Reisen in die Vergangenheit

 

Nielsen warf einen Blick auf die Uhr. Bald halb elf. Er versuchte auszurechnen, wie lange er brauchen würde. Etwa 120 Kilometer nach Gävle, dann noch ungefähr 25 Kilometer nach Sandviken. Vielleicht eineinhalb Stunden. Außerdem würde es wahrscheinlich noch etwas dauern, bis er das Haus fand. Gegen zwölf musste er auf jeden Fall am Ziel sein.

Er beschleunigte, wechselte auf die linke Spur und überholte einen Lastwagen mit Anhänger. Er blieb auf der Überholspur, rauschte an einem halben Dutzend Autos vorbei, verlangsamte dann wieder und ordnete sich in die Kolonne ein. Eigentlich hatte er keine Eile, es gab keinen Grund, sich zu hetzen, zwanzig Stundenkilometer zu schnell zu fahren und ständig die Fahrspur zu wechseln. Er hatte das einfach im Blut. Alte Gewohnheiten. Er hatte nicht gern jemanden vor sich. Ihm gefiel dieser Sog beim Beschleunigen und sich Vordrängeln, das Verlangen, Gas zu geben und bis ans Limit zu gehen.

Widerwillig zwang er sich, weiter in der Kolonne zu fahren und Abstand zu halten, während er ungeduldig aufs Lenkrad trommelte.

»Du fährst hin? Allein?«, hatte ihn Lasse Henning gefragt, als er diesen angerufen und über seine Pläne informiert hatte.

»Ja. Falls du nicht die Absicht hast, mir einen Privatchauffeur zu stellen.«

Lasse Henning seufzte.

»Du weißt, was ich meine. Ich dachte, du fährst nicht mehr.

Ich hatte keine Ahnung, dass du dich wieder ans Steuer setzt.

Seit wann?«

»Etwa seit einem Jahr«, antwortete Nielsen. »Nein, es sind sogar fast schon zwei.«

»Und das geht gut?«

»Denkst du an mein Holzbein? Ich würde immer noch besser Auto fahren als du, auch wenn ich zwei davon hätte. Oder vier.«

Henning stöhnte.

»Verdammt, Johnny, kannst du nicht mal aufhören? Das ist jetzt zwanzig Jahre her, und trotzdem liegst du einem damit immer noch in den Ohren. Soweit ich das beurteilen kann, hast du keinen Grund, dich zu beklagen. Und außerdem stößt du bei mir auf taube Ohren, das weißt du.«

Er schwieg einen Augenblick und fuhr dann fort:

»Daran dachte ich auch gar nicht, sondern eher an deine Trinkgewohnheiten.«

»Das ist kein Problem mehr«, antwortete Nielsen.

»Ach?«

Hennings Stimme klang skeptisch:

»Offenbar gibt es doch vieles, das man nicht mitkriegt. Du hast nicht zufällig auch noch jemanden bekehrt?«

»Darüber reden wir, wenn wir uns das nächste Mal sehen«, erwiderte Nielsen. »Jetzt konzentrieren wir uns auf diesen Fall.

Das wolltest du doch, wenn ich mich recht entsinne?«

Aber er wusste, dass Lasse Henning ins Schwarze getroffen hatte. Er hatte den Verlust des linken, direkt unter dem Knie amputierten Unterschenkels nie verwunden. Es hatte sein Leben verändert, und eigentlich hätte er dankbar dafür sein müssen.

Trotzdem nagte ständig ein unterschwelliges Verlustgefühl an ihm, das in den letzten Jahren noch zugenommen hatte, intensiver geworden war. Sogar die Schmerzen waren zurückgekehrt, mit einer Kraft, die ihn manchmal nachdenklich stimmte. Nein, die Gefahr, dass er vergessen könnte, war ausgesprochen gering.

Eine Erinnerung an den Unfall oder genauer an einen Augenblick kurz danach hatte sich ihm besonders stark eingeprägt. Eine sekundenschnell vorbeiflimmernde Sequenz, und er konnte nicht genau sagen, ob er sie sich nur einbildete und sich im Nachhinein so zurechtgelegt hatte. Irgendwie hatte er sich aus dem Fahrzeug befreit, hatte daneben gestanden und auf sein Bein gestarrt, von dem sein Fuß seitlich abgewinkelt war. Zuerst war ihm eiskalt geworden, und er war wie gelähmt gewesen. Dann hatte er sich beruhigt und eingesehen, dass alles nur ein Traum war. Kein Schmerz. Nichts. Er träumte. Er hatte zum Waldrand hinübergeblickt. Das Bild hatte etwas Einladendes besessen, erinnerte er sich. Die Abendsonne hatte die Wiesen und den Laubwald in goldenes Licht getaucht. Er konnte sich also genauso gut etwas Bewegung verschaffen und dorthin gehen, ehe er erwachte, hatte er gedacht und leise gelacht. Dann hatte er den ersten Schritt getan.

Dann war nichts passiert, bis sich jemand über ihn gebeugt hatte, ihm forschend in die Augen geblickt, seinen Arm gepackt und ihn geschüttelt hatte, immer wieder. Schließlich hatte er verärgert gefaucht: Verdammt nochmal, natürlich sei er wach!

Wie solle jemand bei diesem andauernden Gerüttel schlafen können! Er hatte der ruhigen Stimme zugehört, die ihm langsam erklärt hatte, dass sein Unterschenkel nicht zu retten gewesen sei, er sei zu stark gequetscht gewesen, aber das Kniegelenk sei so gut wie intakt und der Stumpf darunter auch, was das Befestigen und die Handhabung einer Prothese ungemein erleichtern würde. Nach etwas Übung würde er sich wieder fast ungehindert bewegen können.

Er hatte sich nicht beherrschen können, sondern hatte losgekichert.

Stumpf! Das klang so verdammt lächerlich! Und er war sich dessen bewusst gewesen, dass er immer noch schlief und träumte. Er hatte die Augen geschlossen und war in eine Art Schlaf im Schlaf gefallen, in einen Traum im Traum, hatte er lächelnd gedacht.

 

Er konnte sich nicht erinnern, jemals so gut geschlafen zu haben wie dieses Mal. So glücklich, so kindlich sorgenlos.

Vorher nicht, und ganz sicher anschließend auch nicht.

Morphium wahrscheinlich, wohldosiert.

An die folgenden Monate konnte er sich kaum noch erinnern.

Er war in einem dunklen Schacht herumgekrochen. Dann hatte er beschlossen, überhaupt nichts mehr zu tun. Es hatte kein Leben mehr gegeben. Jedenfalls nicht so, wie er es hatte haben wollen. Auf das, was man ihm anzubieten hatte, konnte er gut verzichten.

Etwa ein halbes Jahr später war Lasse Henning aufgetaucht.

Ausdruckslos hatte er den Polizisten angestarrt, dessen massiger Körper fast den ganzen Türrahmen ausfüllte. Er wusste, dass Henning sich wiederholte Male bei Janne und Kerstin nach seinem Befinden erkundigt hatte. Wie so eine blöde Mutter Teresa war er ihm vorgekommen. Weder vorher noch bei seinem Auftauchen jetzt hatte er Lust gehabt, mit ihm zu reden.

Lasse Henning nickte ihm zu, schlenderte ins Zimmer und ließ sich auf einen Stuhl sinken. Er betrachtete ihn schweigend.

»Falls du interessiert bist, gibt es einen Job für dich«, meinte er schließlich.

Er antwortete ihm nicht.

»Bei der Norrtelje Tidning«, fuhr Lasse Henning fort.

»Ein Cousin von mir ist da Chefredakteur. Das behauptet er jedenfalls selbst. Sie könnten sich vorstellen, im Sommer einen Volontär zu beschäftigen.«

»Was redest du da für einen Scheiß?«, entgegnete er verächtlich. »Was soll der Schwachsinn?«

Lasse Henning seufzte.

»Ist das so schwer zu verstehen? Eine Anstellung auf Probe.

Entweder kommst du damit klar oder eben nicht.«

»Und wie denkst du dir, soll das gehen? Damit?«

Er beugte sich vor und deutete auf sein Bein. Das Hosenbein war wie bei einem Kriegsinvaliden hochgesteckt. Die Prothese hatte er in die Ecke geschmissen.

Fast uninteressiert warf Lasse Henning einen Blick auf das Bein.

»Du könntest ja versuchen, stattdessen deinen Kopf zu verwenden. Das wäre vielleicht passender.«

Er gähnte und rieb sich die Augen.

»Du, ich habe nicht so verdammt viel Zeit. Ich habe auch keine Lust, dir damit in den Ohren zu liegen. Du sagst ja oder nein, und das ist alles. Es ist ein Provinzblättchen, und das merkt man. Für die ist alles interessant. Lokalnachrichten. Aber zum Anfangen sicher nicht schlecht. Da hat man die Möglichkeit, das Handwerk von der Pike auf zu lernen.«

Er machte eine kurze Pause.

»Ich habe dir ja schon des Öfteren zugehört. Wenn man so hemmungslos und überzeugend lügen kann wie du, dann müsste man eigentlich eine Zukunft bei der Presse haben, das habe ich mir immer gedacht. Aber es gibt da noch einen Haken. Die Voraussetzung für dieses Projekt wäre, dass ich dein Bewährungshelfer werde.«

Er betrachtete Lasse Henning mit einem schiefen Lächeln und schüttelte den Kopf.

»Ach, was du nicht sagst? Und wie dankbar soll ich jetzt sein?

Soll ich mich etwa untertänigst verbeugen und dir hin und wieder meinen Arsch hinhalten, wenn du gerade Lust hast?«

Lasse Henning wurde über und über rot. Unerwartet rasch stand er auf, machte einen Schritt nach vorn, hielt inne und hob die Hände.

»Ich geb’s auf. Du bist ein richtig taffer Kerl, nicht wahr?

Allemal zu taff für mich. Ich kann meine Zeit auch mit was Sinnvollerem vergeuden.«

Er drehte sich um und marschierte nach draußen. Er war bereits über die Schwelle getreten, als er ihm mit schriller Stimme hinterherrief:

»Und wie soll ich dahin kommen, verdammt nochmal?

Vielleicht auf einem Bein hüpfen?«

Bei diesem Gedanken musste er schmunzeln. Er fuhr jetzt ruhiger, auf der rechten Spur, und machte allen, die vorbei wollten, ausreichend Platz. Seine Gedanken weilten immer noch bei dem Unfall und den Jahren danach.

 

Norrtälje. Fast vier Jahre lang war er dort geblieben. Er hatte über so gut wie alles geschrieben, über das es sich zu schreiben lohnte. Plus genauso viel anderes. Mit seiner etwas behäbigen Intuition hatte Lasse Henning bei ihm etwas geahnt, worüber die anderen nur gelacht hätten. Ja, er selbst auch.

War er ein guter Journalist geworden? Ja, zu diesem Schluss kam er nach einigem Nachdenken, das war er wohl. Aber nicht für eine Redaktionsleitung geschaffen. Zu stur und eigensinnig.

Immer auf der Jagd nach einer eigenen Perspektive, etwas, was dem Text die besondere Würze verlieh, wie unbedeutend der Artikel auch sein mochte. Er wollte keinen Zweifel daran lassen, dass er ihn geschrieben hatte. Er wusste auch weshalb: Für ihn ging es ums Überleben, zu zeigen, dass er existierte.

Nach der Zeit in Norrtälje hatte er nur noch frei gearbeitet. Mit durchwachsenem Erfolg. Anfang der Neunziger hatte er einen Durchbruch erlebt, als er einen Themenbereich gewählt hatte, den er besser kannte als die meisten seiner Kollegen. Eine Mischung aus Sozial- und Kriminaljournalistik mit einem persönlichen Ton, der den Lesern zu gefallen schien. Plötzlich hatte er keine Probleme mehr damit, seine Artikel unterzubringen, eine Zeit lang konnte er sich die Zeitungen sogar aussuchen. Danach ebbte sein Erfolg ab, und es ging abwärts. Aus verschiedenen Gründen. Eine Serie von Artikeln über das unerklärliche Verschwinden von Personen für eine der Abendzeitungen Ende der Neunziger war wie ein Schlusspunkt gewesen. Sie lag nun zwei Jahre zurück.

Er konzentrierte sich wieder auf den Verkehr. Nach der südlichen Abfahrt nach Gävle war der Verkehr dichter geworden. Es ging auf zwölf Uhr zu, Rushhour. Die Autos kamen nur zäh voran, und er begann, nach Verkehrsschildern Ausschau zu halten. Er fuhr unter der die E 4 überspannenden Raststätte Gävlebro hindurch, die wie die Miniaturausgabe des Stockholmer Katarinafahrstuhls über der Autobahn schwebte, und bog auf die Bundesstraße 80 ab, Richtung Sandviken und Falun.

Ein Wohnviertel am Stadtrand, Reihenhäuser und Einfamilienhäuser. Er fuhr langsamer, wendete und fuhr zurück.

Vor einem einstöckigen Haus aus weißen Betonsteinen hielt er an. An der Einfahrt war keine Hausnummer angebracht, aber die Nummern der Nachbarhäuser stimmten, und das sprach dafür, dass er das richtige Haus gefunden hatte.

Er blieb sitzen und betrachtete das Haus. Die heruntergekommene Fassade hatte einen Grauschleier. Eine Reihe unbeschnittener Büsche stand am Zaun zur Straße. Sonst wuchs auf dem Grundstück nichts. Auf dem Rasen stand eine Wäschespinne, die sich bedenklich zur Seite neigte. Die Gartenmöbel aus Plastik schienen den ganzen Winter über draußen gestanden zu haben. Zwei Autos parkten in der Auffahrt. Ein angerosteter Saab und ein neuerer Mazda.

Er stieß die Fahrertür auf, stieg aus, überquerte die Straße und ging auf das Haus zu. Mit zwei großen Schritten erklomm er die Außentreppe. Er klingelte, lehnte sich an das schmiedeeiserne Geländer und wartete. Klingelte erneut. Er hörte, wie sich jemand im Haus bewegte, in die Diele trat und dort kurz stehen blieb. Dann wurde ein Schlüssel im Schloss gedreht.

 

Der Mann, der ihm öffnete, war um die vierzig. Groß, leicht gebeugt, das Haar zurückgekämmt und zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Er sah Nielsen fragend, mit einem nervösen Zucken um die Augen, an.

Nielsen räusperte sich.

»Rosemarie Karlsson«, sagte er. »Da bin ich doch richtig hier, nicht wahr? Ich würde mich gerne mit ihr unterhalten, falls das möglich wäre.«

Der Mann schaute sich um.

»Rosemarie«, sagte er halblaut. »Hier ist ein …«

»Hab ich gehört«, unterbrach ihn eine Stimme aus dem Innern des Hauses.

Nielsen wartete.

»Ich habe angerufen«, sagte er schließlich. »Gestern. Sie waren vielleicht nicht zu Hause?«

Der Mann sah ihn noch einen Augenblick schweigend an.

Dann drehte er sich um und ging den Flur entlang. Nielsen folgte ihm und blieb auf der Schwelle zum Wohnzimmer stehen.

Die Frau stand mitten im Zimmer. Sie trug einen Morgenmantel und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Sie war ungekämmt, als sei sie gerade erst aufgestanden. Er nickte ihr zu.

»Ich habe versucht anzurufen«, wiederholte er entschuldigend.

»Ich habe nichts mehr zu sagen. Was sollte ich denn Ihrer Meinung nach noch zu sagen haben?«

Er sah sie fragend an.

»Ja, was soll ich denn noch sagen!«, wiederholte sie. »Ich will nicht mehr daran denken! Können Sie das nicht begreifen …«

Ihre Stimme überschlug sich, sie beugte sich vor und verschränkte die Arme. Nielsen sah sie immer noch erstaunt an.

Dann schüttelte er den Kopf und machte eine abwehrende Handbewegung.

»Nein, nein«, erwiderte er. »Sie haben mich missverstanden.

Ich bin nicht von der Polizei. Ich bin Journalist. Ich wollte Ihnen nur ein paar kurze Fragen stellen. Aber wenn es Sie zu sehr anstrengt … verstehe ich das natürlich. Ich könnte vielleicht später wiederkommen? Oder anrufen…«

Die Frau musterte ihn eindringlich, wandte sich ab und ging in die Küche. Nielsen folgte ihr und sah, wie sie vor der Spüle stehen blieb. Als sie sich zu ihm umdrehte, hielt sie ein Küchenmesser in der Hand. Er wich zurück, aber mit zwei raschen Schritten stand sie vor ihm. Das Messer zielte auf seinen Bauch.

»Verdammter Aasgeier«, sagte sie mit leiser Stimme.

»Du meinst wohl, du könntest hier einfach reinspazieren, was?

Und dass ich dir dann mein Herz ausschütte?«

Nielsen hielt seine Arme gesenkt, stand reglos da und versuchte, sein Körpergewicht auf das rechte Bein zu verlagern.

»Immer mit der Ruhe«, sagte er heiser. »Immer mit der Ruhe.

Ich geh ja schon…«

»Da hab ich noch ein Wörtchen mitzureden!«, unterbrach sie ihn mit zunehmend lauter, schriller Stimme. »Glauben Sie bloß nicht, dass Sie so ungeschoren davonkommen! Was für Schweinereien wollten Sie ihm denn anhängen? Reicht es nicht, dass ihn jemand totgeschlagen und zerstückelt hat? Was? Sie wollen wohl für Nachschub sorgen, damit sich alle Idioten in diesem beschissenen Land, die nichts Besseres zu tun haben, noch mehr daran aufgeilen können. Und sich dabei noch einen runterholen! Brauchen Sie auch Bilder?«

Mit der Linken riss sie ihren Morgenmantel auf, streifte ihn ab und stand vollkommen nackt vor ihm. Nielsen schluckte. Ihm schwindelte. Sie vollführte eine rasche Bewegung mit dem Messer und machte einen Schnitt durch die Luft, vom Bauch zum Brustbein.

»Oder vielleicht ließe sich darüber schreiben, nicht wahr? Wie Ihnen der Bierbauch aufgeschlitzt wird und Ihre Gedärme bis über die Knie hängen!«

Ihr Blick war trübe, ihre Muskeln angespannt. Nielsen hielt den Atem an. Er befürchtete, dass jede noch so kleine Bewegung sie dazu veranlassen könnte, das Messer nach vorne zu stoßen und in seine Eingeweide zu rammen.

Der Mann hatte sich auf einem Stuhl am Küchentisch niedergelassen und saß nachlässig zurückgelehnt, als ginge ihn das alles nichts an. Nielsen bemerkte aus den Augenwinkeln, wie er aufstand und auf die Frau zutrat. Sie zuckte zusammen, drehte sich rasch zu ihm um und hielt das Messer von sich gestreckt. Er schob einfach nur ihre Hand beiseite und legte ihr einen Arm um die Schultern.

»Komm jetzt«, sagte er leise. »Ich kümmer mich um ihn.«

Er nahm ihr das Messer ab, führte sie an den Tisch, setzte sie auf einen Stuhl, holte den Bademantel und legte ihn ihr um.

Dann wandte er sich an Nielsen.

»Machen Sie, dass Sie wegkommen«, sagte er, »worauf warten Sie noch! Sie sind hier nicht willkommen, das müsste Ihnen doch aufgefallen sein.«

Seine Stimme war laut, klang aber seltsam tonlos und unbeteiligt. Nielsen fixierte ihn und warf dann einen Blick auf die Frau, die über den Küchentisch gebeugt dasaß. Unbeholfen ging er zur Haustür. Der Mann folgte ihm.

»Ich gehe ja schon!«, krächzte er mit heiserer Stimme, stieß die Haustür auf und versuchte, sie hinter sich ins Schloss zu werfen.

Aber der andere fing sie mit der flachen Hand ab, trat auf die Treppe hinaus und folgte ihm dann. Nielsen drehte sich hastig um und musterte ihn wachsam.

Der Mann war ebenfalls stehen geblieben. Seine Hände steckten in den Hosentaschen, und in sein knochiges Gesicht trat ein leicht amüsierter Ausdruck.

»Sie ist etwas außer sich«, sagte er.

Nielsen schnaubte verächtlich.

»Ja, das habe ich gemerkt.«

»Was verständlich ist«, fuhr der andere ungerührt fort.

»Eigentlich wollte sie zum Arzt, aber es gab erst in einer Woche einen Termin. Man muss schon mit einem Bein im Grab stehen oder bereits das Zeitliche gesegnet haben, damit die ein bisschen Tempo machen.«

Er schüttelte den Kopf.

»Und dann haben auch noch die Bullen angerufen und wollten sie nochmal verhören. Wir dachten, Sie sind deswegen gekommen und nicht, weil Sie ein Journalist sind, der hier herumschnüffeln will. Das war jetzt zu viel für sie.«

Er starrte Nielsen aus seinen hellblauen Augen an.

»Wollen Sie Anzeige erstatten?«

»Was wäre, wenn ja?«

Der Mann lächelte plötzlich und entblößte mehrere Zahnlücken in seinem Oberkiefer.

»Ihnen ist vermutlich auch klar, wie ich aussagen würde. Dass ich nicht das Geringste gesehen hätte. Oder dass Sie sich einfach ins Haus gedrängt hätten, obwohl wir versucht hätten, Sie daran zu hindern. Hausfriedensbruch. Widerrechtliches Eindringen.

Na, Sie wissen schon …«

»Und Sie gehen davon aus, dass man Ihnen glauben würde?«

Der Mann lächelte wieder.

»Schwer zu sagen. Aber es wäre jedenfalls ganz schön unangenehm für Sie, oder nicht?«

Nielsen holte tief Luft.

»Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen«, meinte er dumpf. Aber das mit dem Arzt ist sicher keine schlechte Idee, und zwar so schnell wie möglich. »Was hat sie eigentlich so aufgebracht?«

Der Mann runzelte die Stirn.

»Dass Sie irgendeinen Dreck über Harry schreiben würden, was sonst?«

Als Nielsen ihn verständnislos ansah, verzog er das Gesicht.

»Sie kapieren wohl gar nicht, wovon ich rede? Und Sie wollen Journalist sein? Wissen Sie nichts von Harry, dem Großen?«

Er schüttelte den Kopf und lachte leise.

»Das hätte ihn nicht gefreut, das kann ich Ihnen sagen. Auf diese Art abgesägt zu werden, ohne dass das überhaupt jemandem auffällt. Ich weiß gar nicht, was ihn wütender gemacht hätte …«

Er musterte Nielsen spöttisch.

»Sie kannten ihn gar nicht? Harry Haglund, den Dynamitmeister? Der Letzte seiner Art, damit hat er immer angegeben. Ja, wirklich wahr, heutzutage gibt sich niemand mehr damit ab. Mit Panzerschränken. Lohnt sich wohl nicht mehr. Heutzutage herrscht regelrechter Krieg mit halbautomatischen Gewehren, Panzergranaten und was weiß ich noch alles…«

Nielsen starrte vor sich hin. Es dämmerte ihm, dass er den Opfern zu wenig Beachtung geschenkt hatte. Er hatte sich mit dem Bild eines älteren Paares, das aus unbekanntem Anlass brutal ermordet worden war, begnügt. Ein brutales, sinnloses Verbrechen. Zufällig.

»Eigentlich hätte er sicher nichts gegen die neuen Methoden einzuwenden gehabt«, fuhr der Mann fort. »Für ihn kam das einfach nur zu spät, er war bereits dabei, sich aus dem Geschäft zurückzuziehen. Seine Glanzzeit ist in den sechziger und siebziger Jahren gewesen. Obwohl er wohl immer noch von seiner Größe überzeugt war. Jedenfalls bis vorige Woche.«

Wieder lachte er leise.

»Sie sprechen von Ihrem Schwiegervater, als würden Sie nicht besonders um ihn trauern?«

Der andere schwieg. Dann zuckte er mit den Schultern.

»Tja, was soll ich sagen? Ich habe dazu auch keine Veranlassung. Er war ein verdammtes Schwein.«

Er schwieg von neuem. Nielsen überlegte, wie er die Unterhaltung in Gang halten könnte.

»Inwiefern?«, fragte er.

»Damals, als wir in Borlänge gewohnt haben. Wir waren gerade zusammengezogen. Eines Abends tauchte Haglund auf.

Er sah mich eine Weile an. ›Du hast nicht sonderlich viel zwischen den Ohren, was?‹, sagte er. Dann lachte er und zwinkerte mir zu. ›Aber wahrscheinlich hast du auch nicht sonderlich viel zwischen den Beinen. Und das ist auch gut so, denn wenn du nicht gleich deine Sachen packst und verschwindest, dann bist du das eh gleich los. Na mach schon.

Und zwar dalli.‹ Rosemarie war zu Hause. Sie kam in die Diele und sah ihn einfach nur an, bis er klein beigab. ›Wenn du einen so verdammt schlechten Geschmack hast …‹, sagte er und deutete auf mich. ›Aus Dreck wird nun mal nur Dreck.‹ ›Ja, du musst es ja wissen‹, entgegnete sie.«

Er schüttelte sich angewidert.

»Sie waren ihm nicht fein genug?«, fragte Nielsen.

Der Mann lachte.

»Vielleicht nicht. Obwohl es wohl keine Rolle gespielt hätte, wen sie sich ausgesucht hätte. Er behandelte alle wie Dreck.

Außer Rosemarie. Sie war die Einzige, die ihn in seine Schranken weisen konnte. Übrigens nicht nur ihn. Es gibt nicht viele, die mit ihr fertig werden…«

Er rieb sich die Hände und schaute nervös zum Haus hinüber.

»Aber Sie hatten weiterhin Kontakt?«, fragte Nielsen rasch.

»Bis jetzt?«

»Sporadisch«, sagte der andere nach kurzem Schweigen.

»In den letzten Jahren häufiger.«

Er ging ein paar Schritte den Kiesweg entlang und blieb stehen.

»Blut ist dicker als Wasser, heißt es ja. Auf alle Fälle ist er uns hinterhergezogen. Hat sich die Hütte oben in Rönnåsen gekauft.

Gegen Ende war er nicht mehr ganz so unausstehlich. Wäre ihm wohl auch gar nicht gelungen, schließlich hatte er Parkinson.

Ein paarmal im Monat ist sie zu ihm hochgefahren. Hat nach ihm geschaut, ihm seine Medikamente und was er sonst noch so brauchte gebracht. Sie hat sich nie auf die ambulante Altenpflege verlassen und auf seine Alte auch nicht.«

Als er Nielsens fragende Miene bemerkte, schnitt er eine Grimasse.

»Sie war nicht ihre Mutter, falls Sie das glauben. Nein, die hat er sich auf seine alten Tage zugelegt. Und dressiert.«

Nielsen nickte nachdenklich.

»Und Rosemarie hat die beiden gefunden. Sie waren nicht dabei?«

Mit einem schiefen Lächeln schüttelte der Mann den Kopf.

»Selbst wenn man mir Geld dafür gegeben hätte, wäre ich da nicht hingefahren. Ich bin Harry vor fünf oder sechs Jahren zum letzten Mal begegnet. Damals war er noch gesund, wenn man das in seinem Fall überhaupt so sagen kann. Er kam hierher, wollte Rosemarie besuchen. Mich sah er gar nicht, oder er sah gewissermaßen durch mich hindurch. Bei seinem Aufbruch trat er an mich heran, lächelte, so wie er immer zu lächeln pflegte, wie ein übergeschnappter Weihnachtsmann. ›Du, wenn ich hierher komme, hast du unsichtbar zu sein‹, sagte er. ›Will Mia dich hier haben, ist das ihre Sache. Aber wenn ich komme, dann hast du dich fern zu halten. Verschwinde in irgendeinem Loch wie ein Wurm. Dich gibt es nicht. Verstehen wir uns?‹«

»Offenbar war er ein richtig fieser Typ«, meinte Nielsen.

»Also geschah ihm letzten Endes recht?«

Der Mann sah ihn mit ausdrucksloser Miene an und schwieg.

»Es muss jemand gewesen sein, der ihn gekannt hat, nicht wahr?«, fuhr Nielsen fort. »Jemand, der ihn wie die Pest gehasst hat?«

Der Mann sah ihn unverwandt an. Seine Miene hatte auf einmal etwas Wachsames.

»Keine Ahnung«, erwiderte er schließlich. »Wie zum Teufel soll ich das wissen?«

Die Haustür hatte sich geöffnet, und die Frau trat ins Freie.

Der Mann drehte sich um und ging zum Haus zurück.

Nielsen fuhr langsam zurück. Die Ereignisse im Haus ließen ihm keine Ruhe. Die Frau, die mit dem Küchenmesser auf seinen Bauch zielte. Ihr flackernder Blick.

Haglund. Er überlegte, konnte sich aber nicht entsinnen, schon einmal auf diesen Namen gestoßen zu sein. Vielleicht eine lokale Größe.

Er war wütend. Hatte Lasse Henning wirklich nichts davon gewusst? Am besten ließ er die Sache einfach auf sich beruhen.

Teilte Lasse mit, dass er nicht mehr interessiert sei und dass er sich einen neuen Spielgefährten suchen musste …

Dann holte er Luft und schüttelte den Kopf. Wenn Lasse Henning von Haglunds Hintergrund gewusst hätte, hätte er etwas gesagt. Es hätte sowieso keinen Unterschied gemacht. Er wäre trotzdem einfach dort reingestiefelt. Die Schuld lag einzig und allein bei ihm. Er war ein Idiot, weil er sich auf diese Sache eingelassen hatte.