulbricht und lehnte sich bequem im Sitz zurück, um die Landschaft zu bewundern. Nachdem sie das Ortsausgangsschild von Flensburg passiert hatten, wurde die Gegend wieder ländlicher, und die kurvenreiche Straße führte über sanfte Hügel und durch grüne Täler nach Glücksburg. Durch das offene Seitenfenster drang die frische Sommerluft in den Wagen, und der Fall, der sie beide beschäftigte, rückte für einen Moment in weite Ferne.

Als Wiebke immer wieder kurz zu ihm hinüber blickte, glaubte sie, dass ihr Vater döste. Er war ein altes Schlitzohr, und plötzlich war sie stolz darauf, dass er sich in ihren Fall eingemischt hatte …

Husum, Polizeidirektion Poggenburgstraße, 14.40 Uhr

„Komm mal runter zu mir!“ Piet Johannsens Stimme klang aufgeregt am Telefon.

Petersen nahm die Füße von seiner Schreibtischkante. „Wieso?“, fragte er. „Hast du Freibier für alle gekauft, und ich soll dir tragen helfen?“

„Mensch, Jan, quatsch keine Opern! Ich will dir was zeigen!“

Petersen seufzte. Als er aus dem Fenster blickte, sah er dicke Wolkenberge, die sich über Husum aufgetürmt hatten. Es würde heute noch Regen geben, und bei seinem Glück setzte der Platzregen ausgerechnet dann ein, wenn er auf dem Hof der Direktion stand. „Also gut“, murmelte er. „Aber wehe, du hast keinen triftigen Grund, mich durch die Gegend zu scheuchen.“

„Du wirst erstaunt sein“, erwiderte Johannsen und legte auf.

Petersen erhob sich von seinem wackeligen Bürostuhl und zog sich die dünne Jacke über. Wiebkes Schreibtisch war immer noch verwaist, und er wusste, dass sie mit ihrem Vater in Flensburg unterwegs war. Friedrichs hatte wohl einen ziemlichen Aufstand geprobt, weil sich Ulbricht senior in den Fall eingemischt hatte. Kein Wunder, Udo Friedrichs lebte seine Profilneurose in vollen Zügen aus. Dass nun ein alter Hauptkommissar aus dem fernen Wuppertal Zeuge wurde, wie die frischgebackene Witwe eines Mordopfers umgebracht wurde, passte da nicht in sein Weltbild. Petersen fühlte eine Prise Schadenfreude in sich aufsteigen. Er war gespannt auf Wiebkes Bericht, sobald sie wieder zurück in Husum war. Gemeinsam würden sie dann Torben Schäfer verhören. Vielleicht hatten sie Glück, und er gestand, etwas mit den beiden Morden zu tun zu haben. Wenn nicht, hatte Friedrichs ein Problem. Und Petersen war sicher, dass er seinen Frust ungefiltert nach unten an sie weitergeben würde. Langsam wurde es eng für ihn und die Kollegen – spätestens nach dem Zwischenfall in Glücksburg stand Friedrichs unter Strom. Fortan würde der Abteilungsleiter alles daran setzen, um den Fall aufzuklären.

Petersen trat über den Hinterausgang der Direktion auf den Hof. Hier parkten die Einsatzfahrzeuge der Husumer Polizei und einige Privatfahrzeuge. Die Tore einer KFZ-Halle standen offen. Er erkannte einen grünen, hochbeinig wirkenden VW Golf, dessen Kennzeichen von Schmutz verschmiert war. Offenbar hatte Johannsen alles daran gesetzt, Torben Schäfers Fahrzeug so schnell wie möglich hierher bringen zu lassen. Eine angeordnete Blutprobe bei Schäfer hatte einen nicht zu verachtenden Anteil von Restalkohol im Blut ans Licht gebracht. Nun musste ein Sachverständiger klären, ob er derart alkoholisiert überhaupt hatte fahren können. Piet Johannsen hatte sofort mit der kriminaltechnischen Untersuchung des Golf Country begonnen.

„Also“, sagte Petersen gedehnt, während er sich an eine der Säulen lehnte. „Was war so wichtig, dass du es mir nicht am Telefon sagen konntest?“ In der Fahrzeughalle roch es nach Öl, Gummi und Lack.

Johannsen trug wieder einen seiner weißen Faseranzüge. Er grinste über beide Ohren. „Dies, mein lieber Jan, ist nicht nur das Auto von Torben Schäfer, unserem Umweltaktivisten – es ist auch das Auto, das dem Mörder von Gabriele Heiners als Fluchtfahrzeug diente.“ Als er Petersens verdutztes Gesicht sah, nickte er. „Passt nicht in das zeitliche Gefüge, was? So, und jetzt kommst du.“

„Worauf willst du hinaus?“ Petersen trat näher und warf einen Blick in das Innere des leichten Geländewagens. Eigentlich ein normaler VW Golf älteren Baujahres, nichts Besonderes also.

„Ich habe im Fußraum vor dem Beifahrersitz Spuren von Waffenöl gefunden.“

„Was hat das zu bedeuten?“ Kaum dass Petersen die Frage ausgesprochen hatte, begriff er, worauf der Kollege von der Spurensicherung hinauswollte. „Klar“, murmelte er. „Du meinst, dass der Mörder die Waffe nach der Tat in den Fußraum geworfen hat, weil es schnell gehen musste. Das ist es doch, oder?“

Johannsen nickte. „Die Spuren sind relativ frisch, und so wie es aussieht, handelt es sich um eine leichte Maschinenpistole, die hier in den Kurven, bei den Brems- und Fahrmanövern hin- und hergerutscht ist. Ich konnte die Spuren auf den Gummimatten sichern. Offenbar hat der Täter die Waffe vor dem Anschlag auf Gabriele Heiners frisch geölt. Gut für uns.“ Er grinste und nahm die Nickelbrille ab, um sich mit einem Taschentuch die schweißnasse Stirn abzutupfen.

„Gabriele Heiners starb an einer Salve, abgegeben aus einer leichten Maschinenpistole“, überlegte Petersen. „Die Uzi beispielsweise verwendet die übliche

9 mm Munition.“

„In 19er oder 21er Länge“, nickte Johannsen. „Und die 19er wurde am Tatort in Glücksburg gefunden. Also schließt sich der Kreis, denn so oft kommt eine Uzi auf dem freien Markt nicht vor.“

„Meinst du, der Täter schmeißt das Ding so achtlos in den Fußraum?“

Piet Johannsen nickte. „Klar. Was darauf hindeutet, dass er allein unterwegs war. Er setzt eine Salve auf das Haus ab, rennt zum Auto, springt hinters Lenkrad, wirft die Waffe in den Fußraum und flüchtet mit quietschenden Reifen.“

„Das sind, wenn auch alles ziemlich sicher zu sein scheint, noch keine Beweisstücke“, warnte Petersen den Kollegen. Ihm kamen erneut Zweifel. Wenn Schäfer betrunken unterwegs gewesen war, dann erschien es Petersen unmöglich, derart konzentriert zu handeln und auf der Flucht keinen Unfall zu bauen. Wenn er es nicht gewesen war, wer war dann mit Schäfers Wagen unterwegs gewesen? Hatte Levke Kühn Schäfer absichtlich betrunken gemacht, um ihm dann den Wagen für ein paar Stunden zu entwenden, den Mord zu begehen und sich danach wieder zu ihm ins Bett zu legen?

Wenn Levke Kühn mit dem Wagen unterwegs gewesen war, müssten sich DNA-Spuren auf dem Fahrersitz befinden. Haare, Hautschuppen, was auch immer.

„Sobald wir die Patronenhülsen untersucht haben und das Waffenöl und die Schmauchspuren abgeglichen haben, wissen wir mehr – das ist nur eine Frage der Zeit, mein lieber Jan.“

„Ich werde klären, ob Schäfer im Besitz einer Waffe ist.“

„Und wenn, wird er es wohl kaum zugeben. Also durchsuchen wir sein Haus, sobald wir einen Durchsuchungsbeschluss von Mahndorf haben.“

Petersen nickte nachdenklich. Er fürchtete, dass die Untersuchungen der KTU viel zu lange dauern würden, denn es war eine Frage der Zeit, bis Schäfers Anwalt die Freilassung seines Mandanten erwirken würde. Es musste schneller gehen. „Du solltest mal die Datenbanken nach einer als vermisst gemeldeten Uzi durchsuchen“, schlug er Johannsen vor.

„Da kann ich auch gleich die Nadel im Heuhaufen suchen“, winkte der Kollege ab.

„Ich hab eben mal im Internet recherchiert.“ Petersen klopfte auf das dicke Blech des geländegängigen VW. „Von diesem Modell hat Volkswagen nur knapp achttausend Exemplare gebaut. Das Ding war ein Flop, heute sind SUVs ein Hit bei allen Hausfrauen, aber 1990 war die Zeit wohl noch nicht reif für einen höher gelegten Kompaktwagen, mit dem man auch mal durch die Pampa rumpeln konnte.“

„Umso sicherer können wir sein, dass es sich bei Torben Schäfers Golf um das Tatfahrzeug handelt.“ Petersen massierte sich die Schläfen. „Aber es passt doch zeitlich nicht. Wenn er selbst den Anschlag verübt hat, muss er verdammt schnell gewesen sein.“

„Genau, und deshalb bist du jetzt an der Reihe, das alles zu klären. Aber noch etwas anderes habe ich vorhin herausgefunden: Natürlich habe ich in dem Auto eine ganze Menge Fingerabdrücke sichergestellt. Nun musst du Torben Schäfer zur erkennungsdienstlichen Maßnahme antanzen lassen, und dann kann ich hier weitermachen.“

„Kein Thema“, nickte Petersen. „Wie lange machst du heute?“

Johannsen zuckte die Schultern. „Meine Frau kennt mich. Sie hat mich mit diesem Job geheiratet. Also bleibe ich so lange, bis ich den Fall geklärt habe.“

„Guter Mann“, grinste Petersen und überquerte den Hof just in dem Augenblick, als der Regen einsetzte.