SIEBEN

Er fragte sich, wo sie lebte. Nachdem er Husum und den kleinen Badestrand – konnte man das trocken gelegte Feuchtbiotop überhaupt Strand nennen? – erkundet hatte, machte er sich auf den Weg in das Dorf, in dem sie jetzt lebte. Unwillkürlich drängten sich ihm Fragen auf. Hatte sie hier auch ihre Kindheit verbracht? War sie hier aufgewachsen und zur Schule gegangen, oder war sie erst später, im Erwachsenenalter, nach Ostenfeld gezogen?

Während er den Ortsausgang von Husum passierte und die Gegend ländlicher wurde, versuchte er sich an das zu erinnern, was man ihm über die Gegend berichtet hatte. Drei Dörfer waren es, die irgendwie zusammenhingen. Ostenfeld, Wittbek und Winnert. Die Flusslandschaft nannte sich Eider-Treene-Sorge. Von einem Fluss war allerdings noch nichts zu sehen. Aber die Flüsse lagen, wenn er sich die Landkarte in der Erinnerung aufrief, erst im Landesinneren. Sein Gedächtnis funktionierte präzise wie eine Maschine, mit der er die einmal gespeicherten Daten abrufen konnte. Wahrscheinlich lag das an seiner jahrelangen Berufserfahrung. Sein Gehirn war gut geschult. Diese drei Dörfer waren umgeben von sattem Grün und luden Feriengäste zu Wanderungen und Radtouren ein.

Gut, dachte er. Wer es braucht. Ihm war die Gegend schon jetzt zu einsam, und er fragte sich, wie sie es hier aushielt. Die Ostenfelder Straße führte fast schnurgerade durch eine Landschaft, die von Großwindanlagen und Feldern geprägt war. Immerhin, so machte er sich Mut, war es nicht weit bis Husum. Zwölf Kilometer trennten Ostenfeld von der grauen Stadt am Meer. Als er das gelbe Ortseingangsschild der tausendfünfhundert Einwohner zählenden Gemeinde erreichte, wuchs die Aufregung in ihm. Er rechnete damit, dass fortan jeder seiner Schritte beobachtet wurde. Wahrscheinlich hatte man an seinem Nummernschild längst bemerkt, dass ein Fremder im Dorf war. Er erwischte sich dabei, auf die Fenster der Häuser, die nun die Hauptstraße säumten, zu achten. Sah er dahinter Schatten? Bewegten sich die Gardinen?

Unsinn, schalt er sich einen Narren. So etwas gibt es doch nur im Film.

Husum, Adolf-Brütt-Straße, 15.55 Uhr

Nachdem sie Jörn Holst in der Polizeidirektion abgeliefert hatten, setzten sich Wiebke und Petersen wieder ins Auto und suchten die Begleitagentur auf, bei der Holst angeblich Kunde war.

Die Agentur befand sich in einem unauffälligen Bürogebäude an der Adolf-Brütt-Straße. Nur ein kleines Schild mit der Aufschrift „HES – Ihr Service für gewisse Stunden“ verriet, dass sich hier das Büro des Husumer Escort Service befand. Über der Tafel mit der Klingel entdeckten sie eine kleine Kamera, mit der Besucher begutachtet werden konnten, bevor sie ins Haus gelassen wurden. Wiebke drückte den Klingelknopf und wartete. Als man sie über eine Gegensprechanlage nach ihren Wünschen fragte, hielt sie kommentarlos ihren Dienstausweis vor die Kameralinse. Es dauerte keine Sekunde, bis der Türsummer ertönte und ihnen Einlass in ein kühles Treppenhaus gewährte.

Petersen grinste. „Sesam öffne dich.“

„Wie gehen wir vor?“

„Wie die Profis.“ Nun lachte er. „Sicheres Auftreten bei völliger Ahnungslosigkeit. Du machst das schon.“

„Na, schönen Dank auch.“

„Da nich‘ für.“

Prompt fing er sich einen freundschaftlichen Seitenhieb von Wiebke ein.

Im ersten Stock war eine Tür nur angelehnt, und Wiebke klopfte, bevor sie eintrat. Als von drinnen ein etwas zögerliches „Herein“ ertönte, stieß sie die Tür auf und betrat den Empfang. Ein Tresen, darauf eine exotische Pflanze, grauer Teppich und helles Mobiliar ließen eher auf ein Versicherungsbüro oder auf einen Immobilienmakler, nicht aber an die Verwaltung eines Escort-Service denken.

Eine etwa vierzigjährige, schlanke Frau stand hinter dem Tresen und lächelte. Eine feine Parfümwolke umgab sie. Den Ausschnitt der Bluse fand Wiebke ein wenig gewagt, doch die Frau konnte es sich leisten, denn ihr Dekolleté war atemberaubend. Das lange, dunkle Haar trug sie offen.

„Was kann ich für Sie tun?“

„Wer bucht bei Ihnen die Damen?“, kam Wiebke ohne Umschweife auf den Grund ihres Besuches.

„Ich. Mein Name ist Thordis Wimmer, ich bin die Geschäftsführerin des HES.“ Sie strahlte Selbstbewusstsein, aber keine Arroganz aus.

„Es geht um einen Ihrer Kunden.“

„Klienten“, wurde Wiebke ein wenig pikiert verbessert.

„Wie dem auch sei. Sagt Ihnen der Name Jörn Holst etwas?“

„Möglich.“

„Er behauptet, gestern eines Ihrer Mädchen gebucht zu haben.“

„Auch das ist möglich.“

Wiebke hasste es, wenn Menschen um den heißen Brei redeten. „Hören Sie, wir haben keine Lust auf ein Frage-Antwort-Spiel. Wir ermitteln in einem Todesfall und sind auf sachdienliche Hinweise dringend angewiesen, also legen Sie die Karten auf den Tisch, Frau Wimmer.“

Wiebkes klare Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Thordis Wimmer senkte den Blick und präsentierte ihre kunstvoll getuschten Augenlider. „Normalerweise ist die Diskretion in unserem Geschäft das A und O“, versuchte sie ihr Verhalten zu erklären. „Wir sind eine exklusive Begleitagentur, die Damen haben Stil und sind intelligent, und wir haben uns ein gewisses Ansehen erarbeitet und möchten das Niveau gern halten. Zahlreiche einflussreiche Politiker, Geschäftsleute und Künstler zählen zu unseren Klienten, da halten wir mit Namen hinter dem Berg.“

„Das tun wir auch“, versprach Petersen und schenkte der Frau ein nachsichtiges Lächeln. „Wenn Sie jetzt so gut wären und Ihre Unterlagen durchschauen? Sonst müssten wir Ihre Computer beschlagnahmen und uns die erforderlichen Unterlagen selbst suchen.“

„Um Gottes willen, dann bin ich geschäftsunfähig.“ Thordis Wimmer schlug theatralisch die Hände vors Gesicht, dann huschten ihre lackierten Fingernägel über die Tastatur ihres Rechners. „Jörn Holst war zum ersten Mal bei uns“, sagte sie dann.

„Also hat er tatsächlich ein Mädchen gemietet?“ Petersen grinste.

„Er hat eine unserer Damen gebucht“, korrigierte ihn Brigitte Wimmer empört. „Ja“, fügte sie dann an Wiebke gewandt hinzu. „Das Datum stimmt. Es gibt eine Buchung.“

„Wie heißt das Mädchen?“ Wiebke stützte sich auf dem Empfangstresen ab und versuchte, etwas von den Einträgen in der Datenbank zu erkennen.

„Chantal.“

„Ich bitte Sie“, erwiderte Wiebke zweifelnd. „Wir wollen nicht ihren Künstlernamen wissen.“

„Bürgerlich heißt sie Karin Vogt und wohnt in Simonsberg. Die Adresse kann ich Ihnen aufschreiben.“

„Was mich interessieren würde“, setzte Petersen nach. „Was hat Holst der Spaß gekostet?“

Ein paar Mausklicks, dann: „Dreihundertfünfzig Euro.“

„Danke.“ Petersen nickte. Er hatte genug gehört und nickte Wiebke zu.

„Bitte schreiben Sie uns den Namen und die genaue Anschrift Ihrer Mitarbeiterin auf, dann lassen wir Sie in Ruhe.“

„Gern.“ Thordis Wimmer nickte dienstbeflissen und schrieb die gewünschten Daten auf einen Zettel, den sie Wiebke reichte. „Und bitte – wahren Sie die Diskretion, wenn es möglich ist.“

„Wir tun unser Bestes“, versprach Wiebke und verabschiedete sich von der Geschäftsführerin des Husumer Escort Service. Sie würde das dumpfe Gefühl nicht los, dass irgendetwas an der Geschichte nicht stimmte.

Ostenfeld, Hauptstraße, 16.05 Uhr

Der Eingang befand sich etwas abseits von der Straße in einem Anbau, der offenbar als eigenständiges Wohnhaus auf dem gleichen Grundstück diente. Das erklärte auch das „A“ hinter ihrer Adresse, dachte er und blickte sich aufmerksam um. Unter einem Carport parkte ein metallicfarbener Renault Mégane älteren Baujahres. Irgendwie konnte er sich nicht vorstellen, dass sie einen Mégane fuhr. Wahrscheinlich, so konstatierte er weiter, gehörte der Wagen ihren Nachbarn. Hinter dem Haus lag der Garten, rechts ein Schuppen, dahinter eine Koppel. Fehlte nur noch, dass hinter dem Haus Schafe weideten.

Oder Kühe.

Nach Gülle roch es jedenfalls.

Das Krähen eines Hahns in der Nachbarschaft ließ keine Zweifel offen: Er war auf dem Land angekommen. Er wandte sich um und betrachtete die Fassade. Tiefroter Backstein, wie fast alle Fassaden in diesem Landstrich. Fast wunderte er sich ein wenig darüber, dass die Friesen ihre Straßen nicht auch noch verklinkert hatten.

Das Dach, so stellte er fest, bestand nicht aus einer Deckung mit Reet. Nichts Halbes und nichts Ganzes, dachte er ein wenig spöttisch. Nachdem er seine Betrachtung abgeschlossen hatte, wandte er sich dem Hauseingang zu, einer zweiteiligen Tür mit kleinen, gewölbten Scheiben. Dahinter ein Flur, wie es ihn zu Hunderttausenden gab. Eine bemalte Milchkanne, die als Schirmständer zweckentfremdet wurde, und eine Garderobe. Draußen ein Blumenpott, darüber ein eisernes „Willkommen“-Schild, das im Wind klapperte und ihn an die Karabiner eines Segelbootes erinnerte.

Er trat einen Schritt zurück und studierte die beiden Namen auf dem Klingelschild. Wie der Blitz traf ihn der Gedanke, dass sie vielleicht längst verheiratet war. Ein Stich durchzuckte seine Brust, als er sich ausmalte, dass sie glücklich verliebt sein könnte – möglicherweise sogar schon Mutter war.

Der Gedanke befremdete ihn. Sein Mädchen mit einem kleinen Kind auf dem Arm?

Aber was verlangte er? Immerhin hatten sie sich rund zwanzig Jahre nicht gesehen. Verdammt lange her, die Zeit blieb nicht stehen, und nun plagten ihn Selbstzweifel.

Ja, er hätte sie schon oft anrufen sollen. Vielleicht einfach Interesse an ihr und an ihrem Leben zeigen. Doch nichts von dem hatte er getan. Ab und zu mal eine Karte zu Weihnachten oder zum Geburtstag, das wars auch schon gewesen. Und selbst die Schreiberei war im Laufe der Zeit in Vergessenheit geraten. Verbittert hatte er sich in das Berufsleben gestürzt und sein Privatleben einfach ausgeblendet, so gut es ging.

Nun überlegte er, ob sie es ähnlich getan hatte. Wahrscheinlich hatte sie ihn längst vergessen, ihn aus ihrem Leben verbannt. Und er konnte ihr dafür nicht einmal böse sein.

Er zögerte, hob den Arm, hielt noch einmal inne, dann drückte er den Klingelknopf mit dem Schild, auf dem ihr Name stand. „W. Ulbricht“ stand dort. Er holte tief Luft, fast so, als würde es ihm unendliche Überwindung kosten, dann klingelte er ein zweites Mal. Irgendwo im Haus zerriss ein Gong die Stille.

Es tat sich nichts. Er wartete eine halbe Minute, dann wagte er einen dritten Versuch, nach einer weiteren Pause einen vierten Versuch, der jedoch auch nicht von Erfolg gekrönt war.

Sie schien nicht da zu sein.

Klar, dachte er, was verlangte er auch? Dass sie sich zwanzig Jahre lang in ihrer Wohnung verschanzte, um auf seine Rückkehr zu warten?

Es schien ihm, als erwachte er aus einem Traum, als kehrte er aus einer Scheinwelt zurück, in der er die letzten Jahre einsam und frustriert verbracht hatte.

Er wandte sich wütend und enttäuscht ab und wanderte in der Einfahrt auf und ab. Die Arme hinter dem Rücken verschränkt erinnerte er an einen dozierenden Professor. Immer wieder blickte er auf die Uhr. Arbeitete sie im Schichtdienst?

Nachdem er das Laufen satt hatte, fiel sein Blick auf die massive Holzbank neben der Haustür. Eine Friesenbank, nicht zu vergleichen mit den Dingern für zwanzig Euro aus dem Baumarkt, die sich der begnadete Heimwerker aus einer Handvoll Brettern zusammenschrauben konnte. Das hier war echte Handarbeit. Friesische Handarbeit. Stabil und robust, wie alles in diesem Landstrich.

„Klönschnackbank“, las er die eingebrannte Schrift in der Lehne der Bank.

Klar, die Friesen quatschten nicht, sie schnackten.

Sollte ihm auch recht sein. Er spürte seinen Rücken und fühlte sich plötzlich müde und ausgebrannt. Zweifel kamen in ihm auf, Zweifel, ob es richtig war, unangemeldet hier aufzutauchen.

Er wusste nicht mehr, ob er ihr damit eine Freude bereiten würde. Missmutig sank er auf die „Klönschnackbank“ und streckte die Füße weit von sich. Er betrachtete die Bank neugierig und erblickte eine in die Bank eingearbeitete Holzkiste.

Eine Klappe ließ sich nach vorn öffnen. Die Aufschrift verriet den Sinn und Zweck der Klappe: „Bierfach“ stand darauf.

Gegen ein Bier hätte er jetzt auch nichts einzuwenden gehabt. Doch wahrscheinlich hätte ihn der Gerstensaft nach der langen Fahrt schläfrig gemacht. Er war nicht mehr der Jüngste, darüber wurde er sich jetzt klar.

Von Neugier getrieben, zog er die Füße an und beugte sich weit vor, griff nach dem Verschluss und öffnete das Bierfach. Natürlich war es leer und so blieb ihm die Entscheidung, ob er sich nicht vielleicht doch für ein Bier erwärmen konnte, erspart.

„Suchen Sie etwas?“

Er zuckte zusammen und blickte erschrocken auf. Trotz vieler Jahrzehnte im Polizeidienst hatte er die Frau nicht bemerkt, die sich ihm genähert hatte. Sie war groß und Anfang fünfzig. Das blonde Haar trug sie modisch kurz, die Haut war gebräunt. Die Frau trug eine Brille, durch die sie den Fremden mit wachsamen, blauen Augen musterte. Eine Mischung aus Misstrauen und Neugier lag in ihrem Blick.

Er war aufgesprungen, hatte die Klappe des Bierfaches einfach offen stehen lassen und rang sich jetzt ein nervöses Grinsen ab.

„Moin moin“, setzte die Frau nun nach.

„Morgen“, erwiderte er ein wenig unbeholfen und erinnerte sich daran, dass die Friesen ja zu jeder Tageszeit „moin“ zu sagen pflegten. Komisches Volk.

Er gab einer alten Gewohnheit nach, griff in die Manteltasche und zog seine Dienstmarke hervor, die er der Frau präsentierte.

„Kriminalpolizei“, stellte er sich vor. „Hauptkommissar Norbert Ulbricht.“

Die Augen der Frau weiteten sich, und er wusste nicht, ob das Respekt, Angst oder Ehrfurcht signalisierte.

„Oha“, machte sie und deutete auf eine weitere Tür im Haus, die er erst jetzt erblickte. Scheinbar eine Küchentür. „Na denn kommen Sie mal mit.“

Ulbricht hatte keine Einwände und ließ sich von der Nachbarin seiner Tochter ins Haus führen. Es konnte nicht schlimmer werden.

Husum, Süderstraße, 16.20 Uhr

Die Fahrt dauerte keine zehn Minuten, dann hatten sie die Süderstraße erreicht. Petersen lenkte den Wagen auf den Gästeparkplatz des Hotel-Restaurants. Während man in den Abendstunden hier kaum einen Parkplatz fand, herrschte um diese Zeit noch nicht viel Betrieb. Die Sonne drang durch die tief hängenden Äste der alten Kastanien, während die Beete mit Krokussen bepflanzt waren; wohl eine Anlehnung an den Schlosspark von Husum. Die alljährliche Krokusblüte im März zog Touristen in Scharen in die graue Stadt am Meer. Ein Springbrunnen in der Mitte des parkähnlich angelegten Gartens plätscherte munter vor sich hin.

Bei dem imposanten Anblick fragte sich Wiebke unwillkürlich, wie sich Jörn Holst ein solches Hotel leisten konnte, wenn es ihm doch finanziell so schlecht ging. Wahrscheinlich war dies eines der letzten Häuser, bei dem er auf Rechnung bezahlen konnte. Wahrscheinlich würde die Geschäftsleitung des Hotels ihr Geld niemals zu sehen bekommen.

Petersen pfiff beim Anblick des gediegenen Hotels durch die Zähne. „Immerhin hat er sein Mädchen nicht in ein billiges Stundenhotel geschleppt.“

„Wahrscheinlich hat er die Zeche geprellt“, entgegnete Wiebke. Als sie zum Himmel blickte, sah sie düstere Wolken, die sich vor die Sonne schoben. Sicherlich würde es gleich regnen. Seite an Seite betraten sie das Hotel, das in einem hoch aufragenden Backsteinbau mit verspielt wirkenden Türmchen lag. Mit ein wenig Fantasie konnte man erkennen, dass es sich bei dem Haus um eine ehemalige Schule handelte.

An der Rezeption zückte Wiebke die Dienstmarke. Der Angestellten, einer jungen Frau mit kurzen, schwarzen Haaren, schoss vor Aufregung das Blut in den Kopf.

„Wir ermitteln in einem Tötungsdelikt und wüssten gern von Ihnen, ob ein gewisser Jörn Holst hier die letzte Nacht verbracht hat“, trug sie ihr Anliegen vor, während sich Petersen mit anerkennend hochgezogenen Mundwinkeln im Empfangsbereich des Hotels umblickte.

Die junge Empfangsdame, Wiebke schätzte das Mädchen auf Anfang zwanzig, nickte eifrig. „Gern“, sagte sie. „Ich werde nachschauen.“ Sichtlich nervös machte sie sich an einem Computer zu schaffen und rief die Kundendatei auf. „Ein Herr Jörn Holst hat tatsächlich ein Doppelzimmer für eine Nacht gebucht“, nickte sie dann.

„Hat er es nur gebucht, oder hat er auch hier übernachtet?“, fragte Petersen aus dem Hintergrund.

„Das kann ich leider nicht erkennen, Entschuldigung. Die Hotelleitung legt Wert auf größte Diskretion; wir kontrollieren nicht, ob gebuchte und bezahlte Zimmer auch tatsächlich bewohnt werden.“

Wiebke überlegte, ob sie die Bänder der Videoüberwachung beschlagnahmen sollte. Inzwischen verfügte jedes Hotel der gehobenen Preisklasse über eine Überwachungsanlage. Die Sichtung des Materials wäre allerdings recht zeitaufwendig. „Wer hatte gestern Dienst hier an der Rezeption?“

„Ich.“

„Das trifft sich hervorragend“, freute sich Wiebke. „Vielleicht können Sie sich an Herrn Holst erinnern?“ Sie beschrieb den Bauunternehmer so präzise wie möglich.

„Ich glaube, er war hier“, nickte die Hotelangestellte, nachdem sie einen Augenblick überlegt hatte.

„Allein?“, fragte Petersen.

Das Mädchen am Empfang dachte kurz nach. „Ich bin mir nicht sicher“, sagte sie schließlich. „Ein Mann, auf den Ihre Beschreibung passt“, sie blickte Wiebke an, „war hier. Und ich glaube, ihn in Begleitung einer blonden, ausnehmend hübschen Frau gesehen zu haben.“

„Danke.“ Wiebke hatte alles erfahren, was sie wissen wollte. Sie nickte Petersen zu, bedankte sich bei der Hotelangestellten und verließ an der Seite ihres Kollegen das Hotel. „Und nu?“

„Auf nach Simonsberg, zu dieser Karin Vogt alias Chantal.“ Er drückte den Knopf der Fernbedienung, die Zentralverriegelung des Mondeo schnappte auf, und sie stiegen ein.

„Bist du sicher, dass wir die anderen Verdächtigen nicht aus den Augen verlieren?“, wagte Wiebke einen Einspruch. „Torben Schäfer, beispielsweise. Er hätte Grund genug, Holger Heiners aus dem Weg zu räumen. Oder die frischgebackene Witwe. Könnte sie Interesse daran gehabt haben, ihren Mann zu töten?“

„Mädchen, denk nach: Er ist schon mal auffällig geworden, weil er sich mit Holger Heiners geprügelt hat. Das Alibi, das er uns genannt hat, weist so viele Löcher auf wie einer meiner Socken.“

„Dann hoff ich doch keines, oder kannst du gut stopfen.“ Wiebke lachte kurz laut auf und beruhigte sich sofort wieder. „Die Auskunft aus dem Hotel muss nichts heißen – die Empfangsdame hat nur gesagt, dass sie es nicht genau wüsste, ob Holst dort auch tatsächlich genächtigt hat, aber immerhin erinnert sie sich an einen Mann, auf den die Beschreibung passt“, erinnerte Wiebke ihn.

„Dann werden wir das mit unserem zweiten Joker absichern“, konterte Petersen. „Das Callgirl wird uns sagen, zu welcher Zeit sie mit Jörn Holst zusammen war.“

Wiebke atmete hörbar aus. Obwohl sie hoffte, dass der Fall gelöst war, behielt sie dennoch die anderen möglichen Täter im Hinterkopf. Doch sie wollte ihren Partner nicht ausbremsen und schwieg. Wahrscheinlich war er stolz darauf, den Mord ohne die Hilfe der Kollegen aus Flensburg aufgeklärt zu haben.

„Piet hat Fingerabdrücke von Jörn Holst im Technikraum des Multimar gefunden, und als Handwerker wusste Holst, wie er nach Ladenschluss in das Gebäude kommt.“ Nachdem er die Eisenbahnunterführung passiert hatte, hielt er sich rechts. Auf der Simonsberger Straße ließ der Verkehr nach. Während rechts das Gewerbegebiet am Hafen lag, erhoben sich linker Hand schon wenig später die mächtigen Anlagen des Husumer Windparks majestätisch aus der Südermarsch. Die riesigen Anlagen drehten sich träge. An der Finkhaushallig hatten sie den Ortsausgang von Husum erreicht, und Petersen beschleunigte den Wagen. „Die Luft wird dünn für Holst. Er hat ein wurmstichiges Alibi und ein sehr gutes Motiv für den Mord an Holger Heiners: Rache.“

„Auch wenn er als Dienstleister für das Multimar tätig war, muss das nicht bedeuten, dass er über einen Schlüssel verfügt. Und irgendwie muss er ja reingekommen sein in das Gebäude.“

„Das werden wir herausfinden“, entgegnete Petersen, ohne den Blick von der Fahrbahn zu nehmen.

Manchmal konnte Petersen schrecklich stur sein, dachte sie, erwiderte aber nichts darauf.

Simonsberg, 16.45 Uhr

Das Haus lag in einer ruhigen Seitenstraße. Simonsberg, der Badestrand Lundenbergsand und die Finkhaushallig hatten ihr heutiges Erscheinungsbild im Laufe der Jahrhunderte durch zahlreiche Sturmfluten erhalten, und kaum jemand der Gäste wusste, dass die Dorfstraße einst als Deich genutzt worden war. So war der kleine Ort, der von zahlreichen reetgedeckten Häusern und grünen Deichen geprägt war, ein idyllisches Kleinod vor den Toren der grauen Stadt am Meer.

„Schön wohnt sie“, kommentierte Wiebke, während sie den Blick über das kleine Reetdachhaus schweifen ließ, das sich hinter einen Deich zu ducken schien. Im wilden Vorgarten wurden sie von einer bunten Blütenpracht empfangen. In einem Beet reckten sich mannshohe Sonnenblumen in den inzwischen fast wolkenfreien Himmel. Eine Hummel taumelte summend von Blüte zu Blüte.

„Kein Wunder – in dem Job soll man ja recht anständig verdienen“, murmelte Petersen, während er das kleine Holztor öffnete und den Vorgarten betrat. „Ich leg die Hand dafür ins Feuer, dass niemand der Nachbarn ahnt, welchem Beruf sie nachgeht“, fügte er leiser hinzu.

„Mag sein.“ Wiebke fand im Grunde nichts Verwerfliches an Karin Vogts Beruf – immerhin sorgten Frauen wie sie mit käuflicher Liebe dafür, dass es weniger Vergewaltigungsopfer gab.

Petersen betätigte die Türglocke, die rechts neben der grün-weiß gestrichenen Haustür angebracht war. Über der Haustür gab es eine Dachgaube mit einem darin eingelassenen Fenster. Es dauerte nicht lange, bis sich hinter den Butzenscheiben in der Tür etwas tat.

„Ja bitte?“ Die Frau, die ihnen die Tür öffnete, war Anfang dreißig, hatte in etwa Wiebkes Größe und war blond. Das passte schon mal zu der Beschreibung der Hotelangestellten. Und hübsch war sie auch, so, wie die Empfangsdame sie beschrieben hatte.

„Moin“, sagte Wiebkes Partner freundlich. „Frau Karin Vogt?“

„Ja … Aber …“

„Mein Name ist Hauptkommissar Jan Petersen von der Kripo in Husum, und das“, er deutete mit dem Daumen auf Wiebke, „ist meine Kollegen, Kommissarin Wiebke Ulbricht.“ Er zeigte den Dienstausweis; die Frau warf einen flüchtigen Blick darauf und bat die Besucher ins Haus. Auch drinnen strahlte das kleine Reetdachhaus eine urige Gemütlichkeit aus. Wiebke und Petersen wurden in die Stube geführt. Das warme Licht der Nachmittagssonne drang durch die beiden Fenster in den Raum. Es gab eine halbhohe Schrankwand, die Sitzecke mit einem niedrigen Tisch und einen Bollerjahn, der an kalten Herbst- und Wintertagen für eine heimelige Gemütlichkeit sorgte. Sie sanken auf ein blaues Sofa. Von einem der beiden über Eck angeordneten Fenster aus konnte man bis zum Lundenbergsand blicken.

„Ein toller Ausblick“, kommentierte Wiebke.

„Danke.“ Ihre Gastgeberin sank auf den Sessel und schlug die Beine übereinander. „Was kann ich für Sie tun?“ Sie beugte sich vor. „Habe ich etwas ausgefressen?“

„Das werden wir bestimmt herausfinden“, grinste Petersen, und unwillkürlich fragte sich Wiebke, warum ihr Partner bei Frauen immer so freundlich war, während er Männer augenblicklich nicht gerade mit Samthandschuhen anfasste. „Es geht um einen Ihrer Kunden … Klienten“, verbesserte er sich schnell, als er registrierte, dass sich bei Karin Vogt Widerstand regte.

„Sie wissen es also.“

„Was wissen wir?“, mischte sich Wiebke jetzt ein.

„Womit ich mein Geld verdiene.“

„Natürlich.“ Wiebke lachte freundlich. „Das liegt an unserem Beruf.“

„Gut. Also – wie kann ich Ihnen helfen?“

„Sie hatten gestern Abend eine Verabredung mit Jörn Holst aus Husum.“

„Stimmt. Er ist neu in meiner Kartei.“

„Moment – Sie führen eine Kartei?“

„Kartei ist zu viel gesagt“, relativierte Karin Vogt schnell. „Aber es ist schon so, dass ich über zahlreiche Stammkunden verfüge, wenn ich das so sagen darf.“

„Qualität spricht sich wohl herum“, grinste Petersen und fing sich von Wiebke einen bösen Blick ein. Er bemerkte es sofort und überließ ihr das Reden.

„Aber mit Jörn Holst war es das erste Treffen?“, fragte sie.

„Ja. Er hat mich über die Agentur gebucht. Dort bin ich in einem Online-Portal registriert, und die Klienten haben die Qual der Wahl. Normalerweise arbeite ich in Kiel, Hamburg oder Flensburg. Husum ist nicht so der typische Ort für mein Gewerbe. Wenn allerdings Messe in Husum ist …“

„Bitte nennen Sie uns doch den Zeitraum, den sie mit Jörn Holst verbracht haben“, bat Wiebke ein wenig ungeduldig.

Karin Vogt dachte kurz nach. „Achtzehn Uhr“, sagte sie dann. „Wir haben uns um achtzehn Uhr im Restaurant des Hotels an der Süderstraße getroffen.“

„Sie haben also gemeinsam gegessen?“, hakte Wiebke nach.

„Ja. Und, um es mal so auszudrücken, Holst war nicht der typische Gentleman.“

Das konnte sich Wiebke bildhaft vorstellen. Dennoch fragte sie nach. „Inwiefern?“

„Nun, er scheint aus einfachen Verhältnissen zu kommen, fragen Sie mich nicht, wie er sich eine Hostess leisten kann. Aber das interessiert mich auch nicht, ich arbeite äußert professionell und diskret. In meinem Beruf stellt man keine Fragen, verstehen Sie?“

Und ob Wiebke verstand. „Heißt das, dass Sie nur mit ihm zum Essen verabredet waren?“

„Hat er etwas angestellt?“, fragte Karin Vogt unvermittelt, fast so, als würde ihr die Tragweite des Gespräches mit den beiden Polizisten erst jetzt bewusst werden.

„Das wissen wir nicht“, antwortete Wiebke schnell, bevor Petersen es tun konnte. „Deshalb erhoffen wir uns durch Ihre Hilfe einen Hinweis.“

„Was ist nach dem Essen passiert?“ Petersen erhob sich vom Sofa und trat an das Fenster. Er ließ den Blick über die weite Landschaft hinter dem Haus gleiten.

„Wir sind auf das Zimmer gegangen. Er hatte im Hotel gebucht.“

„Wie lange waren Sie mit ihm auf dem Zimmer?“

„Nicht lange.“

Petersen fuhr herum und warf Wiebke einen vielsagenden Blick zu.

„Er hatte mich nicht für die ganze Nacht gebucht, das war ihm wohl zu teuer.“ Karin Vogt lächelte nachsichtig. „Die ganze Nacht kostet knapp tausend Euro.“ Als sie Petersens entsetztes Gesicht sah, fuhr die Frau fort: „Dafür bekommt der Klient aber auch viel geboten. Nun, Jörn Holst hat mich für zwei Stunden gebucht; er schien es eilig zu haben.“

„Demnach haben Sie das Hotel um zwanzig Uhr wieder verlassen“, stellte Wiebke sachlich fest.

„Es war zehn Minuten nach acht, um genau zu sein.“

„Hat Holst mit Ihnen gesprochen, hat er Ihnen erzählt, was er mit der angefangenen Nacht vorhatte?“ Petersen blickte wieder aus dem Fenster und beobachtete eine Möwe am Himmel.

„Wir haben nicht darüber gesprochen – wie gesagt, er schien es sehr eilig zu haben. Wir sind aufs Zimmer, er hat die bezahlte Leistung von mir erhalten, danach bin ich verschwunden.“ Nun lächelte sie. „Da war nicht viel Zeit zum Sprechen.“

„Sie haben das Hotel allein verlassen?“

„Ja, er ist dort geblieben.“

„Danke.“ Wiebke erhob sich.

Petersen riss sich vom Anblick aus dem Fenster los. „Eine letzte Frage, Frau Vogt: Hat Jörn Holst Sie in bar bezahlt?“

„Nein, das mache ich grundsätzlich nicht – die Honorierung erfolgt grundsätzlich über die Begleitagentur.“ Karin Vogt brachte ihre Besucher zur Haustür.

Dort angekommen, reichte Wiebke ihr noch eine Visitenkarte. „Hier“, sagte sie. „Sollte Ihnen zu Jörn Holst noch etwas einfallen, rufen Sie mich an.“

„Versprochen.“ Karin Vogt blickte ihnen nach, bis Wiebke und Petersen in den Wagen eingestiegen waren. Dann erst schloss sie die Haustür.

„Jetzt haben wir ihn!“ Petersen freute sich diebisch, als er den Motor startete. „Er hat die Frau nicht die ganze Nacht gebucht, so wie er es uns weismachen wollte. Und mit Karin Vogt als Zeugin muss er sich eine verdammt gute Ausrede einfallen lassen – sonst wandert er in den Knast.“

Wiebke nickte zustimmend. Dennoch freute sie sich nicht darüber, dass der Fall für ihren Partner geklärt war. Für ihren Geschmack waren noch zu viele Fragen unbeantwortet.

Husum, 17.30 Uhr

Als Wiebke den Weg nach Ostenfeld antrat, drang die Sonne durch die Wolken und tauchte die Landschaft in ein anheimelndes Licht. Der Tag hatte windstill begonnen, und es hatte zunächst den Anschein erweckt, als hätte man die dichten Wolken über Nordfriesland festgeklebt. Erst am späten Nachmittag hatte die Sonne den Himmel über dem Land zwischen den Meeren zurückerobert. Das Grün der Weiden wirkte plötzlich saftiger und kräftiger, und die Kühe auf den Wiesen wirkten irgendwie glücklicher, fand Wiebke. Sie liebte das Gefühl der Freiheit, öffnete das Wagenfenster und sog die eindringende Luft tief in ihre Lungen ein. Ihre Gedanken kreisten um den Fall.

Der Tag hatte einen dringend Tatverdächtigen gebracht, der nun die Nacht in Untersuchungshaft verbringen musste. Zwar hatte Jörn Holst ihnen ein Alibi genannt, allerdings konnten sie ihm inzwischen nachweisen, dass er nicht die gesamte Nacht mit dem Callgirl verbracht hatte. Es stand nicht einmal fest, ob er überhaupt bis zum Frühstück im Hotel geblieben oder schon vorzeitig verschwunden war. Matthias Dierks hatte angeordnet, dass man das Material der Videoüberwachungsanlage sicherstellen und sichten sollte. So konnte unter Umständen dokumentiert werden, zu welcher Zeit Holst das Hotel verlassen hatte, nachdem Karin Vogt verschwunden war.

Das Smartphone des Toten hatte Dierks bei der KTU in Flensburg abgegeben; dort hatte man andere Möglichkeiten, dem Gerät mit viel Glück noch ein paar gespeicherte Daten zu entlocken.

Sogar zwei Kollegen aus Flensburg waren bei der Besprechung in der Polizeidirektion dabei gewesen. Sie hatten Heiners’ Frau aufgesucht, um ihr die Nachricht vom Tode ihres Mannes zu überbringen. Wie sie sagten, hatte Gabriele Heiners gefasst reagiert. Sie war nicht weinend zusammengebrochen, wie man es im Polizeiberuf immer wieder erlebte. An sich nichts Auffälliges, da sich die Verhaltensweisen Angehöriger mitunter weit voneinander unterschieden. Während einige unter Tränen zusammenbrachen, verhielten sich andere ungewöhnlich kühl und sachlich. Meist dauerte es bei diesen Zeitgenossen ein paar Tage, bis sie die Nachricht vom Tod eines nahestehenden Menschen realisiert hatten. Also: Nichts, was Gabriele Heiners in irgendeiner Weise verdächtig machte. An ein Verhör war jedoch nach Aussagen der Kollegen aus Flensburg noch nicht zu denken gewesen.

Katja Graf und Sven Gerke waren den ganzen Tag über damit beschäftigt, sich bei den Naturschützern umzuhören. Es hatte ein paar sehr vage Hinweise gegeben, welche aber alle bald schon im Sande verlaufen waren.

Während für den Ersten Kriminalhauptkommissar Matthias Dierks und Staatsanwalt Mahndorf feststand, dass Jörn Holst hinter dem Mord an Holger Heiners steckte, plagten Wiebke noch immer Zweifel. Es war nichts als ein dumpfes Gefühl, das sie nicht erklären konnte, aber sie wollte nicht hinnehmen, dass man unterließ, auch die anderen Tatverdächtigen zu durchleuchten.

Einer von ihnen war Torben Schäfer. Ein Mann wie ein Bär, groß und stark. Rein körperlich war der Biologielehrer der Hermann-Tast-Schule sicherlich in der Lage, Holger Heiners zu überwältigen.

Und somit hätte er seinen ärgsten Feind nur allzu gern aus dem Weg geräumt und das Bauprojekt am Dockkoog verhindert. Insofern gab es ein berechtigtes Interesse für Schäfer, Heiners zu töten. Doch war ein Mensch, der eine Bürgerinitiative gründete und sich aktiv für den Umweltschutz einsetzte, auch in der Lage, einen Mord zu begehen? Wiebke konnte es sich nicht vorstellen. Torben Schäfer war vielleicht etwas verrückt, wenn es um seine Belange als Umweltschützer und Biologe ging, aber einen Menschen umzubringen … nein, das passte nicht zu dem rührseligen Lehrer. Wiebke nahm sich vor, am Abend zu recherchieren. Als Gründer der Bürgerinitiative „Rettet den Dockkoog“ gab es bestimmt Beiträge im Internet und in diversen Zeitungen über Schäfer. Immerhin erhitzten sich seit einiger Zeit die Gemüter am Dockkoog und an den bevorstehenden Veränderungen. Wenn überhaupt, gab es vielleicht einen militanten Anhänger der Bürgerinitiative. Dies müsste herauszufinden sein, überlegte Wiebke. Als sie daran dachte, dass morgen eine Sisyphusarbeit anstand, verschlechterte sich ihre Laune.

Erst am Ortseingang von Ostenfeld atmete sie wieder tief durch. Es war höchste Zeit, den Job auszublenden. Ein paar Stunden blieben ihr, um Kraft zu tanken für den nächsten Tag.

Wiebke nahm die Einfahrt zum Grundstück ihrer Vermieter an der Hauptstraße und spürte, dass heute irgendetwas anders war. Nachdem sie den alten Passat an seinen Platz gestellt hatte und ausgestiegen war, holte sie tief Luft. Sie blickte sich aufmerksam um. Offensichtliche Veränderungen hatte es jedenfalls nicht gegeben. Sie klimperte mit dem Schlüssel und schloss den Wagen ab.

Feierabend, dachte sie zufrieden und freute sich auf ein entspannendes Bad, auf eine warme Mahlzeit und auf Schmusestunden mit Garfield, ihrem Kater. Wahrscheinlich würde er sie wieder vorwurfsvoll anmaunzen, weil sie nach einem langen Tag nach Hause kam. Just in den Moment, als sie den Schlüssel in die Haustür stecken wollte, wurde die Tür von innen geöffnet. Durch die unterteilten Scheiben erkannte Wiebke ihre Vermieterin Heike Ludzuweit.

„Moin“, sagte Wiebke mit einem freundlichen Lächeln.

Heike erwiderte den Gruß. „Bist spät dran“, schmunzelte sie.

Normalerweise interessierte sie sich nicht für die Arbeitszeiten ihrer Mieterin. Wiebke fragte sich, ob es einen Grund dafür gab, dass sie es heute trotzdem tat.

„Wir hatten einen Toten, recht spektakulär“, erklärte sie Heike. „Ich darf nicht drüber schnacken …“

„Kein Thema.“ Heike lächelte mütterlich und winkte ab. „So ist sie, unsere Wiebke“, rief sie dann laut ins Haus. „Flitig as en Imm – fleißig wie eine Biene!“

Wiebkes Eindruck, dass heute etwas anders war als an den anderen Tagen, verstärkte sich. Gleichzeitig verspürte sie ein mulmiges Gefühl in der Magengegend, das sie sich nicht recht erklären konnte. „Heike“, sagte sie ein wenig kleinlaut. „Was ist hier eigentlich los?“

„Komm doch erst mal rein!“ Sie zog Wiebke ins Haus und verschloss die Haustür. „Hast Besuch bekommen heute!“

Wiebke schwante nichts Gutes. Wahrscheinlich war Tiedje so dreist gewesen, unangemeldet hier aufzutauchen. Dafür hatte er ein Gespür. Immer dann, wenn Wiebke an einem Fall arbeitete, der sie in Beschlag nahm, tauchte ihr Exfreund hier auf und jammerte, dass sie nur für den Job lebte. Daran, davon war er felsenfest überzeugt, war auch ihre Beziehung gescheitert. Selten nur hielt er mit seiner Meinung hinter dem Berg, dass er sich quasi aus purer Langeweile eine andere Frau gesucht hatte.

Und Heike hatte ihn, gut, wie sie war, ins Haus gelassen, damit er hier auf sie warten konnte. Wiebke spürte, wie Wut in ihr aufstieg. Sie fühlte das dringende Verlangen, Tiedje gleich die Meinung zu geigen, machte aber gute Miene zu bösem Spiel.

Nun standen die beiden Frauen ein wenig unschlüssig im Flur der Erdgeschosswohnung. Wiebke hatte ein gutes, fast freundschaftliches Verhältnis zu ihren Vermietern, und oft genug saßen sie an lauen Sommerabenden bis spät in die Nacht auf der Terrasse hinter dem Haus und tranken Wein und redeten über Gott und die Welt.

Doch heute fühlte sie sich ausgepowert. Obwohl sie einigen Hinweisen hinterher gejagt waren, gab es keine konkreten Spuren. Und Jörn Holst war für sie nun mal nicht der Täter, auch wenn sie nicht erklären konnte, warum und ihre Kollegen das anders sahen. Es war ein frustrierendes Gefühl. Deshalb war Wiebke eigentlich nicht nach Gesellschaft – den Feierabend hätte sie gern allein verbracht. Doch niemand hatte sie nach ihren Wünschen gefragt.

„Lass mich raten“, setzte sie an und zwang sich, dabei zu lächeln.

„Ja, es ist ein Mann.“ Heike nickte. „Aber ich lass euch jetzt mal allein. Ihr habt euch sicher eine Menge zu erzählen.“

Heike zog sich dezent zurück, ohne Wiebke eine Chance zu geben, ihren Protest kundzutun. Nachdem sie den Eingang freigegeben hatte, tauchte eine massige Gestalt hinter ihr auf. Groß und stabil wie Tiedje. Doch der Mann war nicht Tiedje. Er war ein paar Jahrzehnte älter als Wiebkes Exfreund. Und er trug verschlissene Jeans, ein ungebügeltes Hemd, dazu ausgetretene Schuhe und einen zerknitterten Sommermantel, der Wiebke unwillkürlich an den berühmten Trenchcoat des Inspector Columbo aus den Fernsehserien ihrer Kindheit erinnerte.

Doch vor ihr stand weder Tiedje noch Columbo. Das Gefühl, das sie in diesem Augenblick überrannte, war schwer zu beschreiben. Rührung, Herzklopfen, Aufregung. Nur die Wut, die sie noch vor einer Sekunde gehabt hatte, war verflogen.

Kurz dachte sie daran, einer Halluzination unterlegen zu sein. Doch dafür war es in Nordfriesland nicht warm genug.

Der Mann, der nun vor ihr stand, war keine Sinnestäuschung. Es war der, den sie am Mittag schon am Hafenbecken gesehen hatte.

Alt war er geworden, doch er war es. Eigentlich hatte sich der Mann, der nun lächelnd vor ihr stand, kaum verändert. Schon früher hatte er Bundfaltenjeans getragen – mit dem Unterschied, dass diese Hosen damals noch modern gewesen waren. Und es fühlte sich seltsam an, fast so, als hätten sie sich nur ein paar Stunden nicht gesehen. Doch es waren Jahre, die zwischen ihnen lagen, und eigentlich hätten sie sich längst entfremden müssen.

Sie kämpfte gegen den Wackelpudding in den Knien an, als sie sich an seine Brust warf. Da war er wieder, der gewohnte Duft nach Rasierwasser und Tabak. Also rauchte er noch immer. Doch das alles weckte Kindheitserinnerungen in ihr, und schlaglichtartig sah sie Bilder aus einer längst vergangenen Zeit vor ihrem geistigen Auge aufblitzen. Erinnerungen, die sie schon längst vergessen hatte. So wie sein Geruch, den sie so geliebt hatte. Obwohl sie sich so lange nicht gesehen hatten, war da keine Zurückhaltung, ganz im Gegenteil: Wiebke hatte sich oft über das Verhalten ihres Vaters geärgert, doch all die Vorwürfe waren in der Sekunde, als sie ihm gegenüberstand, vergessen.

„Papa“, rief sie. „Du bist da.“ Dann kullerte ihr eine dicke Träne über die Wange. „Endlich bist du da!“

Treia, Grüfter Straße, 18.25 Uhr

Torben Schäfer hatte es sich in der großen Wohnküche seines Hauses gemütlich gemacht. Auf dem Tisch stand eine frisch zubereitete Kanne Tee, daneben eine Schale mit Kluntjes und ein Milchkännchen. Heute hatte er sich das gute Porzellan, das ihm seine Mutter vererbt hatte, aus dem Schrank im Wohnzimmer geholt.

Auch Gebäck gab es zur Feier des Tages. Er liebte es, die Abende in der Abgeschiedenheit seines windschiefen Reetdachhauses zu verbringen, in dem er aufgewachsen war. Nach dem Tod seiner Mutter vor sechs Jahren lebte er allein hier. Der Biolehrer war gerade dabei, sich die Pfeife zu stopfen, als es an der Tür klingelte.

Er wunderte sich, wer ihn um diese Zeit besuchen wollte und blickte auf die laut tickende Wanduhr. Schwerfällig erhob sich Torben Schäfer von seiner Eckbank, ließ schweren Herzens den frisch aufgesetzten Tee zurück und unterbrach seine Zeremonie, um nachzusehen, wer vor der Tür stand. Die Pfeife musste warten. Als es zum zweiten Mal klingelte, kam ein Brummen über seine Lippen.

„Bin schon unterwegs!“, rief er in die Diele und wäre um ein Haar auf dem gefliesten Boden ausgerutscht. Eilig riss er die Haustür auf und wäre beinahe vor Schreck zurückgeprallt. Mit offenem Mund stand er einfach da und starrte seinen Besuch ungläubig an. Wie oft hatte er sich gewünscht, dass sie ihn hier besuchte?

In seinen kühnsten Träumen hatte er sich erhofft, mit ihr hier in seinem Elternhaus zu leben. Doch so weit war es nie gekommen, und als er versuchte, rational zu denken, fragte er sich, wie sie an seine Adresse gekommen war.

Doch er stand einfach da und betrachtete sie. Wie immer sah sie zauberhaft aus. Das lange, blonde Haar umspielte ihre Schultern und leuchtete im warmen Licht der Abendsonne wie eine Gloriole. Sie trug nur dezentes Make-up, mehr hatte sie auch gar nicht nötig. Zu einem kurzen Sommerkleid trug sie modische Schuhe und eine Jeansjacke. Der Duft ihres Parfüms betörte ihn.

„Du?“, brachte er nun über die Lippen und gab den Eingang seines Hauses frei.

„Ja, ich.“ Sie nickte und trat in die Diele, blieb stehen, blickte sich um.

Plötzlich schämte er sich für sein bescheidenes Heim. Die altmodische und vergilbte Tapete im Flur, die alten Fliesen am Boden und die Spiegelgarderobe neben dem Eingang hatten die besten Zeiten längst hinter sich. Natürlich hätte er längst renovieren können, doch ihn verbanden so viele Erinnerungen mit diesem Haus, dass er fast nicht wagte, hier etwas zu verändern. Außerdem fühlte er sich hier wohl. Torben Schäfer war ein bescheidener Mann.

Obwohl sie längst über die Schwelle getreten war, sagte er: „Komm doch rein.“

Sie schwieg und folgte ihm in die Wohnküche.

„Setz dich doch.“

Wieder dieser Blick. Sie taxierte das Mobiliar und machte keinen Hehl daraus, dass sie sich zwischen den altmodischen Küchenmöbeln nicht sonderlich wohl fühlte. Trotzdem setzte sie sich auf die Eckbank und schlug die Beine übereinander, wobei ihr Rocksaum ein wenig höher rutschte.

„Ich habe einen Tee aufgesetzt.“ Er setzte sich auf die gegenüberliegende Bankhälfte und lächelte. „Möchtest du auch einen?“

„Nein, danke.“ Ein freundliches Lächeln, das gekünstelt wirkte.

Er zuckte die Schultern und schenkte sich eine Tasse ein, gab Kluntjes und einen Schuss Milch hinzu und rührte mit dem kleinen Silberlöffel um, ohne sie aus den Augen zu lassen. Er pustete in den Tee und trank vorsichtig. „Also“, sagte er, nachdem er die Tasse abgestellt hatte und sich anlehnte, um die kräftigen Arme vor dem Oberkörper zu verschränken. „Was treibt dich hierher?“

„Ich habe Angst.“ Sie blickte ihn aus großen Augen an. „Fürchte mich vor dir“, setzte sie nach, als er schwieg.

„Vor mir?“ Nun musste er laut lachen. „Und dann kommst du her zu mir?“

Sie nickte. Levke strich sich eine widerspenstige Haarsträhne aus der Stirn, und er konnte sehen, dass ihre Hand zitterte. „Hast du einen Schnaps für mich?“

„Sicher.“ Er erhob sich von der Bank, holte eine Flasche Klaren aus dem Kühlschrank und nahm ein Glas aus der Vitrine. Natürlich wunderte er sich darüber, dass Levke Alkohol trank. Sicherlich war sie mit dem Auto da und musste auch noch zurückfahren. Doch er stellte keine Fragen und genoss den seltsamen Umstand, dass sie hier in seinem Haus war – aus welchem Grund auch immer.

Er kehrte zum Tisch zurück, zupfte die Decke glatt und stellte das kleine Glas vor ihr ab, um ihr einen Korn einzuschenken. „Hier“, sagte er. „Der hilft bei Seehundbiss und Möwenschiss, bei Sturmflut, Deich- und Inselkoller.“

Sie bemerkte kaum, dass er den alten Werbeslogan eines Spirituosenherstellers aus der Region zitierte, und griff hastig danach, um den Inhalt des Glases in einem Schluck herunterzukippen. Levke schüttelte sich und blickte – nun aus traurigen Augen – zu ihm auf, um ihm das Glas erneut hinzuhalten.

Schäfer lächelte nachsichtig und fragte sich, welche Laus der hübschen Referendarin über die Leber gelaufen war. Doch er stellte keine Fragen und schenkte ihr nach. Anschließend stellte er die Flasche ohne Deckel auf den Tisch. „Bedien dich einfach“, brummte er und setzte sich wieder.

Sie trank, schüttelte sich diesmal nicht und bediente sich selbst an der Flasche Doppelkorn.

Nach dem dritten Glas blickte sie ihn an. „Warst du es?“

„Was war ich?“ Seine buschigen Augenbrauen zogen sich zu einem durchgehenden Strich zusammen.

„Du weißt genau, wovon ich rede.“ Levke trommelte auf dem Küchentisch herum. Sie schwieg und lauschte sekundenlang dem Ticken der Uhr, dann sprach sie weiter. „Du hast ihn umgebracht.“

Nun wurde ihm siedend heiß. Er fragte sich, was Levke Kühn von ihm wusste und was sie sich dazugedichtet hatte. Offenbar hatte sie ein völlig falsches Bild von ihm. „Das ist Unsinn.“

„Du hast Holger auf dem Gewissen.“

„Holger?“

„Ja.“ Sie nickte, griff zur Flasche und schenkte sich nach. „Du weißt genau, dass ich ein Verhältnis mit ihm hatte. Und das war Anlass für dich, ihn aus dem Weg zu räumen.“

„Wäre dies ein offizielles Gespräch, würde ich dich wegen Verleumdung verklagen“, erwiderte er bitter.

Sie lachte humorlos auf. „Das ist absolut lächerlich, und du weißt es.“

„Levke – bitte. Warum sollte ich Holger Heiners auf dem Gewissen haben?“

„Du hasst ihn. Zum einen, weil er am Dockkoog bauen und damit ein Stückchen Natur unwiederbringlich zerstören wollte.“ Sie machte eine Pause, um ihre Worte auf ihn wirken zu lassen. „Und zum Zweiten“, fuhr sie dann fort, „zum Zweiten hast du ihn getötet, weil du eifersüchtig warst.“

„Das ist Unsinn – warum sollte ich denn eifersüchtig sein?“

Nun kicherte sie. „Glaubst du, ich bin blind? Du hast ein Auge auf mich geworfen, Torben, das ist mir schon bei unserer ersten Begegnung in der Schule aufgefallen.“ Nun rutschte sie auf der Bank zu ihm hinüber und legte eine Hand auf seinen Oberschenkel, während sie ihm tief in die Augen blickte. Er fühlte sich, als würden ihn tausend winzige Stromschläge durchfahren. Um ein Haar hätte er das Bein zurückgezogen. Doch er ließ es in ihrer Nähe und versuchte, ihre Berührung zu genießen. Auch wenn er sich andere Umstände gewünscht hätte – wie oft hatte er in der Vergangenheit davon geträumt, dass sie ihn berührte!

„Du bist nicht nur Umweltschützer und Biolehrer, Torben“, sagte sie nun und blickte ihm so tief in die Augen, dass ihm schwindelig wurde. „Du bist so was von grün, und deshalb war es dir ein Dorn im Auge, dass ich nicht mit dir, sondern mit ihm zusammen war.“

„Das ist Unsinn, und du weißt es auch.“ Er sprach ruhig und leise, aber wohl akzentuiert und machte Anstalten, ihr nachzuschenken. „Außerdem: Was hat das Eine mit dem Anderen zu tun?“

Levke schüttelte den Kopf und legte eine Hand auf den Rand des Schnapsglases. „Hast du was anderes?“

„Klar. Tee, Kaffee, oder…“

„Alkohol darf es schon sein, vielleicht kann ich die Dinge dann ein wenig lockerer sehen“, erwiderte sie tonlos.

„Dann vielleicht einen Pharisäer oder eine ,Tote Tante’?“

„Nichts Warmes.“

Sanft schob er ihre Hand von seinem Schenkel und erhob sich. Er ging zum Kühlschrank und kehrte mit einer Flasche „Küstennebel“ und einem weiteren Glas zum Tisch zurück. Torben Schäfer setzte sich wieder, zeigte ihr die Flasche. Als sie stumm nickte, schenkte er ihr „Küstennebel“ ein und füllte danach sein Glas.

Sie stießen an und tranken schweigend.

„Wie kommst du bloß auf so einen Blödsinn, Levke?“, fragte er schließlich.

„Du liebst mich.“

Er widersprach nicht. „Deshalb bin ich noch lange kein Mörder.“

„Wer sollte Holger sonst getötet haben?“ Ihre Stimme klang tonlos. „Ich habe solche Angst, Torben.“ Schluchzend sank sie an seine breite Schulter. Er ließ es geschehen, obwohl ihm die plötzliche Zuneigung der jungen Frau eher unheimlich war. Wenngleich er sich ihre Nähe so sehr gewünscht hatte, fühlte er sich im Augenblick ein wenig überrumpelt.

„Er hatte viele Feinde, dein Holger“, sagte er leise und strich wie selbstverständlich zärtlich durch ihr Haar. Sie duldete seine Liebkosung.

„Du warst immer eifersüchtig“, erwiderte sie mit geschlossenen Augen. „Ich bin nicht blind, und natürlich ist mir nicht entgangen, dass du scharf auf mich warst.“ Nun blickte sie mit tränenverschleiertem Blick zu ihm auf. „Du bist ein total netter Kerl, Torben. Aber das Auge isst mit.“

„Ich bin nicht dein Typ.“ Er musste lächeln. „Ich, mit meinen Gesundheitslatschen, den selbst gestrickten Socken und Pullis, meinem Bart und der Pfeife, die ich ab und zu rauche. Das mögen Frauen heutzutage nicht, damit muss ich mich wohl abfinden. Dieser Armanitragende Anzugtyp war dir da viel lieber. Aber kein Wunder, er war steinreich und konnte dir jeden Wunsch von den Lippen ablesen.“

„Nicht jeden.“ Sie schüttelte den Kopf. „Er war verheiratet. Und es wollte ihm im Traum nicht einfallen, sich endlich von seiner Frau zu trennen. Ich wäre für den Rest meines Lebens immer die Nummer zwei für ihn geblieben. Lange hätte ich das wohl nicht mehr ausgehalten.“

„Deshalb hast du ihn umgebracht.“

„Wie bitte?“ Sie blickte ihn entgeistert an.

„Du hast deinen Holger getötet, weil du nicht damit klargekommen bist, dass er sich nicht von seiner Frau trennen wollte.“ Torben Schäfer kicherte und füllte ihre Gläser. Sie stießen an, dann erst fuhr er fort: „Ich hab mal gelesen, dass Mord aus Eifersucht eines der häufigsten Mordmotive ist. Also liegt es doch auf der Hand.“ In ihm reifte ein Plan, doch es war zu früh, darüber zu sprechen. Lange hatte er sich um die junge Frau bemüht, die ihm schon bei ihrem ersten Treffen in der Schule den Kopf verdreht hatte. Und nun nahm das Schicksal eine unerwartete Wendung. Schäfer beschloss, die Dinge auf sich zukommen zu lassen.

„Du gehörst in psychologische Behandlung, Torben.“

„Warum? Weil ich die Wahrheit kenne?“

„Du weißt, dass das nicht stimmt.“

„Ich drehe nur den Spieß um, meine liebe Levke. Mord aus verschmähter Liebe – das wäre wahrlich nicht das erste Mal, und ich könnte mir sehr gut vorstellen, dass du seine Frau hasst. Aber: Du bist hergekommen und hast mich des Mordes verdächtigt. Und, offen gestanden, bin ich froh, dass du nicht für die Polizei arbeitest.“

Nun musste sie kichern, und Torben Schäfer schob es auf den hochprozentigen Alkohol, den sie in recht kurzer Zeit zu sich genommen hatte.

„Was muss ich tun, um dir zu gefallen?“, fragte er dann und spürte die Wirkung des Alkohols ebenfalls. Sekundenlang spielte er mit dem Gedanken, dass es wohl besser wäre, den Tee zu trinken, doch er entschied sich dagegen und genehmigte ihnen noch einen „Küstennebel“. Er führte das Glas zu den Lippen. Der Likör rann in seinen Mund, und er spürte, wie sich das Anis- und Lakritzaroma wie ein heißes Feuer auf seiner Zunge ausbreitete.

Sie saß dicht neben ihm und blickte tief in seine Augen. So tief, dass Torben Schäfer heiß wurde. „Was du tun musst, um mir zu gefallen?“ Nun hob sie den Arm und strich durch seinen dichten Bart. Ihre Berührung war zärtlich und forschend zugleich. „Ich will dein Gesicht sehen.“

„Tust du das nicht?“ Er lachte leise.

„Nein. Dein Bart versteckt zu viel. Ich will sehen, wie du wirklich aussiehst.“

Torben Schäfer stand auf und gab ihr ein Zeichen, ihm zu folgen. Er wusste, dass er nur diese eine Chance hatte, die junge Frau für sich zu gewinnen. Und er wollte nichts mehr verschenken. Es war an der Zeit, zu handeln, und wenn es um seine bislang einseitige Liebe zu Levke Kühn ging, war Schäfer auch bereit, Opfer zu bringen. Er ging ins Badezimmer. Altmodisch gefliest, in weiß und blau. Entschlossen trat er ans Waschbecken und betrachtete sich im Spiegel. Wahrscheinlich hatte sie recht, dachte er und fuhr sich über das behaarte Gesicht. Im Spiegel sah er, dass sie ihm gefolgt war. Ein schwer zu deutendes Lächeln hatte sich auf ihre Lippen gelegt. Levke stand mit vor der Brust verschränkten Armen da und lehnte sich an den Türrahmen. Schweigend beobachtete sie, wie aus Torben Schäfer ein anderer Mann wurde …

Ostenfeld, Hauptstraße, 19.30 Uhr

Wiebke, die gar nicht auf Besuch eingestellt war, hatte aus purer Verlegenheit zwei Tiefkühlpizzen in den Backofen geschoben. Im Kühlschrank hatte sie noch zwei Flaschen Bier und eine Flasche von ihrem geliebten Rotwein aus Tarragona gefunden. Die Pizzen hatte sie mit Schinken und einigen Scheiben Käse veredelt, dazu etwas Oregano, und um ein Haar hätten sie den Vergleich mit einer ofenfrischen Pizza vom Italiener standgehalten. War es Wiebke anfangs ein wenig peinlich gewesen, ihrem Vater eine Tiefkühlpizza zu servieren, so hatte er sich zu ihrer Begeisterung über den herrlich duftenden „Mafiakuchen“, wie er es genannt hatte, gefreut.

Beim Essen hatten sie auf die Gegenwart und die Zukunft angestoßen; sie mit ihrem langstieligen Glas, er zünftig mit der Bierflasche. Es war eine herzliche, fast schon feierliche Stimmung zwischen ihnen entstanden, und dies war das erste gemeinsame Abendessen seit vielen Jahren. Nach dem Essen war Norbert Ulbricht aufgestanden und hatte sich von seiner Tochter die Dachwohnung zeigen lassen. Ihm selbst hatte sie das kleine Gästezimmer hergerichtet. Es störte ihn nicht, dass die Wohnung zahlreiche Schrägen aufwies – im Gegenteil: Er fand es gemütlich so, wie es war. Zumindest im Hinblick auf Wohnungen schienen Vater und Tochter den gleichen Geschmack zu haben.

„Eine schöne Wohnung hast du, wirklich.“ Ulbricht stand am Wohnzimmerfenster und blickte hinaus auf den Garten und die dahinter liegende Koppel. „Hier könnte ich es auch aushalten.“

„Es gefällt mir hier auch sehr gut.“ Wiebke war neben ihren Vater getreten und betrachtete ihn von der Seite. Tiefe Furchen durchzogen sein Gesicht, die Ringe unter seinen Augen waren in den letzten Jahren dunkler geworden, so erschien es. Wie gern hätte sie die Zeit zurückgedreht. Nun war sie erwachsen und stand mit beiden Beinen fest im Leben, war sogar in die Fußstapfen ihres Vaters getreten, den sie schon als kleines Mädchen immer bewundert hatte, wenn er Tag und Nacht losgefahren war, um Verbrecher zu jagen. Gern wäre sie an seiner Seite erwachsen geworden, doch ihre Mutter hatte sie mit in den Norden genommen, als sie sich von Norbert Ulbricht getrennt hatte. Und es war ihr nicht schlecht ergangen, doch einen Vater, ihren Vater, hatte sie immer sehr vermisst. Sie fragte sich, warum der Kontakt zwischen Vater und Tochter abgebrochen war und überlegte, ob es ihrer Mutter zuzutrauen war, seine Briefe und Karten einfach verschwinden zu lassen.

„Oh …“ Er lachte, als er ihr ernstes Gesicht sah. „Keine Angst – ich werde mich hier nicht einnisten. Du führst dein eigenes Leben, Wiebke.“

„Darf ich dich was fragen?“

„Sicher.“

„Warum bist du hier?“ Sie schämte sich, kaum dass sie die Frage ausgesprochen hatte und ihr der unterschwellig vorwurfsvolle Ton auffiel.

Er blickte sie mit versteinerter Miene an und dachte angestrengt nach.

Wiebke sah förmlich, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. „Ich habe viele Fehler gemacht in den letzten Jahren.“

„Allerdings.“

Sie biss sich auf die Zunge. „Ich meine, es ist einfach blöd gelaufen. Jahrelang habe ich ein Lebenszeichen von dir herbeigesehnt. Und nun, wo ich schon fast fürchten musste, dass du nicht mehr lebst, stehst du plötzlich in meiner Wohnung.“

„Moment“, fuhr er dazwischen. „Du hast gedacht, dass ich tot bin?“

Wiebke nickte und kämpfte gegen Tränen an. „Wäre das denn so abwegig?“ Neben ihr stand der Mann, zu dem sie als Kind immer ehrfurchtsvoll aufgeblickt hatte. Der Mann, wegen dem sie sich für eine Karriere bei der Polizei entschieden hatte. Ihr Berufswunsch, auch zur Polizei zu gehen, hatte schon in der Kindheit festgestanden, sehr zum Missfallen ihrer Mutter. „Der Job ist schlecht bezahlt und du musst dich mit Räubern, Vergewaltigern und Mördern herumärgern. Das ist nicht ungefährlich“, hatte ihre Mutter sie immer gewarnt. Doch das alles hatte Wiebke ausgeblendet, als sie sich damals auf der Polizeischule in Eutin angemeldet hatte. Und sie war stolz gewesen, als man sie schließlich zur Kriminalkommissarin ernannt hatte. Es war eine Fügung des Schicksals gewesen, dass rechtzeitig zum Ende ihrer Ausbildung eine Planstelle bei der Kripo in Husum freigeworden war. Und so war sie in den Genuss gekommen, nur zwölf Kilometer von ihrem Wohnort den Dienst antreten zu können.

„Da draußen laufen so viele Irre herum. Gewaltverbrecher, Amokläufer, psychisch gestörte Typen, die nichts im Kopf haben, außer ihren Mitmenschen Leid zuzufügen. Ich hatte Angst um dich, Papa.“

Er lächelte, doch es war ein wehmütiges Lächeln. „Und trotzdem hast du den gleichen Beruf ergriffen wie ich.“ Stolz schwang in seiner Stimme mit.

„Ja“, sagte sie. „Das habe ich. Als kleines Mädchen war ich so stolz, dass mein Papa Verbrecher ins Gefängnis brachte. Ich wusste schon damals, dass ich das auch eines Tages machen wollte.“

„Konsequent warst du schon immer“, schmunzelte Ulbricht und legte einen Arm um die Schulter seiner Tochter.

„Warum hast du mir nie geschrieben oder uns besucht?“

„Ich hätte deiner Mutter nicht in die Augen blicken können. Ich war wütend und enttäuscht, weil sie einfach mit dir abgehauen ist. Als ich von einer Geiselnahme nach einer vierundzwanzigstündigen Schicht nach Hause kam, war die Bude leer. Von jetzt auf gleich, ohne Vorwarnung. Mir war, als würde ich in ein tiefes Loch fallen. Und es gab nichts, dass an uns und die kleine Familie erinnert hat. Deine Mutter hat einfach alles mitgenommen. Alte Erinnerungen, Klamotten, Briefe, Fotos – und meine Tochter. Ich fühlte mich, als hätte man mir den Boden unter den Füßen weggezogen, verstehst du das? Das Einzige, was mir geblieben war, klemmte am Spiegel im Flur. Ein kleiner Zettel, auf dem sie nur ein paar Sätze hinterlassen hatte.“ Ulbricht stopfte eine Hand in die Hosentasche und zog ein zerknittertes Blatt Papier hervor. Man hatte es aus einem kleinen Spiralblock herausgerissen, die Reste der Perforation waren ausgefranst. Das Papier selbst war vergilbt und die Schrift darauf verblichen. Sorgsam strich er das Blatt glatt, warf einen Blick darauf, dann reichte er Wiebke den Zettel.

Sie nahm den Zettel an sich und las, was darauf stand. Nur wenige Worte, die das Leben der Familie Ulbricht für immer verändert hatten.

Ich halte das nicht mehr aus. Nie bist du für deine Familie da, also heirate doch deine Verbrecher. Wiebke nehme ich mit – du hast sowieso keine Zeit für das Kind. Mach dir also keine Sorgen, es wird uns gut gehen. Gruß Birgit.

Nun hatte es Wiebke schriftlich: Den wahren Grund, weshalb ihre Mutter mit ihr in den Norden gezogen war. Natürlich hatte ihre Mutter, schon als sie Kind gewesen war kein gutes Haar an Hauptkommissar Norbert Ulbricht gelassen, dem die Verbrecherjagd immer lieber gewesen war, als seine Familie.

„Du hättest schreiben können. Wenigstens das.“

„Das habe ich“, beteuerte Ulbricht. „Ich habe Briefe geschrieben, Karten, zum Geburtstag und zu Weihnachten auch Pakete mit Geschenken. Niemals hast du mir geantwortet. Daher musste ich davon ausgehen, dass du mich hasst. Deshalb habe ich aufgehört, dir zu schreiben. Der Kontakt ist eingeschlafen, und ich habe mich mit meinem Junggesellenleben arrangiert, so gut es ging. Mein Assistent sagt immer, ich sei ein einsamer alter Wolf. Vermutlich hat er sogar recht. Doch das Alleinsein kotzt mich an. Nach dem Dienst gehe ich nach Hause, sehe die leere Bude und würde am liebsten sofort wieder abhauen. Oft genug fällt mir die Decke auf den Kopf, meistens saufe ich dann zu viel, gucke Fernsehen, schlafe irgendwann auf dem Sofa ein. Am nächsten Tag beginnt das Spiel wieder von vorn: Auf ins Präsidium, Verbrecher jagen, Einsatztagebuch schreiben, Feierabend. Leere Bude, nackte Wände, ein leeres Bett und sehr einsame und kalte Nächte.“

„Das muss doch schrecklich sein.“

„Und ob.“ Er nickte.

„Du willst einsam alt werden?“

„Das habe ich nicht gesagt. Nur ist im Moment kein Platz in meinem Leben für eine feste Partnerschaft, und ich weiß nicht, ob ich eine neue Enttäuschung überstehen würde. Trotzdem sehne ich mich nach einem Nest und der Familie.“

„Dann hat dich die Sehnsucht hergetrieben?“ Wiebke empfand Mitleid für ihren Vater und schämte sich ein wenig dafür, dass sie ihn viele Jahre lang gehasst hatte, weil er offenbar kein Interesse mehr daran gehabt hatte, den Kontakt zu seiner sechshundert Kilometer entfernt aufwachsenden Tochter aufrecht zu erhalten.

Er nickte stumm. „Es tut gut, dich zu sehen. Aber du hast nichts gelernt“, sagte er schließlich.

„Wovon redest du?“ Wiebke runzelte die Stirn, als sie den unterschwelligen Vorwurf in der Stimme ihres Vaters heraushörte. Ein wenig fürchtete sie, dass die gute Stimmung, die zwischen ihnen geherrscht hatte, plötzlich verflogen war.

„Du bist ein Bulle geworden – genau wie dein alter Vater.“ Er schüttelte den Kopf.

„War ich nicht schlechtes Vorbild genug für meine Tochter?“

„Ja, ich bin Bulle geworden. So wie mein Vater, auf den ich eigentlich immer stolz war, egal, was später aus unserer Familie geworden ist.“

Norbert Ulbricht winkte ab.

Sie sah ihm an, wie unangenehm es ihm war, dass sie stolz auf ihren Vater war – sogar in all den Jahren, in denen sie sich aus den Augen verloren hatten.

Er setzte sich auf einen der Stühle am Esstisch und verschränkte die Arme vor der Brust. „So, und nun will ich alles von dir wissen. Schluss mit der Vergangenheit. Es gibt ein Privatleben, oder? Gibt es einen Mann in deinem Leben?“

Bevor Wiebke antworten konnte, strich ihr Garfield um die Beine. Sie senkte den Blick, als er leise maunzte. „Ja“, sagte sie. „Aber er ist am ganzen Körper behaart und ziemlich verfressen. Und wenn ich länger arbeiten muss, guckt er mich nicht an, wenn ich dann nach Hause komme.“

Ulbricht lachte. „Den Humor hast du jedenfalls von mir“, stellte er fest.

„Ich wusste gar nicht, dass du überhaupt Humor hast“, konterte sie schlagfertig. Sie ging in die Küche, ihr Vater erhob sich und folgte ihr.

„Darf man hier rauchen?“

Wiebke überlegte und nickte schließlich. „Küche ist okay“, sagte sie und stellte einen Aschenbecher auf den kleinen Küchentisch.

Ulbricht zog eine zerknautschte Zigarettenpackung aus der Brusttasche seines Hemds und zündete sich einen Glimmstängel an. Er öffnete das Küchenfenster. Frische Abendluft wehte in die Küche, er sank auf einen der beiden Stühle am Tisch und beobachtete seine Tochter, wie sie das Fressen für den Kater zubereitete.

„Einen richtigen Mann gibt es nicht?“, hakte er nach und nahm einen Zug an seiner Zigarette. Den Qualm blies er zum Fenster hinaus.

Wiebke unterbrach ihre Arbeit und schüttelte den Kopf. „Du müsstest das doch am besten wissen. Partnerschaft und Bulle sein, das verträgt sich nicht. Aber Tiedje gibt nicht auf. Er ist abgehauen, hat sich eine andere gesucht, und nun versucht er es immer wieder bei mir.“

„Und? Lässt du ihn?“ Ulbricht betrachtete seine Tochter aufmerksam. Der Gedanke, dass seine Tochter von einem Mann geliebt wurde, fühlte sich für ihn noch ungewohnt an.

Wiebke wusste nicht, wie sie auf diese Frage antworten sollte. „Es kommt darauf an. Wahrscheinlich wird es nie wieder so, wie es mal war zwischen uns. Aber wenn mich die Einsamkeit überkommt, ist er da für mich.“

„Immerhin.“

„Und aktuell? Arbeitest du an einem Fall?“

Wiebke füllte Garfields Fressnapf. Der Kater kam in die Küche und blickte sich um. Als er sah, dass sein Napf gefüllt war, begann er zu fressen. Wiebke betrachtete Garfield lächelnd und setzte sich auf den zweiten Küchenstuhl.

„Heute habe ich an einer Wasserleiche gearbeitet – im übertragenen Sinne“, fügte sie schmunzelnd hinzu und berichtete ihm von dem toten Holger Heiners. „Heute Morgen ist der Tote im Großbecken des Multimar Wattforums gefunden worden, und heute Nachmittag haben wir bereits einen Verdächtigen in Untersuchungshaft gebracht“, schloss sie stolz ihren Bericht.

Norbert Ulbricht hatte aufmerksam zugehört. Nachdenklich schüttelte er den Kopf. „Wird denn da nicht weiter ermittelt? Ein Mann in seiner Position hatte doch ein großes gesellschaftliches Umfeld, hatte Freunde und sicher auch Feinde. Was ist mit den Angehörigen des Toten? War er liiert? Wenn ja, müsst ihr die Witwe ins Kreuzfeuer nehmen. Wahrscheinlich gibt es eine hohe Lebensversicherung. Oder die Immobilienfirma gehört ihr, und er war nur das Gesicht des Unternehmens. Vielleicht hatte sie einen Geliebten, und ihr Mann war ihr im Weg. Oder er hatte eine andere Frau, und sie hat sich an ihm gerächt. So was darf man nicht außer Acht lassen. Ich denke, sie wäre eine potenzielle Verdächtige.“

Wiebke stimmte ihm zu, hatte ihr Vater doch das ausgesprochen, was sie seit dem frühen Abend schon bewegte.

„Ich hatte Gabriele Heiners auch oben auf meiner Liste. Aber das übernehmen die Kollegen aus Flensburg, wo Heiners’ Firma ihre Büros hat.

Er wohnte einen Katzensprung von Flensburg entfernt, in Glücksburg an der Ostsee. Aber auch da haben die Flensburger die Hand drauf. Wir sind raus, wenn man so will.“

„Das ist doch unmöglich!“, schimpfte Ulbricht. Als Erster Kriminalhauptkommissar war er in Wuppertal derjenige, der in einem Mordfall die Fäden in der Hand hielt und delegierte. Dass man ihm ins Handwerk pfuschte, kam nicht vor. Als Leiter des Kriminalkommissariats Eins war er für drei Städte im Bergischen Land und deren umliegende Ortschaften zuständig.

„Hier im Norden ticken die Uhren etwas anders. Die Entfernungen sind größer, und alles, was mit Flensburg in Zusammenhang steht, liegt nicht in unserem Bereich. So einfach ist das. Und wenn ich mich über die Bestimmungen hinwegsetze, riskiere ich großen Ärger.“

„Ich werde dir helfen.“ Ulbrichts Stimme klang bestimmt.

„Wie willst du das tun?“

„Ich werde …“ Er wurde vom Klingeln des Telefons unterbrochen.

Wiebke murmelte eine Entschuldigung und eilte in die Diele. Hier steckte das Telefon in der Basis. Mit einem Blick auf das Display stellte sie fest, dass der Anruf von Petersen kam.

„Es lässt mir keine Ruhe“, platzte es aus ihm heraus.

Wiebke hörte, dass er getrunken hatte. Das tat Petersen öfter, wenn ihm zu Hause die Decke auf den Kopf fiel und seine Gedanken sich im Kreis drehten. Doch er war volljährig und würde sich von Wiebke bestimmt keine Vorschriften machen lassen.

„Was lässt dir keine Ruhe?“, fragte sie geduldig und warf ihrem Vater einen vielsagenden Blick zu.

„Wir haben unseren Mörder, und ich glaube trotzdem nicht, dass er es wirklich war.“

„Das sind ja ganz neue Töne“, erwiderte Wiebke verwundert. „Heute Abend warst du noch stolz darauf, den Mörder von Holger Heiners festgenommen zu haben, bevor uns die Flensburger in die Quere kommen.“

„Hast ja recht“, stimmte Petersen kleinlaut zu. „Aber es ist doch so: Jörn Holst ist ein Arschloch, eine arrogante Sau. Er hat ein Mordmotiv, wir haben seine Fingerabdrücke und er hat ein fadenscheiniges Alibi. Da bröckelt es für ihn. Aber trotzdem stellt sich mir eine Frage, die mir den ganzen Abend nicht aus dem Kopf gehen will: Holst ist, obwohl ich ihn nicht leiden kann, ein gewiefter Geschäftsmann. Er ist ein Drecksack, aber er ist nicht blöd. Als Unternehmer wird er eins und eins zusammenzählen können. Also kann er sich denken, dass wir sein Alibi überprüfen werden.“

Wiebke hörte, wie er aus einer Flasche trank. Deutlich drangen die Schluckgeräusche an ihr Ohr.

Danach sprach er weiter. „Also frage ich dich: Warum tischt er uns diese Geschichte auf?“

„Du meinst, er verschweigt uns was?“

„Allerdings. Und zwar nicht den Mord an seinem Erzfeind Heiners. Er hat ein Geheimnis, denn sonst würde er nicht freiwillig in den Bau gehen, Mädchen.“

„Was wollen wir tun?“

„Ich werd jetzt zur Poggenburgstraße fahren und mit Holst reden.“

„Du hast getrunken, Jan.“

„Ich fahr vorsichtig – mit dem Fahrrad.“

„Du glaubst nicht ernsthaft, dass Jörn Holst einem angetrunkenen Hauptkommissar sein Herz ausschüttet.“

„Dann komm her, hol mich ab, und wir besuchen ihn zusammen.“

„Ist nicht gut. Ich habe Besuch, Jan.“

„Ach so.“ Er klang pikiert. „Da will ich nicht stören.“

„Red kein Blech, Petersen. Also, worauf willst du hinaus?“

„Nichts für ungut, Wiebke. Ich werd mir noch ein Bier gönnen und dann ins Bett gehen. Wir reden morgen weiter.“

Bevor Wiebke antworten konnte, hatte Petersen aufgelegt. Am liebsten hätte sie sich ins Auto gesetzt und wäre zu ihm gefahren, um ihm den Kopf zu waschen. Es lag auf der Hand, dass ihn private Sorgen plagten, doch Wiebke war mehr als Petersens Kollegin – sie verband etwas miteinander, und wenn sie wusste, dass er einsam in seinem kleinen Traufenhaus hockte und seinen Frust im Alkohol ertränkte, empfand sie Verantwortung und Mitleid für ihn.

Ihr Vater musterte sie fragend. „Probleme?“

„Mein Kollege läuft manchmal nicht ganz rund.“ Wiebke lächelte matt und starrte auf das Telefon in ihrer Hand. Sie murmelte eine Entschuldigung und wählte Petersens Nummer.

Es dauerte nur ein Freizeichen, bis er sich meldete. „Was ist denn noch?“ Er klang unwirsch, fast so, als hätte sie ihn bei einer unglaublich wichtigen Tätigkeit gestört.

„Ich setze mich ins Auto und komme nach Husum. Dann quatschen wir.“

„Nein, es ist in Ordnung, Mädchen. Bleib mal, wo du bist. Immerhin bist du nicht allein, und da will ich nicht stören.“

Bevor Wiebke etwas erwidern konnte, hatte Petersen zum zweiten Mal die Verbindung unterbrochen. Manchmal war ihr Partner zickig wie eine Diva, dachte sie enttäuscht und steckte das schnurlose Gerät zurück in die Ladestation. Über sein Verhalten war das letzte Wort noch nicht gesprochen, doch nun musste sie sich erst einmal um ihren Vater kümmern, den sie viel zu lange entbehrt hatte.