Eine neue Fährte

 

Peter Larsson war mitten auf dem Hof stehen geblieben. Alles sah jetzt anders aus. Der Himmel war klar und blau, wolkenlos.

Die Landschaft wirkte offener, luftiger. Das Haus war schön gelegen, bemerkte er jetzt, wäre nicht der Kahlschlag dahinter gewesen.

Er betrachtete das Haus eine Weile. Es sah bereits unbewohnt aus. Das Küchenfenster gähnte leer. Ihm fiel ein, dass zerbrochene Blumentöpfe auf dem Fußboden gelegen hatten.

Das Gras vor der Außentreppe stand bereits hoch. Auf dem Kiesweg, der zum Haus führte, waren keine Spuren zu sehen.

Schon seit langem schien hier niemand mehr gegangen zu sein.

Er machte eine Runde ums Haus und betrachtete die Fenster.

Als er zur Haustür zurückkam, stieg er die Außentreppe hinauf, rüttelte an der Tür und stellte sich wieder in den Hof.

Er dachte an den Anblick in der Küche, als sie die Tür geöffnet hatten und eingetreten waren. An den Gestank. Er hatte auf dem Absatz kehrtgemacht und war ins Freie gestürzt. Hatte sich auf dem Kiesweg heftig übergeben, obwohl er auf das, was ihn erwartete, vorbereitet gewesen war.

Was sagte Magnusson immer? Der erste Eindruck. Und wie war der gewesen? Hauptsache weg hier! Daraus ließ sich kaum auf die Vorkommnisse im Haus schließen. Oder vielleicht erst recht.

Eine Gänsehaut lief ihm den Rücken hinunter. Er hatte keine größere Lust, darüber nachzudenken. Er war auch nicht hergekommen, um seinen ersten Eindruck aufzufrischen. Es ging um etwas Konkreteres, was ihm seither keine Ruhe gelassen hatte.

Er ging zum Auto zurück und dachte an Magnusson, der gerne als sturer, etwas langweiliger Pragmatiker gesehen werden wollte. Jemand, der sich immer erst die Fakten anschaute.

Vielleicht glaubte er es ja sogar selbst. Die Wahrheit sah jedoch anders aus. Während der letzten vier Jahre, die sie nun zusammenarbeiteten, war es oft vorgekommen, dass sich der Ältere von seiner Intuition, von seinen Gefühlen, hatte leiten lassen. Bereits im Frühstadium einer Ermittlung entschied er für gewöhnlich, welche Richtung er einschlagen wollte. Man müsse die Fährte aufnehmen, pflegte er auch zu sagen, wobei er jeweils unterstrich, dass er auf der Jagd nach Fakten sei. Man könne es sich ja jederzeit anders überlegen, wenn sich die Witterung ändere. Was selten geschah. Aber in diesem Fall würde es vielleicht nötig sein.

Möglicherweise hatten sie sich zu sehr auf Bo Erik Lindberg konzentriert. Eigentlich mussten sie Schritt für Schritt zurückgehen und jedes Detail wieder unter die Lupe nehmen und dabei vorerst von Lindberg absehen. Das war nicht das Einfachste, jedenfalls nicht jetzt.

Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und richtete sich auf. Eigentlich hatte er erst am nächsten Morgen wieder Dienst.

Es war sein erster freier Tag seit eineinhalb Wochen. Er hätte etwas anderes damit anfangen sollen, dachte er. Er hätte trainieren, ein paar Kilometer joggen sollen. Das hätte er wirklich nötig gehabt. Eigentlich hätte er etwas unternehmen müssen, das seinen Kopf frei machte. Stattdessen stand er wieder am Ausgangspunkt ihrer Ermittlungen. Es gab eine Fährte, der er einfach folgen musste, er musste sehen, wohin sie führte.

 

Der Dienstagmorgen war grau. Ein steter Nieselregen prasselte gegen die Scheiben. Magnusson stand am Fenster und starrte hinaus.

»Aha«, meinte er nach einer Weile. »Du warst also auf eigene Faust unterwegs?«

Peter Larsson schüttelte den Kopf.

»Das würde ich nicht behaupten. Schließlich hatten wir besprochen, Schritt für Schritt zurückzugehen und die Einzelheiten nochmals unter die Lupe zu nehmen. Genau das habe ich getan.«

»Im Gegensatz zu mir, meinst du?«

»Willst du noch weitermosern, oder darf ich ausreden?«, fragte Peter Larsson.

Magnusson antwortete nicht und schaute mit finsterer Miene aus dem Fenster.

»Wir sind die ganze Zeit davon ausgegangen, dass sie den Täter ins Haus gelassen haben müssen«, fuhr Peter Larsson fort.

»Dass er unter irgendeinem Vorwand angeklopft hat und dann einfach reingestiefelt ist. Oder dass ganz einfach nicht abgeschlossen war. Aber als ich mich gestern Nachmittag mit der Tochter unterhalten habe, hielt sie das für ausgeschlossen.

Niemals hätte ihr Vater jemanden reingelassen, den er nicht kannte, und seine Lebensgefährtin auch nicht. Die Haustür sei ausnahmslos immer abgeschlossen gewesen.«

»Ausnahmen gibt es immer«, meinte Magnusson.

Larsson verschränkte die Arme.

»Schon möglich. Trotzdem können wir davon ausgehen, dass sie für gewöhnlich abgeschlossen war. In Anbetracht von Haglunds Vergangenheit ist das auch nicht verwunderlich. Die einzigen Modernisierungen dieser Bruchbude seit Haglunds Einzug wurden an der Haustür und an den Fenstern vorgenommen. Das fiel mir schon bei unserem ersten Besuch auf. Außerordentlich solide. Kriegt man nicht so ohne weiteres auf. Und nichts war beschädigt oder aufgebrochen.«

Er machte eine kurze Pause.

»Wie gesagt. Die Tochter war sich vollkommen sicher, dass sie keinem Unbekannten aufgemacht hätten. Im Laufe des letzten Jahres sei Haglund in dieser Hinsicht noch heikler geworden. Oder ängstlicher. Auch in Bezug auf sie. Er hat darauf bestanden, dass sie ihre Besuche stets telefonisch ankündigte. Eine plausible Vermutung wäre also, dass sie den Täter gekannt haben. Oder dass es jemand war, der einen Schlüssel gehabt hat.«

Magnusson verzog skeptisch sein Gesicht.

»Deine Folgerungen weisen einige Schwachstellen auf. Viele Unstimmigkeiten. Ein Profi kommt auch ohne Schlüssel ins Haus. Und es kann immer mal vorkommen, dass man jemanden ins Haus lässt, den man nicht reinlassen sollte. Man kann auch einfach vergessen abzuschließen. Und so weiter.«

»Ich weiß«, erwiderte Peter Larsson mürrisch. »Ich bin auch nicht dumm. Aber wenn ich jetzt trotzdem diese schwache Argumentation weiterverfolge, nur um zu sehen, wo sie mich hinführt? Ich habe die Tochter gefragt, ob möglicherweise irgendwelche Schlüssel auf Abwege geraten sein könnten. Sie bezweifelte dies. Laut ihrer Aussage gab es die Haustürschlüssel in dreifacher Ausführung. Einmal für sie. Einmal für Haglund, und die lagen noch im Haus, und einmal für die mobile Altenpflege, die zweimal pro Woche bei Haglund vorbeischaute.

Außerdem trug er ein Alarmarmband, falls etwas passierte, wenn seine Lebensgefährtin nicht zu Hause war. Und so ein Alarm macht wenig Sinn, wenn die Pfleger nicht ins Haus können. Also hingen seine Hausschlüssel auch in einem Schlüsselschrank im nächstgelegenen Altersheim in der Nähe von Åmot, denn dort ist die mobile Altenpflege stationiert. Die Tochter ging davon aus, dass sich die Schlüssel nach wie vor dort befinden. Ich rief also an, um nachzufragen.«

Magnusson zog die Brauen hoch.

»Und?«

»Es gab keine Schlüssel.«

»Wie bitte?«

»Sie konnten sie jedenfalls nicht finden und auch nicht erklären, was mit ihnen passiert war.«

Wütend schüttelte Magnusson den Kopf.

»Und die hielten es nicht für nötig, uns davon in Kenntnis zu setzen? Weder davon, dass sie Schlüssel zu Haglunds Haus besaßen, noch davon, dass sie verschwunden sind!«

»Sie bemerkten es erst, als ich anrief und nachfragte. Die Schlüssel lagen zwar da, aber niemand verlor einen Gedanken daran.«

»Und jetzt sind sie weg«, meinte Magnusson grimmig. »Wie lange können sie schon verschwunden sein? Und wie viele Personen hatten Zugang zu diesen Schlüsseln?«

Peter Larsson hob ratlos die Hände.

»Tja, sie haben die Schlüssel vor etwa einem Jahr bekommen und haben sie bisher noch nicht benutzen müssen. Im Prinzip können sie irgendwann in der ganzen Zeit verschwunden sein.

Jeder der Mitarbeiter könnte die Schlüssel aus dem Schlüsselschrank genommen haben. Insgesamt handelt es sich um etwa vierzig Personen, wenn man sowohl die Tag- als auch die Nachtschicht mitrechnet. Außerdem gab es in dieser Zeit ferien- oder krankheitshalber mehrere Vertretungen.«

Magnusson nickte.

»Wir müssen mit allen reden. Soweit sich das machen lässt.

Fragen, ob sich jemand an etwas erinnern kann.«

»Es könnte auch sein, dass die Schlüssel wieder auftauchen«, meinte Peter Larsson, »und dass sie nur verlegt wurden.

Außerdem wissen wir gar nicht, ob diese Schlüssel etwas mit den Morden zu tun haben.«

Magnusson lächelte.

»Ahmst du meine Redeweise nach? Nein, natürlich wissen wir das nicht. Aber im Augenblick gibt es sowieso genug, was wir nicht wissen. Und das hier ist dann doch so augenfällig, dass wir es näher untersuchen sollten.«

»Eines wissen wir jedenfalls bereits«, meinte Peter Larsson.

»Göran Nordin, der unmittelbare Nachbar, mit dem wir uns unterhalten haben, hat eine Frau, die in der Hauspflege arbeitet.«

Magnusson starrte ins Leere.

»Stimmt. Soweit ich mich erinnere, hat sie die Schlüssel nicht erwähnt. Was natürlich nicht heißen muss, dass sie sich dadurch verdächtig macht. Oder ihr Mann. Aber wir müssen der Sache nachgehen.«

Er erhob sich und ging im Zimmer auf und ab, hielt inne und sah Peter Larsson an.

»Lindberg. Der hat doch im Gesundheitswesen gearbeitet, erinnerst du dich? Vertretungsweise in ein paar Krankenhäusern.«

»Das ist lange her«, meinte Peter Larsson. »Außerdem war das in der Stockholmer Region. Nie bei uns. Hier hat er wohl überhaupt nicht gearbeitet. Vor allen Dingen hat er nie in Rönnåsen gearbeitet, kein einziges Mal. Danach habe ich fast als Erstes gefragt.«

Magnusson seufzte.

»Nein, das hätte zu gut gepasst …«

Er stellte sich wieder ans Fenster und starrte missmutig in den Regen, der stärker geworden war.

»Sieht so aus, als sei der Sommer endlich da. Endlich.«

Dann wandte er sich wieder dem anderen zu.

»Ich habe hier auch nicht nur Däumchen gedreht, falls du das denkst. Reyes und ich sind ein paar Fälle durchgegangen, die er für interessant hielt. Dabei ging es ihm vor allem um zwei, die allerdings außerhalb unseres Bezirkes passiert sind. Der eine vor etwa eineinhalb Jahren in der Gegend von Sveg. Eine Achtzigjährige wurde tot in ihrem Haus aufgefunden. Sie wies erhebliche Schädelverletzungen auf. Anfangs wurde vermutet, sie sei unglücklich gestürzt. Doch dann schlug eine Enkelin Alarm, weil Wertsachen fehlten. Die Polizei sah sich die Sache nochmals an. Die alte Frau war zu jenem Zeitpunkt bereits eingeäschert worden, aber die erste Untersuchung ließ den Schluss zu, dass es sich bei ihrer Verletzung um

Gewalteinwirkung gehandelt haben könnte. Bei dem anderen Fall handelte es sich ebenfalls um eine ältere Frau, etwa um die 75, die in ihrem Haus misshandelt und ausgeraubt worden war.

In Enviken in Dalarna. Sie überlebte trotz schwerer Verletzungen, war aber vor dem Vorfall schon recht verwirrt gewesen. Sie konnte überhaupt keine sachdienlichen Hinweise über Anzahl und Aussehen der Täter geben oder darüber, wie sie sich Zutritt verschafft hatten … Nur einmal hat sie behauptet, der Doktor habe sie geschlagen … ja, manchmal hat sie auch gesagt, es wäre im Krankenhaus passiert … Inzwischen ist sie gestorben. Sie hat einige Gemälde und eine Sammlung antikes Silber besessen, die bei dem Überfall verschwanden.«

Er verstummte, und Peter betrachtete ihn eine Weile.

»Worin besteht der Zusammenhang?«

»Auch hier handelte es sich um einen Raubüberfall. Außerdem gingen die Täter ähnlich vor. Sie hinterließen kaum Spuren, was in solchen Fällen recht ungewöhnlich ist. Ja, im ersten Fall vermutete man anfänglich nicht einmal ein Verbrechen. In beiden Fällen handelte es sich um alte Frauen, die schwer verletzt wurden, eine von ihnen erlag ihren Verletzungen. Die Überfälle waren zwar nicht so extrem wie in Rönnåsen, aber es gibt Parallelen, oder etwa nicht? Außerdem gibt es eine Tatsache, die zu deinen Überlegungen passt. Die Täter gelangten ins Haus, ohne eine Tür aufzubrechen oder ein Fenster einzuschlagen. Außerdem scheinen sie gewusst zu haben, wonach sie suchten.«

»In Rönnåsen sah es nicht so aus, als hätten sie gewusst, worauf sie aus waren«, meinte Peter Larsson. »Außerdem fehlte nichts.«

»Soweit wir wissen, nicht«, erwiderte Magnusson.

»Aber Haglund könnte ja während seiner aktiven Jahre etwas beiseite gelegt haben, das wäre doch denkbar? Jedenfalls könnte jemand das geglaubt haben …«

»In Rönnåsen haben sie außerdem etwas zurückgelassen«, fiel ihm der andere ins Wort. »Etwas, womit wir mit gewisser Wahrscheinlichkeit Rückschlüsse auf den Täter ziehen können.«

Magnusson warf ihm einen schrägen Blick zu.

»Tja, irgendwann passiert das eben auch, nicht wahr?«

»Dann geht es also nur noch darum, Lindberg in diesem Szenario unterzubringen?«

Magnusson überlegte.

»Wir sollten jedenfalls untersuchen, wie seine Brieftasche dorthin geraten ist. Wir sollten auch herausfinden, was er in diesen Tagen getrieben hat. Meiner Meinung nach ist er immer noch interessant für uns.«

Peter Larsson schüttelte leicht den Kopf.

»Dann müssen wir uns aber beeilen. Wenn wir etwas entdecken wollen, das ausreicht, um die Untersuchungshaft zu verlängern. Wir haben nicht mehr viel Zeit.«

Er sah Magnusson an.

»Außerdem müssen wir damit rechnen, dass die Presse wieder neue Zeitungsartikel veröffentlicht. Die Tochter hatte Besuch von einem Journalisten.«

»Nun«, seufzte Magnusson. »Wen wundert’s. Von welcher Zeitung?«

Peter Larsson schüttelte den Kopf.

»Keine Ahnung. Das wussten sie nicht. Stattdessen haben sie mich gefragt, ob ich was gehört hätte.«

Magnusson kratzte sich am Ohr.

»Woher hatte er ihren Namen? Und ihre Adresse? Glaubst du, diese Informationen stammen von uns?«

Peter Larsson zuckte mit den Achseln.

»Wer weiß. Das wäre nicht das erste Mal.«

 

Die Klingel schien nicht zu funktionieren, also hämmerte Nielsen an die Tür. Der Mann, der ihm kurz darauf öffnete, war um die siebzig. Er war groß und kräftig. Er hatte ein kantiges Kinn und einen forschenden Blick. Jemand, der es gewohnt ist, das Sagen zu haben, dachte Nielsen. Was hatte er wohl für einen Beruf gehabt? Polier? Vorarbeiter? Sein Haus lag am Rande von Skutskär, die Fabrikschornsteine waren von hier aus deutlich zu erkennen.

Dann schüttelte er schwach den Kopf. Er konnte jeden beliebigen Beruf ausgeübt haben. So etwas ließ sich nicht erraten oder nur in Ausnahmefällen. Was hätte man bei ihm selbst vermutet? Vertreter vielleicht für eine Ware, die beim besten Willen niemand kaufen wollte. Wahrscheinlich war das auch der erste Gedanke des Mannes an der Tür gewesen, überlegte er, als er den misstrauischen Blick des anderen bemerkte.

»Ich bin John Nielsen«, stellte er sich vor.

Der Mann starrte ihn an, dann nickte er.

»Nielsen? Richtig, Sie hatten angerufen. Kommen Sie rein.«

Nils Lindberg. Der Onkel. Offenbar der einzige nähere Verwandte von Bo Lindberg, der noch am Leben war. Nielsen hatte ihn am Vortag mit dem Vorsatz angerufen, so weit wie möglich mit offenen Karten zu spielen. Der Mann hatte ihn erst schweigend angehört und dann gequält geseufzt. »Bo Erik? In was ist er denn jetzt schon wieder verwickelt?« Nielsen hatte nachgedacht. »Es gibt noch keine eindeutigen Beweise«, hatte er schließlich geantwortet. »Es könnte sich auch um einen Irrtum handeln. Um einen unglücklichen Zufall.« Der andere hatte geschwiegen. »Ich habe ohnehin nichts zu erzählen. Ich habe ihn schon seit Jahren nicht mehr gesehen.« Nielsen hatte gewartet und überlegt, wie er fortfahren sollte. »Wenn es zum Prozess kommt, wird wahrscheinlich mehr über diese Sache in den Zeitungen erscheinen. Und über ihn. Dann wäre es vielleicht von Vorteil, wenn es jemanden gäbe, der ein differenzierteres Bild vermitteln könnte, finden Sie nicht auch?« Nach einer längeren Denkpause hatte der andere geantwortet: »In Ordnung.

Kommen Sie vorbei, dann sehen wir weiter.«

Jetzt folgte ihm Nielsen in das kleine, eingeschossige Haus.

Der Mann deutete mit dem Kopf auf eine Couchgarnitur im Wohnzimmer, und er nahm gehorsam Platz. Er ließ seinen Blick schweifen. Verblichene Lithographien hingen an den Wänden.

An einer Wand stand ein Großbildfernseher, in Fächern darunter eine Vielzahl von Videokassetten. Auch das Bücherregal war überwiegend mit Videos gefüllt. Bei den Büchern schien es sich hauptsächlich um Reiseberichte zu handeln.

»Als es gerade passiert war, habe ich viel von der Sache gehört«, sagte Nils Lindberg. »Die Nachrichten haben recht viel darüber gebracht. Aber ich hätte mir nie träumen lassen, dass es sich bei dem Festgenommenen um Bo Erik handelt! Und bei mir hat sich noch niemand gemeldet. Hätten sie das nicht tun müssen?«

Er sah Nielsen erwartungsvoll an und beantwortete seine Frage dann selbst.

»Nein, vermutlich nicht. Schließlich ist es Jahre her, dass ich ihn zuletzt gesehen habe.«

»Aber Sie wussten, dass er wieder hierher gezogen war?«, fragte Nielsen.

Der Mann warf ihm einen raschen Blick zu.

»Ja, davon hatte ich gehört«, erwiderte er ausweichend.

»Wissen Sie, weshalb?«, fragte Nielsen.

Der Mann hob ratlos die Hände.

»Wie soll ich das wissen? Aber aus irgendeinem Grund wollte er wohl wieder zurück. Schließlich ist er hier aufgewachsen, hier in der Stadt. Hier hat er als Kind gewohnt. Sie kamen von Söderhamn hierher, als er etwa fünf Jahre alt war. Dann ist Erik gestorben. Mein Bruder. Schlaganfall, er war erst 36 Jahre alt.

Bo war da noch nicht mal zehn. Und dann begann der Zirkus.

Sie hat ihn durch halb Schweden geschleift, also Lisbet, seine Mutter.«

Nils Lindberg verstummte und schüttelte den Kopf.

»Sie hat ihn kaputtgemacht. Damals fing alles an. Es musste ja so kommen.«

Mit gerunzelter Stirn sah Nielsen ihn an.

»Wie meinen Sie das?«, fragte er.

Der andere schaute ihn verärgert an.

»Es ging doch alles schief. Kein Wunder bei dem chaotischen, unsteten Lebenswandel. Dauernd hatte sie andere Männer. Und dann ist sie die ganze Zeit umgezogen. Als wäre das Leben ein verdammter Orientierungslauf. Gleichzeitig hat sie den Jungen wahnsinnig verwöhnt. Sie ließ ihm alles durchgehen. Das konnte ja nur so enden. In seinem ganzen Leben hat er keine einzige ordentliche Arbeit gehabt. Und jetzt das …«

John Nielsen betrachtete den Mann, der ihm gegenüber am Couchtisch saß.

»Sie glauben, dass er es gewesen ist? Dass er dazu fähig wäre?«

Nils Lindberg starrte ihn mit ausdrucksloser Miene an.

»Aber nicht doch! Das habe ich nie behauptet!«

Er ließ sich zurück in den Sessel sinken.

»Nein«, fuhr er mit leiserer Stimme fort. »Nein, Bo nicht. Das könnte er nicht. Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen…«

»Aber es ist doch schon so lange her, seit Sie ihn zuletzt gesehen haben?«, erwiderte Nielsen.

»Vermutlich ein paar Jahre, und da auch nur ganz kurz. Er hat mich hier besucht.«

Nils Lindberg strich sich nervös ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht.

»Aber als er kleiner war, habe ich mich oft um ihn gekümmert.

Zeitweise hat er auch bei mir gewohnt. Es gab kaum Probleme.

Solange man ihm gesagt hat, wo’s langgeht, ging alles gut.

Einige Sommer war er auch bei seinem Großvater in der Gegend von Ljusne, als der noch lebte. Da war es genauso. Zucht und Ordnung. Da lernte man gehorchen, daran erinnere ich mich auch noch recht deutlich. Daran ist noch niemand gestorben.«

»Wieso hat er bei Ihnen gewohnt?«, fragte Nielsen.

Lindberg hustete verächtlich.

»Ein neuer Mann war aufgetaucht. Bei Lisbet. Und da musste sie den Jungen irgendwo abladen. Ich konnte nicht nein sagen, schließlich war er Eriks Sohn. Aber irgendwann hat es mir dann gereicht, und ich habe mich geweigert. Sie sollte sich gefälligst selbst um ihr Kind kümmern. Ja, aber das konnte sie eigentlich nicht, wie sich später herausstellte.«

Nachdenklich rieb sich Nielsen das Kinn.

»Sie meinen also, dass aus Bo nichts Ordentliches wurde?«

»Nein, man muss sich doch nur mal ansehen, was er geleistet beziehungsweise nicht geleistet hat!«

Nils Lindberg setzte sich aufrecht hin.

»Hat er eine Ausbildung gemacht? Hatte er jemals eine richtige Arbeit? Nein, nichts, nicht einmal annäherungsweise. Er hat rumgegammelt, das hat er! Hat sich mit Abschaum abgegeben! Habe ich Recht?«

Er sah Nielsen auffordernd an.

»Aber er hat doch selbst nichts verbrochen, wenn ich das richtig verstanden habe«, meinte Nielsen. »Einmal abgesehen von diesen Ausrutschern, als er Anfang zwanzig war?«

Lindberg zuckte mit den Achseln und verzog das Gesicht.

»Ich weiß nicht, womit er sich beschäftigt hat. Oder wovon er gelebt hat. Gearbeitet hat er jedenfalls kaum.«

Er atmete tief ein.

»Ich finde nur, dass das eine verdammte Vergeudung war. Er war begabt. Hatte was im Kopf. Genau wie Erik, mein Bruder.

Der war auch begabt, konnte alles Mögliche ausrechnen. Im Kopf. Ehe sich jemand die Zahlen aufschreiben konnte. Bo Erik war genauso. Kaum warf er einen Blick auf die Hausaufgaben, konnte er schon alles. Er hätte es weit bringen können. Wenn er nur etwas Disziplin gehabt hätte. Aber er besaß schließlich auch Gene von der anderen Hälfte, wie gesagt …«

Er verstummte.

»Und er hat Sie weiterhin besucht?«, fragte Nielsen nach einer Weile.

Lindberg schien zu zögern. Er warf Nielsen einen raschen Blick zu.

»Ja. Schließlich brauchte er Geld. So war das jedes Mal, wenn er hier auftauchte, er wollte Geld leihen.«

Nielsen schien überrascht.

»Viel?«

»Ein paar Hundert Kronen. Mal tausend. So viel wie er kriegen konnte.«

»Und Sie haben ihm das Geld geliehen?«

»Tja, wenn es ging. Ich hatte wohl immer noch ein Verantwortungsgefühl. Bis letzten Winter. Da habe ich zu ihm gesagt, dass Schluss ist.«

Nielsen schwieg eine Weile.

»Ich dachte, Sie hätten ihn in den letzten Jahren kaum getroffen?«

Der andere zuckte zusammen.

»Getroffen ist vielleicht das falsche Wort«, meinte er verärgert. »Ab und zu war er halt hier. Ich kann mich schließlich nicht an jeden Scheißdreck erinnern!«

Er starrte Nielsen an. Dann sah er zu Boden.

»Auf alle Fälle weiß ich nichts über ihn. Jedenfalls nicht mehr, als ich gesagt habe. Aber das hatte ich Ihnen ja bereits erklärt.

Dass es keinen Sinn hat, mit mir zu reden.«

Nielsen nickte und erhob sich.

»Ich finde trotzdem, dass ich etwas klüger geworden bin«, meinte er. »Und es war furchtbar nett, dass Sie etwas dazu beigetragen haben.«

Lindberg sah ihn erstaunt an.

»Schließlich geht es um die Familie«, meinte er dann.

»Man will gerne was tun …«

Nielsen war Richtung Diele gegangen und blieb vor dem Bücherregal stehen. Er schaute sich die Titel an.

»Sie interessieren sich für fremde Länder?«

Nils Lindberg war ebenfalls aufgestanden und hatte sich neben ihn gestellt.

»Verreisen Sie oft?«, fuhr Nielsen fort.

Der andere sah ihn ausdruckslos an.

»Es kommt vor«, erwiderte er knapp und schob Nielsen zur Tür.

Er bog auf die alte Landstraße und ließ den Wagen langsam weiterrollen. Dann fuhr er an den Straßenrand und hielt an.

Reglos blieb er sitzen.

Zum ersten Mal hatte er das Gefühl gehabt, sich ein Bild von Lindberg machen zu können. Bo Erik Lindberg. Ein sekundenschnelles Bild mit scharfen Konturen. Etwas an diesem Bild ängstigte und beschämte ihn. Als hätte er jemanden in einem unbeobachteten Augenblick überrascht. Hätte etwas zu Gesicht bekommen, was nie für die Augen eines anderen bestimmt gewesen war.

Aber das Ganze führt zu nichts, dachte er. Sagte nichts darüber aus, ob er schuldig oder unschuldig war. Ob er in die Sache verwickelt oder nur zufällig zum Opfer geworden war. Das Gespräch mit der Freundin würde vermutlich zu einem ähnlich mageren Ergebnis führen.

Trotzdem fuhr er wieder auf die Fahrbahn und bog nach Gävle ab. Er zog sein Notizbuch aus der Jackentasche und schlug die Seite mit Anneli Holms Adresse auf.

Drogenabhängig bereits mit dreizehn, Fixerin schon lange bevor sie zwanzig gewesen war. Hatte wiederholte Male an Entziehungskuren teilgenommen, war aber abgehauen und rückfällig geworden: Dann hatte sie Methadon bekommen, war wieder rückfällig geworden. Zwei Abtreibungen. Vor drei Jahren war sie wieder schwanger geworden, hatte das Kind aber verloren, nachdem sie von ihrem damaligen Freund schwer misshandelt worden war. Seither war sie laut der ihm vorliegenden Angaben, für die nicht viel sprach, clean gewesen.

Nielsen ging in Gedanken noch einmal Lasse Hennings kurz gefassten Bericht durch, während er die Frau betrachtete, die mit einer Hand am Türrahmen, der anderen auf der Klinke, vor ihm stand. Ihr Gesicht war weicher, als er es sich vorgestellt hatte, fast kindlich, aber aus ihrem Blick sprach Lebenserfahrung.

Härte. Sie wirkte sowohl wachsam, als auch eine Spur aufreizend. Ihre wiederholten Kaubewegungen und die Narben an ihrem Unterarm, den ein hochgerutschter Ärmel entblößte, verrieten, was für ein Leben sie geführt hatte. Sie bemerkte seinen Blick und zog den Ärmel herunter. Mit leeren Augen sah sie ihn an.