DREI

Tönning, 8.50 Uhr

Wiebke spürte, dass etwas mit ihrem Partner nicht stimmte. Die junge Kommissarin hatte ihn schon während der Fahrt nach Tönning immer wieder von der Seite betrachtet, doch Hauptkommissar Jan Petersen hatte stur nach vorn geblickt und das Lenkrad so fest umklammert, als würde er es am liebsten zwischen den Händen zerquetschen. Unterwegs sprach er nur über ihren Auftrag – kein einziges privates Wort, nichts. So kannte Wiebke ihren Kollegen nicht. Sie hatte ihm förmlich angesehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Dennoch wollte sie ihn nicht nach dem Grund für sein Verhalten fragen. Sie war sicher, dass Petersen mit ihr darüber reden würde, sobald er mit sich selbst wieder im Reinen war. Womöglich, so vermutete sie, gab es wieder Probleme mit seiner Exfrau. Petersen war geschieden und litt unter dem ehrgeizigen Rechtsanwalt seiner Ex, der immer wieder einen Weg fand, den Kommissar bis auf das letzte Hemd auszuziehen.

An sich war Petersen ein netter Kerl, er war umgänglich und trug das große Herz am rechten Fleck, was ihn im Kollegenkreis beliebt machte. Am meisten imponierte der jungen Kommissarin der ausgeprägte Gerechtigkeitssinn, der ihn irgendwann dazu bewogen hatte, bei der Polizei anzuheuern.

Um kurz nach acht erreichte die Husumer Polizei der Anruf aus dem Multimar Wattforum in Tönning. „Leblose Person im Wasserbecken“, hatte es lapidar geheißen. Matthias Dierks, seines Zeichens Erster Kriminalhauptkommissar und Leiter der Husumer Kriminaldirektion, hatte umgehend zum Hörer gegriffen und Piet Johannsen von der Spurensicherung losgeschickt. Dann informierte Dierks den diensthabenden Staatsanwalt und die Kollegen in Flensburg, bevor er zwei seiner Leute abstellte.

Wiebke saß gerade an ihrem Schreibtisch, als das Telefon sich meldete.

„Wir müssen sofort los“, hatte ihr Jan Petersen kurz angebunden gesagt. „Alles stehen und liegen lassen – ich erzähl dir alles im Auto.“

Die Fahrt hatte sie nach Tönning geführt, zum Multimar Wattforum. Im Becken des Großaquariums hatte eine Mitarbeiterin der Ausstellung am frühen Morgen einen Mann gefunden, den die Taucher des Multimar nur tot hatten bergen können. Ob es sich um einen Unfall handelte oder eventuell jemand nachgeholfen hatte, den Mann ins Wasser zu stürzen, war unbekannt. Fest stand nur, dass der Tote nicht zum Team gehörte. Keiner wusste, wie er sich Zutritt zur Ausstellung verschafft hatte. Das herauszufinden, war nun Wiebkes und Petersens Part.

„Schon einiges los hier“, murmelte Petersen, als er den Dienstwagen auf den Personalparkplatz lenkte, der sich seitlich vom Gebäude des Multimar befand. Der Kollege vom Streifendienst hatte sie zum Personaleingang gebeten.

„Allerdings“, nickte Wiebke. Sie sah ein paar Streifenwagen, die kreuz und quer auf dem Gelände parkten, einen Krankenwagen – offenbar das Einsatzfahrzeug des Notarztes – sowie den Kombi eines örtlichen Bestattungsunternehmens. Wie Wiebke erleichtert feststellte, schien die Presse noch nicht anwesend zu sein. Sie fand es müßig, sich den Journalisten zu stellen und Fragen nur ausweichend zu beantworten, weil sie die laufenden Ermittlungen nicht gefährden wollte. Schnell wurde einem da das Wort im Mund umgedreht, und Dierks tobte, weil mitunter am nächsten Tag eine Falschmeldung in der Zeitung stand.

Wiebke löste den Sicherheitsgurt und angelte nach ihren Unterlagen, die auf dem Rücksitz lagen. Sie verrenkte sich den Kopf und suchte den Parkplatz ab. „Ich sehe Piets Wagen gar nicht. Aber er ist doch lange vor uns los. Wenn er mit der Spurensicherung noch nicht durch ist, brauchen wir da gar nicht rein.“

Nun grinste Petersen. „Mach mal langsam, Mädchen. Piet ist schließlich nicht mehr der Jüngste.“

Seite an Seite marschierten sie auf den Personaleingang zu, eine feuerfeste Stahltür mit einem kreisförmigen Fenster, das einem Schiffsbullauge nachempfunden war.

Rechts gab es eine Videokamera und ein Panel, auf dem die Mitarbeiter sich per Zahlencode Zutritt verschaffen konnten, darunter ein handelsübliches Sicherheitsschloss.

Petersen bollerte mit der Faust gegen die Eisentür. Es dauerte einen Augenblick, dann wurde ihnen von einem uniformierten Kollegen geöffnet. Wiebke erkannte Polizeimeister Theves, einen jungen Kollegen vom Streifendienst. Eine eher unscheinbare Gestalt, daran änderte auch die dunkelblaue Polizeiuniform nicht viel.

Man kannte sich vom Sehen. „Moin - ihr wart zuerst hier?“, fragte Wiebke ihn.

Theves nickte und berichtete Petersen und Wiebke, was er wusste. Neues hatte er jedoch auch nicht zu berichten. „Der Staatsanwalt möchte, dass ihr euch einen Überblick verschafft“, schloss er seine Ausführungen, und Wiebke glaubte, ein schadenfrohes Grinsen auf seinen Lippen erkennen zu können.

„Mit wem haben wir die Ehre?“, fragte Petersen.

„Mahndorf hat Dienst“, erwiderte Theves.

„Na, der ist doch in Ordnung“, erwiderte Wiebke und bemerkte erst jetzt den hochgewachsenen Mann Ende vierzig, der sich zu ihnen gesellte. Er wirkte ziemlich nervös, daran änderte auch der wachsame Blick seiner blauen Augen und der gesund wirkende, braune Teint nichts. Zu einer khakifarbenen Hose trug er ein dunkelblaues Hemd, auf dessen Brusttasche das Multimar-Logo aufgestickt war. Ein Mitarbeiter also, wahrscheinlich einer der Vorgesetzten, schätzte Wiebke. Sie sparte es sich, die Dienstmarke zu zücken. „Kommissarin Ulbricht, mein Kollege Hauptkommissar Petersen von der Kripo Husum.“ Sie deutete mit dem Daumen auf Jan Petersen.

„Ralf Finner, Moin.“

Petersen erwiderte den Gruß. „Sie gehören zu dem Laden, nehme ich an?“

Manchmal war er einfach nur peinlich, durchzuckte es Wiebke.

Jan Petersen hatte eine etwas rustikale Art, die nicht immer angebracht war. Doch wer ihn kannte, wusste, dass er es nicht böse meinte.

Finner hatte die flapsige Anmerkung offenbar überhört.

Er nickte. „Schrecklich, was da passiert ist.“

„Führen Sie uns zum Fundort?“, bat Wiebke höflich.

„Natürlich.“ Finner nickte. „Bitte kommen Sie mit.“

„Wir kommen zurecht, danke“, sagte Petersen an Polizeimeister Theves gewandt. Er hatte Anstalten gemacht, sich der Gruppe anzuschließen. „Bleib man hier und halt die Stellung, nicht dass noch jemand von der Presse mit reinrutscht.“

„Allns torech.“ Theves nickte dienstbeflissen und zog die schwere Metalltür mit dem Bullauge zu.

Nun standen sie in einem gefliesten Korridor. Links gab es eine Stechuhr, die auf „Gehen“ stand.

Sie betraten ein recht unspektakuläres Treppenhaus, das steil nach oben führte. Die Wände waren weiß getüncht, der Boden wirkte frisch gewischt. Unterwegs berichtete Finner ihnen, was geschehen war.

„Wo befindet sich Ihre Mitarbeiterin jetzt?“, fragte Wiebke.

„Im Aufenthaltsraum. Wie Sie sich vorstellen können, steht Sie unter Schock.“

„Natürlich.“

Durch eine weitere feuerfeste Tür gelangten sie in die Ausstellung. Wiebke war vor einigen Jahren schon einmal hier gewesen. Doch seit ihrem letzten Besuch hatte sich vieles geändert im Multimar. So wie es aussah, hatte man die Ausstellung vergrößert. Jetzt aber fand sie keine Zeit, sich in Ruhe umzublicken, denn Finner marschierte zielstrebig zum „Forum“, wie er den theaterähnlichen Raum nannte. Anstatt einer Bühne bot sich den Zuschauern ein atemberaubender Ausblick auf eine faszinierende Unterwasserwelt.

„Ich krieg’ Hunger“, flüsterte Petersen an Wiebke gewandt.

Sie warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu, den er mit einem Grinsen quittierte.

„Riech doch mal – es duftet ganz herrlich nach Fischstäbchen!“, bekräftigte er unbeeindruckt.

„Du spinnst!“ Wiebke tippte sich bezeichnend gegen die Stirn.

„Das Thema ,vom Meer auf den Teller‘ haben wir tatsächlich in unserer Ausstellung aufgegriffen“, mischte sich Ralf Finner jetzt ein. „Das ist für unsere kleinen Besucher ganz wichtig, sie lernen zum Beispiel, wie aus Fisch ihre geliebten Fischstäbchen werden.“

Petersen nickte und warf Wiebke einen „Siehst du, ich hab‘s dir doch gesagt“-Blick zu.

„Das hier ist also das Forum?“, kam Wiebke zum Grund ihres Besuches im Multimar zurück. Sie blickte sich in dem Raum um. Durch eine gut sechs mal sechs Meter große Panoramascheibe konnten sie gleich in die Nordsee blicken – so sah es wenigstens aus.

Wiebke erkannte einen großen Hummer, der neugierig aus einer Felshöhle kam. Der Felsen bildete das zentrale Element im Wasser, um ihn herum tummelten sich die Fische. Sie erschauderte, als sie sich den Anblick eines Toten in dieser Unterwasserwelt vorstellte, und fragte Finner, welche Fische sich in dem Großbecken befanden.

„Fünf Kabeljaue, Lachse, zwei Störe, Steinbutts, Nagelrochen, Katzenhaie, Meerforellen und da unten unser großer Hummer“, zählte der Biologe auf.

„Was mich viel mehr interessiert“, fuhr Petersen dazwischen, der angestrengt ins Wasser starrte, „wo ist die tote Person denn abgeblieben?“

Finner zog die Mundwinkel nach unten. „Im Technikraum, der sich oberhalb des Beckens befindet. Leider konnten wir nichts mehr für ihn tun. Das Wasser ist konstant auf 11 Grad temperiert. Ein Mensch stirbt bei diesen Temperaturen nach spätestens zehn Minuten.“

Wiebke riss sich vom Anblick der künstlichen Unterwasserwelt los und wechselte einen Blick mit Petersen, der sehr schweigsam geworden war. „Worauf warten wir?“

„Wo bleibt ihr denn?“ Piet Johannsen war aufgeregt, als Wiebke und Petersen in Begleitung von Ralf Finner den Technikraum betraten. Hier herrschte eine Akustik wie in einem Hallenbad. Der Raum selbst war nicht sehr groß – dicke Leitungen, Schaltkästen mit Kontrolllampen und große Kessel bestimmten das Bild. Es gab schmale Gitterroste, die um das Becken herumführten und nur durch einen Handlauf aus Glasfaserkunststoff gesäumt wurden.

Johannsen raufte sich die schlohweißen Haare. Er war nicht allein: Neben ihm standen ein Mann im weißen Kittel – wohl der Notarzt – und Fritz Mahndorf, der Staatsanwalt. Wie immer war er perfekt gekleidet, der Maßanzug war bestimmt nicht von der Stange. Auch die schwarzen Schuhe trugen das Label eines italienischen Designers. Mahndorf machte eine betroffene Miene.

Er hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und marschierte auf dem schmalen Gitterrost, das zum Beckenrand führte, auf und ab.

Über den engen Laufgang kletterte Johannsen zu seinen Kollegen herunter, der Staatsanwalt folgte ein wenig schwerfällig.

„In der Ruhe liegt die Kraft“, belehrte Petersen den Kollegen von der Kriminaltechnik, der sich umständlich aus seinem weißen Faseranzug schälte und den Aluminiumkoffer mit der Ausrüstung zusammenklappte.

„Du hast gut reden“, erwiderte Johannsen und nahm die Nickelbrille von der geröteten Nase und polierte die Gläser mit dem Saum seines T-Shirts. Er deutete auf Mahndorf. „Der Staatsanwalt drängt.“

„Jetzt sind wir ja hier“, beschwichtigte Wiebke den Kollegen. Petersen blickte sich neugierig um. Dabei hatte er die Hände in den Hosentaschen versenkt – eine alte Angewohnheit. So vermied er es, an einem Tatort Spuren zu hinterlassen und Dinge aus Versehen anzufassen.

„Können Sie uns schon etwas zu dem Toten sagen?“, wandte sich Wiebke an den Notarzt, der sich ihr als Dr. Clausen vorstellte.

Clausen schüttelte den Kopf. „Bedauerlicherweise nein. Blutergüsse, die er sich beim Sturz über den Beckenrand zugezogen haben könnte, nichts, was zwangsläufig auf Fremdeinwirkung hindeutet. Ich kann also nicht sagen, ob da jemand nachgeholfen hat, falls das Ihre nächste Frage sein sollte.“ Er presste die schmalen Lippen zu einem Strich zusammen. „Er war bereits tot, als ihn die Taucher aus dem Wasser gezogen haben. Auch meine Reanimationsversuche verliefen erfolglos.“ Der Notarzt machte eine bedauernde Miene.

Wiebke löste sich von der Gruppe und kletterte über eine Eisentreppe hinauf zum Beckenrand. Ein grauweißes Schlauchboot stand an einem der Gitter. Unter der Decke gab es eine Art Kran und eine Lampe, die fast mittig über dem Bassin angebracht worden war und wahrscheinlich für den mystischen Lichtschein, der sich den Besuchern im Forum bot, verantwortlich war. Unter ihr glitten Schatten pfeilschnell durch das Wasser. Schemenhaft erkannte sie die Nachbildung des großen Riffs in der Beckenmitte. Ein Rochen wagte sich gemächlich an die Wasseroberfläche und zog eine Bahn durch das Becken, dann verschwand er wieder in der Tiefe. Wiebke bekam ein mulmiges Gefühl, als sie an der Stelle stand, wo der eiserne Handlauf unterbrochen war. Eine Klappleiter war ins Wasser gelassen worden. Es war offensichtlich, dass die Leiter nur angelegt war, wenn sich ein Taucher im Becken befand. Ansonsten gab es keine Möglichkeit, sich aus eigener Kraft an Land zu ziehen. Hier war der Mann ins Wasser gestürzt, ob freiwillig oder nicht, das mussten sie noch herausfinden. Zwischen der Wasseroberfläche und dem Rand des Gitters lagen gut anderthalb Meter. Wer hier hineinfiel, hatte keine Chance, ohne Hilfe wieder herauszukommen. Ihr war, als würde der Boden unter ihr schwanken. Wiebke umklammerte das Geländer fester, als sie sich nach vorn beugte und ins Wasser blickte. Ein Schauer rieselte über ihren Rücken, als sie sich vorstellte, dass ein Mensch in dem kalten Wasser so gut wie keine Überlebenschance hatte.

„Wie tief geht das runter?“, fragte sie über die Schulter.

„Siebeneinhalb Meter.“ Finner war ihr auf den Laufsteg gefolgt.

„Das ist ziemlich gefährlich.“ Wiebke riss sich vom Blick auf das Becken los und betrachtete den Meeresbiologen nachdenklich.

„Normalerweise nicht, denn unser Personal befindet sich niemals allein in diesem Raum. Wer sich am oder im Wasser befindet, hat immer eine Hilfsperson in seiner Nähe – so lautet die Vorschrift.“

Wiebke umklammerte den Handlauf jetzt so fest, dass ihre Knöchel weiß unter der Haut hervortraten. Sie fragte sich, wie sich ein Mensch fühlte, der hier in das Großbecken fiel, den Gedanken vor Augen, es nicht mehr ohne fremde Hilfe an Land zu schaffen. Panik, Herzrasen, Unterkühlung, Wasser in der Lunge, Ersticken. Ein grausamer Tod.

Wiebke wandte sich vom Blick in die Tiefe ab und folgte Finner, der sich wieder zu den anderen gesellte.

„Frag mich jetzt bitte nicht, wie lange der arme Teufel im Wasser gelegen hat“, wurde sie von Johannsen empfangen. „Ein Scheißtod, gar keine Frage.“

„Ist er ertrunken oder erfroren?“

„Das muss die Obduktion ans Licht bringen“, antwortete Dr. Clausen, dann wandte er sich an Piet Johannsen. „Ich bin durch hier“, sagte er sachlich. „Wenn du mich nicht mehr brauchst …“

„Kein Thema, hau ruhig ab, jetzt sind wir am Zug.“

„Danke.“ Der Mediziner nickte Mahndorf zu, schnappte sich den Koffer und verließ den Raum.

Der Staatsanwalt räusperte sich. „Erschwerend kommt hinzu, dass wir es bei dem Opfer mit einer bekannten Person zu tun haben, die in den letzten Monaten immer wieder im Mittelpunkt der Öffentlichkeit stand.“

„Heißt das, unsere Leiche war ein Promi?“ Petersen schüttelte den Kopf.

„Wenn Sie es salopp so nennen möchten, ja.“ Fritz Mahndorf nickte. „Sicherlich sagt Ihnen der Name Holger Heiners etwas?“

Petersen warf Wiebke einen Blick zu und machte große Augen. Er pfiff durch die Zähne. „Der Holger Heiners?“

„Ich weiß nicht, wie viele Personen mit diesem Namen Sie kennen, aber hier handelt es sich um den bekannten Immobilienkaufmann, der für das geplante Ferienressort am Dockkoog verantwortlich zeichnet. Das Bauvorhaben stößt immer wieder auf Kritik der Anwohner und Umweltschützer. Insofern hatte der Tote wahrscheinlich nicht nur Freunde, wie Sie sich denken können. Und genau dieser Umstand verleiht dem Fall eine ungewöhnliche Brisanz. Deshalb muss ich Sie schon zu diesem Zeitpunkt bitten …“

Petersen winkte ab. „Keine Panik, wir werden diskret vorgehen und niemanden von der Presse informieren, was für einen dicken Fisch wir hier heute aus dem Wasser gezogen haben.“

Für die Metapher fing sich Petersen prompt einen missbilligenden Blick von Mahndorf ein.

„Ich muss Sie doch bitten, den Fall mit dem nötigen Ernst zu behandeln.“

„Natürlich.“ Petersen murmelte eine Entschuldigung. „Steht denn fest, dass er es ist?“

„Hören Sie, ich kannte Heiners seit vielen Jahren. Wir spielten gemeinsam im Golfclub Husumer Bucht. Des Weiteren hat ein Blick in seine Brieftasche bewiesen, dass ich mich nicht irre.“ Mahndorf schüttelte den Kopf. „Verwechslungen sind also ausgeschlossen. Bei dem Leichnam handelt es sich eindeutig um Holger Heiners.“

„Wir haben auch sein iPhone sichergestellt“, mischte sich nun Johannsen ein. „Aber die Dinger reagieren allergisch auf Wasser, wie ihr euch vorstellen könnt. Ich werde trotzdem versuchen, die Daten auf dem Ding zu retten, aber garantieren kann ich nichts.“

„Kann ich ihn sehen?“

Wiebke blickte den Staatsanwalt an wie ein kleines Mädchen, das sich sehnlichst wünschte, sein Weihnachtsgeschenk schon vor Heiligabend begutachten zu dürfen.

„Natürlich.“ Mahndorf nickte.

Wiebke sah ihm an, dass es dem Staatsanwalt imponierte, dass sie sich freiwillig eine Leiche ansehen wollte, die einen längeren Zeitraum im Wasser verbracht hatte.

„Folgen Sie mir.“

Mahndorf führte sie an den Rand des Technikraumes. Von hier zweigten zahlreiche unbeleuchtete Nischen ab. Es gab einen schmalen Gang, der von armdicken Leitungen und Kabelsträngen gesäumt war, die ins Nichts zu führen schienen.

„Das sind unsere Katakomben“, erklärte Ralf Finner, dem Wiebkes ängstlicher Blick nicht entgangen war. „Ein ausgezeichnetes Versteck für Zeitgenossen, die Böses im Schilde führen.“

„Soll das bedeuten, dass man hier auf Heiners gewartet hat, um ihn in einen Hinterhalt zu locken?“ Petersen war stehen geblieben.

„Das herauszufinden ist Ihr Job, aber ich wollte nur darauf hinweisen“, erwiderte Finner ein wenig pikiert.

Zwei Männer in schlecht sitzenden, schwarzen Anzügen waren damit beschäftigt, den leblosen Körper in einen Leichensack zu betten. Als sie die Polizisten sahen, traten die Bestatter zurück. Wiebke ging neben dem Toten in die Hocke und betrachtete ihn. Vor dem Anblick einer Wasserleiche hatte sie sich nicht gefürchtet, und entgegen ihrer schlimmsten Vorstellung war Holger Heiners’ Leichnam nicht aufgequollen. Seine Haut wirkte wächsern. Winzige Bisswunden übersäten sein Gesicht.

„Was ist das?“, fragte sie an Ralf Finner gewandt.

„Das, wonach es aussieht“, erwiderte er. „Bisswunden, die ihm von den Tieren im Becken zugefügt worden sind.“

„Soll das heißen, dass …“, Wiebke stutzte.

„Es sind Tiere, und sie wollen sich ernähren, so einfach ist das.“

„Die Fische aus der Nordsee würden also einen Menschen fressen?“

„Es sind Aasfresser. Und wäre der Mann erst in zwei Wochen entdeckt worden …“ Finner machte eine Pause, „viel wäre wohl nicht mehr von ihm übrig.“

„Wie schätzen Sie die Situation ein? War das ein Unglück oder hat da jemand nachgeholfen?“

„Schwer zu sagen. Heiners muss irgendwie hier reingekommen sein. Was dann geschah, müssen Sie herausfinden, Frau Kommissarin.“ Der Meeresbiologe zuckte die Schultern.

Wiebke betrachtete den Toten. Mit dem Mann, den sie von zahlreichen Fotos in der Zeitung kannte, hatte er nicht viel gemeinsam, und trotzdem war Heiners zu erkennen. Sie schätzte ihn auf Ende vierzig, Anfang fünfzig. Zu einer Jeans trug er ein Poloshirt mit dem bekannten Alligator auf Höhe der Brusttasche; ganz sicher handelte es sich bei dem blassgelben Shirt nicht um ein Plagiat. Einen Schuh hatte er verloren. Die Haare trug Heiners kurz, an der rechten Hand erkannte sie einen dicken Ehering. Also gab es eine trauernde Witwe, die wahrscheinlich noch nichts davon ahnte, dass ihr Mann tot war.

Wiebke erhob sich und bedeutete den Männern vom Bestattungsinstitut, den Leichensack zu verschließen. Sie hatten Anweisung, den Leichnam zur Rechtsmedizin nach Kiel zu transportieren. Hier würde die Obduktion stattfinden, und Wiebke befürchtete, dass sie und Petersen anwesend sein mussten. So war es Vorschrift, doch sie würde sich nicht darum reißen. Sie blickte Mahndorf an. „Wie sollen wir vorgehen?“

„Ich möchte mich nicht in Ihre Arbeit einmischen.“

„Also brauchen wir das ganz große Besteck hier“, murmelte Petersen und zog das Handy hervor. Er wählte die Nummer des Ersten Kriminalhauptkommissars Matthias Dierks und forderte Verstärkung durch Kollegen aus anderen Kommissariaten und dem Streifendienst an. Danach wandte er sich an Finner, der den Bestattern die Tür aufgehalten hatte.

„Wir benötigen eine Liste aller, die zum Multimar Zugang haben. Mitarbeiter, Lieferanten, Kunden, weiß der Geier. Und sagen Sie Ihrem Chef, dass der Laden bis auf Weiteres geschlossen bleibt.“

„Sie ist weg!“ Ein zierliches Mädchen mit kurzen, dunklen Haaren kam ihnen völlig aufgelöst im Treppenhaus entgegen. Ihr Gesicht war vor Aufregung gerötet. An der dunkelblauen Weste mit dem Multimar-Logo auf der Brust erkannte Wiebke, dass sie zum Personal gehörte. Unsicher irrte ihr Blick zwischen Finner, der offenbar ihr Vorgesetzter war, und den Polizisten hin und her. „Ich war nur kurz eine rauchen, und als ich zurückkam …“

„Maike – wovon sprichst du?“ Ralf Finner blieb stehen und starrte sie entsetzt an. „Was heißt das: ,Sie ist weg‘?“

Maike wirkte hilflos. „Wenn ich das wüsste! Ich habe ihr gesagt: ,Warte hier, die Polizei kommt gleich und wird dich befragen, du musst hier bleiben‘, aber sie hat sich einfach nicht aufhalten lassen und ist abgehauen. So kenn ich die Beke gar nicht!“

„Warum sollte sie flüchten?“ Ralf Finner war es sichtlich peinlich, dass sich Beke Frahm der Befragung durch die Polizei entzogen hatte. „Sie hat doch gar nichts zu verbergen.“

„Wahrscheinlich steht sie unter Schock.“ Wiebke lächelte ihn freundlich an. „So etwas passiert schon mal. In solchen Situationen neigen manche Leute zu irrationalen Fluchten – meist dorthin, wo sie sich geborgen fühlen. Nach Hause, beispielsweise.“

„Ich werde Ihnen ihre Adresse heraussuchen, Frau Ulbricht.“ Finner führte die Beamten in den verwaisten Pausenraum, wo er ihnen einen Kaffee anbot. Petersen entschuldigte sich mit Kreislaufproblemen und lehnte dankend ab. Wiebke betrachtete ihn nachdenklich, kommentierte die Bemerkung ihres Partners aber nicht. Später würde sie mit ihm reden. Danach verschwand Finner von der Bildfläche. Das junge Mädchen, das offenbar die Aufgabe gehabt hatte, sich um die unter Schock stehende Beke zu kümmern, war ebenfalls fort. Wiebke hoffte, dass ihr nun keine personellen Konsequenzen drohten. Sie sank auf einen der einfachen Stühle in der Kaffeeküche und blickte durch das große Fenster hinaus in die Marsch. Der Regen hatte nachgelassen, doch noch immer war der Himmel grau. Wiebke pustete in die Tasse und genoss den leicht bitteren Geschmack des Kaffees.

„Was ist das für eine Scheiße?“, fragte sie leise an ihren Partner gewandt.

Petersen hockte sich vor ihr auf die Tischkante. „Heiners hatte Dreck am Stecken, jede Wette. Immer wieder geistern Gerüchte durch die Medien, dass er nicht ganz legal gearbeitet haben soll, um zum gewünschten Erfolg zu kommen. Das verschaffte ihm zwar Vorteile gegenüber seinen Mitbewerbern, aber auch viele Neider und Feinde.“ Er winkte ab. „Und wir können nun zusehen, dass wir die Nadel im Heuhaufen finden.“

„Sicherlich wird sich die Mordkommission einmischen, dann sind wir raus aus der Sache.“ Der Erste Kriminalhauptkommissar Udo Friedrichs von der Bezirkskriminalinspektion Flensburg leitete die Mordkommission. Er war für seine selbstherrliche und herrschsüchtige Art bekannt. Wiebke konnte gut darauf verzichten, ihm zuzuarbeiten. In Petersens momentaner Gemütslage konnten die Männer schnell aneinandergeraten; und da Friedrichs am längeren Hebel saß, würde Jan Petersen mit den Konsequenzen leben müssen.

„Die sind doch chronisch unterbesetzt“, unkte Petersen. „Mit ein bisschen Glück nehmen die uns den Bürokram ab. Die Feldarbeit bleibt an uns hängen, jede Wette! Aber so wie ich KHK Friedrichs kenne, wird er froh sein, am Ende die Pressekonferenz zu leiten und seine dumme Visage in jede Kameralinse zu halten. Der ist so was von mediengeil!“

Wiebke lachte trocken auf. In der Tat munkelte man hinter seinem Rücken, dass Friedrichs an einer Profilneurose litt. „Du machst mir ja richtig Mut.“ Dann wurde sie ernst. „Sag mal, glaubst du wirklich, dass die junge Frau, die Heiners im Becken entdeckt hat, unter Schock steht und deshalb abgehauen ist?“

Petersen rutschte von der Tischkante herunter, um durch den Raum zu wandern. „Ich weiß es nicht. Welchen Grund sollte sie sonst haben, sich zu verdünnisieren?“

„Vielleicht hängt sie tiefer in der Sache mit drin, war vielleicht in den Ablauf involviert.“

„In welchen Ablauf?“ Petersen unterbrach seine Wanderung und runzelte die Stirn.

„So ein Mord – ich gehe mal bewusst von Mord aus – muss von langer Hand geplant werden, Jan. Holger Heiners muss herkommen, also wird man ihn unter einem fadenscheinigen Grund hergelockt haben, was nicht ganz leicht gewesen sein dürfte. Dann muss sichergestellt sein, dass er außerhalb der Öffnungszeiten ins Multimar kommt, also muss jemand in der Sache mit drin hängen, der Zugang zum Gebäude hat und sich mit den Gegebenheiten dort auskennt. Dass der Täter sein Opfer im Großbecken entsorgt, grenzt doch an einen perfekten Mord.“

Petersen schüttelte den Kopf. „Mach mal langsam, Mädchen. Wo ist das bitte schön ein perfekter Mord? Die Leiche ist da und wurde sogar an einer prägnanten Stelle verkippt, wenn ich das mal so ausdrücken darf. Der Mörder serviert uns sein Opfer auf dem Silbertablett, ich will gar nicht wissen, wie viele Menschen täglich vor der großen Scheibe hocken, um den Fischen bei ihrer Mahlzeit zuzuschauen.“ Petersen nahm Wiebke die Kaffeetasse aus der Hand und trank wie selbstverständlich einen Schluck davon, bevor er fortfuhr: „Wenn du mich fragst, hat der sich was dabei gedacht. Man sollte den Toten sehen, je mehr Leute, desto besser.“

„Eine Inszenierung?“ Daran hatte Wiebke noch gar nicht gedacht. „Du meinst, er sucht die Öffentlichkeit?“

„Er selbst nicht – aber er wollte mit seiner Tat ein Zeichen setzen, so rum wird ein Schuh draus. Denk mal nach! Holger Heiners galt bei vielen Leuten als Buhmann. Nicht, weil er sich mit seinen Immobilien verspekuliert hat, sondern weil er da bauen will, wo es Umweltschützern so richtig wehtut: Am Dockkoog.“

Wiebke machte eine wegwerfende Handbewegung. „Mal Hand aufs Herz: Eine Touristenattraktion ist der Dockkoog doch schon lange nicht mehr. Und nun kommt einer, der frischen Wind in die Stadt bringen will.“

„Dabei schert er sich einen Dreck um die Stimmen der Umweltschützer.“

„Weil er nicht viel von der vorhandenen Landschaft verbauen wird“, trumpfte Wiebke auf. „Das habe ich nämlich in der Zeitung gelesen. Angeblich wird er das Naturschutzgebiet vollständig erhalten.“

„Das sagt er jetzt. Aber es gibt genügend Menschen, die ihm nicht von jetzt auf gleich trauen, wenn du mich verstehst.“

„Und das Multimar gehört zum Naturpark Wattenmeer. Man lebt den Naturschutz sozusagen mit Leib und Seele.“

Petersen grinste. „Jetzt verstehen wir uns.“

„Ich habe hier die Anschrift von Frau Frahm.“ Ralf Finner war mit einem kleinen karierten Zettel in der Hand im Aufenthaltsraum erschienen. „Vielleicht versuchen Sie es einfach bei ihr zu Hause? Sie lebt in der alten Schule von Oldenswort.“

„Danke.“ Wiebke leerte den Kaffee und stellte die Tasse auf den Tisch. Sie erhob sich und nahm den Zettel an sich. „Sagen Sie“, fragte Wiebke, als sie an der Tür angekommen war. „Gibt es hier eigentlich Naturschützer unter dem Personal, aktive Naturschützer, meine ich?“ Finner nickte. „Ich weiß, was Sie jetzt denken.“ Er winkte ab. „Aber ich kann Sie beruhigen. So ist es nicht. Niemand von meinen Leuten wäre zu einem Mord imstande.“

„Das werden wir überprüfen müssen“, erwiderte Wiebke, dann waren sie draußen. Petersen telefonierte bereits mit Matthias Dierks, ihrem direkten Vorgesetzten. Er schilderte ihm den Stand der Dinge und bat um Unterstützung der anderen Ermittlerteams. Nun war es eine Frage der Zeit, bis die Presse auf den Fall aufmerksam wurde.

Oldenswort, 9.40 Uhr

„Ist es das?“ Wiebke beugte sich im Beifahrersitz vor. Der Kirchenweg von Oldenswort führte U-förmig um die Dorfstraße herum. Der spitze Kirchturm von Sankt Pankratius ragte in den trüben Himmel, als wolle er ein Loch in die graue Wolkendecke bohren.

Petersen hatte den Dienstwagen vor der ersten Linksbiegung gestoppt. Auf seiner Seite befand sich ein alter Hof, über den sich Wäscheleinen spannten. Ein alter Mann trat gerade in gebückter Haltung ins Freie und äugte misstrauisch zu ihnen hinüber. Auf dem eingezäunten Hof parkten drei Autos – ein alter Audi und zwei rote Kleinwagen, alle mit nordfriesischer Zulassung. An der schmutzigen Fassade lehnte ein rostiges Fahrrad, das irgendwann einmal schwarz gewesen sein musste. Auf dem Hof selbst, hüfthohes Unkraut. Der Alte schleppte einen Müllsack zu den Abfalleimern im Hof und ließ Wiebke und Petersen dabei keine Sekunde aus den Augen.

„Hui, das nenn ich mal einen wachsamen Nachbarn“, grinste Petersen und legte den Gang ein.

„Dann leg dich lieber nicht mit ihm an“, lachte Wiebke.

Das hübsche, reetgedeckte Friesenhaus auf der gegenüberliegenden Straßenseite wollte gar nicht zu dem heruntergekommenen Gebäude passen, das offensichtlich tatsächlich früher mal eine Schule beherbergt hatte. Es war sauber und gepflegt; der genaue Gegensatz zu dem Kasten auf der anderen Straßenseite.

Petersen lenkte den Wagen an den Straßenrand. Sie stiegen aus und suchten nach der vorderen Haustür, die sich hinter der nächsten Biegung der kleinen Straße befand. Ein frischer Wind wehte den Duft von Kuhmist heran. In der Ferne bellte ein Hund. Landidylle pur, dachte Wiebke, als ihr Blick über die Backsteinfassade der alten Schule strich. Wie es aussah, hatte hier schon lange niemand mehr Geld in den Erhalt des Hauses gesteckt. Es gab zwei schmuddelige weiße Haustüren, die jeweils drei Klingelschilder aufwiesen. Daneben hingen verbeulte Blechbriefkästen, zwischen den beiden Türen eine nackte Glühbirne.

„Idyllisch ist anders“, kommentierte Petersen, als er einen Finger auf die Klingel von Beke Frahm legte. Das Schrillen der Glocke drang an ihre Ohren. „Will nur hoffen, dass der Alte gleich nicht vor uns steht.“

„Wir sind bewaffnet“, grinste Wiebke und legte eine Hand ans Holster.

Bevor Petersen etwas erwidern konnte, ertönte der Türsummer. „Immerhin der geht“, kommentierte er und stemmte sich gegen die schwere Haustür. Sie standen in einem heruntergekommenen Treppenhaus. Irgendwo dudelte ein Radio, aus einer anderen Richtung drang das Weinen eines Kindes an ihre Ohren.

Über eine knarrende Holztreppe gelangten sie in das erste Obergeschoss. Eine der Wohnungstüren war nur angelehnt. Wiebke, die vorgegangen war, zögerte. Sie klopfte an das vergilbte Holz.

„Frau Frahm, sind Sie da?“

„Moment bitte, ich komme!“

Schritte näherten sich, dann wurde die Tür weit geöffnet. Wiebke und Petersen standen vor einer jungen Frau mit schulterlangen, blonden Haaren, die sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Sie trug ein weites T-Shirt und eine bequeme Jogginghose und machte nicht den Eindruck, gerade von der Arbeit zu kommen. Ihre Miene drückte Verwunderung über den Besuch der Kommissare aus.

Wiebke hielt ihr den Dienstausweis hin und stellte sich vor.

„Ich bin Kommissarin Ulbricht von der Kripo in Husum, das ist mein Kollege, Hauptkommissar Petersen.“ Sie lächelte. „Dürfen wir einen Moment reinkommen?“

„Dann kommen Sie wegen der Leiche im Becken?“ Ihre Stimme klang tonlos, unbeteiligt und matt.

„Richtig.“ Petersen nickte. Sie folgten der Frau in die Wohnung und betraten die Stube. Dafür dass das Haus von außen schäbig wirkte, war Beke Frahms Wohnung modern und heimelig eingerichtet. Die Wände waren weiß und cremefarben gestrichen, auf dem Boden lag helles Laminat in Dielenoptik. Auch die alten Kassettentüren wirkten sauber und frisch gestrichen.

„Schön haben Sie es hier“, bemerkte Wiebke.

Beke Frahm nickte und lachte trocken auf. „Dafür dass ich in dieser Bruchbude lebe, versuche ich es mir so gemütlich wie möglich zu machen – wer weiß, wie lange ich hier noch wohnen darf.“

Wiebke tauschte einen Blick mit Petersen. „Sie müssen ausziehen?“

Die junge Frau zuckte die Schultern. „Vielleicht. Haben Sie das große Schild am Zaun zum Hof nicht gesehen? ,Baugrundstück zu verkaufen‘, steht da. Mein Vermieter hat keine Lust mehr, in eine mehr als hundert Jahre alte Schule zu investieren. Oder er ist pleite, ich weiß es nicht. Deshalb sucht er einen Käufer für das Grundstück. Wahrscheinlich müssen wir dann alle ausziehen, bevor der Bagger kommt und alles hier dem Erdboden gleichmacht.“ Sie brach ab und machte eine wegwerfende Handbewegung.

„Ach, vergessen Sie es.“

Schweigend setzten sie sich – Petersen auf das Zweiersofa, Wiebke sank auf den Sessel, und Beke Frahm nahm auf der Dreiercouch Platz. Sie zog ein Bein unter das Gesäß und begann an den Fingernägeln zu kauen.

„Warum sind Sie abgehauen?“, fragte Wiebke. „Wir hatten noch ein paar Fragen an Sie.“

„Dann können Sie mich doch jetzt auch hier fragen“, erwiderte Beke Frahm trotzig. Ein fahriger Blick zu Wiebke und Petersen, danach starrte sie auf den Fußboden. „Auf der Arbeit hab ich es nicht länger ausgehalten. Erst die gruselige Entdeckung im Aquarium, dann die Fragen der Kollegen, die immer gleichen nervigen Fragen.“ Sie schüttelte den Kopf. „War alles ein bisschen viel, verstehen Sie?“

„Möchten Sie uns erzählen, wie Sie den Mann im Wasser gefunden haben?“, wagte Wiebke einen Vorstoß. Sie lächelte die Angestellte des Multimar freundlich an und empfand ein wenig Mitleid mit ihr. Natürlich sprach sich ein solcher Fund schnell bei den anderen Mitarbeitern herum. Entsprechend belastend waren die Fragen der Kollegen. Immer die gleichen Fragen, immer die gleichen Antworten.

Beke betrachtete Wiebke nachdenklich, dann nickte sie. Stockend erzählte sie den Beamten, wie sie morgens die Ausstellung eröffnet hatte. Und sie berichtete ungewöhnlich sachlich, wie sie Holger Heiners im Becken gefunden hatte, während die Fische an ihm herumknabberten. Würden nicht Tränen in ihren Augen glänzen, hätte Wiebke denken können, dass Beke Frahm der Vorfall absolut kalt ließ. Doch so war es nicht, und die junge Kommissarin spürte, wie nah der Tod des Mannes der Biologin zu gehen schien.

„Kannten Sie den Toten?“, fragte Wiebke, nachdem Beke Frahm ihre Ausführungen abgeschlossen hatte.

„Nein.“ Sie klang entschlossen, fast energisch, als sie Wiebke kopfschüttelnd anblickte. „Wie kommen Sie denn darauf?“ Ihre Stimme war plötzlich ein paar Nuancen höher, und Wiebke beobachtete sie sehr aufmerksam. Sie sah, wie sich die junge Frau zur Ruhe zwang. Nervös strichen ihre Hände über den Stoff des Sofas.

„Nordfriesland ist überschaubar – jeder kennt jeden.“ Wiebke hatte keine Lust, ihr gleich zu eröffnen, dass die junge Frau einen bekannten und nicht sehr beliebten Immobilienkaufmann tot aufgefunden hatte. Sie erhoffte sich, Beke Frahm so ein wenig mehr aus der Reserve locken zu können.

„Das müssen Sie mir nicht erzählen – ich bin hier aufgewachsen“, erwiderte die junge Frau nun mit einem matten Lächeln.

Entweder kannte sie Holger Heiners wirklich nicht, oder sie war eine grandiose Schauspielerin, dachte Wiebke.

„Wie lange arbeiten Sie schon im Multimar?“ Petersen hatte sich geräuspert, nachdem Beke Frahm schwieg.

„Seit einigen Monaten. Ich konnte dort gleich nach dem abgeschlossenen Studium anfangen.“

„Was gehört zu Ihren Aufgaben?“

„Derzeit betreue ich unsere Ausstellung. Das beginnt morgens damit, den ersten Rundgang zu machen.“ Sie kaute auf der Unterlippe und wich den Blicken der Polizisten aus. Plötzlich wirkte sie wieder nervös, und auch ihr Lachen klang ein wenig hysterisch. „Womit wir wieder beim Thema wären.“

„Ist Ihnen außerdem etwas aufgefallen, als Sie heute Morgen ins Multimar kamen? Etwas Ungewöhnliches?“ Petersen fixierte die junge Frau mit seinem Blick. Seine Miene wirkte versteinert, und Wiebke wunderte sich über seine knallharte Art, die sie nicht von ihm gewohnt war. Sie beschloss, ihn später endlich zu fragen, was ihn beschäftigte.

„Nicht dass ich wüsste“, erwiderte Beke Frahm, ohne ihn anzublicken. „Ich war ja nicht die Erste im Gebäude. Meist sind ein paar Techniker schon da, die sich um die anfallenden Reparaturen und Wartungsarbeiten kümmern. Aber in der Ausstellung war ich die Erste an diesem Morgen. Das ist nichts Besonderes, sollte das ihre nächste Frage sein. Haben Ihre Leute denn keine Einbruchspuren festgestellt?“

„Wir warten die Auswertung der Untersuchungen ab“, erwiderte Petersen ausweichend. Dass er mit Piet Johannsen nicht darüber gesprochen hatte, ob sich möglicherweise jemand unbefugt Zutritt zum Multimar verschafft hatte, ärgerte ihn sichtlich.

„Der Täter muss ja irgendwie da reingekommen sein. Und zum Team gehört er nicht, so viel kann ich Ihnen sagen.“ Ein seltsamer Unterton klang in Beke Frahms Worten mit.

„Warum legen Sie für Ihre Kollegen die Hand ins Feuer?“, fragte Petersen.

„Ich weiß einfach, dass die Kollegen so etwas nicht tun würden.“ Sie lachte, und es klang gereizt.

„Darf ich fragen, wo Sie die letzte Nacht verbracht haben?“ Wiebke achtete auf jede Regung im Gesicht der jungen Frau, deshalb entging ihr nicht das fast unmerkliche Zucken im rechten Augenwinkel von Beke Frahm.

„Hier“, sagte sie ein wenig zu schnell. „Ich war hier.“

„Allein nehme ich an?“ Wiebke musterte sie eindringlich. „Oder haben Sie einen Freund?“

„Nein, wie kommen Sie darauf?“

„Wäre das so abwegig?“

Nun lächelte die junge Frau, doch ihre Blässe war einem leicht roten Hautton gewichten. „Nein“, sagte sie kopfschüttelnd. „Das wäre es wohl nicht. Also – ich war allein hier, habe Fernsehen geguckt, gebadet und bin dann recht früh zu Bett gegangen.“

„Danke.“ Wiebke erhob sich, Petersen folgte ihr.

Auch Beke Frahm stand auf und brachte ihren Besuch zur Tür. Wiebke reichte ihr eine Visitenkarte mit dem Wappen der Polizei von Schleswig-Holstein und bat sie, sie anzurufen, falls ihr noch etwas einfiele. An der Tür wandte sie sich noch einmal um. „Ach und, Frau Frahm: Wie sind sie so schnell von Tönning hierher gekommen? Mit dem Auto?“

„Nein.“ Sie lächelte. „Normalerweise fahre ich mit dem Rad, das ist gut für die Figur.“ Sie klopfte sich bezeichnend auf die Hüften. „Aber heute war ich spät dran. Um Ihre Frage zu beantworten: Ich habe mich von einem Freund abholen und nach Hause fahren lassen.“

„Hat der Freund sie morgens auch zur Arbeit gebracht, wenn sie normalerweise mit dem Rad fahren?“, fragte Petersen.

„Ja … ist das wichtig?“

„Für unsere Ermittlungen sind auch solche Details wichtig. Eventuell brauchen wir später noch den Namen und die Adresse ihres Freundes.“ Petersen nickte, dann waren sie draußen.

Nachdem sich die Wohnungstür hinter ihnen geschlossen hatte, blickte Wiebke ihren Kollegen an. „Und nun?“

„Komm erst mal mit.“ Er ging nach unten; Wiebke folgte ihm. Als sie draußen standen, winkte er ab. „Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll“, murmelte er und zündete sich mit umständlichen Bewegungen eine Zigarette an. „Aber irgendetwas stimmt mit ihr nicht. Sie hat ein schlechtes Gewissen.“

„Warum sollte sie das haben? Sie hat die Leiche im Wasser gefunden, ist nervös und steht unter Schock – das würde auch ihre Flucht aus dem Multimar erklären. Meinst du, sie verschweigt uns etwas?“

„Da ist mehr im Busch“, bestätigte Petersen und paffte den Rauch in den wolkigen Himmel. Seite an Seite marschierten sie zum Auto. Dort wurden sie bereits erwartet.

Wiebke erkannte den alten Mann, der vorhin den Müll nach unten gebracht hatte.

„Und?“, fragte er sie grimmig. „Zieht sie jetzt aus?“

„Wie bitte?“ Wiebke lächelte.

„Ob das junge Ding nun auszieht.“ Er betrachtete die Polizisten. „Sie sind doch von diesem Heiners geschickt worden, oder?“

„Moment, Moment“, rief Petersen nun. In ihm schrillten sämtliche Alarmglocken. „Wovon sprechen Sie?“

„Sie kenn ich noch gar nicht. Der Heiners schickt sonst immer so gestriegelte Lackaffen, die uns Angst machen sollen.“ Der alte Mann schüttelte das ergraute Haupt. Die dunkelblaue Kapitänsmütze drohte ihm vom Kopf zu rutschen. „Nee, nicht mit mir, einschüchtern lasse ich mich nämlich nicht.“

Wiebke hatte eine Ahnung, woher der Wind wehte. Sie lächelte den alten Mann freundlich an und zeigte ihm ihren Dienstausweis. „Wir kommen von der Kriminalpolizei und haben Frau Frahm wegen einer anderen Sache besucht.“ Um zu vermeiden, dass der Alte Beke Frahm als Kriminelle einschätzte, schob sie eilig hinterher: „Sie ist eine wichtige Zeugin für uns und kann uns bei der Aufklärung eines Verbrechens behilflich sein – deshalb sind wir hier.“

„Sie sprechen nicht zufällig von Holger Heiners, dem Immobilienmakler?“ Petersen wurde hellhörig.

„Doch, doch, junger Mann. Dem gehört der Kasten seit einem knappen Jahr. Er will uns alle hier rausekeln und das Haus abreißen lassen. Wahrscheinlich baut er dann hier Ferienwohnungen oder so‘n Schiet.“ Der Alte winkte ab. „Ein Verbrecher ist das, sag ich Ihnen.“ Er hatte sich in Rage geredet. „Aber mich kriegt der hier nicht raus. Ich hab Wohnrecht auf Lebenszeit, daran ändert auch seine Kündigung nichts.“

„Ich denke, er wird Sie künftig in Ruhe lassen.“ Wiebke bedeutete Petersen, dass es höchste Zeit wurde. Ihre Ungeduld wuchs nun auch. Sie wollte wissen, wie viele Feinde der Mann hatte, den sie am Morgen tot im Großbecken des Multimar gefunden hatten. Und sie wusste auch schon, wen sie ganz unbürokratisch fragen konnte. Als sie auf dem Weg nach Husum waren, wusste Wiebke, dass sie später noch einmal mit Beke Frahm reden mussten. Aber der Staatsanwalt erwartete noch am Vormittag erste Ergebnisse, und die Zeit rann ihnen förmlich durch die Finger.