FÜNF

Als er den Kopf ins Arbeitszimmer steckte, erhöhte sich ihre Herzfrequenz. „Komm rein“, sagte sie schnell und erhob sich von ihrem Stuhl. Soeben hatte die Mittagspause begonnen, und das Lärmen der Schüler drang aus der Mensa herauf.

Gleich würde sie mehr wissen.

Torben Schäfer glitt in den Raum – bei seiner stabilen Figur ein seltsamer Anblick – und drückte die Tür so leise wie möglich ins Schloss. Doch er konnte nicht verhindern, dass die Milchglasscheibe der Tür leise klirrte. Er strahlte glücklich.

„Gut siehst du aus“, bemerkte er und betrachtete Levke, doch sie ging nicht auf das Kompliment ein. Das Lächeln verschwand aus Torben Schäfers Gesicht, und er wurde sachlich.

„Du wolltest mich sprechen?“

„Ja, Torben.“

Sie nickte, setzte sich auf eine Schreibtischkante und blickte ihm tief in die Augen. „Was passiert hier eigentlich?“

„Wovon redest du?“ Er näherte sich ihr und hielt ihrem Blick stand.

Sie erkannte jetzt jede Pore seiner von Wind und Sonne gegerbten Haut und versuchte sich sein Gesicht ohne den buschigen Vollbart vorzustellen. Womöglich war er ein attraktiver Mann, wenn er sich nur ein wenig modischer kleiden würde und wenn er diesen Bart abrasierte, der ihn Jahrzehnte älter erscheinen ließ, als er in Wirklichkeit war.

„Ich bekomme es mit der Angst zu tun, Torben.“

„Du musst keine Angst haben.“ Er schüttelte langsam den Kopf und legte seine Hände auf ihre Schultern. Sie ließ es geschehen.

„Erst will die Polizei zu dir, und dann sitzt du bei Fedders im Büro. Was ist hier los?“ Sie gab sich Mühe, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken.

„Ich habe mit Fedders gesprochen, weil die Bürgerinitiative wieder eine Aktion plant. Er hat mich gebeten, mich aus dem öffentlichen Geschehen fernzuhalten. Als Lehrer habe ich eine Vorbildfunktion meinen Schülern gegenüber – und ich soll Verantwortung übernehmen.“

„Torben, du bist einer der verantwortungsvollsten Lehrer an dieser Schule. Niemand setzt sich so wie du für den Umweltschutz ein.“

„Das weiß Fedders auch. Aber er mag es nicht, wenn der Dockkoog zum Politikum wird und ich als Gründer der Bürgerinitiative immer mein dummes Gesicht in die Kameras der Reporter halte.“ Er lächelte. „Und ich kann ihn verstehen. Also werde ich mich ein wenig im Hintergrund halten, wenn wir demonstrieren.“

„Du kannst nichts gegen das Bauvorhaben tun“, behauptete Levke. „Holger Heiners ist ein mächtiger Mann, und er hat gute Argumente, warum er das Ressort ausgerechnet in Husum errichten will. Vielleicht solltest du das endlich einsehen. Er zerstört keine Umwelt. Nur der Parkplatz, das alte Hotel und der Campingplatz sollen für den Neubau weichen.“ Nun schüttelte sie den Kopf. „Die ganzen Demonstrationen sind völlig überflüssig, und du solltest endlich mit deiner Stimmungsmache gegen ihn aufhören, wenn …“

Die Tür öffnete sich, und sie fuhren erschrocken auf. Madeleine Oelke blickte in den fensterlosen Raum. Sie sah, dass Schäfer seine Hände auf Levkes Schultern gelegt hatte und sie sich sehr nahe zu sein schienen. Die Störung war ihr unangenehm.

„Oh“, murmelte sie mit rotem Kopf. „Ich hätte anklopfen sollen. Entschuldigung.“ Ohne eine Antwort von Schäfer und Levke abzuwarten, zog sich Madeleine Oelke zurück.

Sie waren wieder allein.

„Jetzt glaubt sie bestimmt, wir hätten was miteinander“, murmelte Levke irritiert und strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr.

Torben Schäfer lächelte. „Haben wir das denn nicht?“

Levke schüttelte den Kopf und stemmte energisch die Hände in die Hüften. „Torben, bitte!“ Dann atmete sie ein paar Mal tief durch. Wenn sie jetzt dicht machte, dann würde sie von Schäfer nichts mehr erfahren, so viel stand fest.

„Also – was wollte die Polizei von dir?“ Sie gab sich Mühe, nicht allzu schnippisch zu klingen.

„Sie hatten ein paar Fragen an mich. Es hat einen Zwischenfall gegeben, der mir und ,Rettet den Dockkoog‘ zugute kommen könnte.“

„Was ist das für ein Zwischenfall?“ Levke verengte die Augen zu schmalen Schlitzen.

„Mein größter Feind lebt nicht mehr.“ Er blickte sie mit ernster Miene an. „Holger Heiners wurde heute Morgen tot im Großbecken des Multimar Wattforums gefunden.“

Sie glaubte zu fühlen, wie man ihr den Boden unter den Füßen wegzog. „Bitte?“, fragte sie heiser und spürte, wie Tränen in ihre blauen Augen schossen. „Sag, dass das nicht wahr ist!“

„Ich fürchte, dann müsste ich lügen, Levke. Holger Heiners wurde ermordet.“

Sie hatte genug gehört. Es klang schlüssig. Plötzlich wusste sie, warum sie ihn telefonisch nicht erreicht hatte. Es war so viel unausgesprochen gewesen, und sie hatte nach einer schlaflosen Nacht das Bedürfnis gehabt, ihm ihre Gedanken mitzuteilen, sich ihm noch weiter zu öffnen, als sie das jemals getan hatte. Doch sie hatte nur seine Mailbox erreicht und ihm natürlich keine Nachricht hinterlassen. Und sie hatte unendlich gelitten und den Moment, mit ihm zu sprechen, mit jeder Sekunde dieses Vormittags herbeigesehnt.

Und nun war alles vorbei?

Wenn Schäfer die Wahrheit sagte, dann würde sie nie mehr mit ihm sprechen können.

Nein, schrie alles in ihr, als sie von der Tischkante glitt und aus dem Raum stürmte, ohne sich ein letztes Mal zu Torben Schäfer umzublicken.

Husum, Badestrand, 12.15 Uhr

Sie hatte darauf bestanden, noch einmal zum Dockkoog hinauszufahren. Obwohl Petersen nicht verstand, was Wiebke damit bezweckte, so hatte er es nicht übers Herz gebracht, ihr die Bitte abzuschlagen. Nun standen sie vor der Wachstation der DLRG Husum und blickten hinaus auf das Meer. Die Luft roch würzig, und scheinbar hätte Wiebke den Job am liebsten ausgeblendet.

Im benachbarten Imbiss herrschte bereits reger Verkehr; und auch die meisten der strahlend weißen Strandkörbe waren belegt. Der Wind trieb Kinderlachen an ihre Ohren. Es war ein sonniger Tag geworden, auch wenn nach Jan Petersens Geschmack noch ein paar Grad bis zu seiner Wohlfühltemperatur fehlten.

Petersen, der viel zu dünn angezogen war, hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt und zog eine Grimasse. „So“, brummte er. „Und was tun wir jetzt hier?“

„Einfach mal durchatmen“, erwiderte Wiebke und schloss die Augen.

„Sag mal, Mädchen, du bist ja noch bekloppter als ich!“ Er trat neben Wiebke und betrachtete ihr Profil. Sie war eigentlich sehr hübsch, die Nase vielleicht ein wenig zu lang, aber ansonsten war sie eine attraktive, junge Frau. Ihre Lippen waren sinnlich, die Wangenknochen nicht zu energisch und nicht zu weich, die Augenbrauen auch ohne Make-up perfekt. Schminke hatte sie eigentlich überhaupt nicht nötig. Trotzdem sah es komisch aus, wie sie einfach dastand, mit geschlossenen Augen, den Kopf leicht in den Nacken gelegt, das Kinn nach vorn gereckt, und das Spiel des Windes in ihrem dunklen Haar genoss. Petersen hatte den Eindruck, als wäre seine junge Kollegin geistesabwesend.

„Warum?“ Sie lächelte, hatte die Augen immer noch geschlossen und atmete tief durch.

„Mich maulst du an, weil ich mich über das System unserer Polizei beschwere und mich pünktlich zur Pause davonmache, und jetzt stehst du am Dockkoog und genießt in aller Ruhe die Nordsee! Wiebke, wir haben viel Arbeit!“

Nun öffnete sie die Augen, löste sich vom Anblick des Meers und wandte sich zu ihm um. „Ich muss das haben, Jan. Es ist mir wichtig, hier zu sein, um mich in den Fall hineindenken zu können.“ Wiebke lächelte. „Ich brauche den Stallgeruch, wenn du so willst. Das Feeling. Vielleicht kommt mir hier eine gute Idee.“

„Ich fürchte, dafür fehlt uns die Zeit.“ Petersen schüttelte verständnislos den Kopf und blickte auf seine Armbanduhr. „Wir müssen in knapp zwei Stunden in Kiel sein, um pünktlich zur Obduktion von Holger Heiners zu kommen. Und vorher haben wir noch ein paar Dinge zu erledigen.“ Er tippte mit dem Zeigefinger auf seine Uhr.

Wie zur Bestätigung fühlte er das leichte Vibrieren in der Hosentasche. Sein Handy. Umständlich zog er das Telefon hervor und warf einen Blick auf das Display. „Siehst du – der Chef ruft an. Was sag ich denn jetzt?“

„Die Wahrheit?“

Petersen schnaubte und drückte die grüne Taste. Matthias Dierks sprach ihn zu seiner Erleichterung nicht auf den Zwischenfall im Meeting an. Seine Stimme klang sehr abgeklärt und sachlich.

„Eben hat hier eine junge Frau angerufen. Sie wollte euch sprechen.“ Scheinbar las der Erste Hauptkommissar von einem Zettel ab. „Beke Frahm heißt sie. Und ihr trefft sie in ihrer Wohnung an. Wollt ihr hinfahren, oder soll ich sie nach Husum kommen lassen?“

„Nee, lass man. Wir sind schon unterwegs. Hat sie gesagt, worum es geht?“

„Nein. Allerdings gibt es einen Zeugen, der gesehen hat, dass Beke Frahm heute Morgen recht spät dran war. Sie wurde von einem Mann mit einem dunklen Mercedes zum Multimar gefahren. Der teure Wagen fiel auf, weil solche Autos normalerweise nicht beim Personaleingang anhalten.“

„Gibt es ein Kennzeichen?“

„Leider nein.“ Dierks schnaubte vernehmlich. „Dann fahrt ihr nach Oldenswort und fühlt der Frau mal auf den Zahn – ich kann auch Piet zur Obduktion nach Kiel schicken. Dann ist zwar nur einer von uns dabei, aber das ist zu verantworten.“

„Mach das, Wiebke wird sich freuen.“ Petersen grinste, als er die Verbindung unterbrach und Wiebke berichtete, was Dierks gesagt hatte.

Sie schien wirklich erleichtert zu sein, dass ihr die Obduktion erspart blieb. „Ich bin gespannt, was Beke Frahm noch eingefallen ist“, murmelte Wiebke, als sie den Rückweg zum Auto antraten. „Außerdem habe ich auch noch ein paar Fragen an die Gute – immerhin war der Tote, den sie gefunden hat, ihr Vermieter.“

„Und?“, fragte Petersen, ohne seinen Blick von der Straße abzuwenden. Er fuhr einen flotten Stiefel, um nach Oldenswort zu kommen, und hoffte, dass in der Baustelle am Abzweig nach Friedrichstadt kein Radarwagen stand. Vorsichtshalber ging er vom Gas, um den Wagen gleich hinter der Baustelle wieder zu beschleunigen. Er machte keinen Hehl daraus, was er von Wiebkes Wunsch, noch einmal zum Badestrand gefahren zu sein, hielt. „Was hat das jetzt gebracht, dass wir noch mal draußen am Dockkoog waren?“

„Ich musste einfach noch mal raus, um mir vorzustellen, wie es dort wird, wenn das Ferienressort steht. Wird der Strand dann überlaufen sein? Oder ändert sich für die Badegäste nicht viel? Wie wird es aussehen, das neue Hotel?“ Wiebke wusste, dass es keinen Sinn machen würde, mit ihrem Kollegen darüber zu diskutieren, dass es ihr oft half, zum Ort des Geschehens zu fahren. Manchmal war es auch einfach nötig, sich auf diese Art für den Fall zu sensibilisieren und so eine Lösung zu finden. Und auch wenn man Heiners tot im Großaquarium des Multimar gefunden hatte, so ahnte sie, dass es eine Verbindung zwischen Holger Heiners’ Tod und dem Dockkoog gab. Zu sehr hatten sich die Gemüter in den letzten Monaten an Heiners wohl ehrgeizigstem Projekt erhitzt. Was hatte Heiners mit dem Dockkoog verbunden, warum waren ihm die Proteste von Bürgern und Umweltschützern so egal gewesen? Tief hatte Wiebke die würzige Meeresluft in ihre Lungen eingesogen und sich von der Weite, die man dort verspüren konnte, davontragen lassen. Ein fast meditativer Moment, der ihr geholfen hatte, sich für das Thema zu öffnen.

Petersens Stimme riss sie aus den Gedanken. „Es gibt im Internet eine Fotomontage, auf der man sieht, wie es mit dem Ressort aussehen könnte, dazu hätten wir nicht rausfahren müssen.“

„Das ist nicht das Gleiche“, beharrte Wiebke. Die grüne Landschaft schien an ihnen vorbeizufliegen. „Ich will sensibilisiert sein, wenn wir an dem Fall arbeiten, und die Menschen verstehen, die sich entweder für oder gegen das Bauvorhaben einsetzen.“ Nun lachte sie. „So einfach ist das.“

„Ja“, nickte Petersen.

„Du verrenkst dir das Hirn, und dann kommen die Kollegen aus Flensburg, und wir dürfen wieder Fahrraddiebe und Einbrecher jagen.“

Wiebke blickte ihren Kollegen lange an, ohne jedoch ein Wort zu sagen. Anscheinend verstand Jan Petersen auch so.

„Ich hab ein bisschen Stress, mehr nicht.“ Seine Kieferknochen mahlten, die Hände ruhten schwer auf dem Lenkradkranz.

„Und da kann ich diesen Behördenscheiß nicht ab. Ich bin Bulle geworden, um Verbrecher zu jagen. Meine Eltern haben mir schon früh beigebracht, dass Verbrecher böse sind und anderen Menschen Schlechtes zufügen. Deshalb passt es mir nicht in den Kram, mich bevormunden zu lassen.“

Nun musste Wiebke lächeln. „Dann müssen wir einfach schneller sein als unsere Kollegen von der Mordkommission.“

Petersen nickte mit verbitterter Miene. „Allerdings.“

„Was hältst du von dieser Beke Frahm?“, wechselte Wiebke das Thema. „Ich meine, es ist seltsam, dass sie, kurz nachdem sie den Toten im Becken gefunden hat, aus dem Multimar verschwindet, oder?“

Nun warf Petersen ihr einen schnellen Seitenblick zu. „Ja“, sagte er. „Das ist mir heute Morgen auch schon aufgefallen.“

„Wir sollten nichts ausschließen. Auch wenn sie klein und zierlich ist, wir wissen nicht, ob Holger Heiners schon tot war, als er in das Wasser stürzte. Unter Umständen hat man ihn unter einem fadenscheinigen Vorwand ins Multimar gelockt, um ihn dort zu töten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand mit einer Leiche auf dem Rücken in den Technikbereich der Ausstellung spaziert und den Toten ins Wasser wirft, um ihn den Besuchern im Forum zu präsentieren.“

„Dazu müsste der Täter erst einmal hineinkommen“, erwiderte Petersen. „Also schließt sich der Kreis, und wir müssen bei allen auf den Busch klopfen, die zum Multimar Zugang haben.“

Sie hatten den Abzweig nach Oldenswort erreicht, und Petersen drosselte das Tempo. Wenig später hatten sie den malerischen Ortskern erreicht. Zum zweiten Mal standen sie an diesem Tag vor der alten Schule. Diesmal lenkte er den Mondeo direkt auf den ehemaligen Schulhof.

„Fahr den Mann nicht über den Haufen“, warnte Wiebke, als sie die gebückte Gestalt neben der Einfahrt kauern sah. Der Alte legte Köder aus. Scheinbar wimmelte es hier vor Ungeziefer.

Petersen ging nicht darauf ein. „Hübsch hässlich haben die es hier“, kommentierte er bissig, als er beim Aussteigen in einen Distelbusch trat. „Hier macht doch keiner mehr etwas sauber.“

„Weil Holger Heiners den Komplex als Baugrund verkaufen wollte“, erwiderte Wiebke. „Er ließ es herunterkommen, damit seine Mieter freiwillig ausziehen.“

„Aber die Rechnung scheint nicht aufzugehen“, knurrte Petersen. „Irgendwas ist faul im Staate Dänemark.“

Wiebke deutete nach oben zu einem der Fenster. Sie erkannte die zierliche Gestalt von Beke Frahm, die am Küchenfenster stand und mit regloser Miene in den Hof herabschaute. „Wir werden bereits erwartet.“

Petersen grinste schief. „Na dann auf in den Kampf, bevor man uns den Fall abnimmt.“

Oldenswort, 12.45 Uhr

Ihr wurde schlecht, als sie den Rest des inzwischen kalten Kaffees hinunterkippte. Angewidert schüttelte sie sich und überlegte, ob sie richtig gehandelt hatte. War es gut gewesen, die Polizei anzurufen? Sie stierte auf das Telefon, das vor ihr auf dem Küchentisch lag. Zweifel keimten in ihr auf. War es der richtige Weg gewesen, den sie eingeschlagen hatte?

Rückte sie das nicht näher in den Dunstkreis eines gesuchten Mörders?

Ihr Herzschlag beschleunigte sich, und die zitternde Hand, mit der sie sich durch das erhitzte Gesicht fuhr, kam ihr wie ein Fremdkörper vor. Wie etwas, das nicht zu ihr gehörte und von jemand anderem gesteuert und geführt wurde.

Er ist tot, hämmerte alles in ihrem Hirn, und sie schüttelte immer wieder ungläubig den Kopf und spürte, wie ihr Tränen in die Augen schossen. Sie durfte nicht weinen, sonst würde das Make-up verwischen.

Mit einem lauten Knall landete die Kaffeetasse, ein mit der Silhouette des Eiderstädter Leuchtturms bemalter Steinpott, auf dem Küchentisch. Das Telefon vollführte einen Hüpfer, so als wolle es sich in purer Überlebensnot von der Kaffeetasse fortbewegen.

Schwerfällig wie eine alte Frau erhob sie sich und registrierte, dass ihre Knie weich waren. Beke Frahm kämpfte gegen den Schwindel an, streckte einen Arm nach der Arbeitsplatte der schmalen Küche aus, bekam sie zu greifen und verlagerte das Gewicht ihres Körpers. Sie hangelte sich zum Kühlschrank und öffnete ihn. Im Türfach stand eine Flasche mit Rum. Sie griff danach und drehte mit eiligen Bewegungen den Schraubverschluss ab. Sie hatte immer Rum im Haus. Für Grog, denn ansonsten trank sie kaum alkoholische Getränke. Doch in diesem Moment sehnte sie sich nach der brennenden Hitze in ihrer Kehle, nach der Dunstglocke des Alkohols, unter der alles verschwinden sollte. Beke Frahm nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche. Der Rum brannte im Mund und im Hals, doch sie setzte die Flasche noch nicht ab. Beke hoffte inständig, dass ihr der hochprozentige Alkohol eine Art Erlösung verschaffte oder sie zumindest ein Stück weit beruhigte. Sie trank hastig und setzte die Flasche ruckartig ab, um sie mit zitternden Händen zu verschließen und sie an ihren Platz im Kühlschrank zu stellen.

Am liebsten hätte sie die Zeit zurückgedreht und den Anruf bei der Kripo rückgängig gemacht. Doch das war nicht möglich, und diese Tatsache bereitete ihr höllische Qualen. Warum hatte sie das getan? Sicherlich waren die Ermittler schlau genug, um irgendwann auf ihre Fährte zu gelangen. Sie hätte doch gar nicht nachhelfen müssen.

Doch nun war es zu spät.

Zu spät, hallte es in ihrem Schädel nach, während sie an der anthrazitfarbenen Arbeitsplatte der Küche lehnte, den wie ein blau-weißes Schachbrett gemusterten Fliesenboden anstarrte und sich die Schläfen massierte. Als sie den Kopf hob und die gegenüberliegende Wand anstierte, schien das Muster der hellen Küchentapete vor ihren Augen zu verschwimmen. Der Schwindel nahm zu, und sie schloss sekundenlang die Augen, bis grelle Punkte vor ihren Pupillen tanzten.

Beke hangelte sich in der Küche weiter bis zum Fenster vor. Der Marmor der breiten Fensterbank war kühl und erfrischte die Innenflächen ihrer Hände, auf die sie sich stützte, während sie hinunter in den Hof blickte. Kaum vorzustellen, dass hier früher Kinder in den Pausen gespielt, getobt und gelacht hatten. Nun wucherte das Unkraut hüfthoch zwischen den Steinen. Ein seichter Wind blähte die Wäsche auf, die einer der Nachbarn über die bunten Plastikleinen gespannt hatte. Die Deckel der Mülleimer standen weit offen, und ein penetranter Geruch von verfaulten Essensresten hing über dem Hof. Angewidert hob sie die Hand, um das auf Kipp stehende Fenster zu verschließen.

Gleich werden sie hier sein, dachte sie. Ich werde ihnen etwas erzählen, das sie weiterbringt, munterte sie sich auf. Immerhin ging es darum, einen kaltblütigen Mord aufzuklären. Da konnte sie keine Rücksicht auf gesellschaftliche Belange nehmen.

Unten im Hof tat sich etwas. Eine der Hoftüren wurde geöffnet, und das Quietschen der Scharniere bereitete ihr Kopfschmerzen. Alles an diesem verdammten Haus war altersschwach. Sie presste die Stirn an die Scheibe des Küchenfensters und genoss die Kälte, die durch ihren Schädel strömte und ihr ein wenig Klarheit verschaffte.

Albers trat in gebückter Haltung ins Freie. Ohne sich zum Haus umzublicken, schlich der Alte über den Hof. Wie immer fluchte er wüst, doch sie verstand kein Wort von dem, was er sagte. Wahrscheinlich regte er sich über den Zustand seines Wohnhauses auf. Früher, das wusste Beke, hatte er hier als Hausmeister der Schule gearbeitet und jahrzehntelang für Ordnung und Sauberkeit gesorgt. Es schien, als schmerzte es ihn, untätig zusehen zu müssen, wie sein Lebenswerk nun verkam.

Sie fragte sich, was aus dem bedauernswerten Kerl werden würde, wenn hier alles dem Erdboden gleichgemacht würde. Wahrscheinlich landete er im Heim. Mit seinen Kindern hatte er es sich schon vor vielen Jahren verscherzt. Die wenigen Angehörigen, die noch zu seiner Familie zählten, stritten jede verwandtschaftliche Beziehung zu dem verbitterten Mann ab.

Albers bückte sich immer wieder, schien kleine Gegenstände im Gebüsch zu verstecken.

Was tat er da nur?

Beke schärfte den Blick und versuchte zu erkennen, was der alte Mann im Hof tat. Er legte kleine runde Plastikbehälter aus.

Rattengift, durchzuckte es sie dann. Er legt Rattenköder aus. Bis zuletzt hing er an der alten Schule, der er so lange die Treue gehalten hatte.

Als ein Auto den Kirchenweg herunter rollte, erwachte sie aus den trüben Gedanken. Beke hob den Blick und erkannte einen unauffällig lackierten Ford Mondeo Kombi, der gezielt auf den heruntergekommenen Hof gelenkt wurde. Sie erkannte zwei Personen in dem Wagen und wusste, dass es gleich losgehen würde.

Wieder kamen Zweifel in ihr auf, und Beke musste sich zwingen, gute Miene zu bösem Spiel zu machen. Sie konnte die Zeit nicht zurückdrehen, auch wenn sie das gern getan hätte.

Die Polizisten stiegen aus, wechselten ein paar Worte mit Albers, dann blickten sie an der Rückseite des Hauses empor.

So, als wäre sie erwischt worden, zuckte Beke Frahm zusammen und entfernte sich ruckartig vom Küchenfenster.

Albern, da sich die Gardinen bewegten, doch egal. Hauptsache, sie war dem Blick der Polizisten entkommen. Als es kurz darauf klingelte, kreiste ein einziger Satz in ihrem Gehirn: „Die Geister, die ich rief“. Sie gab sich Mühe und atmete tief durch, bevor sie die Unsicherheit so gut wie möglich ablegte und zur Wohnungstür ging, um zu öffnen.

„Ich habe gelogen.“ Ihre Augen waren glasig und hatten nichts, aber auch gar nichts mehr mit dem wachen Blick der jungen Meeresbiologin von heute Morgen gemeinsam.

Wiebke tauschte einen raschen Blick mit Petersen und bemerkte, dass ihm die Veränderung der jungen Frau aus Oldenswort ebenfalls nicht entgangen war. Wiebke besaß genug Menschenkenntnis, um zu wissen, dass Beke Frahm getrunken hatte, wohl, um den Schock vom Morgen besser verkraften zu können.

„Wollen Sie uns nicht erst mal reinlassen?“, fragte Petersen nun.

Beke Frahm nickte und gab den Eingang zu ihrer Wohnung frei. Ohne sich noch einmal zu ihren Besuchern umzublicken, ging sie durch den kleinen Korridor in die Küche.

Wiebke sah, dass sie ein wenig schwankte. In der Küche, einem schmalen aber langen Raum mit der Küchenzeile auf der rechten und einer Sitzecke auf der linken Seite, nahmen sie am Tisch Platz. Beke Frahm schien die Anwesenheit ihrer Gäste einen Moment lang vergessen zu haben. Sie sank auf einen der Stühle, stützte den Kopf in die Hände und stierte auf die Tischplatte.

„Sie haben uns also noch einmal hergebeten“, begann Wiebke nach einer kleinen Pause. „Und Sie sagten, dass Sie gelogen hätten.“

Nun ruckte Beke Frahms Kopf hoch. „Ja.“

„Wobei haben Sie gelogen?“

„Ich …“ Sie zögerte, schüttelte den Kopf und fuhr sich mit einer fahrigen Handbewegung durch das Gesicht. „Ich habe die letzte Nacht zwar wirklich hier verbracht, aber nicht allein.“

„Wer war bei Ihnen? Ihr Freund, der sie auch nach Hause gefahren hat?“

„Nein.“

Wieder ein unkontrolliertes Kopfschütteln. „Ja, eigentlich schon“, setzte sie dann nach, ohne die Polizisten anzusehen. „Die Leute denken, dass ich Single bin. Aber das mit meinem Freund, das darf keiner wissen, verstehen Sie?“

Wiebke schüttelte den Kopf. „Ich fürchte nein.“ Für sie war es selbstverständlich, dass man sich zu seiner Liebe bekannte. Dass jemand mit seinem Partner hinter dem Berg hielt, dafür musste es ihrer Meinung nach einen Grund geben.

„Ich habe ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann. Wenn er herausfindet, dass ich mit Ihnen darüber gesprochen habe, dann wird er mich umbringen.“ Jetzt blickte sie Wiebke mit großen, ängstlichen Augen an.

„Ist Ihr Freund gewalttätig?“

Petersen zog es vor, zu schweigen. Dies war ein typisches Frauengespräch, aus dem er sich in der Regel heraushielt. Das hatte nichts mit ermittlungstaktischen Gründen zu tun – das war menschlich. In der Regel vertrauten Frauen sich Polizistinnen eher an als männlichen Kollegen.

„Ob er mich schlägt?“ Beke Frahm schüttelte den Kopf. „Nein.“ Sie lachte, doch es klang gekünstelt. „Das würde er wohl niemals tun. Aber er hat andere Mittel und Wege, um mich zu bestrafen.“

„Wollen Sie darüber sprechen?“

Kopfschütteln. „Deshalb habe ich Sie nicht hergebeten. Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass es jemanden gibt, der bezeugen kann, dass ich die letzte Nacht hier verbracht habe.“

„Wir benötigen den Namen und die Kontaktdaten Ihres Freundes.“

„Das ist leider nicht möglich.“ Diesmal wirkte ihr Kopfschütteln entschlossener. „Ich kann ihn nicht bekannt geben. Das wäre sicherlich sein Ende. Beruflich und privat. Ich könnte nicht damit leben, ihm seine Existenz zerstört zu haben.“

„Hören Sie“, nun mischte sich Petersen doch ein. „Hier geht es um einen Mord, und wir sind auf der Suche nach dem Täter.“ Er sprach mit energischer Stimme, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.

Die junge Frau blickte ihn ratlos an, schien sekundenlang geradewegs durch ihn hindurchzublicken, dann nickte sie kaum sichtbar. „Gut“, sagte sie und atmete tief ein. „Er heißt Peer Hansen, vielleicht sagt Ihnen der Name etwas?“

„Und ob.“ Petersen nickte. Wie Wiebke wusste, hatte er schon seine Kindheit in Husum verbracht, deshalb schien er auch die wichtigen Namen der Region zu kennen.

„Es ist doch der Peer Hansen, der im Außenhafen die Werft leitet?“, vergewisserte er sich dennoch bei Beke Frahm.

„Ja, das ist er.“ Sie nickte und stierte in die leere Kaffeetasse, die vor ihr stand. Sie blickte auf und bedachte Wiebke und Petersen mit flehenden Blicken. „Bitte halten Sie Peer da raus, ich möchte nicht, dass er Schwierigkeiten bekommt, wenn herauskommt, dass wir …“ Sie brach ab.

„Hauptsache, Sie bekommen keine Schwierigkeiten.“ Wiebke trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte herum.

„Das ist zweitrangig, Hauptsache, Sie glauben mir, dass ich nichts mit dem Mord zu tun habe.“

Wiebke wunderte sich über ihren plötzlichen Sinneswandel, sagte aber nichts dazu. Sie zückte einen kleinen Block und einen Stift, um sich von Beke Frahm diktieren zu lassen, was die junge Frau noch über ihren Freund wusste. Viel war es nicht.

„Warum erzählen Sie uns das alles?“, fragte Wiebke, nachdem sie Beke Frahms Angaben notiert hatte.

„Weil ich keine Lust habe, unter Mordverdacht zu stehen.“

Sie blickte Wiebke tief in die Augen. „Wahrscheinlich wäre ich in den Dunstkreis des Mörders geraten, weil ich ins Multimar komme. Und weil ich die Leiche im Wasser gefunden habe. Macht mich das nicht verdächtig?“

„Bislang nicht, nein.“ Wiebke schüttelte den Kopf. „Allerdings ist es seltsam, dass Sie behauptet haben, den Toten nicht zu kennen. Wie wir inzwischen wissen, war er ihr Vermieter.“

Beke Frahm schien darüber überrascht zu sein, dass die Polizisten innerhalb kurzer Zeit wussten, dass sie Holger Heiners, entgegen ihrer Aussage, gekannt hatte.

„Warum haben Sie uns nicht die Wahrheit gesagt?“, bohrte Petersen nun doch nach.

„Es … es war mir unangenehm.“

„Das müssen Sie uns erklären.“

Beke blickte ihre Besucher unverwandt an. „Hallo – ich finde einen Toten im Großaquarium, behaupte, die Nacht hier allein verbracht zu haben, und ich gebe an, Heiners nicht gekannt zu haben. Sie halten mich für eine Lügnerin. Und es wäre nicht das erste Mal, dass so etwas reicht, um Leute in den Knast zu bringen.“

„Sie scheinen sich auszukennen.“ In Petersens Stimme schwang Sarkasmus mit. „Gibt es denn sonst noch etwas, das Sie uns erzählen müssen?“

Eilig schüttelte die junge Frau den Kopf. „Nein“, sagte sie leise. „Nichts.“

„Wie war Ihr Verhältnis zu Heiners?“, fragte Wiebke und legte den Stift und den Block auf den Küchentisch.

„Es war rein geschäftlich. Ihm gehört die Bude, er bekommt jeden Monat seine Miete. Mehr nicht. Aber er ist ein verdammtes Arschloch. War ein verdammtes Arschloch“, verbesserte sie sich dann.

„Warum?“

„Er wollte uns hier rausekeln. Dazu schien ihm jedes Mittel recht zu sein.“

„Das scheint ja ein netter Kerl gewesen zu sein.“ Petersen grinste schief. „Gab es eine Situation, wo er Ihnen oder einem Ihrer Nachbarn gedroht hat?“

„Er bedrohte uns damit, dass er keinen Cent mehr in diese Bruchbude steckte. Im Winter war die Heizung kaputt. Haben Sie eine Ahnung, wie lange wir gefroren haben, bevor er einen Handwerker mit der Instandsetzung beauftragt hat?“ Als sie keine Antwort erhielt, fuhr Beke Frahm fort: „Zweieinhalb Wochen. Der olle Albers hat sich einen Gasofen besorgt, den er zu nah an der Gardine aufgestellt hat. Es gab ein Feuer, und um ein Haar wäre das ganze Haus abgebrannt.“

„Haben Sie Heiners darauf angesprochen?“

„Nein – er hat sich am Telefon immer verleugnen lassen. Hier habe ich ihn auch nur ein einziges Mal gesehen, das muss gewesen sein, kurz nachdem er die alte Schule gekauft hat. Seitdem schickt er immer seine Lakaien vor. Peer hat schon mehrmals versprochen, mir eine Wohnung in Husum zu kaufen. Doch wahrscheinlich hatte er Angst, dass man ihn in meiner Nähe sehen könnte. Schon oft hat er gesagt, dass es typisch für Heiners sei …“

„Moment, die beiden kannten sich?“, fuhr Wiebke dazwischen.

„Ja, und sie hassten sich.“ Beke betrachtete die Polizisten nachdenklich. „Aber bitte fragen Sie mich nicht, warum. Es scheint eine uralte Geschichte zu sein, die mir Peer noch nicht erzählt hat. Und offen gestanden“, nun lächelte sie, „offen gestanden haben wir auch andere Dinge im Kopf, wenn wir zusammen sind.“

„Ist es eine rein sexuelle Beziehung, die Sie mit Peer Hansen führen?“

„Wir schlafen miteinander – ja.“ Beke Frahm errötete und blickte auf die Tischdecke. „Ich bin schon verliebt in ihn und hoffe, dass er ähnlich denkt. Wir genießen jede Minute, die wir miteinander verbringen können.“

Petersen räusperte sich. „Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, Frau Frahm. Aber Sie sind zweiundzwanzig Jahre alt. Ihr Freund hingegen muss doch schon über fünfzig sein.“

„Siebenundvierzig“, antwortete Beke Frahm schnell. „Er ist siebenundvierzig. Und ich mag ältere Männer. Sie sind erfahrener und viel reifer als Männer in meinem Alter.“

Wiebke nickte und dachte plötzlich an ihre Beziehung zu Tiedje, der drei Jahre jünger war als sie. Vielleicht hatte Beke Frahm recht, und sie sollte sich nach einem älteren Mann umsehen. Nach einem reifen Mann, der Verständnis für ihren Job bei der Kripo hatte. Sie gab Petersen ein Zeichen und erhob sich.

„Wie steht Ihr Freund zum Bauvorhaben am Dockkoog?“, fragte sie im Hinausgehen.

„Es ist ihm relativ egal, was am Badestrand passiert, solange sich nicht die Vorgaben für seinen Betrieb verschlechtern.“ Beke Frahm zuckte die Schultern. „Es kann nicht jeder ein Umweltschützer sein.“

„Wohl wahr.“ Wiebke nickte, dann stand sie im Treppenhaus der ehemaligen Schule. Sie ahnte, wohin Petersen als Nächstes wollte.