EINS

Husum, Badestrand Dockkoog, 7.30 Uhr

Als sie die Deichkrone erreicht hatte, bot sich ihr ein einzigartiger Ausblick auf das Meer. Ja, dachte sie zufrieden, so fühlt sich Freiheit an. Wie jeden Samstag hatte sie sich in aller Frühe aufgemacht, um ein paar Runden am Husumer Badestrand zu joggen. Wiebke Ulbricht verlangsamte ihre Schritte und war froh, ihren Puls wieder unter Kontrolle zu haben. Ein sanfter Wind strich über die Grasbüschel auf dem Deich. Die Luft roch frisch und würzig, genau so liebte sie es. Langsam eroberte die See das Watt zurück, und nur ein sanfter Wind strich über die Grasbüschel auf dem Deich. Eine Möwe kreischte über ihrem Kopf und zog dann in östliche Richtung davon.

Die junge Kommissarin genoss die Ruhe und Einsamkeit, die hier herrschten, bevor die ersten Badegäste eintrafen.

Um diese Zeit lagen die Strandkörbe noch verlassen da. Wiebke genoss die Stille, die nur vom Rauschen des Meeres überlagert wurde. Soeben brach die Sonne durch die Wolken und zauberte ihr einzigartiges Licht auf die Wiesen und den Strand. Das morgendliche Joggen war für Wiebke Ulbricht Balsam auf der Seele und der nötige Ausgleich, um von der Hektik im Job abzuschalten.

Neben ihr lag jetzt das „Nordsee-Hotel“. Bald schon würde sich hier etwas tun, und Wiebke wusste nicht, ob sie die geplanten Umbauarbeiten als gut oder schlecht bewerten sollte. Ein Investor plante, am Dockkoog einen Ferienpark zu errichten. Dazu würden das alte Hotel und der benachbarte Campingplatz für immer weichen müssen. Während die Stadtväter einen Vorteil in den Plänen des Bauherrn sahen – immerhin sorgte er mit seiner Investition für zusätzliche Gewerbesteuer und Arbeitsplätze – gingen Naturschützer schon seit mehr als einem Jahr gegen das Bauvorhaben auf die Barrikaden. Es verging kein Tag, an dem es keinen Artikel über das geplante Ferienressort am Dockkoog in den Husumer Nachrichten gab. Nach dem augenblicklichen Stand der Dinge sollte das alte „Nordsee-Hotel“ dem Erdboden gleichgemacht werden. Doch der Besitzer weigerte sich, zu verkaufen. Wahrscheinlich, so unterstellte man ihm hinter vorgehaltener Hand, wollte er den Preis für sein Grundstück damit in die Höhe treiben, um sich dann zur Ruhe zu setzen.

Eine Bürgerinitiative wehrte sich gegen das Ferienressort und machte in Husum Stimmung, doch der Investor, ein Immobilienkaufmann aus Flensburg, ließ sich vom Einsatz der um die Umwelt besorgten Bürger nicht von seinem Vorhaben abbringen. Auch die Unterschriftensammlung der Menschen, die sich gegen das Ressort am Badestrand ausgesprochen hatten, konnte den Immobilienkaufmann nicht dazu bewegen, an einer anderen Stelle zu bauen. Nur der Besitzer des „Nordsee-Hotels“ stellte noch eine Hürde dar.

Während Wiebke weiterjoggte, fragte sie sich, wann er dem Druck nachgab und endlich verkaufte. Im Grunde war es ihr egal, ob man hier baute oder nicht. Sicherlich brachten solche Änderungen eine Menge Vor-, aber auch viele Nachteile. Doch sie war Polizistin und kannte sich weder mit dem Geschäft der Spekulanten, noch mit der Ökologie genügend aus, um sich ein Urteil zu erlauben.

Außerdem war ihr Privatleben turbulent genug, hatte sie doch die letzte Nacht mit ihrem Freund Tiedje verbracht. Er war wieder einmal völlig unangemeldet bei ihr zu Hause in Ostenfeld aufgetaucht, hatte Blumen und eine Flasche Wein mitgebracht und sie mit seinem treuen Hundeblick angeschaut, sodass sie ihn nicht fortschicken wollte. Unwillkürlich zweifelte Wiebke daran, ob „Freund“ die richtige Bezeichnung für ihr Verhältnis zu Tiedje war. Zwei Jahre lang waren sie ein Paar, und Wiebke war fest davon überzeugt gewesen, an seiner Seite alt zu werden. Doch er hatte darunter gelitten, als sie die Stelle bei der Kripo in Husum angenommen hatte. Zu wenig Freizeit, und wenn ein Einsatz anstand, kam es durchaus vor, dass sie sich ein paar Tage lang überhaupt nicht sahen. Die freie Zeit hatte Tiedje genutzt, um sich ein neues Mädchen anzulachen. Wiebke hatte er damit das Herz gebrochen. Sie hatte wochenlang darunter gelitten und sich fest vorgenommen, sich nie wieder mit ihm einzulassen. Doch irgendwann war er bei ihr aufgekreuzt und hatte sie überzeugt, dass sie die richtige Frau für ihn sei. Und zwar nur sie.

Dennoch war das Verhältnis seitdem angespannt. Wie sagte man neudeutsch? Sie führten eine On-Off-Beziehung. Eine feste Beziehung hatten sie nicht mehr. Nur ab und zu, wenn sie sich nach einer starken Schulter und körperlicher Nähe sehnte, dann sahen sie sich und verbrachten auch eine Nacht zusammen. Am nächsten Morgen verschwand er dann wieder nach Kiel, wo er lebte. Sie wusste nicht, was er dort trieb, und wenn sie ehrlich zu sich war, dann wollte sie es auch gar nicht wissen. Wiebke versuchte sich damit abzufinden, Single zu sein. Sie hatte in den letzten Monaten einen unsichtbaren Schutzwall um sich errichtet, um Tiedje auf der nötigen Distanz zu halten. Auf gar keinen Fall wollte sie zu viele Gefühle in ihn investieren. Nicht, um eines Tages wieder von ihm enttäuscht zu werden.

Wiebke verlangsamte ihre Schritte und sog die würzige Meeresluft tief in ihre Lungen ein. Sie ließ den Blick über die Stelle schweifen, an der das Ferienressort entstehen sollte. In der Zeitung hatte sie Fotomontagen gesehen, in denen man darstellte, wie es hier bald schon aussehen könnte.

Das dumpfe Tuckern eines Schiffsdiesels riss sie aus den Gedanken. Wiebke blickte auf die Nordsee hinaus. Die „Argus“, ein im Husumer Hafen beheimateter Krabbenkutter, ging auf Fang. Schemenhaft erkannte sie den Käpt‘n auf der Brücke. Während der 250 PS Cummins-Diesel gegen die Wellen anstampfte, klappten die Arme der Fangnetze über die Bordwände. Wenn der siebzehn Meter lange Kutter von seiner Fahrt zurückkehrte, würde man die fangfrischen Fische und Krabben sofort auf die wartenden Lastwagen verfrachten.

Auch wenn die Klagen der Fischer immer lauter wurden, so hatte der Anblick des blauen Kutters doch etwas Romantisches, fand Wiebke. Sie trabte weiter, ohne nach vorn zu blicken.

Prompt prallte sie mit einem stabilen Mann zusammen. Ein keuchender Laut kam über seine spröden Lippen, während er Wiebke böse anblickte.

„Haben Sie keine Augen im Kopf?“, fragte er.

„Entschuldigung, aber ich war in Gedanken“, erwiderte Wiebke peinlich berührt.

„Schon gut, ist ja nichts passiert.“ Er lächelte versöhnlich.

Wiebke glaubte zumindest, dass der Mann lächelte. Denn von seinem runden Gesicht konnte sie nicht viel erkennen – es verbarg sich hinter einer dunkelblauen Pudelmütze, buschigen Augenbrauen und einem dichten Vollbart. Im Mundwinkel klemmte eine längst erkaltete Pfeife. Mit seiner blauweiß gestreiften Arbeitsjacke, den Gummistiefeln und der verblichenen Hose sah der Mann aus, als käme er geradewegs von Bord der „Argus“.

Wiebke schätzte ihn auf knapp zwei Meter; sein Alter vermochte sie nur grob zu schätzen und sie tippte, dass er Mitte dreißig war. Der Bart machte ihn älter.

„Ist das nicht ein Jammer?“, fragte der Hüne jetzt und blickte an Wiebke vorbei. Bei jedem seiner Wörter wippte die Pfeife zwischen seinen Lippen.

Sie wusste nicht, wovon der Fremde sprach und wandte sich um. Schräg hinter ihr lag das „Nordsee-Hotel“.

„Was ist ein Jammer?“

„Na, das alles wird bald der Vergangenheit angehören. Und die Umwelt gleich mit.“ Er schüttelte den Kopf, so, als könne er seinen Worten selbst keinen Glauben schenken. „Es ist ein Skandal allererster Güte, was hier passieren soll.“

Jetzt verstand Wiebke. „Sie meinen die Baupläne für das Ferienressort?“

Er nickte mit ernster Miene. „Da kann man schon mal unkonzentriert über den Deich joggen, wie Sie es getan haben. Dieser Heiners ist ein aalglatter Geschäftsmann. Er schert sich nicht darum, was er hier anrichtet, solange er seine Gewinne optimieren kann. Als wenn seine Bausünden auf Sylt nicht genügen würden.“

„Sylt?“

„Ja, Heiners hat eine ähnliche Siedlung vor einigen Jahren auf Sylt verbrochen. Die Natur hat eben den Kürzeren gezogen, so einfach ist das.“

„Und Sie setzen sich für den Schutz der Natur hier am Dockkoog ein“, mutmaßte Wiebke, die eigentlich nicht vorhatte, sich mit einem fremden Mann über die Pläne eines Immobilienmaklers zu unterhalten. Längst schon war der Dockkoog zum Politikum geworden.

„Sozusagen, ja.“

Er hielt Wiebke seine große Pranke hin. Sie war nicht grob, sondern trotz ihrer Größe fast feminin. Den Tick, bei einem Mann zuerst auf die Hände zu achten, hatte sie wohl von ihrer Mutter geerbt, die immer gesagt hatte, dass die Hände eines fremden Mannes ganze Geschichten erzählen konnten. Wiebke betrachtete unauffällig die gepflegten Hände ihres Gegenübers. Diese Hände waren keine harte Arbeit gewohnt.

„Mein Name ist Torben Schäfer. Und ich habe die Bürgerinitiative ,Rettet den Dockkoog‘ ins Leben gerufen.“ Nun grinste er.

„Und dabei bin ich schon des Öfteren mit Heiners angeeckt.“

„Kann man davon denn leben?“

„Das ist Ehrenamt.“ Schäfer winkte ab. „Im wahren Leben bin ich Lehrer an der Hermann-Tast-Schule, aber der Erhalt des Naturschutzgebietes am Dockkoog ist meine Herzensangelegenheit.“

Wiebke tippte darauf, dass Schäfer Biolehrer war, schwieg aber. Wahrscheinlich mussten seine Schüler zahlreiche Wattwanderungen mit ihm unternehmen.

„Nun denn, ich muss weiter. Aber wenn Sie mögen, kommen Sie doch einfach am nächsten Freitag in die Aula unserer Schule. Dort findet eine Podiumsdiskussion statt. Sogar Heiners hat sein Kommen angekündigt.“ Schäfer strich sich durch den pelzigen Bart und griente kampflustig. „Na, der soll sich mal warm einpacken.“

Wiebke lächelte freundlich zurück, murmelte „ich überleg es mir“ und verabschiedete sich von Torben Schäfer. Sie mochte Menschen, die wussten, was sie wollten. Und zu dieser Sorte gehörte der Lehrer ganz bestimmt. Vielleicht sollte sie sich die Podiumsdiskussion wirklich anschauen.