Ich will nicht sterben

 

Es war Anfang Juni, aber schon so warm wie im Hochsommer.

Die Nachmittagssonne knallte auf die Terrasse. In der Wohnung staute sich die Luft, obwohl die Tür nach draußen offen stand.

Lasse Henning saß mit schweißglänzendem Gesicht am Tisch.

»Sie waren also bloß ganz gewöhnliche, beschissene Kleinkriminelle«, sagte er und schüttelte den Kopf.

»Vielleicht nicht ganz so gewöhnlich«, entgegnete Nielsen.

»Du weißt, was ich meine«, sagte Lasse Henning. »Es fing mit Kleinkram an und artete dann aus …«

Nielsen nickte.

»So könnte man es sehen. Obwohl noch vieles ungeklärt ist.«

Er hatte strategisch günstig auf der Schwelle zur Terrasse Posten bezogen und versuchte erfolglos, einen Lufthauch von draußen einzufangen.

»Hinsichtlich Rönnåsen können wir nach wie vor nur Bellander etwas nachweisen. Die Blutprobe, die Bellander entnommen wurde, stimmte laut DNA-Test mit dem Blut vom Türrahmen in Rönnåsen überein. Das Blut stammte zweifelsfrei von Bellander. In Bellanders Sommerhaus haben wir außerdem Gegenstände von Einbrüchen und Raubüberfällen in ganz Mittelschweden gefunden. Die Opfer waren meist ältere Leute.

Außerdem sind wir auf Verbandsmaterial und Medizin aus Krankenhäusern und Pflegeheimen gestoßen, in denen Bellander gearbeitet hat.«

Lasse Henning verzog das Gesicht.

»Nein, Lindberg scheint vorsichtiger gewesen zu sein. Mal abgesehen von der Sache mit seiner Brieftasche. Und dann natürlich die Vorfälle in dem Haus …«

Er schwieg eine Weile.

»Was sagt der Onkel? Hast du das in Erfahrung gebracht?«, erkundigte er sich.

»Behauptet, dass er nichts weiß. Weder über die Vorfälle in seinem Keller noch über alles andere. Sein Neffe sei aufgetaucht und habe ihn fortgeschickt, und er habe es nicht gewagt, sich zu widersetzen. Gleiches hatte sich bereits früher einige Male ereignet.«

»Und Katja Walter? Hat sie aussagen können?«

Nielsen trat in das schattige Innere des Wohnzimmers. Hier war es ein paar Grade kühler.

»Sie kann sich offenbar an nichts erinnern. Aber sie ist in dem Auto, das vor der Tür stand, zum Haus gebracht worden.

Wahrscheinlich nicht freiwillig. Blutspuren von ihr sind im Auto sichergestellt worden.«

»Und der Wagen gehörte also Bellander?«, fragte Lasse Henning.

Nielsen nickte.

»Aber Lindberg saß am Steuer. Zumindest auf der letzten Fahrt. Er hatte die Autoschlüssel in der Tasche. Aber alles Übrige …«

Er hob ratlos die Hände.

»… wird nach wie vor von dichtem Nebel verhüllt wie damals bei Lützen. Was eigentlich geschah. Wer was tat. Und warum.«

Lasse Henning zuckte mit den Schultern.

»Auch nicht ganz ungewöhnlich. Ich habe das selbst schon erlebt. Es gab Fälle mit mehreren Toten, in denen die Überlebenden keine Lust hatten, den Mund aufzumachen, und die Spurensicherung auch nicht alle Fragen beantworten konnte.

Da steht man dann da und kommt nicht weiter.«

Nielsen nickte.

»Schon möglich.«

Er ging im Zimmer auf und ab und setzte sich dann Henning gegenüber an den Tisch. Eine Tür fiel ins Schloss.

»Ist Gisela zu Hause?«

Lasse Henning nickte.

»Sie kommt sicher nachher noch runter«, meinte er entschuldigend. »Offenbar hat sie einiges vorzubereiten. Sie hat heute Abend zwei Besichtigungstermine.«

Als Lasse sie kennen gelernt hatte, war Gisela Schreibkraft auf der Polizeistation in Södermalm gewesen. Sie hatte ihre Arbeit verloren, als ein Großteil des Verwaltungspersonals entlassen worden war. Damit hatte sie das große Los gezogen. Nach einem halben Jahr als Sekretärin bei einem Immobilienmakler hatte sie die Möglichkeit erhalten, eine Ausbildung zur Maklerin zu absolvieren. Inzwischen verdient sie in manchen Monaten bestimmt doppelt so viel wie Lasse, dachte Nielsen. Er betrachtete Lasse Henning nachdenklich.

»Was findet sie eigentlich an dir?«, fragte er. »Kannst du mir das mal erklären?«

Lasse Henning sah auf.

»Meine Schönheit ist es nicht, meinst du? Tja, dann ist es wohl mein Charakter. Oder vielleicht mein Vermögen?«

Nielsen nickte langsam.

»Du hast also über alles nachgedacht, genau wie ich, und bist ebenfalls zu dem Schluss gekommen, dass da irgendwas nicht stimmen kann.«

Lasse Henning lächelte schwach.

»Jetzt treffen wir uns schon zum dritten Mal, Johnny. Und zwar innerhalb eines Monats. Es ist lange her, dass wir so regen Umgang gepflegt haben, ist dir das aufgefallen?«

Nielsen runzelte die Stirn.

»Wir rennen einander förmlich die Tür ein.«

»Wir sollten vielleicht auf der Hut sein. Das könnte zu einer schlechten Gewohnheit werden.«

Dann wurde Lasse Henning wieder ernst und kehrte zum Thema zurück.

»Wie haben sich Lindberg und Bellander eigentlich kennen gelernt?«

»Ich weiß nicht«, antwortete Nielsen, »und auch sonst scheint das niemand zu wissen.«

Er starrte eine Weile ins Leere.

»Aber ich glaube nicht, dass es sich um eine neue Bekanntschaft handelt. Sie könnten sich hier in der Stadt begegnet sein, schließlich haben beide hier mal gewohnt.

Wahrscheinlich verkehrten sie auch in denselben Kreisen.«

Er machte eine kurze Pause.

»Aber ich glaube, sie kannten sich schon länger. Sie sind nicht sonderlich weit voneinander entfernt aufgewachsen. Trotz des Altersunterschieds von zehn Jahren und der Tatsache, dass Lindberg in seiner Jugend so oft umgezogen ist, könnten sie sich schon früher begegnet sein.«

Er stützte einen Ellbogen auf den Tisch und massierte nachdenklich sein Kinn.

»Sie könnten sich zu Hause bei seinem Onkel kennen gelernt haben«, meinte er. »Ich kann mir vorstellen, dass sie sich schon lange vor dieser Sache kannten.«

»Gibt es irgendwelche Hinweise darauf?«, fragte Lasse Henning.

Nielsen schüttelte den Kopf.

»Das ist nur so ein Gefühl, ein Gefühl, das noch etwas dahinterstecken könnte - ein Pakt, ein Abhängigkeitsverhältnis oder etwas Ähnliches. Das würde ins Bild passen. Obwohl dieser Onkel behauptet, nichts über Bellander zu wissen, ihn nie gesehen und nie von ihm gehört zu haben. Aber das war kaum anders zu erwarten.«

Lasse Henning nickte.

»Eigentlich spielt es auch keine Rolle mehr, oder?«

Nielsen sah ihn nachdenklich an.

»Hast du schon aufgegeben? Gibt es keine Frage mehr, auf die du eine Antwort suchst?«

Lasse Henning schwieg.

»Eigentlich nicht«, meinte er schließlich, »außer einer. Und auf die werde ich keine Antwort mehr erhalten. Was wollte Bosse Lindberg überhaupt von mir? Wieso hat er mich benachrichtigen lassen?«

Nielsen schaute aus dem Fenster.

»Hast du schon mal von den Heilfischen gehört?«

Der andere starrte ihn an.

»Wovon redest du?«

Nielsen verschränkte die Arme.

»Alter Aberglaube. Fische, die Heilkräfte besitzen. Kranke Fische schwimmen zu ihnen und reiben sich an ihnen.«

Lasse Henning sah ihn unverwandt an. Dann schüttelte er den Kopf.

»Gehe ich recht in der Annahme, Johnny, dass du mich gerade mit einem Fisch verglichen hast?«

Nielsen lächelte.

»Es gibt doch Schlimmeres?«

»Und das wäre?«, erwiderte Lasse Henning trocken.

Nielsen grinste breit. Dann war er wieder ernst.

»Du besitzt solche Fähigkeiten, Lasse«, meinte er. »Heilende.

Dessen bist du dir doch bewusst? Sonst kann ich dir das hiermit bestätigen.«

Er wartete einen Augenblick.

»Vielleicht kam er tatsächlich deswegen zu dir. Weil er deine Hilfe gebraucht hat.«

Lasse Henning wurde nachdenklich.

»Da hat er sich dann ganz offensichtlich den Falschen ausgesucht, nicht wahr?«

Er kniff die Augen zusammen und sah Nielsen an.

»Und wie kam dir sein Gedächtnis vor?«, fragte er schließlich.

Nielsen zog die Brauen hoch.

»Du meinst, weil er beteuert hat, nicht in die Sache verwickelt zu sein, sich aber trotzdem ein Hintertürchen offen gehalten hat: Amnesie, Verdrängung. Daran hast du doch selbst nicht geglaubt. Ich bin jedenfalls skeptisch. Besonders seit den jüngsten Ereignissen.«

Lasse Henning holte tief Luft.

»Ich habe in eine ganz ähnliche Richtung gedacht. Als ich mich mit Lindberg über Rönnåsen unterhalten habe … war ich mir noch recht sicher, dass er die Wahrheit sagte und nichts mit der Sache zu tun hatte, das muss ich zugeben…«

»Was willst du damit sagen?«, fragte Nielsen.

Lasse Henning zuckte die Achseln.

»Dass man nur schwer weiß, was in anderen Menschen vorgeht, und dass das mit zunehmendem Alter nicht unbedingt leichter wird. Im Gegenteil.«

Nielsen starrte vor sich hin. Er hatte Bosse Lindberg nur einmal gesehen, im Keller seines Onkels, zusammengekrümmt, das Gesicht zur Totenmaske verzerrt. Was er über ihn wusste, hatte er, einmal abgesehen von dem kurzen Telefongespräch, aus zweiter und dritter Hand über Umwege erfahren.

Er versuchte, zu dem Gefühl zurückzufinden, das er nach dem Gespräch mit dem Onkel gehabt hatte. Das Gefühl, sich plötzlich ein Bild von ihm machen und sagen zu können, wer er war. Aber es gelang ihm nicht mehr, das sah er jetzt ein. Nur ein Gefühl des Schwindels ergriff ihn, als starrte er in ein schwarzes Nichts.

Er erhob sich und wechselte das Thema.

»Hast du dich mit Magnusson unterhalten?«, fragte er und nahm sein Sakko von der Stuhllehne.

»Er hat mich angerufen«, antwortete Lasse Henning mit einem schwachen Lächeln. »Das Gespräch dauerte allerdings nicht lange. Er war auch nicht sonderlich freundlich. Er legte mir ans Herz, an einen warmen Ort zu reisen und nicht wieder zurückzukehren.«

»Was hast du geantwortet?«

»Etwas Ähnliches. Bei dieser Art von Unterhaltungen ergibt schließlich ein Wort das andere. Aber mit dir redet er noch?«

»Wir hatten Kontakt, ja«, antwortete Nielsen ausweichend.

»Eine Hand wäscht die andere, du weißt schon. Wahrscheinlich denkt er, ich könnte ihm noch nützlich sein.«

»Also wird weiter ermittelt?«, fragte Lasse Henning.

Nielsen war schon auf dem Weg zur Tür und blieb stehen.

»Eigentlich nicht«, erwiderte er. »Die Ermittlung gilt wohl als abgeschlossen. Sehr viel weiter kann man auch nicht kommen.

Du hast es ja selbst gesagt.«

»Und du, Johnny?«, fragte Lasse Henning. »Gibst du dich auch zufrieden?«

Nielsen sah ihn eine Weile an und nickte dann.

»Ja«, erwiderte er.

Er war sich seiner Lüge bewusst. Das hatte Lasse Henning vielleicht nicht verdient. Aber er wollte nichts erzählen. Es widerstrebte ihm stets, Pläne preiszugeben, als würde das ihr Scheitern heraufbeschwören. Er versuchte, sich damit zu rechtfertigen, dass er tatsächlich gar nicht wusste, was er unternehmen würde.

Er hob zum Abschied die Hände.

»Ja, mal abwarten, was passiert«, meinte er vage. »Ich melde mich.«

Lasse Henning hustete.

»Ach, wirklich?«, erwiderte er. »In ein paar Jahren vielleicht?«

Nielsen grinste.

»Tja, vielleicht auch früher. Aber bleib abends nicht meinetwegen auf.«

Die Sonne war weitergewandert, und die Terrasse lag im Halbschatten. Lasse Henning hatte sich auf einem Liegestuhl ausgestreckt und schaute auf, als Gisela nach draußen kam.

»Ach, jetzt hast du auf einmal Zeit?«

»Ich hatte noch etwas zu tun«, antwortete sie. »Und ihr seid doch ganz gut ohne mich zurechtgekommen.«

»Du hättest wenigstens guten Tag sagen können«, meinte Lasse Henning.

Sie entgegnete nichts.

»Du hast ihn noch nie leiden können«, fuhr er kopfschüttelnd fort. »Oder?«

»Was vermutlich auf Gegenseitigkeit beruht«, erwiderte sie kurz.

Er betrachtete sie. Ihr kurz geschnittenes Haar. Ihr Gesicht mit den ein wenig eckigen, energischen Zügen. Dennoch verbarg sich dort auch etwas Sinnlich-Aufreizendes, was er immer gespürt hatte. Schon bei ihrer ersten Begegnung, als ihre Blicke sich trafen, hatte er diese Spannung gespürt und erkannt, wohin sie führen konnte.

Sie stellte sich breitbeinig über den Liegestuhl. Dann ließ sie sich langsam zu ihm herabsinken, wobei sie ihn unverwandt betrachtete, als wolle sie sich keine seiner Regungen entgehen lassen.

Lasse Henning sah rasch zu den Nachbarhäusern hinüber.

»Doch wohl nicht hier draußen?«, meinte er.

Sie sah ihn unverwandt an. Dann lachte sie, stand auf und boxte ihn in den Bauch.

»Was? Glaubst du etwa, ich bin so eine Liederliche?«

Lasse Henning schüttelte den Kopf.

»Nein, soweit ich das beurteilen kann, steht es nicht ganz so schlimm um dich.«

Sie versetzte ihm einen zweiten Hieb, dieses Mal so fest, dass er aufstöhnte. Sie stellte sich neben die Liege.

»Er hat also das Trinken aufgegeben?«, meinte sie nach einer Weile. »Weißt du, warum?«

Lasse Henning überlegte.

»Eigentlich nicht. Offenbar hat er von einem Tag auf den anderen aufgehört.«

Sie sah ihn an.

»Du klingst nicht gerade begeistert.«

Lasse Henning schnitt eine schwer zu deutende Grimasse.

»Klar finde ich das gut, wenn er wirklich aufgehört hat. Ich habe nur keine Ahnung, wo das hinführen soll. Es war noch nie leicht, sich einen Reim auf Johnny zu machen, aber er wechselt oft von einem Extrem ins andere. Schwarz oder weiß. Entweder oder. Nur selten zwischendrin.«

»Das kann doch wohl kaum deine Sorge sein«, meinte Gisela.

»Er ist erwachsen oder sollte es zumindest sein.«

»Was hast du eigentlich an ihm auszusetzen?«, fragte Lasse Henning irritiert.

Sie sah ihn an.

»Er ist nicht unbedingt die gute Laune in Person.«

Lasse Henning schnaubte.

»Das ist doch noch lange kein Grund, ihn nicht zu mögen.«

»Er ist aber kein Freund.«

»Wie bitte?«

Er starrte sie an.

»Er ist kein Freund«, wiederholte sie. »Darum geht es auch gar nicht. Hast du denn nie begriffen? Du bist in die Rolle seines Vaters geschlüpft! Und das vermutlich schon vor vielen Jahren.«

Sie holte Luft.

»Und ich bin die Schlange, die ihn der perfekten Familie beraubt hat.«

Er war sprachlos.

»Aha«, meinte er schließlich. »Und was tut man in so einem Fall?«

Sie zuckte mit den Schultern.

»Nichts. Aber man sollte sich dessen vielleicht bewusst sein.«

 

Er erwachte gegen drei Uhr im ersten grauen Licht des Tages und konnte nicht wieder einschlafen. Er stand auf, ging zum Schreibtisch am Fenster, ließ sich auf den Stuhl sinken und starrte hinaus.

Es hatte geregnet. Auf dem Asphalt hatten sich Pfützen gebildet. Der Duft von Nässe drang durch den schmalen Fensterspalt. Plötzlich fiel ihm auf, wie sehr er diese frühen Morgenstunden, wenn noch kaum jemand wach war, vermisste.

Diese Gerüche und das vorsichtige Vogelgezwitscher, das bald ohrenbetäubend anschwellen würde. In letzter Zeit kam er so gut wie nie mehr so früh aus dem Bett oder aus dem Haus. Als er noch einen Hund gehabt hatte, war er jeden Morgen eine Drei-Kilometer-Runde gegangen. Tjarrko war immer zehn Meter hinter ihm geblieben, hatte geschnüffelt und alle zwanzig Meter sein Bein gehoben. Er war leise fluchend vor ihm hergetrottet.

Der Hund hatte ihm ab und zu einen bedauernden Blick zugeworfen, als wäre ihm bewusst gewesen, mit was für einem Dummkopf er es zu tun hatte … Ja, er vermisste es wirklich, wie so vieles andere im Leben, das für immer verloren war.

Tief hängende, zerfetzte Regenwolken jagten über den Himmel. Laut Wetterbericht sollte es den ganzen Tag regnen. Er spähte in das graue Wetter. Alles näherte sich einem Ende, einer Schlussphase, jedenfalls was ihn betraf. Das Wetter bildete einen passenden Rahmen. Regenschleier, die der Wind vor sich hertrieb, verdeckten jegliche Sicht.

Seine Kontakte zu Magnusson hatten sich auf wenige Gespräche beschränkt. Recht bald hatte er eingesehen, dass die Ermittlungen zum Erliegen gekommen waren. Wahrscheinlich würden sie auch nicht wieder aufgenommen werden.

»Wir bleiben natürlich mit den Bezirken im Gespräch, deren Ermittlungen mit den unsrigen im Zusammenhang stehen könnten«, hatte Magnusson bei ihrer letzten Unterhaltung gesagt. »Manches von dem Diebesgut, das wir gefunden haben, lässt sich bisher ungeklärten Verbrechen zuordnen. Aber von einer größeren Ermittlung kann kaum mehr die Rede sein.

Schließlich verfügen wir gar nicht über die Mittel …«

»Und was ist mit den Todesfällen in Bellanders Sommerhaus?«, fragte Nielsen.

»Was schlagen Sie vor?«, fragte Magnusson säuerlich.

»Wen sollten wir Ihrer Meinung nach befragen?«

»Katja Walter beispielsweise«, antwortete Nielsen.

»Sie behauptet immer noch, dass sie sich an die Tage, bevor wir sie gefunden haben, nicht erinnern kann. Bellander kannte sie kaum. Von dem Sommerhaus wusste sie nichts.«

»Und Sie glauben ihr?«

Nielsen hörte, wie Magnusson tief Luft holte.

»Glauben tut man in der Kirche, heißt es doch so schön.

Solange nichts vorliegt, das ihre Angaben entkräftet, können wir auch nichts unternehmen.«

Er schwieg einen Augenblick.

»Nein, ich glaube ihr ehrlich gesagt nicht. Aber ich weiß auch nicht recht, ob sie etwas Wesentliches zu der Lösung des Falles beizutragen hätte. Wir haben schließlich einiges herausgefunden und können somit die meisten Fragen beantworten, finde ich…«

»Aber nicht die Frage, was sich zwischen ihr und Lindberg in dem Haus abgespielt hat«, unterbrach Nielsen ihn.

»Und auch nicht, wie Bellanders Auto dorthin geraten ist.«

Magnusson schwieg.

»Es wäre denkbar, dass Bellander Lindberg nach der Flucht irgendwo abgeholt hat, dass sie irgendwie miteinander in Verbindung standen«, meinte er schließlich. »Aber man könnte auch einen anderen Schluss ziehen. Vielleicht war ja an der Sache, die Lindberg seinem guten Freund Lasse Henning erzählt hat, was dran. Ihm gegenüber hat er behauptet, die Flucht sei vollkommen ungeplant gewesen und der Gunst der Stunde entsprungen. Er habe sich einfach davongemacht, sei auf gut Glück losgerannt und habe unterwegs ein Auto gestohlen. Und in der Tat wurde an jenem Morgen ein Auto aus einem Viertel mit Einfamilienhäusern am Stadtrand als gestohlen gemeldet.«

Erneut machte er eine kurze Pause.

»Das Auto haben wir in einer Kiesgrube eineinhalb Kilometer von Bellanders Sommerhaus entfernt gefunden. Ausgebrannt. Es ließ sich nicht mehr feststellen, ob Lindberg damit gefahren war.«

»Und trotzdem finden Sie, dass alle Fragen geklärt sind?«, wunderte sich Nielsen.

»Im Gegenteil«, erwiderte Magnusson verärgert. »Und das wissen Sie sehr wohl. Aber ich sage auch, dass eine ausreichende Anzahl der Indizien darauf hindeutet, dass Bellander in Rönnåsen war, und dass er den Mord an Anneli Holm verübt hat. Was Lindberg angeht, lässt sich ihm die schwere Misshandlung von Katja Walter nachweisen. Außerdem liegt der Verdacht nahe, dass auch er in Rönnåsen war.

Vielleicht müssen wir uns damit begnügen!«

Nielsen dachte nach.

»Und Katja Walter? Was wird jetzt aus ihr?«, fragte er dann.

»Wird man Notwehr gelten lassen?«

»Das habe ich nicht zu entscheiden«, antwortete Magnusson.

»Aber es würde mich nicht wundern und auch nicht enttäuschen.

Meiner Meinung nach blieb ihr keine andere Wahl. Aber Sie wissen vielleicht mehr darüber?«

Nielsen hatte nicht geantwortet. Ohnehin war die Frage rhetorisch gewesen. Er wusste auch nicht mehr. Niemand wusste mehr darüber außer Katja Walter selbst.

Er erhob sich von seinem Platz am Fenster, kehrte zum Bett zurück, setzte sich auf die Kante und legte seine Beinprothese an. Er versuchte, sich vorzustellen, wie sein Leben verlaufen wäre, wenn sich der Unfall damals nicht ereignet hätte.

Wahrscheinlich wäre er bereits tot oder es würde wie bei Conny Lagerstedt bis zu seinem Ableben nicht mehr lange dauern.

Oder er würde mit Gestalten wie Anneli Holm oder Katja Walter an einem dieser unendlich vielen Orte hierzulande, die sich wie ein Ei dem andern glichen, leise brabbelnd und mit verschleiertem Blick herumgammeln …

Er schob den Gedanken von sich und dachte wieder an Katja Walter. Wie war sie ausgerechnet in diese Gruppe am Vikstatorget geraten? Ihn beschlich das Gefühl, dass es hier nicht um Drogenabhängigkeit und sozialen Abstieg ging. In ihrem Fall hatte noch etwas anderes mitgewirkt. Eine bewusste Entscheidung.

Er blieb auf der Bettkante sitzen und starrte vor sich hin. Sie hatte sich für diese Gestrauchelten entschieden, dachte er. Es fragte sich bloß, warum?