VIERZEHN

Ostenfeld, 6.30 Uhr

Als sie um halb acht von Kindergeschrei aufgeweckt wurde, überlegte Wiebke schlaftrunken, ob sie sich vielleicht doch einen anderen Weckton auf dem Handy einstellen sollte. Immerhin stand sie am Beginn ihrer Karriere als Kriminalkommissarin und da passte ein Kind einfach nicht in ihre Planung. Am frühen Morgen schon mal gar nicht.

Gähnend griff Wiebke nach dem Handy auf dem Nachtschrank, blinzelte auf das Display und schaltete das nervige Kindergeschrei ab. Nachdem sie die Bettdecke fortgestoßen hatte, trat sie unter die Schräge des kleinen Schlafzimmers und öffnete das Fenster. Tief atmete sie die frische Luft ein. Morgentau glitzerte auf den Wiesen hinter dem Haus. Beim Nachbarn krähte wie immer der Hahn, ansonsten umgaben sie Vogelgezwitscher und die dörflich-friedliche Stille von Ostenfeld. Die Blüten von Heikes liebevoll gepflegten Blumen auf der Veranda setzten wunderschöne, bunte Akzente, und die Welt schien um diese Zeit noch in Ordnung zu sein.

Wiebke streckte sich und wandte sich ab. Im Flur sah sie das gleißende Sonnenlicht durch die Milchglasscheibe der Küchentür. Sie sehnte sich nach einem starken Kaffee. Höchste Zeit, den Tag zu beginnen. Während sie sich an der Kaffeemaschine zu schaffen machte, kreisten ihre Gedanken um den Fall. Im Gegensatz zu gestern hörte sie keine Geräusche aus der Küche. Schlief ihr Vater noch? Auf dem Weg ins Bad machte sie an der Tür des Gästezimmers Halt und lauschte. Absolute Stille, kein Schnarchen, nichts.

„Papa?“, rief Wiebke und klopfte an die Tür. Nachdem sie keine Antwort erhielt, öffnete sie die Tür einen Spaltbreit und spähte in das kleine Zimmer. Das Schlafsofa unter der Schräge war nicht angerührt worden. Akkurat lag die Tagesdecke auf der sorgsam gefalteten Bettwäsche. Wiebke warf einen Blick auf die Garderobe im Flur. Sein Trenchcoat fehlte ebenfalls. War ihr Vater noch immer unterwegs?

Wieder einmal hatte er sich massiv in ihre Arbeit eingemischt, wieder einmal war er losgezogen, um eine seltsame Nacht- und Nebelaktion hochgehen zu lassen. Man hatte Peer Hansen verhaftet, nachdem er beim Zugriff einen Mann erschossen hatte. Womöglich war Ulbricht in der Polizeidirektion, um den Kollegen unter die Arme zu greifen. Wiebke konnte es immer noch nicht glauben, dass der in Husum hoch angesehene Peer Hansen einen Mann erschossen hatte. Wahrscheinlich aus Vorsicht, denn der Mann war ein Mitwisser, der ihm unbequem werden konnte. Doch nun würde man ihn wegen Mordes hinter Gitter bringen, daran würde auch der beste Anwalt der Welt nicht viel ändern können. Dieser Fall nahm seltsame Formen an, fand Wiebke und empfand plötzlich Mitleid für ihre Kollegen in der Husumer Wache, die sich in diesem Augenblick mit ihrem Vater herumschlagen mussten.

„Die werden sich bedanken“, murmelte sie ironisch, während sie sich auf den Weg ins Bad machte. Jetzt brauchte sie erst mal eine Dusche. Während die heißen Wasserstrahlen auf sie niederprasselten, schüttelte sie die Müdigkeit ab und dachte nach. Wer steckte hinter dem Mord an Gabriele Heiners? Streng genommen war sie aus dem Fall raus: Die zweite Tat hatte sich in Glücksburg zugetragen und fiel damit in das Hoheitsgebiet von Hauptkommissar Friedrichs – ohne Wenn und Aber. Dennoch war Wiebke nicht ganz glücklich, den Fall nur zur Hälfte gelöst zu haben. Sie war sicher, dass es zwischen beiden Taten einen Zusammenhang gab. Jemand hatte seinen Nutzen aus dem Tod von Heiners gezogen und dessen hinterbliebene Frau aus dem Weg geräumt, um sich so einen Vorteil zu verschaffen. Doch wer, um Himmels willen, kam für eine solche Tat infrage?

Eilig frottierte sie sich ab, cremte ihre Haut ein und föhnte sich die Haare, bevor sie ein dezentes Make-up auflegte und sich in Slip und BH ins Schlafzimmer begab, wo sie in eine Jeans schlüpfte und ein figurbetontes T-Shirt überstreifte. In der Küche duftete es bereits wundervoll nach frischem Kaffee. Wiebke öffnete das Küchenfenster und atmete die frische Morgenluft tief ein. Gedankenverloren nahm sie am kleinen Esstisch Platz. Während in den Nachrichten auf Radio Schleswig-Holstein noch immer von einem Doppelmord am Ehepaar Heiners die Rede war, grübelte Wiebke angestrengt darüber, wer vom Tod der beiden profitieren würde. Prompt verbrannte sie sich die Lippen an dem Kaffee, dann hatte sie eine Idee. Es gab nur einen Menschen, der jetzt fein raus war. Und sie nahm sich vor, diesem Menschen heute auf den Zahn zu fühlen – ob Friedrichs das nun passte oder nicht.

Polizeiwache Poggenburgstraße, 8.05 Uhr

Wiebke spürte schon beim Betreten des Gebäudes, dass eine eigenartige Stimmung herrschte. Die Kollegen, denen sie auf dem Gang begegnete, nickten ihr grüßend zu und begannen auf der Stelle hinter ihrem Rücken zu tuscheln. Wiebke fürchtete, dass das mit dem Aufenthalt ihres Vaters auf der Wache zu tun hatte. Gleich würde sie es erfahren – im ungünstigsten Fall von Matthias Dierks persönlich.

Petersen kam ihr entgegen. Er schwenkte grinsend seine leere Kaffeetasse. „Moin“, rief er, sichtlich gut gelaunt.

Wiebke blieb stehen. „Moin, Jan. Alles klar bei dir?“

„Aber sowas von, Mädchen.“ Petersen nahm sie am Unterarm und zog sie in die kleine Teeküche. „Sie hat zugesagt“, gab er ihr leise zu verstehen.

„Was?“ Wiebke verstand nicht, wovon ihr Partner sprach. „Wer hat zugesagt? Wovon sprichst du, Jan?“

„Katja“, raunte er ihr zu. „Ich habe sie gefragt, ob sie nicht vielleicht heute Abend schon mit mir essen geht. Und stell dir vor, sie hat ja gesagt.“

„Mensch, Petersen“, rief Wiebke erfreut. „Das ist doch prima!“ Sie beobachtete ihn, wie er sich am Kaffeeautomaten zu schaffen machte.

„Auch einen?“, fragte er, ohne sich zu ihr umzublicken.

„Gern. Ich habe eine verdammt kurze Nacht hinter mir, und mein alter Herr hat unseren Laden seit seiner Ankunft ganz schön aufgemischt.“

Jetzt wandte sich Petersen zu ihr um. „Das kann man wohl sagen.“ Er nahm eine saubere Tasse aus dem Hängeschrank über der Spüle und schenkte Wiebke einen Kaffee ein. „Da nimmt der mal eben den Hansen hops – unglaublich, wirklich. Aber dass der in solchen Geschäften mitmischt, ist schon ein Hammer. Das hat ihm hier keiner zugetraut, wahrscheinlich war er nur aus diesem Grund noch auf freiem Fuß. Da muss erst einer von auswärts kommen, um uns die Augen zu öffnen.“

„Ich versteh nur Bahnhof“, gab Wiebke zu und massierte sich die Schläfen. „Was waren das für Geschäfte, in die Peer Hansen verwickelt war?“

„Waffengeschäfte“, erwiderte Petersen lapidar und füllte seine Tasse, nachdem er Wiebke den ersten Steinbecher gereicht hatte. „Er hat in seiner Werft Baugruppen gefertigt, die in Afghanistan in Panzern und Flugzeugen verbaut werden.“ Er rieb bezeichnend Daumen und Zeigefinger aneinander. „Hat ein Schweinegeld damit verdient, aber das nutzt ihm jetzt auch nichts mehr. Ich hab es von Katja erfahren. Sie hat Hansen in die Mangel genommen. Die Werft gehört seinen Schwiegereltern, seine Ehe ist im Eimer. Und im Falle einer Scheidung hätte er die Werft verloren. Also hat er sich mit den Waffengeschäften wohl ein zweites Standbein aufgebaut, um ein wenig unabhängiger zu sein. Wäre seine Affäre mit Beke Frahm ans Licht gekommen …“ Jan Petersen winkte ab.

„Auch ’ne Art, sich an Hartz IV vorbeizumogeln“, äußerte Wiebke mit einem Kopfschütteln. „Und mein Dad hat ihn dabei erwischt und seine zweite Karriere mit einem einzigen Schlag beendet. Unglaublich.“

„Dafür hätte er einen Orden von Peter Harry Carstensen verdient“, grinste Petersen.

„Lass den Ministerpräsidenten da raus, sonst wird mein alter Herr noch übermütig“, warnte Wiebke lächelnd. Seite an Seite verließen sie die kleine Teeküche und betraten das gemeinsame Büro.

„Mensch, Kind, wo bleibst du denn?“ Norbert Ulbricht rutschte von der breiten Fensterbank, auf der er voller Ungeduld gehockt hatte. Zu Wiebkes Verwunderung wirkte er kein bisschen übernächtigt. Er war ein zäher Knochen und ließ erst dann locker, wenn alle Täter hinter Gittern saßen. Und genau das war der Grund für ihre Mutter gewesen, sich von ihm zu trennen. Doch die bedrückende familiäre Vergangenheit rückte in diesem Augenblick in den Hintergrund. Ulbricht fuchtelte mit den Händen in der Luft herum. „Es gibt Arbeit satt. Aber alles nach der Frühbesprechung. Ich habe schon mit Dierks gesprochen.“

„Worüber?“, fragte Wiebke und setzte sich an ihren Schreibtisch, wo sie betont gemächlich ihren Computer einschaltete und sich ihrem ersten Bürokaffee widmete.

„Das wird er dir gleich alles selbst sagen.“ Ulbricht blickte zu Petersen hinüber, der das Vater-Tochter-Gespräch sichtlich amüsiert von seinem Schreibtisch aus verfolgte. Er blickte auf die Uhr an der Wand. „Nur noch drei Minuten, wir sollten langsam in den Besprechungsraum, Leute!“

„Papa – was soll dieser Stress?“

„Kannst beruhigt sein, Kind: Die Flensburger sind nicht da. Ich bin Friedrichs auch nicht böse, dass er nicht zeitig aus dem Bett gekommen ist. Also – der frühe Vogel fängt den Wurm!“

„Der frühe Vogel kann mich mal“, konterte Wiebke unbeeindruckt, während sie sich über den Elan wunderte, den ihr Vater in seiner Freizeit an den Tag legte.

„Das ist mein Spruch, jedenfalls normalerweise“, warf Petersen ein.

„Was ist jetzt mit Peer Hansen?“, wechselte Wiebke das Thema.

„Sitzt in Untersuchungshaft. Sieht nicht gut aus für den armen Kerl.“ Ulbricht zog sich einen der Besucherstühle heran.

„Armer Kerl?“

Wiebke glaubte, sich verhört zu haben.

„Hansen ist einer der reichsten Männer in Husum.“

„Jetzt hat er nichts mehr“, behauptete ihr Vater. „Die Schwiegereltern dürften ihn inzwischen enterbt haben, auf dem Thron in der Werft sitzt er auch nicht mehr, und die andere Geschäftsidee hat sich auch nicht so nach seinen Wünschen entwickelt. C‘est la vie, jedenfalls hat er jetzt ein paar Jahre Zeit darüber nachzudenken, ob es das alles wert war, einen Menschen zu erschießen.“

„Apropos“, unterbrach Wiebke ihn. „Wer war denn der Mann, den er erschossen hat?“

„Sein Kurier. Ein Zeitsoldat, der regelmäßig Transporte nach Afghanistan organisiert hat. In Oster-Ohrstedt geht es wohl um die Logistik für den Bundeswehreinsatz in Afghanistan, deshalb passte es ganz gut in Hansens Vorstellungen, sich einen Nestbeschmutzer einzukaufen, der ihm das Zeug zum Kunden schaffte. Hat sich wohl etwas dazu verdient, indem er Hansens Sonderfracht mitnahm. Soll man auch nicht machen, so was.“ Norbert Ulbricht schüttelte den Kopf. „Geht immer irgendwann schief, und wahrscheinlich hätte man ihn über kurz oder lang unehrenhaft entlassen.“

„So, jetzt bin ich gespannt, was die Morgenrunde bringt“, meldete sich Petersen zu Wort. Er leerte den Kaffee, packte seine Unterlagen zusammen und erhob sich. „Mal sehen, ob ich heute Abend in Ruhe mein Date genießen kann.“ Bei den letzten Worten zwinkerte er Wiebke verschwörerisch zu.

Fast wunderte sich Wiebke ein wenig, dass ihr der Erste Kriminalhauptkommissar Matthias Dierks nicht in den Arm flog, als sie gemeinsam mit Petersen und Ulbricht senior das Besprechungszimmer betrat.

„Guten Morgen, Frau Ulbricht“, sagte er mit überschwänglicher Freundlichkeit. Johannsen saß bereits am Tisch, und Wiebke blieb nicht verborgen, dass er ihrem Vater zuzwinkerte. Die beiden schienen inzwischen feste Freunde geworden zu sein, und unwillkürlich fragte sich Wiebke, was sie verpasst hatte, als sie die Nacht in Ostenfeld verbrachte.

„So, dann wollen wir auch schon, viel Zeit möchte ich heute nämlich nicht verlieren“, eröffnete Dierks die kleine Runde, nachdem er die Tür des Raumes geschlossen und sich gesetzt hatte. „Das war eine ganz hervorragende Arbeit, Frau Ulbricht, gratuliere zu Ihrem Erfolg!“

Wiebke, die immer noch nicht recht wusste, wie ihr geschah, schwieg. Sie hatte beschlossen, die Sache auszusitzen. Irgendwann würde man ihr schon sagen, was denn so toll gelaufen war, von dem sie nichts wusste.

„Sie werden sicherlich in die Fußstapfen Ihres Vaters treten, und ich werde mich für eine Beförderung starkmachen, wenn der Fall abgeschlossen ist, darauf gebe ich Ihnen mein Ehrenwort. Was Sie in Flensburg herausgefunden haben, ist beachtlich.“

„Ich habe meinen Vater abgeholt“, wagte Wiebke nun doch anzumerken.

„Das ist richtig. Und dabei haben Sie, so ganz nebenbei, eine heiße Spur aufgegriffen. Was denken Sie, wer hinter dem Mord an Gabriele Heiners steckt?“

„Darauf wollte ich sowieso zu sprechen kommen“, sagte Wiebke und klappte den Ordner auf, den sie vor sich auf den Tisch gelegt hatte. „Es muss jemand hinter dem Mord stecken, der vom Tod beider, und ich betone, beider, Eheleute profitiert. Torben Schäfer ist für den Tod von Holger Heiners verantwortlich, wie wir inzwischen wissen. Doch ich wage zu behaupten, dass er nicht für das Attentat auf Gabriele Heiners in Glücksburg verantwortlich zu machen ist. Die Gründe kennen wir: Er war zum Tatzeitpunkt stark alkoholisiert und verbrachte die Nacht mit Levke Kühn, die uns diese Aussage auch schon bestätigt hat. Kommen wir zurück zum Ehepaar Heiners: Sie waren wohlhabend, die Immobilienfirma liegt gut im Rennen und erzielt traumhafte Rankingwerte. Sicherlich ein Filetstück für jemanden, der sich eine Existenz aufbauen und ins gemachte Bett legen möchte.“ Wiebke unterbrach kurz und blickte in die fragenden, teils zustimmenden Mienen der Kollegen. „Kinder haben die Heiners nicht, und Holger Heiners saß fest genug im Sattel, um die lästige Konkurrenz auf die nötige Distanz zu halten. Also drängt sich mir die Frage auf, wer auf das Unternehmen scharf sein könnte.“ Wieder legte Wiebke eine Pause ein, bevor sie fortfuhr: „Mein Verdacht fällt auf die rechte Hand von Holger Heiners, auf Christian Rohde. Er führt das Unternehmen zurzeit und hat sicherlich Ambitionen, nach dem Tode seiner Chefs das Ruder zu übernehmen. Wie wir inzwischen wissen, war Rohde so etwas wie ein Sohn für Heiners. Die beiden hatten ein freundschaftliches Verhältnis, fast eine Vater-Sohn-Beziehung zueinander. Zumindest geht dies aus dem Bericht der Flensburger hervor, die sich um die Mitarbeiterbefragung gekümmert haben. Wir sollten Rohde also auf den Zahn fühlen.“

Dierks nickte begeistert, und sein Gesicht drückte eine Stimmung aus, als wäre er bereit den restlichen Arbeitstag für frei zu erklären und die Sektkorken knallen zu lassen. „Dann wissen Sie ja, was zu tun ist“, verkündete er mit feierlicher Miene und beendete die Frühsitzung.

Nun räusperte sich Piet Johannsen. „Aber bevor ihr losfahrt, kommt noch mal in meinem Büro vorbei. Ich warte auf ein paar interessante Berichte. Wenn ich die habe, könnt ihr einen Deckel auf den Fall machen.“

Wiebke tauschte einen Blick mit Petersen, der unmerklich die Mundwinkel nach unten zog und ein Nicken andeutete. Als Wiebke zu ihrem Vater blickte, grinste er nur. Wiebke fragte sich, was er die ganze Nacht über getrieben hatte. Sie beschloss, ihn später darauf anzusprechen.

Schleswig, Süderholmstraße, 10.10 Uhr

Die kleinen Häuschen der ehemaligen Fischersiedlung Holm gruppierten sich ringförmig um den Friedhof, der das Zentrum des Ortsteils darstellte. Langsam rollten die Einsatzfahrzeuge über das blitzblanke Kopfsteinpflaster. Während sich draußen auf der Schlei die ersten Kanufahrer auf den Weg machten, erschienen Wiebke die engen Straßen von Holm noch in einer Art Dornröschenschlaf dazuliegen. Erst als sie die erste Touristengruppe erblickte, die wild fotografierend durch Holm marschierte, erwachte der kleine Ortsteil der Schleistadt aus dem Dämmerschlaf. Einst eine Insel in der Schlei, gab es längst eine Verbindung zum Festland und zur Innenstadt von Schleswig, die nur gut zehn Gehminuten von diesem malerischen Ort entfernt lag. Bei der Gründung der Siedlung vor mehr als tausend Jahren hatte es weder Autos noch Parkplatzprobleme gegeben – heute war das anders. Während man den Urlaubern empfahl, den ältesten Stadtteil Schleswigs zu Fuß aufzusuchen, fuhren die zivilen Einsatzwagen der Husumer Polizei gleich bis vor das windschiefe Haus in der Süderholmstraße und blockierten die Fahrbahn.

Ein wenig fühlte sich Wiebke hier wie in eine andere Zeit versetzt, und nur der Umstand, dass sie dienstlich hier war und die Festnahme des Mörders von Gabriele Heiners unmittelbar bevorstand, hielt sie davon ab, tief durchzuatmen und die Gegend zu genießen.

„Allens kloar?“, riss sie Petersens sonore Stimme aus den Gedanken.

Wiebke nickte.

„Sicher.“ Sie löste den Sicherheitsgurt und öffnete die Fahrertür. Ein frischer Wind fegte ins Wageninnere. „Dann mal auf in den Kampf.“

Im zweiten Wagen saßen Johannsen und ihr Vater, das Schlusslicht bildete ein Streifenwagen der Kollegen aus Schleswig.

„Hier ist es“, bemerkte Petersen und deutete auf eines der Fischerhäuschen. Die Fassade strahlte ihnen blütenweiß entgegen, während Tür- und Fensterrahmen in einem maritimen Blau leuchteten. In den Blumenkästen vor den kleinen Fenstern gab es eine wahre Geranienpracht zu bewundern.

Wiebke stellte fest, dass es kein Namensschild neben dem Eingang gab. Sie klingelte. Es dauerte einen Augenblick, bis sich im Innern des Hauses etwas tat, dann blickte sie in das sichtlich verschlafene Gesicht von Christian Rohde. Die dunklen Haare standen in alle Richtungen vom Kopf ab, er war unrasiert und trug nur einen Morgenmantel. „Ja bitte?“, fragte er, während er den Beamten entgegenblinzelte. Dann schien er Wiebke erkannt zu haben. Seine Miene verfinsterte sich. „Sie schon wieder?“

Wiebke ging nicht auf die Bemerkung ein. „Dürfen wir einen Augenblick hereinkommen?“

Rohde zögerte. Er blickte an Wiebke und Petersen vorbei und erkannte Ulbricht senior und Piet Johannsen, dahinter die Kollegen aus Schleswig. „Großaufgebot?“, fragte er spöttisch und gab den Eingang frei. „Wenn‘s sein muss.“

„Müssten Sie nicht längst im Büro sein?“, erkundigte sich Wiebke beiläufig.

„Heute nicht – ich habe frei.“ Er führte seine Besucher in eine urgemütlich eingerichtete Stube. Eine gelungene Kombination aus antiken, gut erhaltenen Möbeln und modernen Elementen bildete eine eigenständige Harmonie. Wiebke hatte ihm diesen Geschmack gar nicht zugetraut – sie hätte schwören können, dass ein Mann wie Christian Rohde in einem kühlen Designer-Penthouse über den Dächern von Flensburg lebte. Wohnen in Glas, Stahl und kaltem Leder. Unpersönlich, aber ungemein stylish. Doch die Überprüfung von Rohdes Anschrift hatte sie eines Besseren belehrt.

Rohde setzte sich in einen Sessel und bot den Besuchern Platz an. Doch alle zogen es vor, stehen zu bleiben.

„Also“, sagte der Immobilienkaufmann gedehnt. „Was kann ich für Sie tun?“ Nun lächelte er sein bewährtes Haifischlächeln, das nur ein paar Immobilienkaufleute und einige Gebrauchtwagenverkäufer so perfekt beherrschten wie er. „Bitte stellen Sie mir keine komplizierten Fragen – es ist noch früh am Tag, und meine Nacht war kurz.“ Rohde grinste und betrachtete Wiebke mit einem anzüglichen Blick, der sie nur anwiderte. „Wenn Sie verstehen?“

„Wir werden uns kurzfassen“, versprach Wiebke und gab Petersen ein Zeichen.

„Herr Rohde, wo waren Sie gestern Vormittag um halb elf?“

„Ich hatte einen Termin mit einem Kunden“, antwortete Rohde, nachdem er kurz nachgedacht hatte. „Es ging um ein exklusives Objekt in Glücksburg, und der Mann ist sehr solvent, wenn Sie verstehen?“

„Wir sind ja nicht blöd, auch wenn wir bei der Polizei arbeiten“, knurrte Petersen. „Sicherlich können Sie uns den Namen und die Kontaktdaten Ihres Kunden aufschreiben?“

„Selbstverständlich. War es das?“

„Leider nicht, Herr Rohde“, mischte sich nun auch Johannsen ein. „Eine kriminaltechnische Untersuchung hat ergeben, dass Sie mit dem Fahrzeug von Torben Schäfer unterwegs waren.“

„So?“ Christian Rohde gab sich Mühe, überrascht zu klingen. „War ich das?“

„Allerdings. Ein DNA-Abgleich hat das zutage gebracht.“

„Darf ich fragen, woher Sie meine DNA haben?“

„Natürlich“, nickte Ulbricht senior und trat einen Schritt vor. „Sie waren so freundlich, mir Ihren Kugelschreiber zu leihen, als ich Sie in Ihrem Büro besucht habe. Neben den Fingerabdrücken auf dem Griffstück konnten wir Ihre DNA entnehmen, da Sie den Stift im Mund hatten – eine blöde Angewohnheit, auf Stiften herumzukauen, finden Sie nicht?“

Rohdes Gesichtszüge entgleisten kurz, dann hatte er sich wieder unter Kontrolle. „Warum sollte ich mit dem Wagen dieses Spinners unterwegs gewesen sein?“

„Sie kennen ihn also?“, stellte Wiebke fest.

„Natürlich“, nickte Rohde. „Wer kennt ihn nicht? Hat uns das Leben oft genug schwer gemacht, wenn wir neue Projekte planten, die auf der grünen Wiese angesiedelt werden sollten.“

„Na, da kommt es Ihnen sicherlich sehr entgegen, dass er nun hinter schwedischen Gardinen sitzt“, vermutete Petersen. „Und mir drängt sich der Verdacht auf, dass Sie ein wenig nachgeholfen haben könnten.“

„Das müssen Sie mir beweisen“, konterte Rohde.

„Nichts lieber als das.“ Johannsen schlug einen Schnellhefter auf und präsentierte dem Immobilienkaufmann eine Liste.

Er würdigte sie keines Blickes. „Und was soll das sein?“

„Eine Auswertung Ihres Handy-Providers. Wir können bis auf wenige hundert Meter exakt rekonstruieren, wann Sie sich an welchem Ort aufgehalten haben. Ein mehrseitiger Verbindungsnachweis hängt dem Bericht an.“

„Na bitte – dann wissen Sie sicherlich auch, dass ich gestern Vormittag in Glücksburg unterwegs war.“

„Im Haus Ihres verstorbenen Chefs?“ Ulbricht senior zog spöttisch eine Augenbraue hoch. „Um die Witwe von ihrer Trauer um den verlorenen Mann zu erlösen?“

„Warum sollte ich das tun?“

„Um die Firma zu übernehmen. Im Falle des Ablebens von Holger und Gabriele Heiners werden Sie zum neuen Inhaber ernannt – das hat uns heute Morgen ein Notar in Flensburg bestätigt“, fügte Wiebke hinzu. Sie nickte den Kollegen vom Einsatzstreifendienst zu. Der ältere der beiden uniformierten Kollegen zückte ein Formular und präsentierte es Christian Rohde.

„Was ist das?“

„Ein Durchsuchungsbeschluss.“

„Darf ich auch wissen, was Sie in meinem Haus suchen?“

„Eine als gestohlen gemeldete Maschinenpistole der Marke Uzi, beispielsweise“, erklärte Wiebke. „Wir suchen die Waffe, mit der Gabriele Heiners erschossen wurde, und wir vermuten Sie in Ihrem Besitz.“

Rohde lachte weltmännisch. „Das ist absurd, meine Herren, meine Dame. Aber bitte – tun Sie sich keinen Zwang an.“ Er machte eine ausladende Handbewegung. „Sehen Sie sich ruhig um.“

Schritte näherten sich von der Diele. Dann erschien eine verschlafen wirkende Levke Kühn in der Stube. Sie trug einen hüftkurzen Morgenmantel in glänzendem Satin. „Schatz, was ist denn hier los?“, fragte sie, dann erkannte sie Wiebke und Petersen und stöhnte gequält auf. „Oh mein Gott …“, stieß sie hervor.

„Nein“, grinste Petersen. „Nur die Polizei. Moin, Frau Kühn. Das ist aber eine Überraschung, Sie hier anzutreffen. Wohnen Sie hier?“

Die junge Frau tauschte einen verunsicherten Blick mit Christian Rohde, doch der schwieg beharrlich.

„Kaum ist Torben Schäfer im Gefängnis, treffen wir Sie hier an“, bemerkte Wiebke. „Können Sie uns das erklären?“

Petersen nickte den Streifenpolizisten zu, und sie setzten sich in Bewegung und begannen mit der Hausdurchsuchung.

Levke Kühn setzte sich auf die Sessellehne und schmiegte sich an Rohde.

„Wir sind zusammen, was ist daran verwerflich?“, fragte der Immobilienkaufmann.

„Daran ist im Grunde nichts auszusetzen, allerdings wissen wir, dass Frau Kühn eine Liaison mit Holger Heiners hatte. Nach seinem Tod flüchtete sie sich in die Arme von Torben Schäfer. Nun, wo er in Untersuchungshaft sitzt, treffen wir sie hier bei Ihnen an.“ Petersen legte den Kopf schräg. „Was denken Sie? Wo werden wir sie das nächste Mal sehen? Ich meine, wenn wir Herrn Rohde verhaftet haben?“ Petersen wandte sich an die Referendarin. „Wer steht noch auf Ihrer Liste, Frau Kühn?“

„Das geht Sie nichts an“, zischte Levke Kühn. Ihre Augen funkelten die Polizisten böse an, doch Wiebke ahnte, dass sie nun am Ende war.

„Es war von Anfang an ein abgekartetes Spiel“, polterte Ulbricht senior in die Stille. „Sie beide“, er deutete auf das spärlich bekleidete Paar, „Sie sind das eigentliche Paar, das belegen die Verbindungsnachweise Ihrer beiden Handys, also reden Sie sich nicht heraus. Dafür haben Sie sogar in Kauf genommen, dass es zwischen Frau Kühn und Holger Heiners, aber auch Torben Schäfer zu sexuellen Handlungen kam.“ Ulbricht schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, ob ich das als glückliche Beziehung bezeichnen würde, aber meine Meinung ist sicherlich zweitrangig. Was tut man nicht alles, um zu Macht und Reichtum zu kommen?“ Ulbricht trat einen Schritt vor und beugte sich zu Levke Kühn herab. „Sie haben mit Heiners und danach mit Schäfer nur angebandelt, um Ihnen und Herrn Rohde den Weg frei zu machen.“

„Es war eine leichte Übung für mich, denn Schäfer war so schwanzgesteuert, dass es mir nicht schwerfiel, ihn abzulenken. Und es war genauso leicht, die Haustür einen Spalt offen zu lassen, sodass Christian sich den Schlüssel vom Brett nehmen konnte, nachdem ich mit Schäfer im Schlafzimmer verschwunden war.“

„Ein ziemlich großes Opfer, mit einem Mann zu schlafen, nur damit Ihr Freund sich dessen Auto für einen Mordanschlag leihen konnte, um den Verdacht auf Schäfer zu lenken“, gab Wiebke zu bedenken, dann wandte sie sich an Christian Rohde. „Warum musste es eigentlich ausgerechnet der Wagen von Torben Schäfer sein, den Sie für die Fahrt zum Anwesen der Heiners’ nutzten?“

Jetzt grinste Rohde diabolisch. „Das fragen Sie nicht ernsthaft, oder? Ich war sicher, gesehen zu werden. In einer kleinen Seitenstraße von Glücksburg, in einer Sackgasse noch dazu, geht so gut wie nichts ohne Zeugen. Die Leute sind neugierig und lästern gern. Sie stehen hinter ihren Gardinen, sobald ein fremdes Auto am Haus vorbeifährt. So stellte ich mir schon lange vor dem Mord an Gabriele die Frage, wen ich als Bauernopfer nehmen sollte. Lange musste ich aber nicht überlegen, denn Schäfer war mir ein Dorn im Auge. Ich war sicher, dass er mir das Leben schwer machen würde, unabhängig davon, dass Holger nicht mehr lebt. Es war plausibel, dass ein fanatischer Umweltschützer den Heiners-Clan ausrottet, nur um den Dockkoog zu erhalten, finden Sie nicht?“

Wiebke blickte Levke Kühn nachdenklich an. „Dann hätten Sie vielleicht weniger mit ihm trinken sollen“, merkte sie an. „So war Schäfer nachweislich zum Tatzeitpunkt nicht in der Lage, ein Fahrzeug zu lenken, schon gar nicht unfallfrei bis Glücksburg und wieder zurück.“

„Ich will meinen Anwalt sprechen“, murmelte Christian Rohde, ohne Wiebke dabei anzusehen.

„Das können Sie von der Wache aus tun“, nickte Petersen. „Es ist vorbei, also wird Ihnen auch kein Anwalt mehr helfen können.“

Levke Kühn schwieg. Sie starrte betroffen zu Boden und schüttelte langsam den Kopf.

„Sie beide sollten sich jetzt etwas anziehen“, riet Wiebke. „Wir verhaften Sie, Christian Rohde, wegen des dringenden Tatverdachts, den Mord an Gabriele Heiners verübt zu haben. Unsere zusammengetragenen Beweise genügen für eine Inhaftierung, und alles Weitere wird der Richter entscheiden. Und Sie“, Wiebke wandte sich an Levke Kühn, „begleiten uns wegen Beihilfe zu mindestens einem Mord.“

Levke Kühne blickte aus tränenverschleiertem Blick zu Christian Rohde auf. Er presste die schmalen Lippen zusammen und deutete ein Nicken an. Als Petersen dem seltsamen Paar die Handschellen anlegte, leistete niemand Widerspruch.