Sie standen vor dem Einkaufszentrum. Es regnete. Die Luft war grau und kalt, und die Temperatur lag knapp über null.

Nervös kaute Li an ihren Nägeln, hielt inne und schaute auf ihre Hände. Sie musste damit aufhören, dachte sie. Sie wusste, dass ihm das nicht gefiel.

»Du hast ihn also nicht gesehen?«

Mama schüttelte den Kopf.

»Nein, keine Spur.«

»Weißt du, ob sonst jemand ihn gesehen hat?«

Mama schnaubte.

»Ich hatte wirklich keinen Grund, herumzurennen und nach ihm zu fragen.«

Sie betrachtete Li eine Weile.

»Bist du dir sicher, dass er nicht zu Hause ist?«

Li zuckte leicht mit den Achseln.

»Jedenfalls macht niemand auf.«

»Und du hast keinen Schlüssel, heh?«

Mama schnaubte erneut verächtlich.

»Nein, natürlich nicht. Er ist ja so was wahnsinnig Besonderes! Klar, dass er niemandem einen Schlüssel gibt, nicht einmal dir. Und Telefon hat er auch nicht, oder? Könnte sein, dass er gar nicht will, dass man ihn erreichen kann?«

Sie grinste anzüglich.

»Vielleicht hat er ja was Interessanteres aufgetan? Junges Gemüse? So eine kleine frühreife Schlampe, mit der er sich eingeschlossen hat …«

Dann unterbrach sie sich.

»Ja, ich weiß! Ich bin ein alter Drachen! Du machst dir Sorgen, dass ihm was zugestoßen ist. Glaub mir, aller Wahrscheinlichkeit nach kann ihm nicht viel zustoßen.«

Sie deutete mit dem Kopf auf das Einkaufszentrum. Durch die Glastüren war der so gut wie vollzählige Trupp vor dem Spirituosenladen zu erkennen.

»Es wäre nicht verwunderlich, wenn eine von diesen Schießbudenfiguren den Löffel abgeben würde. Und wenn ich ins Gras beißen würde, wäre das auch nicht gerade eine Sensation. Aber Lindberg ist doch vollkommen gesund? Das müsstest du doch wissen, oder?«

Li sah sie verärgert an.

»Es könnte ihm trotzdem was zugestoßen sein! Irgendwas.

Seit Donnerstag, dem 30. April, als ich nachts zu dir kam, habe ich ihn weder gesehen noch von ihm gehört. Niemand scheint ihn seither gesehen zu haben. Das heißt, dass er jetzt schon vier Tage weg ist. Findest du das nicht etwas sonderbar?«

»Nicht im Geringsten«, erwiderte die Ältere trocken. »Bei ihm nicht. Es ist schließlich nicht das erste Mal, dass er abtaucht, oder? Dann kannst du ja davon halten, was du willst …«

Sie schüttelte sich.

»Wie auch immer, ich habe jedenfalls nicht vor, hier draußen stehen zu bleiben und mir den Arsch abzufrieren. Kommst du mit rein, oder willst du die allgemeine Suchaktion fortsetzen?«

Li biss die Zähne zusammen.

»Ich gehe nach Hause«, meinte sie. »Wenn du was erfährst, meldest du dich doch, oder?«

Sie machte kehrt und war ein paar Schritte gegangen, als sie jemanden rufen hörte:

»Li!«

Sie erkannte die helle, etwas heisere Stimme sofort. Bella. Sie drehte sich um und sah ihn auf sich zukommen. Ein paar Meter entfernt blieb er stehen und lächelte sie an.

»Ich habe gehört, dass du nach Bosse gefragt hast?«

»Ach, was du nicht sagst.«

»Und? Was willst du? Hast du ihn getroffen?«

Er schüttelte den Kopf.

»Nicht direkt. Aber Lycken hat ihn gesehen. Du weißt schon … Svante Lyck…«

»Sein richtiger Name ist mir scheißegal, sag schon, was er gesagt hat!«, unterbrach sie ihn unwirsch.

Bellas Blick glitt zur Seite.

»Er hat gesehen, wie sie ihn abgeholt haben, also Bosse.

Irgendwann gestern Abend …«

»Wovon redest du eigentlich?«, unterbrach Li ihn erneut.

»Welche sie? Wer hat ihn angeblich abgeholt?«

Bella machte eine ausholende Handbewegung.

»Die Cops. Die waren da …«

Li starrte ihn an, dann lachte sie laut.

»Die Cops! «, äffte sie ihn nach. »Wo hast du denn das aufgeschnappt? Hast du mit den großen Jungs spielen dürfen?«

Bella schluckte und errötete.

»Die Bullen haben ihn gestern abgeholt«, beharrte er verbissen. »Aus seiner Wohnung.«

Li hatte aufgehört zu lachen.

»Was hätten die für einen Grund gehabt, Bosse abzuholen?

Dass ich nicht lache! Das hast du geträumt!«

»Ich erzähle nur, was Lycken gesagt hat, das wolltest du doch, oder?«

Bellas Blick wurde wieder unsicher.

»Aber ich war schließlich nicht dabei. Ich sage nur …«

»Du sagst nur, was er gesagt hat, ich weiß! Und ich sage, dass er vermutlich im Delirium war und zwar kräftig! Was hat er denn sonst noch gesehen, vielleicht einen ganzen Zoo oder was?«

Li starrte ihn an. Dann richtete sie ihren Blick auf Mama, die noch am Eingang stand.

»Hast du das gehört? Was für ein saudummes Gerede!«

Sie begann wieder zu lachen, hemmungslos, fast hysterisch.

Die Ältere betrachtete sie eine Weile schweigend.

»Wir gehen zu mir«, sagte sie schließlich.

»Was soll denn das? Ich habe wirklich nicht vor, irgendwohin …«

Ein neuer Lachanfall schüttelte sie, sie beugte sich vornüber und rang keuchend nach Luft.

»Komm, jetzt gehen wir zu mir, habe ich gesagt!«

Mama trat an sie heran, packte sie am Arm, schleifte sie mit sich fort und ignorierte ihre Proteste.

Sie versuchte, sich auf der Couch aufzusetzen. Ihre Zunge klebte am Gaumen, als hätte sie seit Tagen nichts mehr getrunken. Sie hatte so starke Kopfschmerzen, dass sie sich fast übergeben musste. Sie wusste nicht, wo sie war. Erst langsam begann es ihr zu dämmern. Sie drehte vorsichtig ihren Kopf zur Seite und entdeckte Mama, die in dem gegenüberliegenden Sessel hing.

»Gut geschlafen?«

Li verzog das Gesicht.

»Was hast du mir für einen Scheißdreck gegeben? Dasselbe wie letztes Mal? Eine ganze Apotheke oder was? So fühle ich mich jedenfalls.«

»Du hast etwas zur Beruhigung gebraucht.«

Li schnaubte.

»Ruhig wird man davon wirklich. Es fühlt sich an, als hätte mich jemand mit dem Kopf an die Wand genagelt!«

Mama zuckte mit den Achseln.

»Das geht vorbei.«

Li sah sie an.

»Wie lange habe ich geschlafen?«, fragte sie.

»Seit zehn, halb elf …«

Li warf einen Blick auf die Uhr und holte tief Luft.

»Verdammt! Jetzt ist fast schon Nachmittag! Ich muss los …«

»Du gehst nirgendwohin«, fiel ihr die andere ins Wort, »und jetzt hörst du mir mal ganz genau zu.«

Li rieb sich das Gesicht und erhob sich schwankend.

»Ich muss rauskriegen, was los ist! Mit Bosse. Begreifst du das nicht?«

Mama zündete sich eine Zigarette an und blickte aus dem Fenster.

»Ich habe rumtelefoniert, während du geschlafen hast, und einige Erkundigungen eingezogen.«

Sie inhalierte tief und begann zu husten.

»Dass man mit diesem Laster nicht aufhören kann«, meinte sie seufzend. »Merkwürdig, nicht wahr? Obwohl man sich die Lunge aus dem Hals hustet.«

»Was jetzt?«, fauchte Li. »Wen hast du gefragt? Und was?«

»Die da habe ich auch gekauft.«

Sie deutete auf ein Aftonbladet, das auf dem Couchtisch lag. Li starrte Mama an, dann riss sie die Zeitung an sich und überflog die Titelseite. Sie holte tief Luft.

»Warum zeigst du mir das hier? Was hat das mit Bosse zu tun?«

Sie wartete.

»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass er was damit zu tun hat?

Das ist doch vollkommen gestört! Wie kannst du nur behaupten …«

»Deswegen haben sie ihn jedenfalls abgeholt«, unterbrach die Ältere sie. »Die Person, mit der ich mich unterhalten habe, konnte mir diese Auskunft erteilen.«

»Wer war das?«, kreischte Li. »Wen kennst du, der so was weiß …«

»Das brauche ich dir nicht zu sagen«, erwiderte die andere knapp.

Sie deutete auf die Zeitung.

»So ist das nun mal«, fuhr sie fort. »Deswegen haben sie ihn eingebuchtet.«

Li starrte auf den Artikel und las weiter. Nach einer Weile begann sie, am ganzen Körper zu zittern, ließ die Zeitung sinken, krümmte sich zusammen und wiegte den Oberkörper hin und her.

»Vielleicht wollen sie ihm ja nur ein paar Fragen stellen«, meinte die Ältere beschwichtigend. »Vielleicht ist alles auch nur ein verdammter Irrtum.«

Li sah auf.

»Dann müsste er schon zurück sein, und zwar seit langem.

Glaubst du etwa, dass ich das nicht begreife?«

Sie holte tief Luft und las erneut den Text auf der ersten Seite.

»Hier steht, dass es irgendwann am Freitag passiert sein soll.«

»Da war ich mit ihm zusammen.«

Mama schob das Kinn vor.

»Ach? Wirklich?«

Li begegnete ihrem Blick ohne zu blinzeln.

»Die ganze Zeit. Jede beschissene Minute. Das weißt du doch?«

Mama kniff die Augen zusammen.

»Nein, das weiß ich nicht.«

Dann zuckte sie mit den Schultern, wandte sich zum Fenster und tat erneut einen Lungenzug.

»Tja, das ist dein Leben. Mach, was du willst, aber zieh mich da nicht mit rein.«

 

Magnusson wandte sich dem Jüngeren zu.

»Was meinst du?«

Peter Larsson saß zurückgelehnt und mit geschlossenen Augen auf seinem Stuhl. Nach einer Weile öffnete er die Augen, reckte sich seufzend und sah Magnusson an.

»Du bist an Feinheiten interessiert?«

Diese Rolle war ihm bei ihrer Zusammenarbeit zugefallen: Er war derjenige, der Nuancen und Misstönen nachspürte. Er stellte nur selten Fragen, das war Magnussons Zuständigkeit.

Stattdessen beobachtete er und lauschte. Nahm Dinge wahr, die nicht stimmten oder zu gut stimmten.

»Er war anders als erwartet«, meinte er zögernd.

»Wie meinst du das?«, fragte Magnusson.

»Dir ist das doch sicher auch aufgefallen? Er besaß eine gewisse Ausstrahlung, nicht wahr? Selbstbewusst, aber nicht draufgängerisch. Natürliche Autorität könnte man das vielleicht nennen. Und … tja, das Aussehen … die Art … nicht direkt, was man in diesem Milieu erwartet, meinst du nicht auch?«

Magnusson machte eine ungeduldige Handbewegung.

»Jaja. Sonst nichts? Nichts Konkreteres?«

Larsson lehnte sich wieder zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

»Er wirkte nicht sonderlich aufgebracht, als wir bei ihm geklingelt und uns vorgestellt haben. Eher verdutzt, aber weder nervös noch beunruhigt. Ohne längere Diskussionen hat er eingewilligt, uns zu begleiten. Als er erfuhr, weshalb wir ihn vernehmen wollten, hat er ziemlich mitgenommen gewirkt, nicht wahr? Seine Miene war einen Moment lang ausdruckslos. Und blass war er. Als hätte ihn das Gehörte schockiert. Ist dir aufgefallen, wie er deine Fragen beantwortet hat? Er hat nicht versucht, sich rauszuwinden. Es schien ihm gleichgültig, was für einen Eindruck er auf uns machte. Anfangs dachte ich, er ist vielleicht einfach etwas dumm, zurückgeblieben. Aber das scheint nicht so zu sein.«

Er verstummte. Magnusson betrachtete ihn mit gerunzelter Stirn.

»Lügt er, oder sagt er die Wahrheit? Ist er in diese Sache verwickelt oder nicht?«

Larsson wippte auf seinem Stuhl vor und zurück und verzog das Gesicht.

»Tja. Das ist die Frage. Wenn er lügt, dann verdammt gut.

Und wenn er die Wahrheit sagt, macht er das ebenfalls verdammt gut, falls du verstehst, was ich meine. Er wirkt einfach sehr überzeugend.«

Magnusson seufzte.

»Ja, das entspricht auch meinem Eindruck. Obwohl er für meinen Geschmack etwas zu gelassen wirkt.«

Er erhob sich.

»Wir müssen wohl einen weiteren Versuch unternehmen«, meinte er, zwängte sich an seinem Kollegen vorbei und öffnete die Tür zum Gang. »Vielleicht erfahren wir ja dieses Mal mehr von Herrn Lindberg und können beurteilen, ob es Sinn macht, ihn noch länger hier zu behalten.«

Peter Larsson erhob sich und folgte ihm. Er warf einen Blick auf die Uhr. Bald zwei. Er hatte nur ein paar Stunden geschlafen. Allmählich breitete sich Müdigkeit aus. Alles lief auf Sparflamme. Oder passierte wie in einem Albtraum: Man konnte noch so schnell rennen, kam aber trotzdem nicht vom Fleck. Eigentlich arbeiteten sie jetzt schon zu lange, dachte er, um noch so etwas wie wirkliche Konzentration aufbringen zu können. Aber Lindberg erging es wohl ebenso, was möglicherweise zu einem Ausrutscher führte. Dazu, dass er sich eine Blöße gab.

»Wir fassen noch einmal zusammen, worüber wir gestern Abend und heute Morgen gesprochen haben«, schlug Magnusson vor.

»Dann sehen wir, ob wir damit weiterkommen.«

Er runzelte die Stirn und starrte ins Leere.

»Es war also Ihre Brieftasche, die am Tatort gefunden wurde?«

Sein Gegenüber nickte.

»Es hat ganz den Anschein.«

Magnusson warf ihm einen fragenden Blick zu.

»Schließlich war Ihr Personalausweis darin, oder? Bo Erik Lindberg. Und das Geld. Außerdem haben Sie auch zu Protokoll gegeben, dass Sie sie wiedererkannt haben.«

»Stimmt.«

»Dann können wir doch davon ausgehen, dass sie Ihnen gehört, nicht wahr?«

Lindberg nickte und holte Luft.

»Sicher, sie gehört mir, das streite ich gar nicht ab, wozu auch.«

Er schwieg. Peter Larsson, der einen halben Meter links von Magnusson saß, sah ihn an. Er setzte sich oft so hin, damit sich der Befragte die ganze Zeit seiner Anwesenheit bewusst war, aber gleichzeitig den Kopf zur Seite drehen musste, wenn er ihm direkt in die Augen sehen wollte. Viele machte das nervös, aber Lindberg ließ sich dadurch nicht stören und sah kaum in seine Richtung.

»Aber Sie können nicht erklären, wie sie an den Fundort gelangt ist?«, fuhr Magnusson fort. »Ihnen war noch gar nicht aufgefallen, dass sie fehlte?«

Lindberg schüttelte den Kopf.

»Nein.«

»Das macht immer noch keinen Sinn. Dass Sie das nicht gemerkt haben. Schließlich waren fast dreitausend in der Brieftasche. Mir wäre es jedenfalls aufgefallen, wenn mir so viel abhanden gekommen wäre, aber Ihnen nicht, Bo?«

Der Mann verharrte eine Weile zurückgelehnt auf seinem Stuhl. Dann richtete er sich auf und sah Magnusson in die Augen.

»Ja, ich weiß, das ist viel Geld, um es so mit sich herumzutragen. Das war alles, was ich übrig hatte, nachdem die Miete bezahlt war. Aber ich habe das Geld immer bei mir in der Brieftasche. Bankgeschäfte waren nie meine starke Seite. Aber ich habe nicht gemerkt, dass mir die Brieftasche abhanden gekommen war.«

Sollte er müde sein, ist ihm das jedenfalls nicht anzumerken, dachte Peter Larsson. Er wirkte eher konzentriert. Als läge ihm die ganze Sache ebenso am Herzen wie den Polizeibeamten.

Magnusson fuhr fort.

»Sie haben die Miete bezahlt, da hatten Sie Ihre Brieftasche noch. Das war letzten Donnerstag. Wir haben uns das bestätigen lassen, die Transaktion wurde am Donnerstag verbucht.

Morgens früh am dreißigsten April.«

Er machte eine kurze Pause und betrachtete zweifelnd den Mann vor sich.

»Das ergibt also fünf Tage, die verstrichen sind, ohne dass Sie bemerkt haben, dass Ihre Brieftasche fehlt. Fast eine Woche.

Haben Sie in dieser Zeit kein Geld gebraucht? Nichts zu essen gekauft? Überhaupt nichts?«

Bosse Lindberg sah ihm nach wie vor direkt in die Augen.

»Ich habe es schon mehrmals wiederholt, aber ich sage es trotzdem noch einmal. Vielleicht kann es ja dazu beitragen, das Ganze aufzuklären.«

Er sprach ruhig und ohne den leisesten Ärger.

»Es hätte mir vielleicht auffallen müssen, kann sein. Und früher oder später wäre es das natürlich auch. Aber ich habe gar nicht darüber nachgedacht, wo die Brieftasche sein könnte. Ich habe wahrscheinlich angenommen, ich hätte sie irgendwo hingelegt, wie man das eben so tut. Und Lebensmittel …«

Er hob seine Hand an sein mageres Gesicht und zwickte sich in die Wange.

»Ich bin kein großer Esser«, meinte er mit einem schwachen Lächeln. »Ich hatte alles, was ich brauchte. Ich hatte keinen Grund einzukaufen.«

Magnusson sah ihn lange an. Dann schüttelte er den Kopf.

»Ich finde das immer noch unglaubwürdig. Was haben Sie in diesen Tagen getan?«

»Nichts, eigentlich. Wie ich bereits sagte.«

»Nichts? Fünf Tage lang?«

Lindberg musterte seine Hände.

»Ich wollte meine Ruhe haben«, erwiderte er. »Das braucht man manchmal, zumindest ich.«

Er schwieg.

»Und Sie haben in dieser Zeit überhaupt niemanden getroffen?«, fragte Magnusson.

Sein Gegenüber schüttelte den Kopf. Er schien eher zu sich selbst zu sprechen, als er antwortete:

»Ich habe mich ganz einfach eingeschlossen und nicht aufgemacht.«

Dann atmete er tief ein, sah Magnusson an und verzog den Mund.

»Aufgemacht habe ich erst, als Sie kamen. Aber Sie haben ja auch so einen wahnsinnigen Radau gemacht, dass mir nichts anderes übrig blieb.«

Magnusson ignorierte diesen Kommentar und erwiderte:

»Ich hatte den Eindruck, dass Sie unser Eintreffen nicht sonderlich überrascht hat. Es war fast so, als hätten Sie uns erwartet. Und obwohl wir Sie im Zusammenhang mit einem schweren Verbrechen vernehmen wollten, haben Sie, wenn ich mich recht erinnere, kaum Fragen gestellt. Hat Sie das überhaupt nicht interessiert?«

Lindberg schwieg. Dann beugte er sich vor und stützte seine Ellbogen auf dem Tisch ab.

»Ich bin nicht dumm. Jedenfalls nicht dümmer als die meisten.

Ich habe mir nicht eingebildet, dass Sie mich mitnehmen, um mir meine Brieftasche auszuhändigen. Mir war sofort klar, dass irgendwas faul war. Aber dann …«

Er hob die Hände.

»Nie hätte ich geahnt, dass es um etwas Derartiges geht! Dass Sie mich verdächtigen, jemanden erschlagen zu haben! Ich war ganz einfach schockiert! Und wonach hätte ich Ihrer Meinung nach fragen sollen? Was hätte es genützt? Ich weiß nur, dass ich nichts mit der Sache zu tun habe und nichts weiß!«

Magnusson nickte langsam.

»Nicht? Tja, das wird sich zeigen …«

Er klopfte an die Tür, und einer der Kriminalassistenten schaute herein.

»Wir haben ein paar neue Informationen.«

Er sah Magnusson an, der sich einen Augenblick später erhob.

»Ach so. Ich komme«, sagte er zögerlich.

»Wir legen eine Pause ein«, sagte er, »und machen so bald wie möglich weiter.«

Peter Larsson blieb sitzen und warf seinem Gegenüber einen Blick zu.

»Durst?«, fragte er nach einem Augenblick. »Möchten Sie etwas trinken?«

Lindberg schüttelte den Kopf.

»Nein, es geht schon.«

Er lächelte schwach.

»Sie können tatsächlich sprechen?«

Peter Larsson erwiderte das Lächeln.

»Sie glauben mir nicht, stimmt’s?«

Larsson machte eine abwehrende Handbewegung.

»Das gehört zu unserem Job, könnte man sagen. Wir sind misstrauisch.«

Lindberg betrachtete ihn schweigend. Dann nickte er.

»Tja, so ist das wohl. Ich weiß auch nicht, was ich an Ihrer Stelle geglaubt hätte. Aber das Leben hat nicht sonderlich viel mit Wahrscheinlichkeitsrechnung zu tun.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Peter Larsson.

Lindberg rieb sich das Kinn, das mit blauschwarzen Bartstoppeln bedeckt war.

»Wenn man gezwungen ist zu erklären, warum man zu einem gewissen Zeitpunkt dieses oder jenes gemacht hat, warum man sich so und nicht anders verhalten hat, dann erweckt man leicht den Eindruck eines Lügners. Oder eines Idioten.«

»Da bin ich mir nicht so sicher«, erwiderte Peter Larsson langsam. »Hält man sich an die Wahrheit, gibt’s normalerweise keine Probleme.«

Der andere zog eine Augenbraue hoch.

»Was Sie nicht sagen! Da bin ich mir nicht so sicher.«

 

Ein paar Minuten später kam Magnusson zurück. Er hielt eine aufgerollte Zeitung in der Hand, blieb in der Tür stehen, steckte die Zeitung in die Jackentasche, ging zum Tisch und setzte sich.

»Wir machen weiter«, sagte er. Er musterte Lindberg.

»Sie waren also über die Feiertage allein, wenn ich Sie richtig verstanden habe? Haben keinen Schritt vor die Tür gemacht und auch niemanden getroffen?«

Bosse Lindberg nickte.

»Ja«, erwiderte er. »Sie haben mich richtig verstanden.«

»Ich wollte mich nur vergewissern. Uns liegt nämlich die Zeugenaussage einer Person vor, die zum fraglichen Zeitpunkt mit Ihnen zusammen war. Und zwar ohne Unterbrechung bis letzten Montag. Was sagen Sie dazu?«

Er wartete einen Augenblick.

»Vielleicht haben Sie sich ja geirrt und möchten Ihre Aussage korrigieren?«

Mit gerunzelter Stirn starrte Lindberg ihn an.

»Sie sprechen von Li, nicht wahr?«

»Von wem?«

»Li. Anneli Holm. Nur sie kommt in Frage.«

Magnusson betrachtete ihn schweigend. Bosse Lindberg schüttelte den Kopf.

»Ja, leider war ich nach wie vor allein und habe niemanden getroffen. Auch sie nicht, jedenfalls nicht seit letztem Donnerstag, als sie bei mir zu Besuch war. Sie ist gegen Mitternacht oder kurze Zeit später gegangen, glaube ich.«

»Aber davon haben Sie gar nichts gesagt.«

»Meines Erachtens hat das nichts mit der Sache zu tun. Ich habe keinen Grund gesehen, sie in diese Sache reinzuziehen.«

»Ach, nein?«, fragte Magnusson. »Ist sie vielleicht Ihre Freundin?«

Lindberg zögerte, ehe er antwortete.

»Wir treffen uns, kann man sagen. Ziemlich oft.«

»Sie haben ein Verhältnis?«

Lindberg hob die Hände. Er kniff die Augen zusammen und wirkte zum ersten Mal verärgert.

»Ich schlafe mit ihr, wenn es das ist, was Sie interessiert!«

»Aber Sie wohnen nicht zusammen?«, fuhr Magnusson unbeirrt fort.

»Nein.«

»Und seit ungefähr vierundzwanzig Uhr am Donnerstag, in der Walpurgisnacht, haben Sie sich also nicht mehr gesehen?

Obwohl sie das Gegenteil behauptet?«

»Nein.«

»Sie lügt also.«

»Sie hat sich wohl geirrt und die Tage durcheinander gebracht.«

»Ein bisschen komisch ist das schon, oder? Dass sie sich ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt irren sollte? Ausgerechnet der Zeitraum, für den wir uns interessieren. Bei mir erweckt das den Anschein, als versuchte sie, Ihnen ein Alibi zu verschaffen. Für irgendetwas. Woran könnte das, Ihrer Meinung nach, liegen?«

Bosse Lindberg lehnte sich zurück und verschränkte die Arme über der Brust.

»Stimmt, es sieht so aus, als wollte sie mir helfen. Man muss schon ziemlich beschränkt sein, um das nicht zu merken. Aber ich habe sie nicht darum gebeten und nichts damit zu tun. Ich habe ausgesagt, wo ich mich in den besagten Tagen aufgehalten und was ich gemacht habe. Habe Ihre Fragen beantwortet. Mehr kann ich nicht tun, und mehr ist auch nicht nötig, finde ich.«

Magnusson nickte.

»Sie haben Recht«, sagte er. »Sie haben ganz Recht. Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir Sie etwas ausführlicher darüber informieren, warum Sie hier sitzen. Damit Sie den Ernst der Lage begreifen …«

Er unterbrach sich und beugte sich vor.

»Das sieht entzündet aus. Wir müssen dafür sorgen, dass jemand da mal einen Blick draufwirft.«

Er deutete mit dem Kopf auf Lindbergs rechte Hand, deren gerötete Handfläche ein breites Pflaster bedeckte. Bosse Lindberg schüttelte den Kopf.

»Das? Das ist nur eine Schramme …«

»Ja, darüber sprechen wir später«, fuhr Magnusson geradezu gut gelaunt fort.

»Ich habe Sie gefragt, ob Sie die Gegend von Jädraås und Åmot an der Grenze zu Hälsingland kennen. Ob Sie sich in den letzten Tagen an einem dieser Orte aufgehalten haben. Sie haben das verneint.«

Lindberg schüttelte den Kopf.

»Das ist schon Jahre her«, erwiderte er. »Und damals bin ich auch nur durchgefahren, soweit ich mich erinnern kann.«

»Der Ortsname Rönnåsen sagt Ihnen auch nichts?«

»Nein, überhaupt nichts.«

Magnusson musterte ihn und spitzte die Lippen.

»Ein recht abgelegener Hof. Die Besitzer heißen Haglund.

Dort haben wir Ihre Brieftasche gefunden.«

Er wartete einen Augenblick, zog die Zeitung aus der Tasche, schlug sie auf und legte sie auf den Tisch.

»Hier. Das hier sollten Sie sich einmal anschauen.«

» Bestialischer Doppelmord. Hier wurde ein altes Paar massakriert. Verdächtiger in Haft. « Die Schlagzeile nahm die Hälfte der ersten Seite ein. Darunter war das Foto eines Hauses vor düsterem Hintergrund zu sehen.

Lindberg saß reglos da, starrte erst das Bild an und überflog dann den Text. Magnusson zog die Zeitung wieder zu sich heran.

»Ja, im Augenblick reicht das vielleicht. Wir werden noch mehr über diesen Fall sprechen. Ich wollte Ihnen nur eine Kostprobe präsentieren.«

Er rieb sich das Kinn.

»Wir haben Ihnen bereits mitgeteilt, dass Ihre Brieftasche am Tatort gefunden wurde und dass wir deswegen mit Ihnen reden wollten. Später wurde dann im Hinblick auf die Art des Verbrechens - Mord beziehungsweise Totschlag - beschlossen, Sie vorläufig festzunehmen. Wie Sie sehen konnten, haben wir kaum übertrieben. Es geht also um ein älteres Paar, das auf eine Art ums Leben gebracht wurde, wie ich es noch kaum gesehen habe, obwohl ich schon recht lange dabei bin.«

Er hielt inne und hob mahnend den Zeigefinger.

»Und Ihre Brieftasche, Bosse, lag in dem Haus, in dem die Morde verübt wurden. Ja, sie wurde in der Tat unter einem der Opfer gefunden! Vieles spricht also dafür, dass sie dorthin gelangte, als das Verbrechen verübt wurde. Der Täter, oder jemand anders, der sich ebenfalls im Haus befand, hat sie einfach verloren. Was sagen Sie dazu, Bosse?«

Der Mann auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches reagierte nicht. Dann zuckte er zusammen.

»Ich bin nicht …«

Er verstummte und schüttelte mehrmals den Kopf.

»Was sind Sie nicht?«, fragte Magnusson.

Lindberg holte tief Luft.

»Ich bin … ich bin nie dort gewesen!«, fuhr er fast keuchend fort.

»Ja, ja. Dafür gibt es auch keine Indizien. Dass Sie sich dort befunden hätten. Jedenfalls jetzt noch nicht. Aber in diesem Fall gibt es noch so viele Ungereimtheiten und offene Fragen, dass Sie damit rechnen müssen, noch eine Weile bei uns zu bleiben.«

Er steckte die Zeitung wieder in die Jackentasche.

»Außerdem brauchen wir noch eine Blutprobe von Ihnen«, fuhr er beiläufig fort. »Wir erledigen das, wenn sich jemand um die Verletzung Ihrer Hand kümmert.«

Er hielt inne.

»Und noch etwas. Ein Rechtsanwalt. Als wir gestern Abend davon sprachen, fanden Sie es nicht nötig, einen hinzuzuziehen.

Jetzt erscheint Ihnen die Sache vermutlich in einem anderen Licht. Sie werden einen Pflichtverteidiger brauchen, das sehen Sie doch ein?«

Lindberg atmete jetzt gleichmäßiger und starrte geradeaus.

»Da gibt es jemanden, den …«, begann er, verstummte und schien in seinem Gedächtnis zu suchen. »Ja, jemand, mit dem Sie vielleicht Kontakt aufnehmen könnten … Henning …«

Magnusson verzog leicht den Mund.

»Sjöström vielleicht?«

Lindberg schien den Einwurf kaum wahrzunehmen.

»Henning«, wiederholte er. »Lasse Henning.«

Magnusson sah ihn an.

»Ist das ein Anwalt, den Sie kennen?«

Der andere schüttelte den Kopf.

»Nein, ein Polizist.«

Magnusson runzelte die Stirn.

»Ein Polizist? Jedenfalls niemand, den ich kenne.«

»Nicht hier. In Stockholm. Ob er immer noch dort ist, weiß ich allerdings nicht. Das ist schon ein paar Jahre her.«

Magnusson legte den Kopf schief.

»Gibt es einen besonderen Grund, weshalb wir uns mit ihm in Verbindung setzen sollten?«

»Er weiß, wer ich bin.«

Lindberg hatte die Arme sinken lassen und schien sich plötzlich wieder zu entspannen.

»Falls es möglich wäre … Ja, dann würde ich mich gern mit ihm unterhalten.«

Magnusson nickte.

»Wir wollen sehen, was sich machen lässt«, erwiderte er knapp.

Magnusson hatte eine Zigarette aus der Schachtel gefischt, drehte sie hin und her und steckte sie mit einem leisen Seufzer wieder zurück. Peter Larsson lehnte ein paar Meter von ihm entfernt mit verschränkten Armen an der Wand des Korridors.

»Geh halt schnell eine rauchen, wenn du Lust hast. Wir können uns danach unterhalten.«

Magnusson sah ihn kurz an und schüttelte den Kopf.

»Meine Ration, du weißt schon. Ich hebe mir die Zigarette lieber auf. Riechen muss reichen.«

Er räusperte sich.

»Bist du wütend?«

Peter Larsson zuckte mit den Achseln.

»Wütend ist vielleicht zu viel gesagt. Ich finde, du hättest diesen Auftritt vorher mit mir absprechen können.«

Magnusson zog eine Braue hoch.

»War es so schlimm?«

»Das war doch reinstes Theater, wie du ihm die Zeitung hingeknallt hast. Wir hätten das vorher besprechen müssen.«

»Es ergab sich halt so«, erwiderte Magnusson.

Larsson schnaubte.

»Unsinn! Du hast bewusst die Zeitung mitgenommen, um dein Ding durchzuziehen.«

Magnusson lächelte schuldbewusst.

»Ja, du hast vielleicht Recht. Er war mir einfach zu unbeeindruckt. Ich war gespannt, wie er reagieren würde.

Irritiert oder verängstigt oder so erregt, dass er einen Ständer kriegt, wenn er es schwarz auf weiß vor sich sieht.«

»War das so schlau? Ihn das lesen zu lassen?«

Magnusson machte eine abwehrende Handbewegung.

»Das war doch nur die Titelseite. Die Schlagzeile. Nichts, was ihm nützen könnte, wenn er sich aus der Sache herausreden will.«

»Du wolltest sehen, wie er reagieren würde«, sagte Larsson nach einer Pause. »Und wie hat er reagiert?«

Magnusson runzelte die Stirn.

»Tja, ich hatte schon den Eindruck, dass ihn der Artikel erschüttert hat. Er hat ihm kurz den Boden unter den Füßen weggezogen. Aber zugegeben hat er nichts. Und gesprächiger wurde er auch nicht, das muss ich zugeben.«

Er atmete geräuschvoll ein und schnalzte mit der Zunge.

»Na ja, war ja auch nur ein Versuch. Vielleicht sollten wir eine Weile auf die Psychologie verzichten und uns auf die konkreten Hinweise konzentrieren.«

»Die ja recht spärlich sind, nicht wahr?«, entgegnete Peter Larsson säuerlich.

Magnusson warf ihm einen raschen Blick zu und schüttelte den Kopf.

»Jetzt jammer nicht, und hör mir gut zu. Wir wissen, dass die Brieftasche ihm gehört und mit aller Wahrscheinlichkeit mit den Morden im Zusammenhang steht. Außerdem haben wir seine recht fadenscheinige Erklärung, er habe sie verloren, wisse aber nichts über das Wann, Wo und Wie.«

»Irgendwie muß er dort ja auch hingekommen sein. Und wieder zurück. Was zu Fuß eher unwahrscheinlich ist. Im Besitz eines Autos ist er unseres Wissens auch nicht. Und die Busverbindungen sind miserabel …«

Magnusson schnaubte.

»Hast du nicht selbst gesagt, es müssten mehrere Personen beteiligt gewesen sein? Reyes meint das auch. Wenn wir einfach dranbleiben, tauchen vielleicht Transportmittel und eventuell weitere Beteiligte im Zuge der Ermittlungen auf, wer weiß?«

Er hob eine Hand.

»Was Reyes angeht, wollte ich noch etwas sagen. Er hat mir eine Nachricht zukommen lassen, die interessant zu sein scheint.

Blut auf Schulterhöhe am Türrahmen in der Küche. Als hätte sich jemand angelehnt oder abgestützt. Es ist Reyes gelungen, dort einen Fingerabdruck zu sichern. Verwischt zwar, aber wie er glaubt, dennoch verwendbar. Es gibt übrigens nur sehr wenig Fingerabdrücke. Auf der Axt sind überhaupt keine. Die Person, die sie gehalten hat, muss Handschuhe getragen haben, und nicht irgendwelche. Wahrscheinlich aus Latex, wie Chirurgen sie benutzen. Dehnbar und stabil. Es ist auch möglich, dass sich die Täter etwas über die Schuhe gezogen haben. Was darauf hindeuten würde, dass die Tat genau geplant worden ist. Das alles natürlich nur laut Reyes. Und der hat immer eine blühende Phantasie.«

Er sah Larsson an, der mit den Achseln zuckte.

»Er ist ein Fachmann.«

Magnusson verzog das Gesicht.

»Klar. Und darüber lässt er auch niemanden im Zweifel.«

Er verstummte, ging ein paar Schritte den Gang entlang und kam wieder zurück.

»Aber dieses Mal … ja, es ist nicht unmöglich. Ist dir Lindbergs verletzte Hand aufgefallen? Es könnte stimmen.

Irgendwann während dieses verdammten Blutbads verletzt er sich, zieht den Handschuh aus, um sich die Wunde anzuschauen, und berührt auf dem Weg nach draußen den Türrahmen. Mit etwas Glück sichern wir sowohl DNA-Proben als auch Fingerabdrücke. Dann wird er sich nicht mehr so leicht rausreden können.«

»Nur wenn es wirklich sein Blut ist«, erwiderte Peter Larsson.

»Bist du dir da bereits sicher?«

Magnusson schüttelte den Kopf.

»Ganz und gar nicht. Aber ich will Gewissheit haben, bevor er hier verschwindet. Ich habe noch kurz mit Hjerpe gesprochen.

Mit der U-Haft gibt es keine Probleme.«

»Und das Mädchen? Diese Zeugenaussage?«, fragte Larsson.

»Über die hätten wir auch erst mal reden müssen. Vor dem Einleiten psychologischer Experimente.«

Magnusson seufzte.

»Ja, ja. Ich gebe ja alles zu, zum zweiten Mal. Ich streue mir Asche aufs Haupt. Bist du jetzt zufrieden?«

Er sah den Jüngeren eine Weile herausfordernd an und fuhr fort:

»Richtig, die Freundin, die keine Freundin ist. Sie hat vor einer Dreiviertelstunde angerufen und erklärt, von Donnerstag bis Montag ununterbrochen mit Herrn Lindberg zusammen gewesen zu sein. Aber meines Erachtens verändert dies die Sachlage kaum zu seinem Vorteil. Eher das Gegenteil ist der Fall.«

»Du glaubst, sie könnte ebenfalls in die Sache verwickelt sein?«

»Im Augenblick glaube ich überhaupt nichts. Ich ziehe es vor, erst einmal abzuwarten. In jedem Fall scheint es ihr sehr wichtig zu sein, Lindberg ein Alibi zu verschaffen, findest du nicht auch?«

»Aber er hat nicht angebissen«, erwiderte Peter Larsson.

»Nein, er war verärgert. Das wäre ich auch gewesen.«

Magnusson verzog den Mund. 

»Wenn ich versichert hätte, allein gewesen zu sein. Hinter verschlossener Tür. Niemanden getroffen und nur dagesessen und den Kopf hängen gelassen zu haben, drei bis vier Tage.

Etwas seltsam, aber auch nicht ganz unwahrscheinlich. Dann kommt jemand und verdirbt das Ganze, vielleicht sogar noch aus Hilfsbereitschaft. Und auf einmal wirkt alles suspekter denn je. Ich wäre auch wütend geworden.«

Peter Larsson runzelte die Stirn.

»Woher wusste sie, dass er hier ist? Und worum es geht?«

»Tja, es gibt nicht mehr viel, was sich heutzutage noch geheim halten lässt, nicht wahr?«

Magnusson schlug mit der Hand auf die Tasche, in der die Zeitung steckte.

»Hier steht eigentlich alles. Was sich ereignet hat, wann es sich unserer Ansicht nach ereignet hat, und sogar, dass wir eine Person zum Verhör abgeholt haben. Das Einzige, was fehlt, ist der Name, aber den hat sie auch so rausgekriegt.«

»Wie?«

»Das will sie uns nicht verraten. Nur, dass sie den Namen von jemandem erfahren hat. Mal sehen, was wir erfahren, wenn wir uns eingehender mit ihr unterhalten.«

»Dieser Name, den Lindberg genannt hat«, meinte Peter Larsson. »Sollen wir damit unsere Zeit verschwenden? Was meinst du?«

Magnusson kaute auf seiner Unterlippe.

»Henning? Hieß er nicht so? Ich erkundige mich mal.«

Er ging wieder im Korridor auf und ab und fingerte an der Zigarettenschachtel in seiner Jackentasche.

»Aber am wichtigsten ist im Augenblick Lindberg. Wir stellen seine Wohnung auf den Kopf und suchen dort jeden Millimeter ab. Ihn selbst auch. Wenn er in dieser Hütte in Rönnåsen war, dann kriegen wir das raus.«

»Und das Motiv?«

»Darum kümmern wir uns später. Wenn wir erst mal beweisen können, dass er sich am Tatort aufgehalten hat, dann glaube ich, dass er von sich aus erzählt. Und ich glaube nicht, dass es irgendwas Sensationelles ist. Das Übliche. Ein Einbruch, der schief ging. Irgendwas in dieser Richtung.«

Larsson betrachtete ihn nachdenklich.

»Ich bin mir da nicht so sicher«, entgegnete er schließlich.

»Wie es dort aussah, pfui Teufel … Das wirkt zu einfach.«

»Zu einfach?«

Magnusson zog die Augenbrauen hoch.

»Man merkt, dass du jung bist und alles verkomplizieren musst. Warte, bis du so alt bist wie ich. Dann ist nichts einfach genug. Je einfacher, desto besser.«

 

Es hatte aufgeklart, der Himmel war wolkenlos. Blau. So verdammt blau, dachte sie. Kindisch blau. Wie in einem Märchenbuch. Nicht ganz echt.

Li starrte nach oben, ihr Blick verlor sich, und sie fühlte sich besser. Der Druck auf der Brust ließ nach. Sie holte tief Luft und versuchte, alle Gedanken von sich fortzuschieben. An nichts zu denken und einfach nur dazustehen …

Dann war plötzlich alles wieder beim Alten. Irgendetwas in ihrem Innern wurde abgeschnürt, zusammengepresst. Jetzt war alles wieder präsent. Die ganze verdammte Scheiße. Mama hatte sich über sie gebeugt und schrie wie am Spieß. Als sei sie die Leidtragende!

»Du raffst auch gar nichts«, sagte sie mit belegter Stimme.

»Verdammt, ich muss doch was sagen!«

Die andere Frau sah sie verbissen an.

»Es war total bescheuert, dort anzurufen. Aber es war deine eigene Entscheidung. Tu, was du nicht lassen kannst, das habe ich dir schon vorher gesagt. Aber halt mich da raus, das habe ich auch gesagt, oder? Und jetzt wollen die auf einmal mit mir reden! Man muss nicht gerade ein Genie sein, um zu begreifen, wieso, oder?«

Li wich ihrem Blick aus.

»Ich habe nur gesagt, du wüsstest auch, dass ich dort gewesen sei, also bei Bosse«, sagte sie schließlich. »Dass ich dir davon erzählt hätte.«

»Ich weiß überhaupt nichts!«, fiel ihr die andere ins Wort.

»Wo du warst und nicht warst. Nicht das Geringste! Ist dir das klar?«

Li mied noch immer ihren Blick, ihre Wangen hatten sich leicht gerötet.

»Na, dann vielen Dank«, sagte sie nach kurzem Schweigen.

»Allerherzlichsten Dank für deine freundliche Unterstützung!«

Sie ging auf die Tür zu, aber die ältere Frau versperrte ihr den Weg, packte sie, riss sie herum und schubste sie aufs Sofa.

»Nicht so eilig. Wir sind noch nicht fertig.«

»Was zum Teufel … Was fällt dir eigentlich ein!«

Li versuchte aufzustehen, aber Mama schob sie zurück und beugte sich über sie.

»Immer mit der Ruhe. Wir müssen miteinander reden, habe ich gesagt.«

»Worüber? Du willst dich doch unbedingt raushalten? Was gibt’s dann noch zu bereden? Topfpflanzen?«

Mama richtete sich auf und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Was weißt du eigentlich über ihn?«, fragte sie nach einer Weile. »Über Bosse.«

Li starrte ihr ins Gesicht.

»Wie meinst du das?«

Mama schnaubte verächtlich.

»Wie lange hängst du schon mit ihm rum - wie lange jetzt - ein knappes halbes Jahr? Was weißt du eigentlich über ihn? Hast du ihn überhaupt mal gefragt, was er früher so gemacht hat?

Einen Scheißdreck weißt du über ihn.«

Li schüttelte heftig den Kopf.

»Ich weiß genug! Ich weiß, dass er nichts mit dieser Sache zu tun hat!«

»Und wieso haben sie ihn dann mitgenommen?«

»Das ist irgendein beschissener Irrtum! Oder jemand will ihn reinlegen und versucht, ihm das anzuhängen …«

»Und wieso? Wieso sollte ihm jemand das anhängen wollen?

Kennst du jemanden, der ein Interesse daran haben könnte? Ist er so interessant?«

Li schüttelte den Kopf.

»Idioten gibt’s immer.«

»Reicht das, meinst du?«

»Ja, das reicht! Da ist irgendjemand, der krank im Kopf ist und ihn nicht ausstehen kann, begreifst du das denn nicht?«

Mama schnaubte erneut.

»Kannst du mir ein Beispiel nennen?«

Li starrte sie an und ballte die Fäuste.

»Ich weiß, dass es nicht Bosse sein kann! Schließlich war ich letzten Donnerstag bis spät in die Nacht bei ihm, das weißt du auch …«

»Und danach?«, unterbrach sie die andere. »Freitag, Samstag, Sonntag? Du hast nicht die geringste Ahnung, wo er da war oder was er da getrieben hat. Und das ist auch kein Zufall, oder? Du kommst, wenn er pfeift. Du hast nicht mal einen Schlüssel für seine Wohnung. Er lässt dich rein, wenn’s ihm gerade passt. Stimmt’s?«

Li rutschte nervös hin und her.

»Was soll denn das! Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass er das getan haben könnte? Diese alten Leute totzuschlagen?«

Streitlustig streckte sie das Kinn vor.

»Ich kenne ihn einfach! Glaubst du nicht, dass man sowas im Gefühl hat?«

Die ältere Frau stand immer noch vor ihr und betrachtete sie schweigend. Li erhob sich abrupt.

»Okay! Ich sage denen, dass ich mich geirrt habe. Oder geflunkert habe. Du weißt überhaupt nichts, und ich habe nicht mit dir geredet. Ich war auch nicht bei dir zu Hause. Verdammt, ich kann auch sagen, dass ich nicht mal weiß, wer du bist, dass ich deinen Namen im Telefonbuch entdeckt habe! Zufrieden?«

Das Gesicht der anderen nahm einen verbissenen Ausdruck an.

»Du sagst überhaupt nichts mehr, finde ich. Jedenfalls nicht zu denen. Was du bisher gesagt hast, reicht vollkommen. Aber ich hätte gerne noch einige andere Dinge gewusst.«

Li starrte sie an.

»Warum das? Dir war es doch so wichtig, nicht in die Sache verwickelt zu werden!«

Mama verzog leicht den Mund.

»Vielleicht kann ich dir helfen. Und Bosse. Du kennst ihn doch so gut, behauptest du. Dann erzähl schon! Erzähl, was du weißt.«