Das lächelnde Monster

 

Nielsen stand am Fenster und beobachtete, wie er sich aus dem Auto schwang, rasch die Umgebung in Augenschein nahm und geradewegs über den Rasen und durch die Blumenbeete auf das Haus zuging. Mit resolut vorgeschobenen Schultern und großen, energischen Schritten.

Er schüttelte den Kopf, so vertraut war ihm die große Gestalt, die er nicht aus den Augen ließ. Da war etwas, was sich nicht verändert hatte, dachte er: Diese Zielstrebigkeit bei allem, was er tat.

Er wartete, bis er den Fahrstuhl hörte. Dann ging er in die Diele, schloss die Tür auf und öffnete sie. Lasse Henning stürmte herein, legte ihm im Vorbeigehen eine schwere Hand auf die Schulter, setzte seinen Weg ins Wohnzimmer fort, blieb stehen, stemmte die Fäuste in die Seiten und ließ den Blick schweifen.

»Hier hältst du dich also versteckt, Johnny?«

Nielsen war in der Diele stehen geblieben. Jetzt kam er hinterher.

»Bitte komm rein«, sagte er, »und fühl dich wie zu Hause.

Lass dich durch mich nicht stören, ich wohne nur hier.«

Der andere sah ihn an und lachte.

»Aber nein. Du störst nicht. Jedenfalls nicht mehr als sonst.«

Er betrachtete Nielsen forschend.

»Übrigens vielen Dank für die Einladung.«

Fast beschämt wandte Nielsen den Blick ab.

»Ich weiß«, erwiderte er. »Ich bin eine Weile in der Versenkung verschwunden.«

»In der Versenkung?«

Lasse Henning lachte laut.

»Verdammt nochmal, ich dachte, du seist tot! Seit über einem Jahr, wenn nicht fast zwei, keinen Mucks.«

»Ich hab’ doch geschrieben«, entgegnete Nielsen.

»Diese lumpige Karte mit der neuen Adresse? Stimmt! Vor einem Monat ungefähr.«

Nielsen hob die Schultern.

»Dir fällt es doch normalerweise nicht schwer, Leute aufzuspüren, wenn dir danach ist.«

Lasse Henning betrachtete ihn aus forschenden grauen Augen.

»Wenn es nötig ist, schon. Aber bei dir ist es doch anders, nicht wahr? Du bist groß genug, um auf dich selbst aufzupassen, dachte ich.«

Er setzte sich auf das Sofa.

»Und nichts in den Zeitungen, soweit ich sehen konnte. Nichts mehr seit dieser Artikelserie. Das war ja auch nicht erst gestern, sondern ist über zwei Jahre her, stimmt’s? Schreibst du nichts mehr? Ich meine, einmal abgesehen von Karten mit der neuen Adresse?«

Nielsen ließ sich mit der Antwort Zeit.

»Kaum, könnte man wohl sagen.«

Der andere runzelte die Stirn.

»Machst du Witze? Wovon lebst du denn dann? Von der großen Erbschaft?«

John Nielsen schwieg.

»Reklame«, sagte er schließlich. »Ich arbeite ab und zu für ein paar Werbeagenturen. Werbetexte.«

Jetzt runzelte Lasse Henning ungläubig die Stirn.

»Reklame?«, wiederholte er. »Tampons und Zahnpasta? Und das ist dein neues Leben? Das hätte ich jetzt wirklich nicht gedacht.«

John Nielsen schwieg einen Augenblick.

»Aber so ist es«, sagte er. »Zur Zeit. Stört dich das?«

Er wartete eine Weile.

»Du bist doch nicht gekommen, um mit mir die Lage auf dem Arbeitsmarkt zu erörtern? Sagtest du nicht am Telefon, du wolltest etwas mit mir besprechen? Ein Problem?«

Lasse Henning betrachtete ihn immer noch nachdenklich.

»Setz dich«, sagte er. »Meinetwegen brauchst du nicht zu stehen. Das hier wird eine Weile dauern.«

»Danke«, antwortete Nielsen trocken, ließ sich auf den Sessel gegenüber fallen und bewegte sein linkes Bein, bis er eine bequeme Stellung gefunden hatte.

»Mühe mit dem Bein?«

Lasse Henning deutete mit dem Kopf darauf. Nielsen beugte sich vor, zog das Hosenbein ein Stück hoch und klopfte auf die Prothese.

»Neues Modell«, sagte er. »Ich habe mich noch nicht ganz daran gewöhnt. Ich habe es erst seit ein paar Monaten. Neue Technik. Titan und Kohlenstofffaser. Weißt du, dass es Leute gibt, die mit der Sportausführung nur 14 Sekunden für hundert Meter brauchen? Nicht schlecht, was?«

Lasse Henning verzog spöttisch den Mund.

»Vierzehn? Für dich wäre das vermutlich eine beträchtliche Verbesserung. Es fragt sich nur, warum man es so verdammt eilig haben soll.«

Nielsen ließ das Hosenbein wieder fallen.

»Du hast dich nicht verändert, höre ich. Genauso zartfühlend wie immer.«

Seine Freundschaft mit dem Mann auf dem Sofa reichte etliche Jahre zurück. Mehr sogar. Jahrzehnte. Fast fünfundzwanzig Jahre, um genau zu sein. Bei ihrer ersten Begegnung war er knapp siebzehn gewesen. Ende der siebziger Jahre. Die Umstände hatten nicht unbedingt eine lebenslange Freundschaft vorausahnen lassen. Lasse Henning war einer der Polizisten gewesen, die ihn nach einem idiotischen Einbruchsversuch in einer Lagerhalle festgenommen hatten. Er saß auf einem drei Meter hohen Zaun fest, ein Wachmann mit Hund auf der einen Seite, das Einsatzkommando der Polizei auf der anderen.

Lasse war es gewesen, der ihn später nach Hause gefahren und Janne und Kerstin übergeben hatte. »Das war natürlich das letzte Mal«, hatte er im Auto gesagt und auf den Teenager neben sich geschaut. »Ich meine, dass du dich erwischen lässt. Du bist doch so verdammt schlau, oder? Man konnte es vor Intelligenz regelrecht in deinem Schädel knistern hören, als dir der Köter am Arsch hing. Oder war das vielleicht, als du in die Hosen gemacht hast?« Der Siebzehnjährige hatte sich heftig zu ihm umgedreht, eine Mischung aus Hohn und Trotz in seinem jugendlichen Gesicht. »Was braucht es denn, um Bulle zu werden? Muss man dafür überhaupt einen Gedanken fassen können? Schließlich reicht’s doch einfach, die Schnauze zu öffnen und zu grunzen.« Lasse Henning hatte gelacht und den Kopf geschüttelt. »Ich habe keine Ahnung. Aber es ist anzunehmen, dass derjenige, der sich erwischen lässt, dümmer ist als derjenige, der ihn festnimmt. Und du gehörst wohl zu denen, die sich erwischen lassen, oder?«

Natürlich war es nicht das letzte Mal gewesen. Nur wenige Monate waren vergangen, bis er wieder festgenommen wurde.

Und so war es weitergegangen. Festnahmen, Strafen auf Bewährung, Bewährungshelfer. Erneute Festnahmen, erneute Strafen. Erziehungsheime, Jugendgefängnisse. Janne und Kerstin weigerten sich zu guter Letzt, ihn überhaupt noch aufzunehmen. Als er eines Morgens auftauchte, war das Schloss ausgewechselt und die Tür verstärkt worden. Er hatte das Haus umrundet, war die Regenrinne zum Balkon im zweiten Stock hochgeklettert, wo er die Balkontür eingetreten, den Fernseher nach draußen getragen und über das Geländer fallen gelassen hatte. Um ihnen eine Lektion zu erteilen und zu zeigen, dass man so etwas mit ihm nicht machen konnte.

Zeitweise war er ruhiger geworden. Er hatte ein paar Jobs gehabt und halbherzige Versuche unternommen, an Volkshochschulen mit Internat einen Abschluss nachzuholen.

Aber das hatte er nie lange durchgehalten. Er war immer wieder zurückgefallen in sein kriminelles Leben. Er war dann fast immer erleichtert, erinnerte er sich. Als hätte es einfach so sein müssen.

Anfang der achtziger Jahre war er auf der E4 Richtung Süden unterwegs gewesen, irgendwo bei Nyköping. Wieder auf Achse in einem Saab 900, einem Auto, mit dem er sich auskannte. Er konnte es mühelos öffnen und ebenso schnell starten, als besäße er einen Schlüssel.

Trotz Trunkenheit und Aufputschmittel hatte er sich wach und sicher gefühlt. Er konnte sich immer noch nicht daran erinnern, dass er die Kontrolle über das Fahrzeug verloren hatte. Alles um ihn herum war zum Stillstand gekommen. Ein plötzliches Schweigen, Stille. Gleichzeitig hatte ihn eine prickelnde Erwartung erfüllt. Ein schwindelnder Sog, als versuche man etwas nie zuvor Gewagtes, als wage man einen Schritt ins Leere.

Er hatte sich einfach dazu entschlossen, das Lenkrad nicht zu bewegen, nichts zu tun, einfach dazusitzen und zuzuschauen.

Abzuwarten, was passieren würde.

Lasse Henning lehnte sich zurück und sah ihn fragend an.

»Hörst du mir eigentlich zu?«

Nielsen zuckte zusammen und fühlte sich ertappt.

»Klar. Ich höre.«

Er konzentrierte sich auf die Worte des anderen.

»Du hast vielleicht darüber gelesen?«

Er nickte.

»Natürlich, aber ich hatte den Eindruck, das war irgendwo weiter im Norden …«

»Es liegt weit weg«, meinte Lasse Henning. »Mitten im Nichts an der Grenze zu Hälsingland, in den Finnskogarna. Aber Gävle ermittelt. Die dortige Bezirkskripo.«

Nielsen nickte erneut. Er hatte von den Morden gelesen. Und das nicht nur flüchtig. Er hatte den Ort im Atlas gesucht, sich das Straßennetz und die nächsten Orte angesehen und versucht, sich einen Überblick über die Entfernungen zu verschaffen. Die Sache faszinierte ihn immer noch, nicht das Verbrechen an sich, sondern das, was sich dahinter verbarg. Die Ursachen. Oder die Sinnlosigkeit. Der Handlungsablauf, der schließlich zur Katastrophe geführt hatte, unwiderruflich.

Er warf einen raschen Blick über den Tisch und hatte wie so oft das Gefühl, dass ihn der andere durchschaute. Er wusste bereits Bescheid, musste gar nicht mehr fragen.

»Es ist doch erwiesen«, knurrte er, »dass er der Täter war?«

Lasse Henning schnitt eine Grimasse.

»Erwiesen? Tja, das würde ich nicht sagen. Es gibt wohl nur Indizien. Aber ich mische mich da nicht ein …«

»Nicht?«, fiel ihm Nielsen ins Wort. »Warum sitzt du dann hier? Und warum haben die dich überhaupt herzitiert?«

Lasse Henning hob abwehrend eine Hand.

»Dazu komme ich noch. Und wie gesagt, er wollte, dass sie mich verständigen. Auf alle Fälle hat er ihnen meinen Namen genannt. Und dann fanden sie wohl, es könnte eine gute Gelegenheit sein, um weitere Informationen zu erhalten. Ich meine, indem sie sich mit mir unterhalten. Formell habe ich mit der ganzen Sache nichts zu tun.«

Nielsen rümpfte die Nase.

»Aber du wirkst recht interessiert. Warum?«

Lasse Henning schwieg.

»Ich kann mich an ihn erinnern«, erwiderte er nach einer Weile. »Und zwar verdammt gut. Ich habe mir damals viele Gedanken über ihn gemacht. Außerdem standen mir ein paar freie Tage zu. Also dachte ich mir, ich fahre hin und schaue mir an, was da los ist.«

Er holte Luft.

»Ich glaube, das war 1989. Körperverletzung und möglicherweise versuchter Raub, verübt von einer Bande, die sich darauf spezialisiert hatte Angetrunkene, die nachts allein unterwegs waren, auszunehmen. So schien es zumindest zu dem Zeitpunkt zu sein, als wir eingeschaltet wurden. Das Opfer war übel zugerichtet und mit Schädelverletzungen bewusstlos ins Krankenhaus eingeliefert worden.«

Lasse Henning machte eine Pause.

»Wir hatten einen konkreten Verdacht. Unweit des Tatorts war ein weiterer Raubüberfall verübt worden, für den es Zeugen gab.

Wir wussten im Großen und Ganzen, nach wem wir fahnden mussten, es handelte sich um vier Täter. Und recht bald erwischten wir auch den ersten Verdächtigen. Rate mal, wo? In der Notaufnahme des Södersjukhuset. Es handelte sich dabei um einen siebzehnjährigen Jungen mit gebrochenem Arm und schweren Prellungen. Am folgenden Tag tauchte bereits der nächste, ebenfalls siebzehnjährige Junge auf, in einer Poliklinik.

Er hatte Rippenbrüche, außerdem war sein Nasenbein gebrochen, es sah aus, als hätte er Hackfleisch im Gesicht.

Natürlich haben die beiden alles abgestritten. Trotzdem konnten wir ihnen mit Hilfe der vorhandenen Zeugen einen Raubüberfall nachweisen. In dem anderen Fall hat die Spurensicherung die nötigen Beweise dafür erbracht, dass sich die beiden am Tatort befunden hatten. Aber bereits vorher war es uns gelungen, die anderen zwei Täter festzunehmen. Kleine Knirpse, beide erst fünfzehn. Die haben ausgepackt. Jedenfalls was den Raubüberfall Nummer zwei betraf. Bei dem hatte es sich nicht um einen Raub oder Raubversuch gehandelt. O nein! Im Gegenteil. Sie waren angegriffen worden! Von irgendeinem Verrückten, der vollkommen grundlos aufgetaucht war. Sie waren also die Opfer und nicht derjenige, der mit einem Schädelbasisbruch im Krankenhaus lag!«

»Und das war dein Mann?«, warf Nielsen ein, als der andere Atem schöpfte. »Der Bewusstlose?«

»Meiner würde ich nicht direkt sagen«, erwiderte Lasse Henning achselzuckend. »Aber jedenfalls war es der, über den wir sprechen, Bo Lindberg.«

Henning verstummte. Er runzelte die Stirn, als strenge es ihn an, sich die Bilder von vor dreizehn Jahren in Erinnerung zu rufen.

»Und zu welchem Ergebnis seid ihr gekommen?«, fragte Nielsen schließlich.

»Ja, das kann man sich fragen.«

Lasse Henning lachte auf und fuhr dann fort:

»Als Waffe war ein Schläger verwendet worden. Ein Baseballschläger. Aus Aluminium. Der war liegen geblieben und ließ sich dem Bandenältesten zuordnen, mit dessen Fingerabdrücken er übersät war. ›Wolltest du Baseball spielen?‹, habe ich gefragt. Aber nein, er habe ihn nur zur Selbstverteidigung dabeigehabt. Falls etwas passieren würde.

Schließlich könne man nie wissen. Aber er habe natürlich nie die Absicht gehabt, ihn zu verwenden! Nur im Notfall. Und der sei dann ja leider eingetreten. Wegen diesem verdammten Idioten, der sie angefallen habe.«

Er schwieg und legte die Handflächen aneinander.

»Und wie lief der wirkliche Tathergang ab? Offenbar sind sie gegen ein Uhr nachts auf Lindberg getroffen. Es ist möglich, dass sie ihn nicht sofort als Opfer ins Auge gefasst haben. Er hat nicht richtig ins Bild gepasst. Etwas zu jung, Anfang dreißig, und nicht betrunken, soweit sich das beurteilen ließ. Groß. Gut durchtrainiert. Kein typisches Opfer für einen Raubüberfall.

Aber sie haben es nicht lassen können, anzugeben und ihn zu provozieren. Sofort hat er sich umgedreht und ihnen Paroli geboten. Das konnten sie natürlich nicht auf sich sitzen lassen.

Respekt, du weißt schon. Also zog der Älteste seinen Baseballschläger und verpasste ihm eine. Außerdem traten sie ihm an den Kopf, als er schon zu Boden gegangen war.

Wahrscheinlich haben sie ihn auch noch filzen wollen, bekamen es aber dann doch mit der Angst zu tun, glaubten vielleicht, er sei tot, und hielten es für das Beste, ihn liegen zu lassen und zu verduften. Sie hatten jedoch nicht damit gerechnet, dass Lindberg nach etwa hundert Metern plötzlich blutend und blau geschlagen hinter ihnen auftauchen, den Baseballschläger an sich reißen und auf sie losgehen würde.«

Er hob die Hand, um einem Einwand Nielsens zuvorzukommen.

»Und es waren nicht nur die Funde der Spurensicherung, die auf dieses Szenario schließen ließen, falls du dich das fragst. Es ist uns gelungen, die beiden Jüngsten der Bande kräftig aufzumischen, woraufhin sie unabhängig voneinander das Gleiche erzählt haben. Bis zu dem Punkt, an dem Lindberg ihre älteren Kumpanen niedergestreckt hat, erschien uns ihre Erzählung relativ glaubwürdig. Aber - dann kommt das wirklich Merkwürdige…«

Lasse Henning beugte sich vor.

»Plötzlich hielt er inne und stieß einen wahnsinnigen Schrei aus. Torkelte auf einen Laternenpfahl zu, nahm gewissermaßen Anlauf und schlug seinen Schädel dagegen, immer wieder. Dann rannte er an ein Geländer, das den Bürgersteig begrenzte. Die ganze Zeit brüllte er. Bis er zusammensackte.«

Nielsen schüttelte langsam den Kopf.

»Ja, das klingt wirklich wie eine recht originelle Ausrede.«

»Sprich es aus«, meinte Lasse Henning. »Das klingt so verrückt, so unglaublich bekloppt, dass man sich kaum vorstellen kann, dass sie das aus der Luft gegriffen haben!«

»Du glaubst also, da war ein Körnchen Wahrheit dran? Ist das überhaupt physisch vorstellbar?«

»Dass er sich seine gesamten Verletzungen selbst zugefügt haben könnte? Nein, diese Möglichkeit haben wir gar nicht in Betracht gezogen. Aber wir haben versucht, der Frage nachzugehen, ob es in der Tat möglich gewesen sein könnte, dass er sich vorsätzlich verletzt hat. So was ist schließlich schon vorgekommen, obwohl es nicht unbedingt einfach ist. Es setzt einiges voraus. Beispielsweise, dass man verwirrt ist. Dass etwas vorgefallen ist, was das normale Reaktionsvermögen, den Selbsterhaltungstrieb, außer Gefecht setzt…«

»Oder dass man vollkommen verrückt ist«, meinte Nielsen trocken.

Lasse Henning lachte.

»Ja, das vereinfacht das Ganze.«

Er trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte.

»Immerhin haben wir festgestellt, dass sich sowohl am Laternenpfahl als auch am Geländer Blutspuren befanden.

Lindbergs Blut. Reichlich. Und auch Hautpartikel. Wie die dorthin geraten waren, ließ sich jedoch nicht eruieren. Wenn man nicht an das glauben wollte, was diese jungen Männer erzählt hatten.«

»Was hat er selbst gesagt?«, unterbrach ihn Nielsen.

»Nichts«, antwortete Lasse Henning. »Er konnte sich an die Vorkommnisse nicht erinnern, nicht einmal daran, dass er in dieser Nacht überhaupt unterwegs gewesen war.«

»Und was hat der Prozess ergeben?«

»Es gab nie einen. Das Ganze hat sich in die Länge gezogen, und der Zeuge des anderen Überfalls war auf einmal nicht mehr glaubwürdig, sagte, er könne niemanden mit Sicherheit identifizieren. Wir hatten damals den Verdacht, ihm sei gedroht worden. Außerdem hatten die beiden Jüngsten ihre Darstellung wieder geändert und waren zur ersten Version zurückgekehrt.

Lindberg hat sich wie gesagt an überhaupt nichts mehr erinnert.

Ich glaube, dass sogar erwogen wurde, ihn wegen

Körperverletzung anzuklagen. Daraufhin verlief die ganze Sache im Sand, soweit ich mich erinnere.«

Nielsen wartete.

»Das war an sich eine interessante Geschichte«, meinte er schließlich.

»Da war aber noch etwas«, sagte Lasse Henning. »Nachdem Lindberg wieder zu sich gekommen war, habe ich mich mit ihm unterhalten. Das war ungefähr eine Woche nach dem Vorfall.

Ich habe herauszufinden versucht, ob er sich nicht vielleicht doch bruchstückhaft an diese Nacht erinnerte und wie weit zurück seine Amnesie reichte. Er hat mich eine Weile angesehen. ›Es ist wie ein verdammter Flickenteppich. Ich weiß nicht, woran ich mich erinnere und woran nicht.‹ ›Wie meinen Sie das?‹, fragte ich. ›Haben Sie schon früher Gedächtnislücken gehabt?‹ Er zuckte mit den Achseln. ›Es geht hier nicht um Lücken.‹ Dann nahm er seinen Kopf in beide Hände und drehte ihn, als versuche er ihn abzuschrauben. ›Das hier ist nicht meiner. Der gehört nicht mir. Ich weiß nicht, wer sich da erinnert.‹«

Lasse Henning schwieg, Nielsen runzelte die Stirn.

»Und diesem Mann solltest ausgerechnet du eine Art Leumundszeugnis ausstellen? Auf seinen eigenen Wunsch hin?

Das wirkt nicht sonderlich clever, ich meine, aus seiner Sicht.«

Lasse Henning starrte ins Leere.

»Ja, wahrscheinlich weiß ich immer noch nicht recht, worum es eigentlich geht. Nicht einmal jetzt, nachdem ich mit ihm gesprochen habe. Ich erzähle es dir.«

Er hatte eine Weile warten müssen, bis ein schmächtiger Mann Anfang sechzig die Treppe herunterkam und direkt auf ihn zusteuerte. Er streckte seine Rechte aus, die in Lasse Hennings riesiger Hand fast ganz verschwand.

»Roland Magnusson. Wir haben miteinander telefoniert.«

Lasse Henning musterte ihn einen Augenblick. Er sah in ein bleiches Gesicht, mit dunklen Ringen unter den wässrigen Augen, unrasiert.

»Sie haben sicher viel zu tun?«

»Tja, manchmal kommt eins zum anderen«, erwiderte Magnusson, »wenn so etwas passiert. Aber das kennen Sie sicher selbst.«

Er blieb einen Augenblick stehen und schwieg. Dann deutete er mit dem Kopf nach oben.

»Wir gehen rauf. Das Büro ist im ersten Stock.«

Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und marschierte los.

Mit großen Schritten lief er die Treppe hinauf, bog in den Korridor im ersten Stock und blieb vor einer Tür stehen. Er öffnete sie, wartete auf den keuchenden Lasse Henning und deutete mit der Hand ins Zimmer.

»Das hier ist Larsson. Peter.«

Der Mann, der sich vom Schreibtisch erhob, war bedeutend jünger als Magnusson, knappe dreißig, schätzte Henning. Er war gute zehn Zentimeter größer als sein Kollege und hatte einen muskulösen Oberkörper, der regelmäßiges Training vermuten ließ.

»Mein Lehrling«, meinte Magnusson und zwinkerte Lasse Henning zu. »Ich bringe ihm alles bei.«

In der Tat hatten das offene, viereckige Gesicht Peter Larssons und der kurze Haarschnitt etwas Schülerhaftes. Seine braunen Augen blickten ernst und distanziert. Er sah Magnusson an und lächelte kurz.

»Sag einfach, wann’s losgeht, dann bin ich ganz Ohr.«

Aber Magnusson hatte sich bereits wieder an Lasse Henning gewandt.

»Gut, dass Sie sich die Mühe gemacht haben herzukommen.

Vielleicht können wir uns gegenseitig behilflich sein, was Lindberg angeht. Er scheint Ihnen ja zu vertrauen, also wäre es keine schlechte Idee, wenn Sie sich etwas mit ihm unterhielten.«

»Ich soll also für Sie das Terrain sondieren, stimmt’s?«

»Genau. Haben Sie was dagegen?«

Magnusson hob eine Hand.

»Ich bin nicht auf irgendein Geständnis aus. Ich finde nur, dass Sie sich mit ihm ganz formlos unterhalten sollten. Versuchen Sie, ihn davon zu überzeugen, dass es das Beste ist, wenn er alles erzählt, und die Wahrheit sagt.«

»Sie glauben, dass er lügt?«, fragte Lasse Henning.

Magnusson wiegte zweifelnd seinen Kopf.

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass er vier Tage zu Hause gewesen ist, ohne jeglichen Kontakt mit der Außenwelt. Ich glaube, dass er sich in diesem Punkt nicht ganz an die Wahrheit hält. Auch nicht hinsichtlich der Brieftasche. Irgendeine Vermutung muss er schließlich haben, wie sie dort hingekommen sein könnte. Oder wenigstens darüber, wie sie ihm abhanden gekommen ist.«

Lasse Henning nickte nachdenklich.

»Sie glauben also, er könnte der Täter sein?«

Magnusson kniff die Augen zusammen.

»Ich glaube, dass er mehr weiß, als er zugibt.«

Lasse Henning wandte sich an Peter Larsson.

»Stimmen Sie dem erfahrenen Kollegen zu?«

Der Jüngere verzog den Mund.

»Man kann nie wissen. Ein blindes Huhn findet auch mal ein Korn.«

Dann wurde er wieder ernst.

»Wir haben ja nichts Stichhaltiges. Nicht das Geringste. Sie teilen sicherlich meine Meinung. Bisher gibt es nur Indizien.

Aber ich glaube ebenfalls, dass es sich lohnen könnte, diesen Lindberg genauer unter die Lupe zu nehmen. Es gibt auffallend viele Ungereimtheiten.«

»Aber Sie sind sich nicht sicher?«

»Das ist er nie«, mischte sich Magnusson ein. »Sofern es nicht um die Eishockeymannschaft Brynäs geht.«

Er sah Lasse Henning an und machte eine ungeduldige Handbewegung.

»Worauf warten wir noch? Bringen wir die Sache hinter uns?«

Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte er sich um, öffnete die Tür und trat auf den Gang. Lasse Henning folgte ihm mit großen Schritten, um mit ihm mithalten zu können.

»Sie sind davon überzeugt, dass er es gewesen ist, nicht wahr?«, fragte er etwas außer Atem.

Magnusson warf einen Blick über die Schulter.

»Ich habe das Gefühl, dass da irgendwas faul ist. Aber sicher bin ich mir nicht.«

Er setzte seinen Weg fort, ohne seinen Schritt zu verlangsamen. Lasse Henning fiel zurück und starrte nachdenklich auf Magnussons Rücken. Dieser Mann war sich seiner Sache sicher, so viel war klar. Aus irgendeinem Grund war Magnusson davon überzeugt, dass Bo Lindberg in die Morde verwickelt war …