VIER

Er war das stundenlange Autofahren nicht mehr gewohnt. Doch er war sicher, das Richtige zu tun. Und so war er im Morgengrauen aufgebrochen, nachdem er drei Tassen schwarzen Kaffee in sich hineingekippt hatte. An einer Tankstelle auf dem Weg zur Autobahn versorgte er sich mit belegten Brötchen und einem weiteren Coffee to go, bevor er die Reise antrat, die wahrscheinlich den Rest seines Lebens verändern sollte.

Er, der alte Mann, war gespannt, wie es ihr in den letzten Jahren ergangen war. Viel wusste er nicht von ihr, darüber war er sich im Klaren. Und er wusste auch, dass das zum Teil seine eigene Schuld war. Er hatte den Kontakt zu ihr einschlafen lassen und sich stattdessen total verbittert in die Arbeit gestürzt.

Alles nur, um sein Privatleben zu vergessen.

Aber er war müde geworden, hatte es satt, die Vergangenheit zu verdrängen. Deshalb machte er sich jetzt endlich auf den Weg zu ihr. Er wollte Klarheit haben, wollte wissen, ob sie sich noch zu ihm bekennen wollte. Lange hatte er gezögert und mit sich gehadert. Was, wenn sie nicht auf ihn gewartet hatte, wenn sie sich damit abgefunden hatte, dass er aus ihrem Leben verschwunden war?

Wie würde er reagieren, wenn sie ihm die kalte Schulter zeigte und nichts mehr von ihm wissen wollte, weil sie längst in einem anderen, in ihrem eigenen Leben angekommen war?

Selbstzweifel hatten ihn geplagt, doch schließlich siegte der Wille, sie wiederzusehen. Und so hatte er sich auf den Weg in den Norden gemacht. Und wenn sie ihn fortschicken würde, dann hatte er wenigstens ein paar freie Tage, die er an der See verbringen konnte, bevor er verletzt und gedemütigt den Heimweg antreten würde.

Doch insgeheim hoffte er, dass es nicht so sein würde.

Hermann-Tast-Schule Husum, 10.35 Uhr

Einige Schüler beäugten sie neugierig, als sie durch die gläsernen Türen das Hauptgebäude der Schule am Bahndamm betraten. Mit dem schicken Backsteinsockel, den modernen Wellblechfassadenteilen und den großen Glasflächen erinnerte das Gebäude äußerlich eher an den edlen Verwaltungstrakt eines Großkonzerns als an eine Schule. Sonnenkollektoren, die zur Energiegewinnung dienten, rundeten das Bild von einer zeitgemäßen Bildungseinrichtung ab.

Im Innern vermisste Wiebke den typischen Schulgeruch mit einer Mischung aus Bohnerwachs, verstaubten Lehrbüchern und Butterbroten. Sie blickte sich um. Es hatte sich einiges getan in den Jahren, seitdem sie die Schule verlassen hatte. Nach wenigen Metern standen sie in der Mensa; auch hier überwogen helle und freundliche Eindrücke, was nicht nur an den bunten Bildern an den Wänden lag.

„Und nun?“, fragte Petersen ein wenig unschlüssig. Er hatte nicht verstanden, warum Wiebke unbedingt in die HTS fahren wollte, um ausgerechnet hier an die gewünschten Informationen zu kommen. „Denkst du, dass die Kids Holger Heiners auf dem Gewissen haben?“

„Unsinn.“ Wiebke schüttelte den Kopf und berichtete Petersen nun endlich von ihrem Treffen mit dem eigenartigen Lehrer, den sie vor ein paar Tagen am Dockkoog kennengelernt hatte. „Ich könnte mir gut vorstellen, dass er uns einige Fragen beantworten kann, bevor wir in die Ermittlungen einsteigen.“

Jan Petersen machte keinen Hehl daraus, dass er Wiebkes Idee für vergeudete Zeit hielt. „Ich glaube, da gibt es wichtigere Zeugen, die uns etwas über das Geschäftsgebaren dieses Heiners erzählen können. Oder glaubst du, Schäfer hat seinen Erzfeind aus dem Weg geräumt?“ Er schüttelte den Kopf. „Das ist doch alles völlig in die Luft gefurzt! Diesen Körnerfressern trau ich keinen Mord zu, echt nicht, Wiebke.“

Wiebke war am Rand der Mensa stehen geblieben. „Wart es doch erst einmal ab, Jan. Ein Motiv hätten die Leute von der Bürgerinitiative doch.“ Sie fragte sich immer noch, warum ihr Kollege so schlecht gelaunt war. Eigentlich verstanden sie sich recht gut – dienstlich und auch privat, und sie konnten über alles reden. Doch irgendwas schien ihm schwer im Magen zu liegen, und sie ärgerte sich darüber, dass er nicht mit ihr darüber sprach. Auf der Fahrt nach Husum hatte sie schweigend neben ihm gesessen und sich wieder nicht getraut, ihn zu fragen. Nicht einmal über den Fall hatten sie gesprochen. Sie hatte ihn lediglich gebeten, hierher zu fahren.

Petersen seufzte, doch dann legte sich ein breites Lächeln auf sein kantiges Gesicht. Was auch immer ihn bis eben bedrückt hatte – es war wie weggewischt. Er blickte geradewegs an Wiebke vorbei und murmelte freundlich ein gedehntes „Moin“.

Wiebke wandte sich um und wusste, was den plötzlichen Sinneswandel bei ihrem Kollegen hervorgerufen hatte. Eine Frau mit schulterlangen, blonden Haaren, Wiebke schätzte sie auf Anfang zwanzig, näherte sich mit wiegenden Schritten. Sie trug eine eng anliegende Jeans und ein figurbetontes Shirt, unter dessen Stoff sich üppige Brüste abzeichneten. Keine Frage, sie war verführerisch und gleichermaßen bildhübsch.

Die junge Frau blieb stehen und betrachtete die Polizisten mit einem neugierigen Blick. Während sie Wiebke nur knapp zunickte, schenkte sie Petersen einen lasziven Augenaufschlag.

„Moin“, sagte sie freundlich. „Kann ich Ihnen helfen?“

Für eine Schülerin war sie zu alt, für eine Lehrerin noch zu jung, stellte Wiebke fest. Wahrscheinlich arbeitete die junge Frau im Sekretariat der Schule.

Wiebke bemerkte, dass Petersen gerade dahinschmolz und überlegte, warum sich bei Männern das Hirn abschaltete, sobald sie einer hübschen Frau gegenüberstanden. Wahrscheinlich waren es die Gene, dachte sie. „Im Prinzip sind wir Neandertaler; die Herren der Schöpfung sind nach wie vor darauf programmiert, ihr Erbgut weiterzureichen. Das ist Instinkt“, dachte sie.

Nein, widersprach sie sich in Gedanken selbst. Das war primitiv.

„Wir würden gern Herrn Schäfer sprechen“, sagte sie, bevor Petersen noch zu sabbern begann. Der Auftritt ihres Kollegen war ihr peinlich. Um von Petersen abzulenken, zückte Wiebke den Dienstausweis.

„Oh.“ Das Lächeln auf dem aparten Gesicht der jungen Frau gefror, und sie zog eine Augenbraue hoch. Dann blickte sie auf die Armbanduhr. „Da haben Sie Glück. Er hat gerade keinen Unterricht.“ Sie machte eine einladende Geste. „Bitte folgen Sie mir!“

Das ließ sich Petersen nicht zweimal sagen. Die attraktive, junge Frau ging voran, und als er ihr auf den Hintern starrte, fing er sich prompt einen Seitenhieb von Wiebke ein. Er musterte sie fragend – sie funkelte ihn böse an und schüttelte den Kopf. Später würde sie ihm sagen, wie albern er sich benahm.

Sie gingen in das erste Stockwerk des Gebäudes. Wiebke bemerkte die Hinweistafeln, die zum Sekretariat führten. Also hatte sie sich nicht geirrt, die Blondine, die Petersen den Kopf verdrehte, war die Schulsekretärin.

Inzwischen waren sie auf einem Gang angekommen. Links lag das Sekretariat. Plakate zu Veranstaltungen zierten die Tür. Doch die Mitarbeiterin der Schule deutete nach rechts auf eine Tür, in der sich eine Milchglasscheibe befand. „Herr Schäfer müsste im Arbeitsraum sein“, kommentierte sie, klopfte kurz an und steckte den Kopf in den Raum. „Ah“, sagte sie. „Gut, dass du hier bist. Hier sind zwei Herrschaften von der Polizei, die dich gern sprechen würden.“

Wiebke fiel sofort auf, dass die Frau vermied, ihm direkt in die Augen zu blicken.

Zu dritt betraten sie den fensterlosen Raum. Wiebke erkannte Schäfer sofort wieder. Sie musste schmunzeln, verkörperte der Lehrer doch das klassische Bild eines naturliebenden Biolehrers: Er trug trotz der angenehmen Temperaturen einen Wollpulli, dazu die obligatorischen Jeans und Gesundheitsschuhe. Nur die Kapitänsmütze und die Pfeife in seinem Mundwinkel fehlten heute. Schäfer saß an einem der sechs L-förmig angeordneten Computer und blickte neugierig auf. Als er Wiebke sah, wirkte er ein wenig überrascht. Offenbar erinnerte er sich an ihr Treffen am Dockkoog.

„Sie?“ Dann räusperte er sich. „Sie sind Polizistin?“

„Ja, Kripo Husum“, nickte Wiebke und lächelte. „Man sieht sich eben immer zweimal im Leben.“

„Ich bin dann mal wieder weg“, flötete die Blondine und zog sich zurück.

Täuschte Wiebke sich, oder hatte ihre Stimme dem Kollegen gegenüber unterkühlt und distanziert geklungen?

Schäfer blickte ihr fast wehmütig hinterher. Auch er starrte auf ihren Hintern.

Sind denn alle Männer gleich?, fragte sich Wiebke und trat näher, nachdem die Blondine die Tür hinter sich geschlossen hatte. „Die Schulsekretärin nehme ich an?“

„Nein.“ Torben Schäfer schüttelte mit einem feinen Lächeln den Kopf und zupfte an seinem Bart herum. „Das ist Levke Kühn. Sie ist Referendarin an unserer Schule.“

„Schöner Name“, murmelte Petersen.

Schäfer nickte. „Ja, er stammt aus dem Friesischen. Der Name ist abgeleitet von ,leavje‘ und bedeutet so viel wie ,mögen, liebhaben‘.“

Wiebke schwieg und wunderte sich über Schäfers sanfte Art. „Holger Heiners ist tot“, sagte sie dann so unvermittelt, dass Torben Schäfers sanftes Lächeln wie ausgeschaltet war.

Seine Augen wurden groß, als er zu Wiebke aufblickte. Mit einer fahrigen Handbewegung strich er sich durch das Gesicht. „Was haben Sie gesagt?“

Petersen setzte sich auf eine Tischkante. „Er ist ermordet worden, deshalb sind wir hier, um mit Ihnen über Heiners zu sprechen.“

Wiebke zog sich einen freien Stuhl heran und setzte sich verkehrt herum darauf. „Als Gründer der Bürgerinitiative ,Rettet den Dockkoog‘ war Ihr Verhältnis zueinander wohl eher gespannt, oder?“

„Aber Sie wollen mir jetzt keinen Mord unterstellen, nehme ich an?“, konterte er angriffslustig.

Wiebke wunderte sich, wie schnell er sein Selbstbewusstsein wiedergefunden hatte. „Wir ermitteln in einem Tötungsdelikt, das sich erst vor wenigen Stunden ereignet hat“, stellte sie klar. „Insofern ist es zu früh, einen Verdacht auszusprechen. Deshalb wären wir Ihnen dankbar, wenn Sie uns Ihr Verhältnis zu Holger Heiners schildern würden.“

Schäfer nickte nachdenklich und stierte ins Leere. Sekundenlang schien er geistesabwesend zu sein, dann ging ein Ruck durch seine massige Gestalt. „Ich muss zugeben, dass ich mir seinen Tod nicht nur einmal in den letzten Monaten gewünscht habe“, räumte er zerknirscht ein. „Wir waren Kontrahenten: Naturschutz contra Neubau – so was konnte nicht friedlich abgehen.“

„Hatten Sie Kontakt zu ihm?“ Wiebke blickte ihn ernst an.

„Natürlich. Mehrmals sogar. Auf einer Podiumsdiskussion war ich kurz davor, ihn körperlich anzugreifen.“

„Wie kam das?“, mischte sich Petersen ein. Er rutschte von der Tischkante und wanderte im Raum herum, blieb an einem der hohen Regale stehen und betrachtete interessiert die Buchrücken.

„Ich bin auch nur ein Mensch“, murmelte Torben Schäfer. Der Lehrer lehnte sich in seinem Stuhl zurück und legte die Beine übereinander. „Und Heiners hatte eine sehr provokante Art an sich, die einen schnell auf die Palme bringen konnte. Mit einem einzigen Satz konnte er das, wofür ich wochenlang gekämpft habe, in Grund und Boden reden. Als Lehrer bin ich rhetorisch auch nicht ganz unbedarft, aber Heiners’ Art war nicht auszuhalten. Er hat uns verspottet und verhöhnt, hat uns mit Klagen gedroht und in der Presse niedergemacht.“

„Uns?“, fuhr Petersen dazwischen.

„Ja, mich und meine Anhänger. Es gibt viele Menschen, die das Bauprojekt am Dockkoog verhindern wollen.“

„Wie hat er Sie in der Presse niedergemacht?“, fragte Wiebke. „Es besteht Pressefreiheit, und ich könnte mir gut vorstellen, dass die Journalisten durchaus in der Lage sind, sich eine eigene Meinung über Ihre Aktivitäten zu bilden.“

Schäfer winkte ab. „Er hat sie alle gekauft, alle. Die meisten Reporter sind freie Mitarbeiter, die auf Basis eines lächerlich geringen Zeilenhonorars schreiben. Da muss ich Ihnen nicht erklären, wie sie auf ein lukratives Angebot von Heiners reagiert haben, oder?“

Petersen verstand. „Mit vollen Hosen stinkts sich gut.“ Er machte keinen Hehl daraus, wie er über Holger Heiners und sein Verhältnis zur Presse dachte. „Immer dasselbe.“

Wiebke blieb sachlich. „Haben Sie nicht auf einer Gegendarstellung bestanden, wenn man Sie in der Öffentlichkeit durch den Kakao gezogen hat?“

„Journalistisch waren die Artikel so verfasst, dass ich sie nicht anfechten konnte. Aber menschlich betrachtet hat Heiners zum Feldzug gegen ,Rettet den Dockkoog‘ geblasen. Er war wie der Rattenfänger von Hameln – alle haben nach seiner Pfeife getanzt.“

„Aber Sie haben sich nicht entmutigen lassen?“, vermutete Wiebke.

„Nein.“ Der Lehrer schüttelte energisch den Kopf. „Aber es half nichts: Gegen Holger Heiners war kein Kraut gewachsen. Und soll ich Ihnen etwas im Vertrauen sagen?“ Er wartete ab, sein Blick huschte ein wenig unstet zwischen Wiebke und Petersen hin und her. „Sein Tod ist für mich eine gute Nachricht.“

„Glauben Sie ernsthaft, dass sein Unternehmen das Bauvorhaben jetzt abschreibt?“ Petersen gab sich skeptisch.

„Natürlich.“

Torben Schäfer nickte.

„Sein Unternehmen ist strukturiert wie ein Bienenstock. Stirbt die Königin, wandern die Bienen ab, um neue Völker zu gründen.“

„Das passiert aber auch, wenn es in einem Bienenstock mehrere Königinnen gibt.“ Wiebke erinnerte sich schmunzelnd an ihren eigenen Biologieunterricht.

„Exakt, Frau Ulbricht. Deshalb war Heiners auch Alleinherrscher in seinem Unternehmen. Niemand kam an ihn ran, keiner in seiner Firma kennt alle Daten und alle Geheimnisse.“ Der Lehrer zuckte die Schultern. „Nun weiß wohl keiner, ob sein Laden noch weiter existieren kann. Ich wage das zu bezweifeln.“

„Sie sind gut über die internen Strukturen informiert“, stellte Petersen fest und lehnte sich lässig an eines der Aktenregale.

„Es ist immer gut, wenn man weiß, wie der Feind aufgestellt ist“, lächelte Schäfer tiefgründig. „Es gibt einen Mann, der immer an Heiners Seite ist … war. Christian Rohde ist seine rechte Hand und, mit Verlaub gesagt, ein elender Speichellecker. Nun steht er vor dem Nichts. Seine Schleimerei hat ihm nicht viel gebracht, den ohne den allmächtigen Holger Heiners ist Rohde eine Nullnummer.“

Wiebke wurde aus dem Mann nicht schlau. Er war Naturschützer durch und durch, und er hatte Holger Heiners bis aufs Blut gehasst – das hatte er eben unumwunden zugegeben. Doch er war hauptberuflich Lehrer, und sie traute ihm einfach keinen Mord zu. Dennoch war da noch etwas anderes, dass den Hass von Torben Schäfer auf Holger Heiners unberechenbar machte. Wiebke wusste nicht, was das war.

„Könnten Sie sich vorstellen, wer ihn ermordet hat?“, fragte sie.

„Nein.“ Kopfschütteln. Der Lehrer wippte mit seinen Biosandalen. „Aber man munkelt, dass es bei einigen seiner Geschäfte unseriös ablief. Wahrscheinlich hatte er so viele Feinde, wie ein Igel Stacheln hat.“

Wiebke fiel auf, dass Schäfer immer Vergleiche mit der Natur heranzog. Sie nickte Petersen zu und erhob sich.

„Vielen Dank, Herr Schäfer.“ Sie reichte ihm ihre Visitenkarte. „Rufen Sie mich an, wenn Sie eine Idee haben, die uns weiterbringt.“

Schäfer blickte nachdenklich auf die Karte, um sie sich dann umständlich in die Hosentasche zu stopfen. „Darf ich Sie noch etwas fragen?“

Wiebke und Petersen waren bereits an der Tür. „Natürlich.“

„Wie ist er …“ Torben Schäfer suchte nach den richtigen Worten, fand sie aber nicht.

„Man hat ihn in das Großbecken des Multimar geworfen. Er ist ertrunken, vielleicht auch erfroren, das genaue Ergebnis der Obduktion steht noch aus.“

Schäfer nickte. „Welch Ironie des Schicksals, finden Sie nicht?“

„Wovon sprechen Sie?“ Wiebke machte auf dem Absatz kehrt und musterte den Biolehrer.

„Ein Mann wie Holger Heiners hat sich um den Erhalt der Natur einen Dreck geschert. Wo er ein Geschäft witterte, hat er gebaut und die Umwelt zerstört. Und nun stirbt er dort, wo man sich intensiv für den Naturschutz und um das Weltnaturerbe Wattenmeer einsetzt. Seltsam, oder?“

Wiebke antwortete nicht und zog Petersen aus dem Arbeitszimmer. Sie hatte genug gehört.

Husum, Polizeidirektion Poggenburgstraße, 11.05 Uhr

Fritz Mahndorf blickte bezeichnend auf die goldene Armbanduhr, als Wiebke und Petersen abgehetzt und mit einer fünfminütigen Verspätung im Besprechungszimmer erschienen. Alle anderen saßen bereits am langen Tisch und hatten Unterlagen vor sich ausgebreitet.

Matthias Dierks hatte in der Zwischenzeit sein Team zusammengetrommelt und erste Recherchen angestellt. Die Kollegen aus Flensburg waren noch nicht da, auch KHK Friedrichs glänzte durch Abwesenheit. Der Staatsanwalt hatte sich einen Stuhl herangezogen und am Kopfende, gleich neben Dierks, Platz genommen. Rechter Hand saß Kriminalkommissarin Katja Graf, eine etwas mollige aber durchaus hübsche Kollegin, die ihren Dienst nur wenige Wochen vor Wiebke in der Husumer Wache angetreten hatte. Ihr Assistent war der schlaksige Kommissaranwärter Sven Gerkes, der nun voller Tatendrang mit seinem Kugelschreiber tickerte. Links saß der Kriminaltechniker Piet Johannsen vor einer aufgeschlagenen Mappe. Er blätterte in den Unterlagen und sah nur kurz auf, als Wiebke sich neben ihn setzte. Auch Petersen zog sich scharrend einen Stuhl zurecht. Wiebke blickte in die Runde. Dieser Verein sollte also den Mord an einem bekannten Immobilienmakler aufklären – wenn es denn ein Mord war. Andere Mordkommissionen arbeiteten mit zwölf Leuten. So setzte sie auf die Unterstützung der Kollegen aus Flensburg, auch wenn sie keine große Lust hatte, sich von Friedrichs herumkommandieren zu lassen.

„Da wir nun vollzählig sind, können wir mit dem Zusammentragen unserer Informationen beginnen“, eröffnete Matthias Dierks das Meeting. „Die Mordkommission aus Flensburg erwarte ich noch heute Vormittag, dann können wir auf breiter Front kämpfen.“ Er wechselte einen schnellen Blick mit Mahndorf, der an seinem Krawattenknoten herumzupfte. „Ich möchte den Kollegen von Anfang an mit guten Vorkenntnissen zur Verfügung stehen, gleichwohl muss ich anmerken, dass wir wahrscheinlich inoffiziell mit der Klärung des Tötungsdeliktes beauftragt werden.“ Er lächelte in die Runde. „Wie wir alle wissen, ist Erster Kriminalhauptkommissar Udo Friedrichs als Leiter der Mordkommission in Flensburg der Mann, der die Zügel in der Hand hält. Er ist sehr ehrgeizig und für seine hohe Aufklärungsquote bekannt. Deshalb sollten wir alles in unserer Macht stehende tun, um ihn tatkräftig zu unterstützen.“

Petersen lachte, als hätte er einen guten Witz gehört. „Ist doch immer der gleiche Scheiß.“

„Was meinen Sie?“, fragte Mahndorf streng.

„Wir machen die Drecksarbeit für die Flensburger, dann kommen Friedrichs’ Leute her und kommandieren uns rum. Warum lösen wir den Fall nicht allein?“

„Weil die Mordkommission in Flensburg sitzt und wir die Kollegen aufgrund unserer Orts- und Personenkenntnisse unterstützen.“ Matthias Dierks war die Situation im Beisein des Staatsanwaltes sichtlich unangenehm. „Das ist so geregelt, und wir werden ganz bestimmt nichts daran ändern. Im Gegenteil: Weil Holger Heiners recht bekannt war und der Fall das Interesse der Öffentlichkeit anziehen wird, müssen wir davon ausgehen, dass sich das LKA für den Toten interessiert.“

„Das wird ja immer besser. Die mischen sich in unsere Arbeit ein und schmücken sich zum Schluss mit unseren Federn“, zeterte Petersen und hieb wütend auf den Tisch.

„Jan, bitte“, wagte Dierks einen Versuch, ihn zu beruhigen. „Du bist lange genug Bulle und kennst die Regeln.“ Die Männer waren in einem Alter und kannten sich lange genug, um zu wissen, was der andere dachte. Eigentlich, überlegte Wiebke, wären sie ein perfektes Team. Aber irgendwann hatte man Dierks zum Ersten Hauptkommissar befördert und ihn zum Leiter der Kriminalinspektion Husum ernannt.

„Also steht schon fest, dass es sich um Mord handelt?“, fragte Wiebke, um die angespannte Situation aufzulockern. Sie hatte keine Lust auf einen Streit der beiden, und die Zeit drängte.

Piet Johannsen blickte auf. „Ich habe vor ein paar Minuten mit der Rechtsmedizin telefoniert. Natürlich steht die Obduktion noch aus, aber inzwischen hat man Blutergüsse festgestellt, die offenbar durch einen stumpfen Gegenstand hervorgerufen wurden und nichts mit einem möglichen Unfall zu tun haben. Er ist also nicht aus Versehen in das Wasser gefallen.“

„Womit wir beim Thema wären“, mischte sich nun auch Matthias Dierks ein. „Die Obduktion. Sie wird noch heute Nachmittag stattfinden.“ Aufmerksam betrachtete er sein Team, dann blieb sein Blick auf Wiebke und Petersen haften. „Ich möchte, dass ihr dabei seid.“

„Klar, ich hab noch nichts gegessen“, maulte Petersen. „Können das nicht die Flensburger übernehmen? Uns fehlt die Zeit, und hier ist viel zu tun.“

Fritz Mahndorf schüttelte den Kopf. „Auch ich erachte es für sinnvoll, wenn Sie beide das übernehmen. Sie bearbeiten den Fall seit der ersten Minute und können möglicherweise wichtige Schlüsse ziehen.“

Petersen nickte. „Schon gut.“

Das hatte Wiebke befürchtet. In ihrer Laufbahn als Polizistin würde dies die erste Autopsie sein, der sie beiwohnen würde. Und sie war sich im Klaren darüber, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie das überstehen sollte. Trotzdem war sie froh, dass auch Petersen dabei sein würde. Er gehörte schon länger zu dem Laden und machte so etwas nicht zum ersten Mal mit.

„Weiter im Text“, sagte Dierks mit erhobener Stimme. „Wie wir wissen, handelt es sich bei dem Toten um den Immobilienkaufmann Holger Heiners, geboren am 3. März 1960 in Kiel. Wohn- und Firmensitz ist Flensburg. Heiners war verheiratet – die Kollegen aus Flensburg besuchen gerade die Witwe und werden sie vom Tod ihres Mannes unterrichten.“

Wenigstens der Kelch geht an mir vorbei, dachte Wiebke erleichtert.

„Heiners kam zu Lebzeiten immer wieder in die Schlagzeilen. Man dichtete ihm unseriöse Geschäfte an, angeblich soll er einflussreiche Politiker bestochen haben, um seine geplanten Bauprojekte zu genehmigen. Auch die Zusammenarbeit mit der Nord-Ostsee-Bank soll nicht immer so gelaufen sein, wie sich das die Öffentlichkeit wünschte.“ Dierks, der abgelesen hatte, blickte jeden im Raum an. „Aber ob er tatsächlich mit dem Gesetz in Konflikt gekommen ist, ließ sich in der Kürze der Zeit nicht nachweisen. Es gab natürlich immer wieder Meldungen in der Presse, auch kam es mehrfach zu einem Rechtsstreit, doch nachzuweisen war Holger Heiners nie etwas.“ Der Erste Hauptkommissar blickte Sven Gerkes an. „Ich möchte, dass Sie recherchieren, was es mit den Geschichten auf sich hat.“

„Sicher.“ Der junge Kommissaranwärter nickte eifrig und machte sich Notizen.

„Apropos unseriös“, warf Petersen nun ein. Als alle Augen auf ihn gerichtet waren, berichtete er den Kollegen von dem Zwischenfall in Oldenswort. „Zufällig gehört auch die alte Schule zu seinen Objekten. Wie es aussieht, lies er die Immobilie sehenden Auges verwahrlosen und drohte den Mietparteien mit einer Räumungsklage. Gleichzeitig warb er auf dem Hof des Gebäudes um Käufer für Bauland. Wie es aussieht, wollte er die alte Schule abreißen und an gleicher Stelle Land verkaufen. Das ist grenzwertig, wenn auch nicht illegal.“

„Wir sollten eine Durchsuchung von Heiners’ Büros in Betracht ziehen“, plante Mahndorf und erntete von Dierks ein zustimmendes Nicken. „Vielleicht hat es im Vorfeld Drohungen gegen Heiners gegeben. Möglicherweise von einem Mieter, der sich die rüden Methoden des Hausherrn nicht länger gefallen lassen wollte. Heiners gehörten zahlreiche Objekte zwischen den Meeren, da könnte ich mir gut vorstellen, dass es ab und zu Unmut gab.“

Dierks blickte in die Runde. „Sonst noch Vorschläge?“

Katja Graf nickte. „Auch für die Umweltschützer am Dockkoog war Heiners ein rotes Tuch – er wollte das Ferienressort am Badestrand auf Biegen und Brechen durchsetzen und hatte auch hier eine Menge Feinde. Hier sollten wir ansetzen: Gibt es eventuell auch militante Umweltschützer, die bereit wären, den Tod eines Menschen in Kauf zu nehmen?“

Wiebke überlegte, ob Torben Schäfer für eine solche Tat in Frage käme, verwarf den Gedanken aber schnell wieder. Der Biolehrer war enttäuscht und wütend, doch war er auch zu einem Mord fähig?

„Was die Bürgerinitiative ,Rettet den Dockkoog‘ angeht, so haben wir bereits mit dem Gründer gesprochen. Er macht mir nicht gerade den Eindruck, jemanden umzubringen, nur um die Natur zu schützen, dennoch sollten wir nichts ausschließen. Außerdem werden wir prüfen, wer sich dem Unterfangen angeschlossen hat. Vielleicht gibt es den einen oder anderen, der uns schon mal aufgefallen ist.“ Wiebke notierte sich etwas. „Ich werde eine Mitgliederliste der Bürgerinitiative anfordern, dann können wir jeden einzelnen Teilnehmer durchleuchten.“

„Die haben mehr als zweitausendfünfhundert Unterschriften von Menschen, die gegen den Betonklotz sind, gesammelt“, merkte Petersen an. „Da ist bestimmt das eine oder andere Mitglied militanter Umweltschützer dabei.“

„Klingt wie ein Widerspruch in sich“, murmelte Katja Graf mit einem Lächeln.

„Bleibt das Multimar Wattforum als prägnanter Leichenfundort“, brummte der Staatsanwalt. „Ich habe eine Liste aller Mitarbeiter angefordert, zusätzlich alle Lieferanten und externe Dienstleister, die für die Einrichtung tätig sind und Zutritt zum Multimar haben. Sobald die Liste vorliegt, sollten wir auch hier ermitteln. Irgendwie muss Heiners ja in das Gebäude gekommen sein.“

„Na“, lachte Petersen süffisant, „da haben die Kollegen aus Flensburg ja eine Menge Arbeit vor der Brust, wenn sie denn mal hier aufschlagen.“

„Red kein Blech, Jan“, wetterte Matthias Dierks. „Die Flensburger kommen, klagen über ihre personelle Situation, betonen, dass ihnen der Fall obliegt, und delegieren munter an uns. Ihnen mit den Informationen zu dienen, das ist unser Job.“

„Goldene Aussichten“, brummte Petersen und schüttelte den Kopf. Ohne ein weiteres Wort erhob er sich. Wiebke sah ihrem Partner an, dass er kurz vor dem Platzen stand.

„Jan, setz dich!“, gellte die Stimme des Ersten Kriminalhauptkommissars durch den Raum.

„Keine Zeit“, erwiderte Petersen, ohne sich umzuwenden. „Ich habe viel Arbeit – und bei der Leichenschau muss ich auch dabei sein.“ Hinter ihm knallte die Tür, und mit einem Blick auf Dierks stellte Wiebke fest, dass dem Abteilungsleiter die Situation sichtlich unangenehm war, zumal der Staatsanwalt mit hochrotem Kopf neben ihm saß.

Fritz Mahndorf klappte sein Notizbuch zu, steckte es in die Innentasche seines Jacketts und erhob sich ebenfalls. Er nickte mit verschlossener Miene in die Runde, schloss sorgsam die Knöpfe seines Sakkos und sagte an Dierks gewandt: „Reden Sie mit ihm. Petersen ist ein guter Mann, ich will ihn nicht verlieren.“ Dann verabschiedete er sich und ließ die Polizisten allein.

Husum, Hermann-Tast-Schule, 11.50 Uhr

Der Duft nach frischem Mittagessen wehte durch die Korridore des Gymnasiums. In der Mensa wurde mit Geschirr und Besteck geklappert. Im Sekretariat herrschte um diese Zeit reger Betrieb. Doch Madeleine Oelke ließ sich nicht so schnell aus der Ruhe bringen. Sie bediente fast gleichzeitig Telefon, Computer und die wartenden Schüler. Dabei blieb sie immer höflich und hatte für jeden, der an ihrem Tresen wartete, ein Lächeln übrig. Sie war lange genug Schulsekretärin an der Hermann-Tast-Schule und arbeitete routiniert Seite an Seite mit Schulleiter Walter Fedders, dessen Büro an das Sekretariat grenzte. Es war ein angenehmes Arbeiten, und sie kam jeden Morgen gut gelaunt aus Treia, wo sie lebte, nach Husum. Auch ihre beiden Kinder, Gyde und Sünje, waren hier zur Schule gegangen. Nun, wo die Kinder erwachsen waren – Gyde arbeitete als Polizistin in Husum, Sünje als Schifffahrtskauffrau in Hamburg – konnte sie sich ganz auf den Job konzentrieren.

Die Tür zum Sekretariat flog auf und schlug an die dahinterliegende Wand. Überrascht blickte Madeleine Oelke auf, um zu sehen, wer da in das Vorzimmer des Direktors stürmte.

Levke Kühn, die junge Referendarin, betrat den Raum, doch noch bevor Madeleine Oelke sie nach ihrem Wunsch fragen konnte, stand sie bereits im Büro von Walter Fedders, der überrascht aufblickte. Madeleine Oelke verließ ihren Arbeitsplatz und folgte Levke Kühn in das angrenzende Zimmer.

Obwohl sich Walter Fedders so schnell nicht aus der Ruhe bringen ließ, zupfte er ein wenig nervös an seinem Bart herum und betrachtete die junge Kollegin mit fragender Miene. Als er von Levke Kühn zur Leiterin des Sekretariats blickte, zuckte sie ein wenig hilflos die Schultern.

Fedders bedachte Madeleine Oelke mit einem nachsichtigen Lächeln, sagte: „Ist schon in Ordnung“, und widmete sich der Referendarin. Doch sie schien nicht das geringste Interesse an einem Gespräch mit dem Schulleiter zu haben, denn auf einem der beiden Besucherstühle vor seinem Schreibtisch saß Torben Schäfer. Auch er drehte sich neugierig zu Levke Kühn um. Dass sie jetzt hier im Büro des Schulleiters stand, war ihm offenbar etwas unangenehm. Das Blut schoss ihm ins Gesicht. Seine buschigen Augenbrauen zogen sich zu einem Strich zusammen.

„Hallo Torben“, sagte sie, nachdem sie Fedders knapp begrüßt hatte. „Kann ich dich gleich kurz sprechen?“ Als er schwieg, fuhr sie fort: „Ich warte drüben im Arbeitszimmer auf dich.“ Dann nickte sie dem Direktor zu, murmelte eine Entschuldigung und verließ das Büro des Schulleiters. Madeleine Oelke blickte ihr ratlos hinterher, dann wurde sie von einem Schüler in Beschlag genommen, der einen neuen Schülerausweis bei ihr beantragen wollte. Im nächsten Augenblick hatte sie den seltsamen Zwischenfall schon wieder vergessen.

Husum, Hafenstraße, 11.55 Uhr

Sie fand ihn auf der „Nordertor“. Das blau-weiß angestrichene Restaurantschiff lag schon seit Jahren im Husumer Hafen. Zahlreiche Touristen und Einheimische liebten es, an Bord des urig eingerichteten Schiffes zu essen und zu trinken und genossen dabei den Blick auf den Binnenhafen. Irgendwo hatte Wiebke einmal gelesen, dass die „Nordertor“ eines der ältesten Restaurantschiffe Deutschlands war. Das Schiff hatte einen verstärkten Bug und war in Notfällen zwischen den 1940er- und 1950er-Jahren auf der Ostsee als Eisbrecher eingesetzt worden. Wiebke wunderte sich, an was sie sich alles erinnerte, während sie das Schiff enterte.

Er hockte vornübergebeugt an einem der freien Tische im Außenbereich und stierte in sein Bierglas. Bunt gekleidete Touristen flanierten am Kai entlang und betrachteten die Auslagen der Andenkenläden. Möwen kreischten über dem Hafenbecken, und auf der gegenüberliegenden Seite stand der alte Tonnenleger „Hildegard“ wie eine eiserne Festung auf dem Trockendock der ehemaligen Werft.

„Hallo.“ Unaufgefordert setzte sie sich.

Petersen blickte sie unverwandt an. „Und?“, fragte er. „Bin ich jetzt suspendiert, weil ich das System angezweifelt habe?“

„Unsinn.“ Wiebke lächelte, dann wurde sie ernst. „Hast eine ziemliche Show abgeliefert, mein Guter.“

Jan Petersen nahm einen Schluck von seinem Bier und zuckte die Schultern. Es kümmerte ihn nicht, dass im Dienst absolutes Alkoholverbot galt.

„Wie hast du mich gefunden?“

„Wer sagt, dass ich dich gesucht habe?“ Wiebke wusste, dass es ihn in die Stadt gezogen hatte. Wann immer Petersen eine kleine Auszeit brauchte, trieb es ihn auf die „Nordertor“.

„Was soll das?“ Wiebke deutete mit dem Kinn auf sein Glas.

„Damit habe ich mir den Frust runtergespült.“ Er nippte an seinem Glas und lächelte matt. „Aber du musst dir keine Sorgen machen – nein, ich bin kein Alkoholiker.“

„Dann lass den Scheiß.“

„Schon gut.“ Petersen winkte die Bedienung an den Tisch und orderte einen Kaffee, schwarz und stark. Für Wiebke bestellte er einen Tee.

„Und?“, fragte er, nachdem sie wieder allein waren. „Hab ich was verpasst?“

„Nein.“ Wiebke berichtete ihm vom seltsamen Ausgang der Sitzung. „Wahrscheinlich wissen alle am Tisch, dass du recht hast, aber keiner traut sich es zuzugeben, dass wir den Flensburgern nur zuarbeiten.“

„Udo Friedrichs ist ein Arschloch. Wer für ihn arbeitet, ist ein Sklave. Das brauch ich wirklich nicht, Wiebke. Es kotzt mich an.“

„Du hat ein Burnout-Syndrom“, diagnostizierte Wiebke besorgt. „Solltest mal Urlaub machen.“

„Wovon denn?“ Petersen rieb bezeichnend Daumen und Zeigefinger gegeneinander. „Weißt du, wann ich zuletzt im Urlaub war?“ Er schüttelte den Kopf. Als Wiebke schwieg, sagte er: „Ich auch nicht. Ist schon zu lange her. Und seitdem ich geschieden bin, geh ich sowieso nur noch für meine Exfrau arbeiten.“

Also doch, dachte Wiebke. Es war ihr schon am Morgen aufgefallen, dass ihm eine gehörige Laus über die Leber gelaufen sein musste. Als er noch verheiratet war, hatte seine Frau einen kleinen Andenkenladen an der Schiffsbrücke betrieben. Die Gewinne waren schlecht – viele waren nur zum Schauen gekommen, nicht zum Kaufen. Und wie Petersen mal erwähnt hatte, waren sie mehrfach bestohlen worden. Als die beiden sich scheiden ließen, hatte Petersens Exfrau den Laden verkauft, weil er absolut unrentabel geworden war und eine Pleite drohte. Seitdem nutzte ihr Anwalt jedes Mittel, um an Petersens Geld zu kommen.

„Willst du drüber schnacken?“

Er blickte sie traurig an. Kaffee und Tee kamen, sie tranken.

„Nee“, sagte Petersen. „Lieber nicht, ich will dir nicht auch noch den Tag versauen. Musste eben nur raus, hab das Gequatsche nicht mehr ausgehalten.“

„Du musst mit Dierks reden.“

„Das werd ich tun, versprochen.“ Petersen nickte und pustete in seine Tasse. „Muss ich sowieso, wenn ich nicht bald unter einer Brücke pennen will.“ Dann grinste er und war ein Stück weit wieder ganz der Alte. „Aber ich war nicht untätig in der Zwischenzeit und habe recherchiert.“

Wiebke blickte sich um. „Hier? Auf dem Restaurantschiff?“

„Exakt, Mädchen. Claude weiß eine Menge. Auch über den Dockkoog.“

Claude Bruhn war der Wirt des Restaurantschiffes. Ein wirklich liebenswerter Kerl, der irgendwann mit seiner Frau aus Düsseldorf in den Norden gekommen war. Mit den Einwohnern Nordfrieslands hatte er sich auf Anhieb gut verstanden, und seine offene und ehrliche Art hatte ihm dabei geholfen, im Norden der Republik Fuß zu fassen. Obwohl sich Claude nach wie vor zu seiner rheinischen Heimat bekannte, hatte er längst den Entschluss gefasst, im Norden alt zu werden. So war es für ihn auch selbstverständlich, sich tatkräftig in das Geschehen der Stadt einzumischen. Und Claude war eine nie versiegende Quelle an Informationen. Klatsch und Tratsch in Husum, dachte Wiebke amüsiert.

„So“, nickte sie und rührte in ihrem Tee. „Was weiß Claude denn?“

„Er sitzt im Stadtausschuss und war von Anfang an dabei, als Heiners im Rathaus sein Projekt vorstellte.“ Petersen schob mit angewiderter Miene das halbleere Bierglas fort. Offenbar wunderte er sich jetzt über sich selbst und widmete sich dem Kaffee. „Der damals namenlose Investor bestand darauf, dass Presse und Öffentlichkeit von der Sitzung ausgeschlossen wurden.“

„Und diesem Wunsch hat man entsprochen?“ Wiebke konnte es nicht glauben.

„Scheinbar ja. Heiners wusste um seinen Ruf und war sich darüber im Klaren, dass er auf Protest stoßen würde, wenn er sich von Anfang an als Investor des Ferienressorts am Dockkoog outen würde.“

„Wieso lassen sich die Stadtväter auf so ein Projekt ein, wenn es doch so gegen den Willen der Bürger geht?“

„Heiners versprach ihnen 300 neue Arbeitsplätze zu schaffen, von den zu erwartenden Einnahmen aus der Gewerbesteuer mal ganz zu schweigen. Der Kasten soll hundertfünfzig Zimmer und hundert Ferienwohnungen bekommen, da kannst du dir vorstellen, dass die Gastronomie schon Dollarzeichen in den Augen hat. Man hat aber mit dem Protest der Bürger gerechnet. So richtig will den Neubau wohl keiner, und schon vor einigen Jahren ist es zu einem Bürgerbegehren gekommen, als man ein ähnliches Projekt plante. Knapp achtzig Prozent der Bürger haben sich damals gegen den Bau einer Hotelanlage am Dockkoog entschieden.“

Wiebke atmete hörbar aus. „Das würde bedeuten, dass diese achtzig Prozent theoretisch zu den Tatverdächtigen gehören?“

Petersen lächelte. „Es ist genau das, was ich befürchtet habe, Wiebke: Eine Suche nach der Nadel im Heuhaufen.“