Eigentlich hatte er gar nicht damit gerechnet, dass sie ihn reinlassen würde, und noch weniger, dass sie in lautes Gelächter ausbrechen würde, nachdem sie ihm einen Augenblick zugehört hatte.

»Es soll also Bosse nützen, wenn Sie sich mit mir unterhalten dürfen?«, sagte sie mit heiserer Stimme und einem leichten Lispeln. »Und das soll ich Ihnen abnehmen? Für wie dumm halten Sie mich eigentlich?«

Sie schüttelte den Kopf und lachte wieder.

»Aber Sie können ja vielleicht mir helfen?«, fuhr sie fort und betrachtete ihn. »Haben Sie eine Zigarette?«

Nielsen nickte.

»Klar.«

»Gut«, erwiderte die Frau.

Sie drehte sich um und ging in die Wohnung. Nielsen folgte ihr, zog eine Zigarettenschachtel aus der Tasche und reichte sie ihr.

»Bitte.«

Anneli Holm lächelte spöttisch.

»Oho! Sie sind ein wirklicher Freund, was?«

Sie fischte eine Zigarette aus der Schachtel, zündete sie an und stand mit verschränkten Armen vor ihm, während sie den Rauch langsam durch die Nasenlöcher blies.

»Ich habe schon seit einer Woche kein Geld mehr, um mir selber welche zu kaufen. Ich habe mir auch sonst nichts kaufen können. Ich habe, verdammt nochmal, keine Öre! Können Sie sich das vorstellen? Vielleicht könnten Sie mir auch bei diesem Problem helfen?«

Ihr Ton war herausfordernd, fast höhnisch. Aber Nielsen ahnte die Verzweiflung, die sich dahinter verbarg. Nach kurzem Zögern steckte er seine Hand in die Innentasche und zog einen Fünfhunderter hervor. Er betrachtete ihn mit düsterem Blick und überreichte ihr dann den Schein. Wortlos nahm sie ihn entgegen und stellte sich ans Fenster.

»Dafür kriegen Sie ein Gespräch«, sagte sie nach einer Weile.

»Sonst nichts, falls Sie sich das eingebildet haben sollten.«

Nielsen betrachtete ihren Rücken.

»Schlechte Finanzen?«, fragte er.

Sie zuckte leicht mit den Achseln.

»In der Regel komme ich zurecht.«

»Aber momentan nicht?«, fragte Nielsen.

Sie drehte sich zu ihm um.

»Nicht dass Sie das etwas anginge, aber ich bin alles losgeworden, oder fast alles.«

»Wie das?«

Sie lachte und schüttelte den Kopf.

»Was Sie für Fragen stellen! Ich habe es vielleicht verloren, ich weiß nicht. Oder habe mich irgendwie geirrt. Verrechnet.

Sind Sie jetzt zufrieden?«

»Es war nicht das hier?«, fragte Nielsen und klopfte mit einem Finger auf seinen Unterarm.

Anneli Holm zuckte zusammen.

»Was bilden Sie sich ein?«

Nielsen sah sie direkt an.

»Sie haben ganz und gar aufgehört?«

»Es geht Sie einen Scheißdreck an, was ich tue oder auch nicht!«

»Und Bosse Lindberg, nimmt der auch nichts?«

Wütend starrte sie ihn an.

»Was sind das für beschissene Fragen?«

»Oft handelt es sich um so was«, fuhr Nielsen unbeeindruckt fort, »wenn alte Leute zu Hause ausgeraubt werden. Jemand braucht die Kohle für den nächsten Schuss. Aber das gilt also weder für Sie noch für Bosse Lindberg, wenn ich Sie recht verstehe?«

»Der schluckt nicht mal ein Aspirin!«, fauchte Anneli Holm.

Sie machte einen Schritt auf ihn zu.

»Weder Bosse noch ich haben mit dieser Schweinerei was zu tun!«

Nielsen musterte aufmerksam ihre Miene.

»Sie sind überzeugt davon, dass Lindberg nichts mit dieser Sache zu tun hat?«

Er sah, wie sie nach Luft rang und ihr plötzlich die Tränen in die Augen traten.

»Er war es nicht! Das weiß ich einfach!«

Nielsen sah sie unverwandt an.

»Offenbar gibt es einiges, was gegen ihn spricht«, meinte er.

»Irgendein Schwein versucht, ihm das anzuhängen«, sagte sie mit belegter Stimme. »So etwas muss es sein …«

»Wer?«, unterbrach sie Nielsen. »Und warum?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Irgendein verdammtes Aas. Irgendein verdammtes Aas, das ihn nicht ausstehen kann!«

Nielsen schwieg einen Augenblick.

»Tja, kann sein. Aber er hat kein Alibi für den Tatzeitpunkt, oder?«

»Ich war doch bis spätnachts bei ihm!«

»Aber Sie sind von dort zu einer Freundin gegangen und haben auch noch einen guten Teil des nächsten Tages dort verbracht.«

Misstrauisch starrte sie ihn an.

»Woher wissen Sie das denn?«

Nielsen zuckte mit den Achseln.

»Man hört so alles Mögliche. Und so war es doch, nicht wahr?«

Anneli Holm trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Sie hatte die Arme auf der Brust verschränkt, als umarme sie sich selbst.

»Er war zu Hause und zwar die ganze Nacht. Er wollte nirgendwohin, als ich ging …«

»Aber er war nicht da, als Sie zu seiner Wohnung

zurückkehrten?«

Sie schüttelte sich und starrte vor sich hin.

»Vermutlich war er spazieren gegangen. Schließlich war es ja am Spätnachmittag des darauf folgenden Tages«, sagte sie mit tonloser Stimme. »Ich habe ganz tief geschlafen. Ich hatte ein Schlafmittel genommen…«

Sie schwieg abrupt und wandte sich an Nielsen.

»Er war es nicht! Aber alle diese Schweine versuchen, ihm etwas anzuhängen! Niemand glaubt ihm! Sie auch nicht!«

Sie trat einen Schritt auf ihn zu.

»Das war nur leeres Geschwätz, stimmt’s? Dass Sie ihm helfen könnten? Ihnen ist es doch scheißegal, was aus Bosse wird.

Oder aus mir. Ich hätte nicht mit Ihnen reden dürfen! Was habe ich davon?«

Nielsen machte eine abwehrende Handbewegung.

»Eigentlich müssten sie ihn bald laufen lassen«, sagte er.

»Wenn sie nicht genug Beweise haben, um Anklage zu erheben.«

Anneli Holm unterbrach ihn.

»Das glaube ich erst, wenn ich es sehe! Wer weiß schon, was die sich alles ausdenken? Vielleicht lassen sie ihn einfach versauern.«

Sie verstummte und sah ihn an, als sei ihr plötzlich etwas eingefallen.

»Ihre Adresse«, sagte sie. »Telefonnummer.«

Nielsen sah sie nachdenklich an und schnaubte kurz.

»Ich will doch nur Ihre verdammte Adresse! Damit ich Sie erreichen kann. Kapieren Sie das denn nicht?«

Nielsen holte tief Luft, suchte in seinen Taschen und zog sein Notizbuch und einen Stift hervor.

»Hier«, sagte er, nachdem er etwas aufgeschrieben und eine Seite herausgerissen hatte. »Aber behalten Sie die für sich, okay?«

Anneli Holm nahm den Zettel und lächelte.

»Meine Güte, wie übervorsichtig! Glauben Sie, dass Sie so wahnsinnig interessant sind?«

Sie betrachtete den Zettel, dann sah sie ihn wieder an.

»Ich werde schon noch rauskriegen, wer dahintersteckt.

Welches Schwein ihm diese Sache anhängen will und ihn verpfiffen hat.«

Nielsen schüttelte den Kopf.

»Stellen Sie jetzt bloß nichts an. Machen Sie keine Dummheiten. Damit wäre Lindberg nicht gedient.«

Sie starrte ihn ausdruckslos an.

»Rufen Sie mich an, wenn was sein sollte«, sagte er nach kurzem Schweigen, »oder auch nur, wenn Sie sich unterhalten wollen.«

Sie seufzte.

»Meine Güte, sind Sie jetzt aber eifrig. Sie erwarten wohl noch etwas anderes für Ihren Fünfhunderter?«

Nielsen zuckte mit den Achseln, drehte sich um und ging auf die Tür zu. Hinter sich hörte er ihre Stimme. Sie überschlug sich fast vor Wut und Verzweiflung.

»Mir darf es doch auch mal gut gehen! Habe ich nicht auch ein Anrecht auf ein kleines bisschen Glück! Ein einziges, verdammtes Mal!«

 

Peter Larsson wartete bereits im Amtsgericht. Magnusson blieb draußen stehen und zündete sich eine Zigarette an, bereits die dritte an diesem Tag, und inhalierte tief und gierig. Nach ein paar Zügen ging er zum Blumenkübel links neben dem Portal und drückte die Zigarette im Sand aus.

Er blieb stehen und warf einen Blick über die Bahngleise auf das Polizeipräsidium. Das Auto würde gleich eintreffen. Die Strecke war kurz, es konnte kaum länger als ein paar Minuten dauern. Missmutig starrte er auf einen einfahrenden Zug und rieb sich die Augen. Müdigkeit steckte ihm in den Knochen.

Wahrscheinlich hatte Peter Larsson Recht. Er hatte sich verrannt. Er war zu weit gegangen, und es fiel ihm schwer, den Fall unvoreingenommen aus neuen Blickwinkeln zu betrachten.

Er holte tief Luft, ging die Treppe hoch, und betrat das Gebäude. Larsson stand vor dem Gerichtssaal. Magnusson sah sich suchend um.

»Ist Reyes noch nicht da?«

Peter Larsson schüttelte den Kopf.

»Nein. Aber hätte er noch was rausgekriegt, wüssten wir davon.«

Magnusson nickte.

»Stimmt.«

Larsson musterte ihn prüfend.

»Also hängt alles an einem Haar?«

Magnusson lachte.

»Haar? Hätten wir ein Haar vorgefunden, gäbe es jetzt kein Problem, oder?«

Er hob ratlos die Hände.

»Aber wir haben doch einiges. Für die Haftprüfung müsste das reichen.«

»Hjerpe wirkte skeptisch«, erwiderte Peter Larsson.

Magnusson spitzte die Lippen.

»Tja, abwarten. Schließlich geht die Welt nicht unter, wenn sie ihn rauslassen.«

Peter Larsson runzelte die Stirn.

»Findest du das wirklich?«

Magnusson vergrub die Hände in den Hosentaschen, ging ein paar Schritte den Korridor entlang, drehte um und kam zurück.

»Ich würde es natürlich vorziehen, wenn er in Haft bliebe.

Aber wenn das nicht geht, dann geht’s eben nicht. Dann müssen wir uns etwas anderes einfallen lassen.«

Er schüttelte den Kopf. Er wusste nicht, ob er wirklich dieser Ansicht war, aber er hatte keine Lust, sich noch länger über Lindberg und Rönnåsen den Kopf zu zerbrechen. Er hatte das Gefühl, dass ihm der Fall immer weiter entglitt. Er hatte sich nun schon zu lange damit abgemüht. Er musste ihn loslassen, zumindest für ein paar Tage …

Ein plötzlicher Schrei ließ ihn zusammenzucken. Es folgten aufgeregte Rufe. Er stürzte mit Peter Larsson auf den Fersen zum Ausgang und stieß die Tür auf. Der Transporter stand mit offenen Türen in einer Parklücke. Ein Polizist, den er vom Sehen kannte, lag auf dem Asphalt und hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht das Knie.

»Das Schwein hat mich zu Boden getreten!«

Magnusson starrte ihn an.

»Wo ist er?«

Der Mann machte eine Kopfbewegung.

»Über die Gleise Richtung Hauptbahnhof! Svenning ist hinter ihm her. Er hatte nicht viel Vorsprung…«

»Hast du Alarm ausgelöst?«, unterbrach ihn Magnusson. Aus den Augenwinkeln sah er, dass Peter Larsson bereits die Straße vor dem Amtsgericht überquert hatte und über den Zaun auf den Bahndamm sprang.

»Dann tu es jetzt«, sagte er barsch, als der andere den Kopf schüttelte.

Er zog sein Handy aus der Tasche und wählte. Der Beamte richtete sich auf und schleppte sich mühsam auf die Fahrerseite des Transporters.

Eine Viertelstunde später kam Peter Larsson zurück. Magnusson hatte vor dem Amtsgericht auf ihn gewartet. Der jüngere Mann schwang sich über den Zaun und rannte auf ihn zu.

»Du hast ihn doch erwischt, schließlich bist du ja fit, oder?«

Atemlos baute sich Peter Larsson vor ihm auf. Er überhörte die Frage.

»Hast du jemanden losgeschickt?«, fragte er.

Magnusson nickte.

»Zwei Streifen suchen bereits nach ihm. Mal sehen, wie viele Kollegen wir noch lockermachen können.«

Er besann sich einen Augenblick.

»Wo ist er hin?«, fragte er dann. »Hast du eine Vermutung?«

Peter Larsson wischte sich den Schweiß aus der Stirn. Er deutete zum Bahnhof.

»Er ist vor einem einfahrenden Zug über die Gleise gerannt.

Unser Mann musste warten. Dann war er weg.«

Gehetzt fuhr er fort:

»Jemand behauptete, er sei eilig in ein Auto gestiegen. Aber darauf sollten wir uns nicht verlassen. Andere sagten, er sei Richtung Stadt weitergerannt. Und einer meinte, er habe sich wie ein normaler Reisender unter die vielen Wartenden auf dem Bahnsteig gemischt. Ich bin noch eine Weile geblieben und habe mir, so gut es ging, die Namen möglicher Zeugen

aufgeschrieben.«

Er schwieg kurz und sah Magnusson an.

»Übrigens, der Zug. Du hast doch auch gesehen, dass er Richtung Süden fuhr?«

Magnusson nickte.

»Ja. Die in Uppsala erledigen das. Ich habe bereits angerufen.

Die eingefahrenen Züge sollen warten, bis wir sie durchsucht haben. Das ist geregelt.«

Er rieb sich das Kinn.

»Ich glaube allerdings nicht, dass wir ihn dort finden.

Vermutlich müssen wir uns auf die Suche machen.«

»Du scheinst dir ja keine besonderen Sorgen zu machen?«, meinte Peter Larsson.

»Wo soll er schon hin? Die Bude seiner Freundin lassen wir überwachen. Seine eigene auch. Falls er in dieser Gegend auftaucht, erfahren wir das.«

»Wenn das mit dem Auto stimmt, ist er schon über alle Berge.«

»Du hast doch selbst gesagt, dass das recht unwahrscheinlich ist, oder nicht? Natürlich müssen wir dem nachgehen, aber auf jeden Fall wird er sich nicht lange versteckt halten können. Es dauert nie lange, bis wir was hören, wenn wir es nur methodisch angehen. Nein, Sorgen mache ich mir keine.«

Magnusson war fast erleichtert. Endlich passierte etwas. Es gab etwas Konkretes, womit er sich auseinander setzen konnte.

Er wusste, dass ihm das am meisten lag. Die Resignation und Müdigkeit, die ihm noch am Morgen zu schaffen gemacht hatten, waren wie weggeblasen.

Peter Larsson drehte sich um und starrte auf den Transporter, der noch immer dort stand.

»Ich fasse es nicht, dass er ihnen entkommen ist«, meinte er kopfschüttelnd.

»Das ist meine Schuld«, meinte Magnusson und verzog sein Gesicht. »Nichts hat darauf hingedeutet, dass Fluchtgefahr besteht. Aber ich hätte trotzdem damit rechnen müssen. Diesen Vorwurf muss ich mir jetzt gefallen lassen. Das hätte besser organisiert werden müssen.«

Er trat ein paar Schritte beiseite und zog sein Handy aus der Tasche.

»Katja Walter«, erklärte er. »Ich habe versucht, sie zu erreichen. Die Sache ist heikel, aber ich finde, dass wir es ihr schuldig sind, sie zu informieren.«

»Du glaubst, dass sie in Gefahr schwebt?«

Magnusson schüttelte den Kopf.

»Eigentlich nicht. Aber schließlich hatte ich auch nicht erwartet, dass Lindberg einen Kollegen zu Boden treten und türmen würde. Er wird wohl ahnen, dass sie die erwähnte Zeugin ist. Deswegen finde ich, dass sie Anspruch darauf hat, über den Vorfall informiert zu werden.«

Peter Larsson sah ihn eine Weile an.

»Wieso ist er deiner Meinung nach abgehauen?«

Magnusson hob ratlos die Hände.

»Darauf weiß ich keine Antwort. Genauso wenig wie du. Was nicht unbedingt für ihn spricht.«

 

Es musste etwas geschehen sein. Das Auto stand schon seit einer Stunde dort. Die Bullen. Sie konnte es förmlich riechen.

Li trat vom Fenster zurück, ließ sich auf das Sofa sinken und kaute an ihren Fingernägeln. Was wollten die hier? Wieso saßen die da unten und observierten sie? Wollten sie sie einschüchtern? Sie schikanieren? Sie wusste nicht, was sie im Schilde führten, hatte aber keinesfalls die Absicht, noch einmal mit ihnen zu sprechen. Beim letzten Mal, als sie sie über den Einbruch ausgefragt und ihr die Worte im Mund umgedreht hatten, bis sie selbst nicht mehr gewusst hatte, was sie gesagt hatte, hatte sie sich entschieden. Denen würde sie nichts mehr sagen! Sie wusste genau, was sie über sie dachten, das war ihnen anzusehen gewesen. Diese Fixerhuren logen alle, sobald sie den Mund aufmachten! Man kam ihnen lieber nicht zu nahe, schließlich konnte man sich anstecken …

Sie stand auf und ging zum Telefon. Sie musste Mama erreichen. Sonst fiel ihr niemand ein. Dann besann sie sich eines Besseren. Vielleicht hörten die ihr Telefon ab? Einen Augenblick lang blieb sie unentschlossen stehen, dann zuckte sie mit den Schultern. Was spielte das noch für eine Rolle? Was immer sie auch sagte, es konnte ohnehin nicht schlimmer werden. Sie wählte, aber es hob niemand ab. Wo war sie bloß?

Gestern hatte sie wieder vor ihrer Wohnung gestanden. Sie hatte eine halbe Ewigkeit geklingelt, aber niemand hatte geöffnet. Dann hatte sie versucht, durch den Briefkastenschlitz zu schauen, jedoch nur die Post sehen können. Reklame.

Außerdem Mamas abgelatschte Joggingschuhe. Sie standen mitten in der Diele. Aus der Wohnung war kein Laut gedrungen, und es hatte sehr muffig gerochen. Ob sie wohl da drinlag? Ob ihr etwas zugestoßen war?

Rasch hatte sie den Kopf zurückgezogen, nur weg hier. In dieser Hinsicht hatte sie schon genug gesehen. Alte Freunde, die tage- und wochenlang dagelegen hatten. Mit heruntergeklappter Kinnlade, stumpfen, toten Augen. Und dann die Gesichtsfarbe.

Diese furchtbare Farbe! Diese Flecken …

Sie legte den Hörer zurück und starrte ins Leere. Dann schüttelte sie den Kopf. Nein. Mama nicht. Das konnte nicht sein. Aber wo steckte sie dann? Warum hätte sie ausgerechnet jetzt wegfahren sollen?

Sie dachte an Bella, dem sie im Einkaufszentrum begegnet war. »Mama? Die hat Urlaub genommen«, hatte er grinsend gesagt. »Sie fand, sie bräuchte eine Luftveränderung.« Sie hatte ihn angestarrt. »Seit wann seid ihr so verdammt intim?« Bella hatte nur mit den Schultern gezuckt und dann gefragt: »Hast du was von Bosse gehört? Weißt du, ob er bald rauskommt? Oder wollen die ihn weiter festhalten?« Wütend hatte sie erwidert:

»Wieso sollten die ihn festhalten, verdammt nochmal? Er hat nichts verbrochen!«

Bella hatte genickt. »Ja, ja, ist schon gut«, hatte er besänftigend erwidert. »Das versteht sich. Man kann nur hoffen, dass das auch reicht …« Dann war er einen Schritt näher gekommen. »Du weißt schon, falls du was brauchst …«

Aber sie war rasch zurückgewichen. »Was sollte ich von dir schon brauchen?«, hatte sie geantwortet und ihn fixiert, bis er ihrem Blick ausgewichen war.

Sie schüttelte sich. Es war ihr immer unangenehm, an ihn zu denken, obwohl er ihr nie etwas getan hatte. Sie konnte sich das auch nicht recht erklären. Sie konnte ihn eben einfach nicht ausstehen. Schon allein seine verdammten Fischaugen …

Sie zuckte zusammen, als es an der Tür klopfte. Ihr wurde eiskalt, und sie stand wie versteinert da. Dann spürte sie, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss, ihr Herz begann zu rasen, und sie lief in die Diele.