Rätsel

 

Nielsen lag der Länge nach auf seinem Bett und betrachtete die Wolken, die unendlich langsam über den Himmel zogen.

Schließlich zwang er sich, den Blick abzuwenden und sah auf die Uhr. Schon nach neun, aber immer noch ein wenig hell. Im Sommer verlor man jegliches Gefühl für die Zeit, fand er, und die Länge der Tage nahm geradezu nordschwedische Ausmaße an.

Er setzte sich auf. Ein Tag war bereits verstrichen, seit er von den Gesprächen mit Lindbergs Onkel und seiner Freundin zurückgekehrt war. Er hätte sich bei Lasse Henning melden müssen. Aber aus unerfindlichem Grund zögerte er, irgendetwas hielt ihn zurück. Eine Art betäubende Müdigkeit, die ihn befiel, wenn er nur an Lindberg und die ganze Geschichte dachte.

Vielleicht sein Unterbewusstsein, das ihm riet, sich aus dieser Sache rauszuhalten. Außerdem brachte das Ganze wahrscheinlich sowieso nichts.

Möglicherweise befürchtete er auch einfach, dieser Aufgabe nicht gewachsen zu sein. Diese Geschichte weder aufspüren, noch niederschreiben zu können.

Er trat ans Fenster und starrte hinaus. Seine Wohnung lag im fünften Stock. Auf der anderen Seite der Ausfallstraße konnte er Märsta Centrum ausmachen. Er wohnte jetzt schon ein gutes Jahr hier und begann sich langsam einzugewöhnen. Eigentlich gefiel es ihm, so weit oben zu wohnen und den Horizont sehen zu können. Zu viel Wald fand er bedrohlich. Er wollte weit sehen können.

Er dachte darüber nach, ob sie in seinen Genen steckte. Die Erinnerung an flaches Land und Meer. An Horizonte. Seine Eltern stammten aus der Ebene von Nordjütland. Bauern, die auch fischten. Wahrscheinlich würde er dort heute noch Verwandte finden. Er wusste, dass Janne und Birthe Anfang der fünfziger Jahre mit seinem Großvater mütterlicherseits eine Rundreise durch Nordjütland gemacht hatten. Sie hatten bei Cousins und Cousinen zweiten Grades gewohnt oder anderen entfernten Verwandten … Birthe hatte offenbar jede Sekunde ihrer Reise verabscheut …

Zerstreut schüttelte er den Kopf. Wer hatte ihm davon erzählt?

Wahrscheinlich Janne. Birthe selbst war es wohl kaum gewesen.

Er konnte sich nicht erinnern, dass sie überhaupt je miteinander gesprochen hatten. Wenn er an sie dachte, stellte sich spontan Schweigen ein. Und eine Art Leere. Natürlich irrte er sich, natürlich mussten sie miteinander gesprochen haben. Aber seine Erinnerung beharrte darauf und zeigte ihm immer nur ein schweigendes Gesicht und einen Blick, der ihn nie wahrzunehmen schien, als könne sie ihn nicht sehen oder als existiere er gar nicht.

Sie war erst sechzehn gewesen, als sie ihn geboren hatte, und sie hatte sich nie um ihn gekümmert. Er war bei ihrem fast zehn Jahre älteren Bruder und seiner Frau aufgewachsen, bei Janne und Kerstin. Obwohl sie ihn nie adoptiert hatten, waren sie seine eigentlichen Eltern geworden. Birthe war ihm immer fremd geblieben. Er hatte sie nie kennen gelernt. Auch jetzt würde sich ihm keine Gelegenheit mehr bieten. Als er zehn Jahre alt gewesen war, war sie von einer Fähre nach Finnland verschwunden. Alles deutete darauf hin, dass sie über Bord gefallen und ertrunken war. Ihre Leiche war nie gefunden worden.

Er begann, ruhelos in der Wohnung auf und ab zu gehen.

Warum dachte er daran? Warum war Birthes Gesicht gerade jetzt vor seinem inneren Auge aufgetaucht? Scheinbar grundlos.

Er verzog das Gesicht. Natürlich gab es einen Grund. Jedes Mal, wenn er sich einem Rätsel, einem Geheimnis näherte - in diesem Fall dem wenig greifbaren Bild von Bo Erik Lindberg -, brachte sie sich in Erinnerung. Das große Rätsel. Für das es keine Lösung gab. Das Rätsel Lindberg war bedeutend einfacher. Entweder war er schuldig oder unschuldig. Das würde sich bald herausstellen und zwar ganz sicher ohne sein Zutun …

Das Telefon klingelte. Er unterbrach seine Überlegungen, warf einen Blick auf das Display und hob seufzend ab.

»Ich weiß«, begann er. »Ich hätte dich anrufen sollen …«

»Lindberg ist abgehauen«, fiel im Lasse Henning ins Wort.

Nielsen verschlug es die Sprache.

»Wann?«, fragte er dann.

»Beim Haftprüfungstermin, genauer gesagt, kurz davor. Heute Morgen. Er hat einen Beamten niedergeschlagen und ist getürmt.«

»War irgendwas vorgefallen?«

»Meines Wissens nicht. Und es stand auch gar nicht fest, dass sie die U-Haft verlängern würden. Er hat damit nicht viel gewonnen.«

Lasse Henning machte eine kurze Pause.

»Aber das ist nicht alles. Lindbergs Freundin ist auch verschwunden, hat sich in Luft aufgelöst, und die Frau, die gesehen haben will, wie er in der Mordnacht nach Hause gekommen ist, ebenfalls.«

Nielsen erstarrte.

»Und Lindberg könnte was damit zu tun haben?«

»Was würdest du glauben?«, entgegnete Lasse Henning.

»Wäre doch seltsam, wenn da kein Zusammenhang bestände, oder?«

Nielsen war immer noch wie versteinert und starrte vor sich hin.

»Ich habe sie vorgestern getroffen«, sagte er. »Die Freundin.

Anneli Holm.«

»Hab ich mir schon gedacht«, sagte Lasse Henning, »dass du versuchen würdest, mit ihr zu sprechen. Hast du etwas in Erfahrung gebracht?«

»Dass Lindberg ein Heiliger war«, antwortete Nielsen. »Und dass sie ihn bis zum letzten Blutstropfen verteidigt hätte.«

Er hing seinen Gedanken nach und konnte die Konturen ihres Gesichts vor sich sehen, ihre unerhörte Entschlossenheit, wenn sie die Zähne zusammenbiss. Ja, sie würde ihn verteidigen, dachte er. Gegen alles und jeden. In jeder Situation. Egal, ob er es wert war oder nicht.

Er zupfte an seinem Ohrläppchen.

»Und es war nicht mal sicher, ob der Verlängerung der Untersuchungshaft stattgegeben worden wäre?«

»Offenbar stand es auf der Kippe. Das einzig Neue war, dass die Spurensicherung glaubte, es sei ein Teppich aus seiner Wohnung verschwunden. Wohl bei diesem unerklärlichen Einbruch.«

»Ein Teppich?«, wiederholte Nielsen.

»Ja. Die Techniker haben Fasern eines handgeknüpften Teppichs gefunden. Magnusson hoffte erst, sie Rönnåsen zuordnen zu können, was ihm nicht gelang.«

Lasse Henning verstummte.

»Wieso haben sie dich denn angerufen?«, fragte Nielsen.

»Sie wollten mir wohl einfach mitteilen, dass er wieder auf freiem Fuß ist.«

»Glauben sie, dass er versuchen wird, mit dir Kontakt aufzunehmen?«

Der andere schwieg eine Weile.

»Die Möglichkeit besteht«, meinte er dann nachdenklich.

»Schließlich scheint er ein gewisses Interesse an mir zu haben…«

»Und sie wollten dich nicht warnen?«, unterbrach ihn Nielsen.

»Vielleicht auch das«, sagte Lasse Henning. »Gefährlich ist er aber wohl kaum, jedenfalls nicht für mich …«

»Bist du dir da sicher?«, fragte Nielsen.

»Ja«, antwortete der andere knapp. »Ich kann auf mich aufpassen. Außerdem sehe ich keine Veranlassung, Angst zu haben. Du etwa?«

Nach dem Gespräch blieb Nielsen am Fenster stehen. Der Himmel war noch hell, aber die Dämmerung senkte sich langsam zwischen die Häuser.

Nein, es gab keinen Grund zur Beunruhigung. Lindberg konnte gefährlich wirken, vielleicht war er aber auch nur in die Sache reingezogen worden und hatte damit eigentlich nichts zu tun. Jedenfalls war er auf der Flucht und wurde wahrscheinlich sowieso bald wieder geschnappt. Oder er gab von selbst auf.

Er blickte in die zunehmende Dämmerung. Die Laternen, die die Fußwege zwischen den Häusern säumten, leuchteten heller.

Aufmerksam betrachtete er einen Mann, der zwischen zwei Laternen stand und zu seinem Fenster hochzustarren schien …

Nielsen schüttelte sich. Er kannte die Symptome. Er hatte Lindberg zu nah an sich rangelassen und ihm einen Platz in seinem Bewusstsein eingeräumt. Er wusste auch, dass er ihn erst loswerden konnte, wenn er ihm noch näher gekommen war und sich ein begreifliches Bild von ihm geschaffen hatte.

Nachdenklich musterte er den Mann, bis er weiterging und hinter dem nächsten Haus verschwand.

 

Peter Larsson rannte. Über den Centralplan, hinunter zum Fluss, durch die Seitenstraßen. Er versuchte, keine Rekorde zu brechen, sondern lief ungefähr in dem Tempo, das er Bosse Lindberg zutraute. Er kam an der Rådhusesplanaden vorbei und lief Richtung Västra Vägen zum Boulognerwald weiter. Dort blieb er stehen und stoppte die Zeit. Etwa sechs Minuten hätte Lindberg für die Strecke gebraucht, wäre dann aber richtig erschöpft gewesen. Die Streifen waren nach sechs Minuten bereits unterwegs gewesen, und die Fahndung war auf Hochtouren gelaufen. Hätte er versucht, zu Fuß zu entkommen, wäre er wahrscheinlich bald gefasst worden. Außerdem gab es nur einen Zeugen, der jemanden in diese Richtung hatte rennen sehen. Eigentlich hätte er mehreren Passanten auffallen müssen.

Nein, entschied er kopfschüttelnd, auf diese Weise war Lindberg wohl kaum geflohen. Wahrscheinlich war an der Sache mit dem Auto vor dem Hauptbahnhof mehr dran. Dafür gab es immerhin zwei Zeugen, obwohl die Beschreibungen von Lindberg und dem Fahrzeug recht vage waren und nicht ganz übereinstimmten.

Er kehrte um und joggte am Fluss entlang zurück. In Höhe der Seemannskirche verlangsamte er, lehnte sich an einen Steinpoller und betrachtete die frühen Pendler auf ihrem Weg zum Hauptbahnhof.

Er versuchte, sich Lindberg vorzustellen, wie er aus dem Transporter gestiegen war und sich aufmerksam umgesehen hatte. Dann der unvermittelte Angriff auf den Polizisten. Ohne innezuhalten musste er über die Straße gerannt sein und sich, noch ehe jemand hätte eingreifen können, über den Zaun zu den Gleisen geschwungen haben. Er musste den einfahrenden Zug bemerkt und eiskalt darauf spekuliert haben, dass er es noch rechtzeitig über die Gleise schaffen würde.

Und dann? Alles deutete darauf hin, dass er sich in aller Ruhe in den Strom der Berufstätigen eingereiht hatte, die von den Bahnsteigen kamen. Ohne Hast musste er den Wartesaal durchquert haben, über den Centralplan gegangen und in den Seitenstraßen verschwunden sein. Oder aber er war zu einem wartenden Auto geschlendert und ohne Eile eingestiegen.

Peter Larsson dachte an Magnussons Behauptung, dass Lindberg mit ihnen spielte. Traf das zu? Bildete er sich ein, unverletzbar und ihnen überlegen zu sein? Dass sie ihm nichts anhaben konnten, was auch immer er unternahm?

Bisher hatte er dieses Gefühl nie gehabt. Er hatte immer mehr den Eindruck gewonnen, dass das Ganze ein Irrtum und Lindberg unschuldig sei. Dass er nichts mit dem Vorfall in Rönnåsen zu tun hatte. Jetzt war er sich nicht mehr sicher.

Magnusson war bereits da. Peter Larsson sah ihn durch die halb offene Tür und deutete mit dem Kopf zur Uhr an der Wand.

»Du bist früh dran. Oder hast du hier geschlafen?«

Magnusson starrte ihn an.

»Schlafen? Wer vertrödelt denn noch Zeit mit so was?«

Dann machte er eine abwehrende Handbewegung.

»Ich bin gerade gekommen. Reyes rief an und wollte sich mit mir unterhalten. Wahrscheinlich war er die ganze Nacht auf.«

»Ist was passiert?«, fragte Peter Larsson.

»Komm rein«, erwiderte Magnusson, »und mach die Tür hinter dir zu.«

Peter Larsson nickte, trat ein und ließ sich auf den Stuhl gegenüber von Magnusson fallen.

»Ich muss mich umziehen. Duschen.«

Magnusson musterte ihn.

»Joggst du neuerdings zur Arbeit? Man könnte fast meinen, du hättest nicht genug zu tun.«

»Ich wollte wissen, wie weit Lindberg gekommen sein könnte, ehe die Fahndung eingeleitet wurde«, entgegnete der Jüngere, »und ob er ohne Hilfe geflohen sein könnte.«

»Und zu welchem Ergebnis bist du gekommen?«

»Dass er vermutlich nicht weit gekommen wäre. Außerdem hätten ihn mehr Passanten bemerken müssen. Am wahrscheinlichsten ist es, dass er in ein wartendes Auto gestiegen ist.«

Magnusson nickte zerstreut.

»Ja, ja. Das wird sich zeigen. Im Zweifelsfall können wir ihn fragen, wenn wir ihn wieder zu fassen kriegen.«

»Das scheint noch zu dauern«, meinte Peter Larsson säuerlich.

»Es sind fast vierundzwanzig Stunden vergangen, und uns fehlt noch immer jede Spur.«

Er betrachtete Magnusson forschend.

»Geht es darum? Hat Reyes was rausgekriegt?«

Magnusson schüttelte den Kopf.

»Es geht um den Mord an Haglund und seiner Lebensgefährtin. Und um die anderen Fälle, die wir uns angesehen haben. Er glaubt, dass er die Verbindung gefunden hat, also die Person, die die Verbindung darstellt.«

Peter Larsson beugte sich interessiert vor.

»Wen?«

»Das werden wir in Kürze erfahren, hoffe ich«, meinte Magnusson. »Er wollte es uns persönlich mitteilen.«

Er lachte und blinzelte dem anderen zu.

»Wahrscheinlich kann er sich dann besser hervortun.«

Dann wurde er wieder ernst.

»Aber er arbeitet wie eine Maschine«, meinte er nachdenklich.

»Das muss man zugeben. Unermüdlich, rund um die Uhr. Er hat sogar noch Zeit gefunden, sich die Wohnungen von Anneli Holm und Katja Walter anzusehen.«

»Irgendetwas Wichtiges?«, fragte Peter Larsson.

»Immerhin ein interessantes Ergebnis hinsichtlich Katja Walter. Laut Reyes hat sie sich vor mindestens zwei Tagen aus dem Staub gemacht. Jedenfalls scheint seither niemand mehr in ihrer Wohnung gewesen zu sein. Das war sowohl an der Post als auch am Stromverbrauch zu erkennen.«

Nachdenklich starrte er vor sich hin.

»Man hat fast das Gefühl, dass sie wusste, was passieren würde.«

»Vielleicht wollte sie auch nur auf Nummer sicher gehen«, wandte Larsson ein, »hat sich rechtzeitig auf die Socken gemacht, falls Lindberg aus der Untersuchungshaft entlassen worden wäre. Das wäre nachvollziehbar. Schließlich haben wir ihr keine Hilfe angeboten.«

Magnusson lachte trocken.

»Glaubst du etwa, sie hätte unsere Hilfe angenommen? Da kennst du sie aber schlecht.«

Er rümpfte die Nase.

»Aber Anneli Holm hat sich am Vormittag noch zu Hause aufgehalten«, fuhr er fort. »Dafür gibt es zwei Zeugen, Nachbarn.«

»Aber niemand hat sie verschwinden sehen?«, fragte Peter Larsson. »Obwohl sie observiert wurde?«

Magnusson schüttelte den Kopf.

»Das Haus wurde nur von der Straße aus bewacht, vor allem die Haustür. Ein paarmal wurde auch das Treppenhaus kontrolliert, aber niemand hat sich um die anderen Ausgänge gekümmert, um den Fahrradkeller und die Waschküche beispielsweise. Beide führen auf den Hof.«

»Also hätte Lindberg dort gewesen sein können?«

Magnusson seufzte.

»Theoretisch hätte da ein ganzes Sinfonieorchester raus- und reingehen können.«

Er warf einen Blick auf die Uhr.

»Reyes müsste jeden Moment hier sein. Mit Norgren. Sie sind die Akten gemeinsam durchgegangen. Du musst später duschen.«

Peter Larsson hob das durchgeschwitzte T-Shirt an.

»Soll ich in dem Ding hier rumsitzen? Ist das dein Ernst?«

Magnusson verzog sein Gesicht.

»Du ziehst es auf jeden Fall nicht aus, so viel ist sicher.«

Inzwischen war es acht Uhr. Sie hatten sich in Magnussons Zimmer gequetscht, um Reyes’ Bericht zu hören. Als er geendet hatte, starrte Peter Larsson ihn mit gerunzelter Stirn an.

»Bellander?«, fragte er. »Und er ist uns nie aufgefallen?«

Reyes schüttelte den Kopf.

»Nein. Man könnte sagen, dass er die ganze Zeit über da war.

Am Rande der Ermittlung, ohne dass wir einen Grund hätten, uns näher für ihn zu interessieren.«

Er nickte Norgren zu.

»Danne und ich haben uns das von verschiedenen Seiten angesehen und sind zu demselben Ergebnis gekommen. Er könnte derjenige sein, den wir suchen. Oder einer von ihnen.«

Er lehnte sich über den Tisch.

»Mikael Bellander, genannt Bella. Pflegehelfer von Beruf. Er absolvierte seine Ausbildung vor etwa zehn Jahren. Er ist um die dreißig, hatte nur selten eine feste Stelle und immer nur für zwei Jahre. In Bollnäs am Krankenhaus und in Saltsjö-Boo bei Stockholm. Anschließend hat er nur noch vertretungsweise gearbeitet, selten für eine längere Zeit. In den letzten Jahren war er für Zeitarbeitsunternehmen tätig. Aber auch die haben ihn nicht länger beschäftigen wollen. Warum, erkläre ich später.

Interessant ist jedoch, wo er überall gearbeitet hat. Vor ungefähr einem Jahr arbeitete er ein paar Wochen in Åmot. Vor zwei Monaten ist er nochmals für ein paar Tage dort eingesprungen.

Beide Male hat er Hausbesuche bei Haglund gemacht! Sieht man sich nun die anderen interessanten Fälle an, stößt man auch dort auf Bellander. Einmal ist er in Sveg eingesprungen, und einmal in den Sommerferien bei der Hauspflege in Enviken, wo die andere Frau überfallen wurde. Beide Male war er kurz vor den Überfällen im Einsatz. Wenn wir noch gewissenhafter weitersuchen würden, wäre es durchaus möglich, dass wir auf weitere Fälle stoßen, die in dieses Muster passen. Es handelt sich um ein recht großes Areal. Offenbar war Bellander während der letzten Jahre in weiten Teilen von Svealand und im südlichen Norrland aktiv.«

Er holte kurz Luft.

»Womit wir bei der Frage angelangt wären, weswegen es ihm nie gelang, eine feste Anstellung zu finden. Dem sind wir ebenfalls nachgegangen. Es stellte sich heraus, dass er in Bollnäs und in Saltsjö-Boo aufhören musste, weil man ihn des Diebstahls verdächtigte. Arzneimittel, Eigentum von Patienten.

Bei seinen befristeten Jobs war es meist ebenso. Es bestand jeweils begründeter Verdacht, dass er das eine oder andere entwendet hatte. Von Patienten, von Kollegen und aus dem Lager. Dann hieß es immer tschüs. Dass er überhaupt noch Arbeit fand, beruhte vermutlich auf mangelnder Kontrolle und auf seiner Methode. Er ist herumgefahren und hat sich nach kürzeren Vertretungen erkundigt. Meist waren alle heilfroh, dass jemand mit entsprechender Ausbildung einspringen konnte. Bei den ersten Unregelmäßigkeiten wurden die Zeugnisse genauer gelesen, und es stellte sich heraus, dass sie gefälscht oder zumindest geschönt waren.«

»Aber es wurde nie Anzeige erstattet?«, fragte Magnusson.

Reyes schüttelte den Kopf.

»Nein. Offenbar waren die Pflegedienste immer der Ansicht, über zu wenig Beweise zu verfügen. Vielleicht scheuten sie auch einfach den Ärger und befürchteten

Schadensersatzforderungen. Und sie waren wohl einfach froh, ihn ohne großen Streit und negative Schlagzeilen los zu sein.

Deswegen konnte er am nächsten Arbeitsplatz wie gewohnt weitermachen.«

Er hielt inne und blickte in die Runde.

»Das Drogendezernat kannte ihn. Er verkehrte in einschlägigen Kreisen. Das ist allerdings schon einige Jahre her.

Es bestand der Verdacht, dass er dealte. Allem Anschein nach verkaufte er an Jugendliche. Man hatte ihn in der Nähe von Schulen beobachtet. Aber er hat keine Vorstrafen. Und hinsichtlich der laufenden Ermittlungen schien er bisher auch nicht von Interesse zu sein. Aber er war also sowohl in Rönnåsen als auch in Sveg und Enviken. Er hatte Zugang zu den Schlüsseln und konnte Nachschlüssel anfertigen lassen. Er kannte die Verhältnisse und wusste, bei welchen Alten sich ein Überfall lohnen würde. Und als wir immer tiefer gruben, stießen wir, sozusagen als Bonus, auf noch etwas. Bellander und Lindberg kennen sich.«

Magnusson kniff die Augen zusammen. Er beugte sich zu Reyes vor.

»Bist du dir sicher?«

Reyes nickte Norgren zu, der nun das Wort ergriff.

»Die beiden sind wiederholt im Viksta Centrum zusammen gesehen worden. Ich habe mich mit ein paar Leuten unterhalten, die meistens dort herumlungern, und alle sagen, dass die beiden sich gut kennen, und zwar schon recht lange.«

»Wohnt Bellander auch dort?«, fragte Magnusson.

Norgren schüttelte den Kopf.

»Er ist bei seinen Eltern gemeldet, irgendwo Richtung Bomhus. Aber als ich dort anrief, sagte seine Mutter, er habe

›ein eigenes Zuhause‹, würde sie aber oft besuchen und ihnen helfen. Seine Adresse wusste sie nicht, er sei so oft umgezogen …«

Er verstummte resigniert.

»Ich glaube nicht, dass sie gelogen hat. Die Eltern sind alt, der Vater geht auf die achtzig zu, und die Mutter ist weit über siebzig. Als ich mich mit ihr unterhielt, hatte ich den Eindruck, sie sei recht verwirrt. Es ist also gut möglich, dass sie nicht weiß, wo er sich aufhält, wenn er nicht bei ihnen zu Besuch ist.

Ich habe jedoch erfahren, dass sie ein Sommerhaus besitzen, das laut seiner Mutter nicht mehr benutzt wird.« Mein Mann und ich schaffen es nicht mehr bis dorthin. »Aber vielleicht Bellander, der Jüngere? Vielleicht sollten wir ja dort unsere Suche beginnen.«

»Ich vermute, du hast die Adresse?«

Magnusson sah Norgren an, dieser nickte. Dann wandte er sich an Larsson.

»Die Frage ist, wie weit wir damit kommen. Für einen hinreichenden Tatverdacht dürfte das nicht genügen, aber für eine Unterhaltung mit Bellander allemal.«

Er überlegte.

»Ich finde, wir sollten hinfahren. Vielleicht erwischen wir ihn dort. Vielleicht kann er uns etwas von sich erzählen. Reyes und ich übernehmen das, schließlich ist er sein Kandidat.«

 

Das Haus lag in einer Senke zwischen einer vernachlässigten Tannenpflanzung und einem sumpfigen Bach. Der einst vermutlich hellgelbe Anstrich war verblichen und blätterte ab.

Ein Teil des Fundaments war abgesackt, was dem Haus den Anschein verlieh, als wolle es die Wiese herunterschlittern. 

Magnusson stand auf der Straße und sah sich um. In einigem Abstand war das nächste Haus auszumachen. Es lag höher und war in bedeutend besserem Zustand. Die Sommerhauskolonie stammte aus den fünfziger oder sechziger Jahren. Ihm war jedoch aufgefallen, dass die meisten Häuser renoviert worden waren, sodass man sie das ganze Jahr über bewohnen konnte.

Bellanders Haus lag am äußersten Ende der Kolonie, wo der Kiesweg vor einer ehemaligen Weide endete. Magnusson ließ seinen Blick über den Wildwuchs aus Gebüsch und Riedgras schweifen. Die Bellanders hatten das besonders ungünstig gelegene Grundstück erwischt. Hoffentlich war es auch das billigste gewesen.

Er betrachtete das Haus. Nichts deutete darauf hin, dass sich jemand darin aufhielt. Aber die Gardinen in den Fenstern sowie ein paar Topfpflanzen waren ein deutliches Indiz dafür, dass das Haus bewohnt war. Er sah Reyes auf die Mülltonne zugehen, den Deckel abheben und hineingreifen.

»Vielleicht sollten wir zuerst anklopfen«, sagte er, »bevor wir anfangen, im Müll herumzuwühlen.«

Reyes ließ den Deckel los und lächelte.

»Alte Angewohnheit. Der Müll ist jedenfalls frisch, falls es dich interessiert.«

Magnusson stieg die beunruhigend wackelige Außentreppe hoch und trat auf die kleine Veranda. Er klopfte an und drückte die Türklinke hinunter. Es war abgeschlossen. Er trat vor das Fenster neben der Tür, schirmte die Augen mit den Händen ab und versuchte, ins Innere des Hauses zu sehen. Ein Sofa, ein Tisch, ein paar durchgesessene Sessel. An der Wand hing ein Gemälde von einem Seemann mit Schifferkrause, Pfeife und Südwester. In der Ecke ein alter Fernseher. Keine Menschen, soweit er erkennen konnte. Auf der Spüle standen Geschirr und ein paar Töpfe. Außerdem erspähte er ein paar Kleider auf dem Sofa und auf einem der Sessel.

Reyes war auf dem Kiesweg in die Hocke gegangen.

»Wann hat es zuletzt geregnet? Gestern in der Früh, oder?

Anschließend hat hier noch ein Auto gestanden.«

Magnusson nickte.

»Er ist also hier gewesen. Oder jemand anders. Auch drinnen sieht es ganz danach aus.«

Er ging an Reyes vorbei zum Schuppen am Ende des

Grundstücks. Er war nicht abgeschlossen. Er öffnete die Tür und trat ein. Er blieb wie angewurzelt stehen und verharrte reglos.

Dann rief er über die Schulter:

»Kannst du mal herkommen?«

Reyes erhob sich, näherte sich dem Schuppen und sah hinein.

»Komm wieder raus. Wenn es geht, in deinen eigenen Fußspuren.«

Magnusson nickte und ging rückwärts.

»Was glaubst du, seit wann?«, fragte er.

»Wir werden sehen«, antwortete Reyes. »Ich kann nur schätzen. Circa vierundzwanzig Stunden, denke ich. Kennst du sie?«

Magnusson nickte. Erst war er sich nicht sicher gewesen. Als er sie zuletzt getroffen hatte, um sie über die Vorfälle in Lindbergs Wohnung zu befragen, war ihm ihr facettenreiches Mienenspiel aufgefallen.

Doch jetzt lag sie stumm zwischen schwarzen Müllsäcken in einem baufälligen Schuppen. Ihr Gesicht wirkte im Halbdunkel des Schuppens bläulich, die aufgerissenen Augen wirkten durch die geplatzten Blutgefäße schwarz. Ihr Gesicht war grotesk aufgequollen, und die Zunge trat zwischen den dunkelblauen Lippen hervor. Die Schlinge lag ihr fest zugezogen um den Hals.

»Das ist Anneli Holm«, sagte er. »Lindbergs Freundin.«

»Ach?«, sagte Reyes. »Dann wissen wir zumindest über ihren Verbleib Bescheid. Hattest du das schon erwartet?«

Magnusson antwortete nicht, wandte sich ab und starrte auf den Bach hinunter, der an der Tannenschonung entlangfloss.

Jetzt handelte es sich eher um einen verschlammten Graben, das Wasser bewegte sich kaum. Die Regenfälle der letzten Tage hatten den Wasserspiegel ansteigen lassen und ein paar trübe, dunkle Tümpel gebildet, die ihn an Anneli Holms Augen erinnerten.

Er war nicht besonders sensibel und hatte in vergleichbaren Situationen seine Gefühle stets unter Kontrolle. Normalerweise arbeitete er zielstrebig und ausdauernd, ohne an die Betroffenen allzu viele Gedanken zu verschwenden. Bei Anneli Holm fiel ihm das jedoch schwer, da er das lebendige Gesicht vor wenigen Tagen noch vor sich gesehen hatte. Eine ohnmächtige Wut stieg in ihm auf, und er musste tief einatmen, um sich zu beherrschen.

Er dachte nach. Erdrosselungen geschahen meist aus dem Affekt heraus. War das auch hier der Fall? Hatte ihr der Täter nahe gestanden? War Lindberg derjenige, nach dem sie suchen mussten? Und was war mit Bellander? Inwiefern war er beteiligt? Welche Rolle spielte er in diesem Drama?

Er schüttelte den Kopf. Es hatte keinen Sinn, nur zu spekulieren. Sie mussten die beiden finden. Lindberg und Bellander und auch Katja Walter, vorzugsweise lebend.

»Gibst du Bescheid?«, sagte er zu Reyes.

Dann machte er eine Runde um das Haus. Vor dem Küchenfenster stellte er sich auf die Zehenspitzen und warf einen Blick hinein. Dann ging er zum nächsten Fenster. Es gehörte zu einem kleinen Schlafzimmer. Er ließ seinen Blick schweifen. Er schnappte nach Luft und kehrte wieder zum Schuppen zurück. Reyes, der gerade mit seinem Handy telefonierte, verstummte und sah ihn fragend an.

»Da ist noch jemand im Haus«, keuchte Magnusson.

 

Lasse Henning stand mit einem Knäckebrot in der Hand vor dem Kühlschrank und starrte auf die Leberpastete. Dann griff er mit düsterer Miene nach dem fettarmen Schmelzkäse, stieß die Kühlschranktür zu und setzte sich an den Küchentisch. Er trank auch nur noch Wasser mit Zitrone oder fettarme Milch. Bier gab es nur zu festlichen Anlässen, die sich laut Gisela seltsam häuften.

Er warf einen raschen Blick auf seinen Bauch und fragte sich, was es eigentlich für einen Sinn hatte, sich zu quälen. Vor einem halben Jahr hatte die kritische Grenze noch bei 110 Kilo gelegen, jetzt war er schon froh, wenn der Zeiger der Waage diesseits der 115 innehielt.

Seufzend strich er den fettarmen Käse auf das Knäckebrot.

Ziemlich dick. Dann goss er sich Zitronenwasser ein, hob das Glas und trank auf sein eigenes Wohl.

Er musste sich wieder mehr bewegen. Trainieren. Spazieren gehen. Egal was. Er hatte Zeit. Überstunden machte er so gut wie keine mehr, umging sie, wo er nur konnte. Obwohl er wusste, dass ihn das unbeliebt machte. Und was Arbeit betraf, legte er sich auch nicht sonderlich ins Zeug.

In gewisser Weise hatte Johnny Recht, dachte er. Er langweilte sich. Er sah in seiner Tätigkeit keinen Sinn mehr. Er war eine verdammt kleine Ameise in einem riesigen Ameisenstaat, der es verleidet war, das Ihrige zu tun. Aber es ging nicht nur um die Arbeit. Da war noch etwas anderes, was sich nicht recht in Worte fassen ließ. Eine Unsicherheit, vielleicht. Eine fast allgegenwärtige Unsicherheit. Als sei er zum Stillstand gekommen und wüsste nicht mehr, in welcher Richtung es weiterging. Er musste sich eingestehen, dass diese Vorstellung ihm Angst machte. Er hatte sich nie eine Schwäche erlaubt.

Nicht einmal die Scheidung hatte daran etwas geändert. Er hatte Evas Wut und alles andere hingenommen, ohne sich zu verteidigen oder zurückzuschlagen. Er hatte sich eingebildet, stark sein zu müssen, ein ruhender Pol, dem nichts etwas anhaben konnte.

Jetzt war er sich nicht mehr sicher. Entdeckte gelegentlich eine zermürbende Ängstlichkeit an sich, die er sich nicht erklären konnte …

Er hatte ein paarmal von seinem Brot abgebissen, hielt abrupt inne und lauschte. Ohne ein Geräusch gehört zu haben, wusste er, dass sich außer ihm noch jemand in der Wohnung befand.

Jemand war eingetreten und hatte lautlos die Tür hinter sich zugezogen. Giselas Ermahnungen zum Trotz schloss er tagsüber nur selten ab. Mit halb geschlossenen Augen lauschte er angestrengt und meinte, verhaltene Atemzüge zu hören. Einen Augenblick lang spürte er, wie sich ihm vom Nacken bis zu den dünnen Haarbüscheln über der Stirn die Haare sträubten. Seine Handflächen wurden feucht. Dann war er plötzlich vollkommen ruhig, aber gleichzeitig wachsam und vom Adrenalin erhitzt.

Abrupt erhob er sich und verließ mit einem geschmeidigen Satz die Küche. Er warf sich in die Diele und stürmte mit verblüffender Beweglichkeit vorwärts. Der Mann, der mitten in der Diele stand, wurde von seiner Schulter getroffen und fiel zu Boden. Er schrie auf, als Lasse Henning seine 115 Kilo auf ihn fallen ließ, sein Gesicht auf den Boden drückte und ihm gleichzeitig das Bein nach oben riss.

Lasse Henning suchte ihn nach einer Waffe ab. Er ließ das Bein los und drehte den Mann auf den Rücken. Er starrte in das leichenblasse Gesicht von Bo Lindberg.

Dann riss er ihn hoch und schubste ihn vor sich her ins Wohnzimmer. Er stieß Lindberg auf das Sofa und baute sich vor ihm auf. Lindberg massierte sich mit verzerrtem Gesicht Brust und Schulter. Blut tropfte aus seiner Nase. Lasse Henning nahm eine Serviette aus dem Serviettenhalter und reichte sie ihm.

Lindberg wischte sich das Blut ab.

»Können Sie mir erklären, was Sie hier zu suchen haben?«

Lindberg ließ die Hand mit der Serviette sinken.

»Ich habe geklopft, aber Sie haben mich offenbar nicht gehört.

Dann wollte ich sehen, ob die Tür abgeschlossen ist, und das war nicht der Fall. Dann …«

Er machte eine hilflose Geste.

»Tja, und schon lag ich da.«

Lasse Henning starrte ihn wortlos an.

»Ich wusste, dass Sie zu Hause sind. Ich habe Sie vor einer Weile nach Hause kommen sehen.«

»Und woher haben Sie meine Adresse?«

»Es stehen nicht allzu viele Hennings im Telefonbuch«, antwortete Lindberg. »Kein Lars. Am nächsten kam Gisela und L. E. Henning. Lars Erik? Irgendwie meinte ich mich zu erinnern. Jedenfalls scheine ich richtig zu sein.«

Lasse Henning musterte ihn misstrauisch.

»Sie wissen, was ich tun werde, nicht wahr? Ich werde Bescheid sagen, dass Sie hier sind.«

Der andere nickte.

»Ich weiß.«

»Warum sind Sie dann hergekommen? Warum suchen Sie mich auf?«

Lindberg sah ihn eine Weile an.

»Ich hatte einen Hintergedanken«, sagte er. »Ich dachte, Sie hätten vielleicht Lust mitzukommen. Nach Gävle, um mich auszuliefern. Ich könnte vermutlich ein wenig Hilfe gebrauchen.

Ich nehme an, dass ich dort nicht mehr sonderlich beliebt bin.«

Lasse Henning verzog das Gesicht.

»Nicht gerade verwunderlich, oder?«

Dann zog er die Schultern hoch.

»Ich weiß nicht, mal sehen. Ich weiß gar nicht, ob das überhaupt möglich wäre. Außerdem gibt es keinen Grund zur Beunruhigung, das kann ich Ihnen versprechen. Sie können vermutlich froh sein, dass Sie einem Polizisten ausgerechnet in diesem Land das Bein kaputtgetreten haben.«

Er verstummte und starrte nachdenklich vor sich hin.

»Warum sind Sie eigentlich getürmt?«, fragte er.

Lindberg wischte sich wieder Blut ab. Dann lehnte er seinen Kopf zurück.

»Aus einem Impuls heraus«, antwortete er. »Die Gelegenheit ergab sich, und ich habe sie genutzt.«

»Jemand hat auf Sie gewartet«, wandte Lasse Henning ein.

»Mit einem Auto.«

Bosse Lindberg richtete sich auf und befühlte seine Nase, die langsam anschwoll.

»Glauben die das wirklich? Dass mich jemand gefahren hat?

Das wäre wirklich nett gewesen.«

Er lächelte schief.

»Nein. Ich musste rennen. Ich hatte eine halbe Minute Vorsprung, weil ich es noch vor dem Zug über die Gleise geschafft habe. Dann habe ich mich möglichst langsam bewegt, um nicht aufzufallen. Ich ging Richtung Stadtrand und wechselte immer wieder die Richtung. Schließlich erreichte ich ein Viertel mit Reihenhäusern, schlich in einen Garten und nahm das Ding hier von der Wäscheleine.«

Er zeigte auf die Trainingsjacke, die er über seiner Haftkleidung trug.

»Und dann?«, fragte Lasse Henning.

Lindberg warf ihm einen raschen Blick zu.

»Ich habe nie behauptet, ein Unschuldslamm zu sein, oder?

Ich habe mir einen Wagen gesucht, ihn aufgebrochen, kurzgeschlossen und dann nichts wie weg.«

»Niemand hat Sie gesehen, und keine Streife hat Sie aufgehalten?«

Lindberg lächelte wieder.

»Offenbar wurde keine Großfahndung eingeleitet. Weit und breit keine Straßensperre. Außerdem kenne ich die Gegend.

Hielt mich auf Nebenstraßen, Richtung Roslagen. Auf diese Weise gelangte ich hierher.«

»Sie verließen also Gävle unverzüglich nach der Flucht und waren nicht mehr im Vikstavägen?«, folgerte Lasse Henning.

Bosse Lindberg schüttelte den Kopf.

»Das wäre nicht sonderlich schlau gewesen, oder? Ich vermute, dass sie dort als Erstes gesucht haben.«

»War es denn so schlau, hierher zu kommen?«

»Tja. Hier habe ich immer mal wieder gewohnt. Ich kenne Leute. Wenn ich wollte, könnte ich vermutlich recht lange untertauchen…«

Lindberg verstummte und starrte geistesabwesend vor sich hin.

»Aber warum sollte ich das tun? Schließlich habe ich nichts verbrochen. Es gibt überhaupt keinen Grund, mich einzusperren!«

Er seufzte und zuckte mit den Achseln.

»Ich weiß auch nicht, warum ich abgehauen bin. Eine Dummheit. Aber alles war so verdammt unwirklich. Ich war gezwungen, irgendwas zu unternehmen, zu sehen, ob das hier etwas war, was wirklich passierte! In echt! Verstehen Sie?«

Er beugte sich zu Lasse Henning vor.

»Haben Sie nie das Gefühl, dass das alles um Sie herum aus irgendwelchen Kulissen besteht? Dass das, was sich ereignet, nicht wirklich ist … auch die Erinnerung nicht …«

Er verstummte und musterte Lasse Henning auf eine Art, die ihn erschaudern ließ.

»Oder dass da jemand anders ist. Jemand, der ohne zu fragen die Sache in die Hand genommen hat.«

Er presste die Handflächen an die Schläfen.

»Dass da drin jemand anders ist …«

Lasse hob die Hand.

»Beruhigen Sie sich«, unterbrach er den anderen.

Er musste das Gespräch beenden. Es war nicht abzusehen, was alles geschehen konnte, wenn er Lindberg weitersprechen ließ.

Bosse Lindberg erwiderte seinen Blick, dann entspannte er sich plötzlich und lachte.

»Klingt nicht ganz gesund, oder? Nein, ich gebe Ihnen Recht.

Ich weiß auch nicht genau, warum ich das gesagt habe. Das sind so verdammte fixe Ideen, die mir manchmal kommen. Ich kann es nicht anders erklären …«

Er verstummte. Lasse Henning erhob sich.

»Ich telefoniere jetzt«, sagte er. »Und ich werde Ihnen nicht hinterherlaufen, falls Sie auf derartige Gedanken kommen sollten. Dafür bin ich zu alt. Aber ich vermute, dass Sie einsehen, dass Sie dadurch nicht viel gewinnen. Im Gegenteil.«

Lindberg nickte schweigend.

Es dauerte, bis es ihm gelang, Magnusson zu erreichen. Dieser hörte schweigend zu.

»Er sitzt also vor Ihnen?«, fragte er schließlich mit gedämpfter Stimme.

»Ja«, antwortete Lasse Henning.

»Außer Ihnen ist niemand zu Hause?«

»Nein.«

Lasse Henning runzelte die Stirn. Er hörte, wie Magnusson jemandem neben sich Anweisungen erteilte. Dann sprach er wieder in den Hörer.

»Halten Sie ihn nach Möglichkeit fest, bis die Kollegen eintreffen. Aber seien Sie vorsichtig. Gehen Sie keine unnötigen Risiken ein. Bleiben Sie möglichst gelassen.«

Lasse Henning wartete.

»Erklären Sie«, sagte er kurz.

Er hörte, wie Magnusson mit den Fingerspitzen auf den Tisch trommelte.

»Ich mache es kurz. Wir haben Anneli Holm gefunden.

Ermordet. Außerdem eine weitere Person, ebenfalls tot. Wir haben beide heute Morgen gefunden.«

Magnusson hielt inne.

»Das muss, wie ich das sehe, keine unmittelbare Gefahr für Sie darstellen. Es muss sich bei dem Täter nicht zwangsläufig um Lindberg handeln. Es gibt auch ein anderes mögliches Szenario. Aber, gehen Sie, wie gesagt, keine Risiken ein.«

Die Verbindung brach ab, und Lasse Henning horchte einen Augenblick in den Hörer. Dann legte er auf und wandte sich an Bosse Lindberg.

»Es wird vermutlich eine Weile dauern. Wollen Sie was trinken? Oder essen?«

Lindberg musterte ihn eingehend.

»Was ist passiert?«

Lasse Henning schüttelte den Kopf.

»Nichts Besonderes. Wir haben nur geredet.«

Nachdenklich betrachtete er Lindberg und begriff, dass es ihm ohne das Überraschungsmoment kaum so ohne weiteres gelungen wäre, ihn zu überwältigen. Lindberg war zwar sicher mindestens zwanzig Kilo leichter, aber daher umso beweglicher.

Außerdem war er zehn Jahre jünger und hatte einen kompakten, muskulösen Körper, der explosive Stärke ausstrahlte. Aber Lasse Henning fand, dass er weder bedrohlich noch aggressiv wirkte. Zumindest nicht jetzt. Weder seine Haltung noch seine Stimme deuteten das an. Er wirkte eher nachdenklich und ein wenig abwesend.

»Es ist etwas passiert«, sagte er nach einer Weile. »So viel ist mir klar. Aber Sie wollen mir nicht sagen, was, und das verstehe ich auch.«

»Sie müssen sich mit Magnusson unterhalten«, meinte Lasse Henning abweisend. »Ich kann Ihnen nichts sagen.«

Bosse Lindberg nickte, schloss die Augen und lehnte sich zurück. Lasse Henning betrachtete ihn, entspannte sich dann ebenfalls, warf einen Blick zur Diele und überlegte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis die Streife auftauchte. Er hoffte, dass die Kollegen gelassen blieben und nicht bei ihm hereinstürmten, dass Giselas Zierteller von der Wand fielen …, als wären sie in einer Fernsehserie.

Als er wieder aufblickte, war es bereits zu spät. Lindberg war aufgestanden, hatte den Couchtisch gepackt und in seine Richtung geschleudert. Er kippte mit dem Stuhl nach hinten, den Tisch über sich, und schlug mit dem Hinterkopf auf das Parkett.

Alles verschwamm. Er spürte einen stechenden Schmerz im Hals, als sich die Tischkante in seinen Kehlkopf bohrte.

Röchelnd rang er nach Luft. Dann ließ der Druck auf seinen Hals nach, und er konnte wieder atmen. Lindberg presste ihn jedoch zu Boden.

»Ich habe es mir anders überlegt«, sagte er. »Ich mache mich lieber doch nicht mit Ihnen zusammen auf den Weg. Das könnte noch böse enden.«

Er schöpfte Atem.

»Ich habe übrigens noch eine Frage. Sie haben nicht zufällig von einem Journalisten gehört, der sich für meine unbedeutende Person interessiert, oder gar von Ihnen in die Sache eingeweiht worden ist?«

Er starrte mit ausdrucksloser Miene, die wie eine starre Maske wirkte, auf Lasse Henning hinunter und verstärkte den Druck auf seinen Hals. Lasse Henning spürte, wie seine Zunge an den Gaumen gepresst wurde. Er versuchte zu schreien, aber es drang kein Laut über seine Lippen.

Dann ließ der Druck nach. Lindberg hatte sich aufgerichtet.

»Das war nur eine kleine Ermahnung. Manchmal ist es von Vorteil, nichts zu unternehmen und sich auch nicht einzumischen.«

Gemächlich schlenderte er in die Diele, öffnete die Wohnungstür und verschwand nach draußen.

Lasse Henning blieb liegen, hustete und versuchte zu schlucken. Dann kippte er den Tisch zur Seite und stand auf. Es fiel ihm immer noch schwer zu atmen, und sein Kehlkopf schmerzte. Er fühlte sich so einfältig wie nie zuvor in seinem Leben. Seine eigene Dummheit ärgerte ihn maßlos.