Er befand sich jetzt einige Dutzend Kilometer nördlich von Sandviken. Die Landschaft wurde hügeliger, die Straße schmaler. Sie wies alte, nur notdürftig reparierte Frostschäden auf, die die Stoßdämpfer an ihre Grenzen brachten. Er sah sich genötigt, noch langsamer zu fahren. Die Abstände zwischen den Häusern waren sehr groß. Hundezwinger, in denen Jämtländische Hirten- oder Jagdhunde dem vorbeifahrenden Auto aufgeregt hinterherbellten. Menschen waren keine zu sehen.

Auf einem Hügelkamm hielt er an, nahm den Straßenatlas vom Beifahrersitz und blätterte, bis er Rönnåsen gefunden hatte.

Winzige Quadrate, als Symbole für verstreute Bebauung. Das konnte alles bedeuten, ein paar Häuser oder ein kleinerer Ort.

Rönnåsen lag sehr abgeschieden, war aber in ein unregelmäßiges Netz von Forstwegen eingebunden. Für jemanden, der die Gegend kannte, musste es eine Vielzahl an Möglichkeiten geben, dorthin zu gelangen und auch wieder von dort wegzukommen. Ungesehen noch dazu.

Das Wohnhaus war relativ neu. In etwa vierzig Metern Entfernung lag ein halb verfallenes Holzhaus, wahrscheinlich der alte Hof. Daneben der Stall, der nur noch als Werkstatt und Garage zu dienen schien. Karosserieteile, Getriebe, ein paar rostige Motorblöcke lehnten an der Wand.

Nielsen fuhr auf den Hofplatz und stieg aus. Als er auf das Haus zuging, hörte er, wie plötzlich im Stall ein Motor aufheulte. Er ging quer über den Hofplatz auf das halb offene Tor an der Schmalseite des Gebäudes zu. Ein Mann auf einem Moped hob den Kopf und sah ihn an. Er ließ den Motor noch ein paarmal aufheulen, horchte, nahm die Hand vom Gas, drehte den Zündschlüssel herum und richtete sich auf.

»Na dann. Genug gespielt.«

Er wischte sich die Hände an den Hosen ab.

»Gehört dem Großen«, sagte er erklärend. »Er ist jetzt alt genug. Ab und zu muss ich ihm beim Schrauben helfen.«

Nielsen schaute sich um. Kompressor, ein paar Schweißgeräte.

Gasflaschen. Ein kleinerer Kran. An den Wänden Werkzeuge und Werkzeugschränke.

»Und nicht nur ihm, oder?«, sagte er. »Sie scheinen nicht mehr viel Platz für Kühe zu haben.«

Der andere lachte.

»Nein. Das ist schon eine Weile her. Mein Vater hatte noch Milchkühe. Ich habe ein paar Rinder auf der Weide. Das ist alles.«

»Und dann noch diese Werkstatt«, meinte Nielsen und nickte Richtung Stallgebäude. »Viel zu tun?«

»Wieso?«, fragte der Mann und warf Nielsen einen forschenden Blick zu.

Dieser schüttelte den Kopf.

»Ich komme nicht vom Finanzamt, falls Sie das glauben.«

Der Mann schwang sich vom Moped und schob es an die Seite. Dann trat er ins Freie, lehnte sich an die Bretterwand und zündete sich eine Zigarette an.

»Spielt doch keine Rolle, wo Sie herkommen.«

»Sind Sie Göran Nordin?«, fragte Nielsen.

Der Mann nickte.

»Sie wissen, wie ich heiße. Also haben Sie doch einen Grund für Ihren Besuch?«

»Ich würde Sie gern ein paar Sachen fragen. Über Ihren Nachbarn. Über Haglund.«

Der andere betrachtete Nielsen einen Augenblick lang eingehend. Dann pfiff er leise.

»Jaja, das hätte mir gleich klar sein müssen. Von einem der Boulevardblätter, nicht wahr?«

Er ließ die Zigarette fallen, trat sie aus und wandte sich wieder an Nielsen.

»Dann informiere ich Sie lieber gleich darüber, dass ich nichts zu sagen habe, und zwar nicht das Geringste!«

»Sie wissen doch noch gar nicht, was ich Sie fragen wollte«, meinte Nielsen.

Göran Nordin zuckte die Achseln.

»Das spielt auch keine Rolle. Ich weiß, was ich antworten wollte. Genau das, was ich eben gesagt habe.«

Nielsen nickte nachdenklich.

»Sie wollen da nicht mit reingezogen werden?«

Der andere wirkte verärgert.

»Wundert es Sie etwa? Ich will nicht, dass meine Familie und ich mit einer Axt im Schädel aufwachen, bloß weil jemand auf die Idee kommt, wir könnten was wissen.«

»Das klingt etwas übertrieben, finde ich«, sagte Nielsen.

»Finden Sie? Nach allem, was passiert ist?«

»Schließlich sitzt bereits jemand in Untersuchungshaft.«

»Und? Wie sicher kann man sich da sein? Dass es nur einer war? Bei so jemandem wie Haglund kommen Dutzende in Frage!«

»Kannten Sie ihn gut?«

Göran Nordin spuckte aus.

»Ich kannte ihn überhaupt nicht. Aber ich wusste, was von ihm zu halten war …«

Er verstummte jäh und machte eine ausholende Handbewegung.

»Hören Sie, ich muss noch einiges erledigen. Ich finde, wir sollten jetzt Schluss machen.«

Er ging auf das Wohnhaus zu.

»Ich muss Sie in dem Artikel ja nicht erwähnen«, rief Nielsen ihm hinterher. »Das könnte für Sie ganz einträglich sein.«

Der andere blieb stehen und drehte sich um.

»Für welche Zeitung schreiben Sie?«, fragte er.

»Aftonbladet«, log Nielsen rasch. »Wir dachten, dass wir noch mal was über den Fall bringen sollten …«

»Wie viel?«, unterbrach ihn Nordin. »Fünf? Zehn?«

Nielsen lachte, schüttelte den Kopf.

»Da haben Sie wohl was missverstanden. Niemand bekommt solche Beträge. Sie müssen auf dem Teppich bleiben.«

Er streckte zwei Finger in die Luft. Göran Nordin schien eine Weile nachzudenken und nickte dann.

»Ich geb Ihnen zehn Minuten«, sagte er, »dann will ich Sie nicht mehr sehen.«

Nielsen nickte.

»Haglund war nicht gerade ein angenehmer Nachbar, wenn ich Sie recht verstanden habe?«

Göran Nordin kniff die Augen zusammen.

»Das erste Jahr ging noch. Fünfundneunzig sind sie hergezogen. Da hat man sie fast überhaupt nicht gesehen. Nur, wenn sie vorbeifuhren. Ich habe nichts dagegen einzuwenden, wenn jemand seine Ruhe haben will. Wenn es so geblieben wäre, hätte ich nicht geklagt. Aber bereits im zweiten Jahr ging das Elend los. Da sperrte er bei sich drüben den Weg, weil er keinen Durchgangsverkehr haben wollte. Der störe ihn.«

Er sah Nielsen an.

»Waren Sie noch nicht dort oben, wo sie gewohnt haben, wo es passiert ist? Der Weg führt an Haglunds Haus vorbei noch ein paar Kilometer weiter. An seinem Ende liegen ein paar Sommerhäuser. Die Parzellen haben früher mal zu unserem Besitz gehört. Mein Vater hat die Grundstücke Anfang der sechziger Jahre verkauft. Der Wald war dort ohnehin nichts wert. Erst waren es nur zwei, dann sind es mehr geworden.

Heute stehen dort neun Sommerhäuser, um genau zu sein. Ich kümmere mich um die Häuser, wenn die Eigentümer nicht da sind. Ich bin auch für die Instandhaltung des Weges verantwortlich. Dafür nehme ich ein paar Kronen, aber das ist es den meisten auch wert.«

Er machte eine kurze Pause.

»Haglund hatte ein paar große Felsblöcke auf den Weg geschleift und ein Schild aufgestellt, der Weg sei gesperrt. Einer der Sommerhausbesitzer kam zu mir und erzählte, Haglund hätte ihm Prügel angedroht, als er versucht habe, mit ihm zu reden.

Wenn sie so verdammt interessiert daran seien, raus in die Natur zu kommen, dann könnten sie auch den Forstweg benutzen, hatte er gesagt. Das ist ein Umweg von knapp vierzig Kilometern in Richtung Svartnäs. Mehrere Abschnitte des Forstwegs sind kaum befahrbar. Als ich das hörte, nahm ich den Frontlader und schob die Steine vom Weg. Ich sah, wie er auf die Außentreppe trat und eine Weile zu mir herüberstarrte. Dann verschwand er wieder nach drinnen. Als ich das nächste Mal wieder aufsah, stand er nur ein paar Meter von mir entfernt und zielte auf mich mit einer Schrotflinte! Ich zog sofort den Kopf ein, riss das Lenkrad herum, ließ die Kupplung kommen, und der Traktor machte einen Satz direkt auf ihn zu. Er konnte sich gerade noch zur Seite werfen, in den Graben. Ich wendete und fuhr, so schnell ich konnte, davon. Ich kann mich noch dran erinnern, wie ich am ganzen Körper zitterte. So was hatte ich noch nie erlebt. Klar, dass man da eine wahnsinnige Angst kriegt. Hätte ich Zeit gehabt nachzudenken, hätte ich mir wahrscheinlich in die Hosen geschissen!«

»Da wussten Sie noch nicht, wer er war?«, fragte Nielsen.

»Nein. Keiner hatte sich die Mühe gemacht, uns davon in Kenntnis zu setzen. Aber ich ahnte natürlich, dass er kein gewöhnlicher Büroangestellter war. Schon allein die Tätowierungen. Man konnte kaum erkennen, ob er seine Ärmel hochgekrempelt hatte oder nicht. Aber wenn er sich nur wie ein Mensch benommen hätte, dann hätte es auch keine Probleme gegeben, und es wäre mir egal gewesen, was er vorher getrieben hat. Aber nach diesem Zwischenfall habe ich mich ans Telefon gehängt, um etwas über seine Vergangenheit in Erfahrung zu bringen. Da erfuhr ich dann, dass er nicht nur mal im Konsum etwas mitgehen hat lassen. Ich kann mich nicht entsinnen, vorher schon mal von ihm gehört zu haben, aber damals war ich kaum erwachsen. Außerdem verbrachte er den größten Teil der siebziger Jahre im Knast. Wie auch immer, mir war klar, dass das nicht das Ende, sondern erst der Anfang war.«

Nordin verstummte.

»Und dann?«, fragte Nielsen.

»Ich wusste, dass er montags immer früh hier vorbeifuhr. Ich postierte mich mit dem Traktor unten am Weg. Als er kam, fuhr ich vor. Erst blieb er im Auto sitzen und starrte mich an. Aber dann stieg er aus und stellte sich mitten auf den Weg. Er war ein Riese, müssen Sie wissen. Ein Glück, dass ich auf dem Traktor saß, sonst hätte ich mir vermutlich den Hals verrenkt. ›Ich mag keinen Streit‹, sagte ich. ›Aber wenn das so weitergeht, dann werden wir zusehen, dass Sie hier nicht alt werden.‹«

Nielsen hob die Brauen.

»Sie waren also nicht allein, als Sie mit ihm sprachen?«

»Nein. Das schien mir, nach dem, was vorgefallen war, nicht ratsam.«

Göran Nordin musterte Nielsen mit prüfendem Blick, ehe er fortfuhr:

»Es gibt nur vier Familien, die das ganze Jahr über hier wohnen. An diesem Weg wohnen nur Carina und ich. Aber weiter unten gibt es noch drei Höfe. Ich hatte dort angerufen.

Zwei von ihnen, Lasse Resare und Simonsson waren an dem Morgen hergekommen. Ich hatte also Rückendeckung, könnte man sagen. ›Da haben Sie ja eine ganze Armee

zusammengetrommelt‹, sagte Haglund und lachte. ›Glauben Sie, dass ich gefährlich bin?‹ ›Sah gestern ganz so aus‹, erwiderte ich. Da lachte er von neuem. ›Ach das? Verstehen Sie denn keinen Spaß? Die Flinte war nicht mal geladen.‹ ›Aber das hier ist kein Spaß‹, sagte ich. ›Sie können es sich aussuchen.‹ Er sah uns eine Weile an. ›Dann vergessen wir die Sache eben und leben in Zukunft wie gute Nachbarn. Kein Problem‹, sagte er grinsend. ›Das will ich hoffen‹, erwiderte ich. Dann wollte ich mit dem Traktor zurücksetzen, hatte aber Mühe, ihn anzulassen.

Da kam Haglund und klopfte an die Windschutzscheibe. ›Keine Eile‹, sagte er. ›Ich kann warten. Darin habe ich Übung.‹ Dann ging er zurück und setzte sich in sein Auto.«

Er verstummte und sah Nielsen an.

»Haben Sie nie erwogen, die Polizei zu verständigen«, meinte dieser nach einem Augenblick, »statt die Bürgerwehr zu mobilisieren?«

Göran Nordin verzog verächtlich den Mund.

»Doch, etwa dreieinhalb Sekunden lang.«

Er schüttelte den Kopf.

»Wir hatten hier auch mal eine Bande, die zogen in ein paar abbruchreife Häuser hinter Åmot. Es war das alte Lied.

Fahrräder, Rasenmäher, Autos und was weiß ich nicht alles verschwanden. Nachts sind sie mit hundertvierzig über die Nebenstraßen gebrettert und waren so zugedröhnt, dass sie nicht mal aufrecht stehen konnten, wenn sie wirklich mal angehalten wurden. Außerdem noch Erpressungen, Körperverletzungen, Einbrüche und Drogenhandel. Und vieles mehr. Ich weiß nicht, wie oft die Polizei anrückte. Trotzdem wohnen die immer noch da, soweit ich weiß. Stattdessen ziehen die normalen Leute weg.

Nein, es schien mir nicht sonderlich sinnvoll, mit der Polizei zu reden.«

Nielsen nickte nachdenklich.

»Und was geschah?«

Der andere seufzte.

»Sie meinen, abgesehen davon, dass mir das ein Magengeschwür beschert hat?«

Dann breitete er resigniert die Arme aus.

»Ja, weiß Gott, er hat nichts vergessen. Aber es war nie was, was man ihm hätte nachweisen können, obwohl mir klar war, wer dahintersteckte. Mit der Post kam massenhaft Müll, den jemand in meinem Namen bestellt hatte. Pornofilme, unbeschreiblich, mit Kindern! Ich habe wirklich keine Lust, darüber zu sprechen … Anonyme Anrufe. In einem Frühjahr verschwand ein Mastkalb, und wir fanden den Schlachtplatz, aber sonst nichts. Ich blieb mit dem Traktor draußen im Wald stecken und ließ ihn über Nacht stehen, und jemand schüttete mir Zucker in den Tank. Nach hundert Metern war der Motor kaputt. Das kostete mich mehrere zehntausend Kronen. Aber wie gesagt, nichts, womit man bei Gericht durchgekommen wäre, keine Beweise dafür, dass es Haglund gewesen war. Das ging phasenweise so. Manchmal vergingen mehrere Monate, ohne dass etwas passierte. Als wollte er einen glauben machen, er sei der Sache nun überdrüssig.«

»Sie haben keinen weiteren Versuch unternommen, ihm ins Gewissen zu reden, Ihre Nachbarn und Sie?«

Göran Nordin sah müde aus, als er antwortete.

»Das war ja nur leeres Geschwätz. Klar haben wir versucht ihn einzuschüchtern, aber dazu hatten wir schließlich kaum die Möglichkeiten. Weder Resare noch Simonsson sind Schlägertypen und ich auch nicht. Die anderen beiden betraf es ja auch nicht so wie mich. Nein, Carina und ich haben ernsthaft überlegt, hier wegzuziehen, die Kinder mitzunehmen, und irgendwo von vorn anzufangen. Wie das auch immer hätte gehen sollen. Schließlich sind wir hier verwurzelt. Und der Hof lässt sich auch nicht so ohne weiteres verkaufen.«

Er sah Nielsen wieder an.

»Dann war es auf einmal vorbei, als hätte jemand einen Wasserhahn abgedreht. Er bekam Parkinson. Vor zwei oder drei Jahren. Offenbar war er schon eine ganze Weile krank gewesen, aber dann ging es plötzlich rasch bergab. Er durfte nicht mehr Auto fahren und konnte sein Haus kaum noch verlassen. Er zitterte so stark, dass er nicht einmal mehr ohne Hilfe essen konnte. Das weiß ich, weil Carina in der mobilen Altenpflege arbeitet. Sie war allerdings nie bei ihm, sie hat sich immer strikt geweigert, wenn man sie dorthin schicken wollte. Schließlich wäre es ja so praktisch gewesen, fanden die, weil er ja unser unmittelbarer Nachbar war. ›Dann kündige ich ab sofort‹, sagte sie. Also mussten Kollegen hinfahren, aber sie erfuhr natürlich, wie es um ihn stand. Vermutlich verstößt es gegen die Schweigepflicht, aber das ist mir egal. Außerdem muss ich zugeben, dass es mich ungemein erleichterte, als ich davon erfuhr. Es passiert nicht oft, dass man jubeln möchte, wenn man hört, dass jemand an einer unheilbaren Krankheit leidet, aber in diesem Fall war es wirklich so.«

Nielsen überlegte.

»Er war also nicht sonderlich beliebt. Vielleicht war es geradezu eine Erlösung, dass er ermordet wurde?«

Göran Nordin wurde misstrauisch.

»Was wollen Sie damit sagen?«

Nielsen zuckte mit den Schultern.

»Ich meine nur, dass er viele Feinde zu haben schien…«

»Hören Sie«, unterbrach ihn der andere. »Mir ist schon klar, worauf Sie hinauswollen. Aber versuchen Sie jetzt bloß nicht, mich da reinzuziehen! Schließlich hat man bereits einen Irren für die Tat festgenommen, das haben Sie doch selbst gesagt?«

Er holte Luft.

»Und Ihre zehn Minuten, die sind auch schon längst um.«

Nielsen schwieg einen Augenblick und überlegte, ob er noch einen weiteren Versuch unternehmen sollte. Aber dann nickte er nur kurz und ging auf sein Auto zu.

»He, Sie!«, hörte er den anderen rufen. »Was ist mit den Zweitausend?«

Nielsen öffnete die Fahrertür und setzte sich ans Steuer.

»Ich kann mich nicht erinnern, dass ich irgendeine Zahl genannt hätte«, erwiderte er.

Nordin machte ein paar Schritte auf das Auto zu.

»Wie war noch gleich Ihr Name?«

»Habe ich Ihnen nicht verraten.«

Nielsen schloss die Tür und ließ den Motor an.

 

Magnusson stellte sich Reyes in den Weg.

»Ich muss mit dir reden. Über Lindberg.«

»Was Besonderes?«, fragte Reyes. »Ich dachte, ihr hättet alles bekommen?«

»Ich würde aber gerne von dir persönlich wissen«, sagte Magnusson, »was du darüber denkst. Vielleicht hilft mir das weiter.«

»Ach, nee? Ich dachte, man hält mich für eine eitle Primadonna?«

Magnusson lachte betreten. »Soll ich das gesagt haben?«

Dass Reyes sich gerne Komplimente machen ließ und außerdem leicht überempfindlich reagierte, war eine bekannte Tatsache. Er wusste, dass er gelegentlich darauf hingewiesen hatte, was die Zusammenarbeit zwischen ihnen nicht unbedingt erleichterte.

»Ja, man sagt viel, wenn der Tag lang ist«, fuhr er beschwichtigend fort, »aber ich weiß ja, dass du dich auskennst.

Und in dieser Angelegenheit hätte ich gerne deine persönliche Meinung zu ein paar Dingen gehört.«

Reyes presste die Lippen zusammen, und es war ihm nicht anzusehen, ob er besänftigt war.

»Was willst du wissen?«, fragte er.

»Ihr habt also bei Lindberg zu Hause nichts gefunden?«, fragte Magnusson, »nichts, was mit den Morden zusammenhängen könnte?«

Reyes schüttelte den Kopf.

»Nichts. Wir warten zwar noch auf ein paar Ergebnisse, aber ich habe keine große Hoffnung.«

»Ja, offenbar hatte er gründlich aufgeräumt«, meinte Magnusson.

Reyes ließ seine graugrünen Augen auf Magnusson ruhen.

»Ich weiß nicht, ob ich das behaupten würde. Wenn es etwas von Interesse gegeben hätte, hätten wir das vermutlich gefunden.«

Magnusson schnaubte.

»Wenn es nicht schon verschwunden war.«

Reyes verzog das Gesicht.

»Du denkst an den Einbruch? Wonach ich gesucht habe, hätte nicht so leicht verschwinden können. Du weißt schon, mikroskopisches Material. Irgendwas hätte sich da finden lassen müssen.«

»Was sagst du zu dem Einbruch?«

»Die Tür war aufgebrochen. Rein technisch war es also ein Einbruch. Und in der Wohnung … Ein paar Schubladen herausgezogen. Offenbar hatte auch jemand die Kleiderschränke durchsucht. Aber richtige Unordnung herrschte nicht. Der Eindringling nahm, was er haben wollte, und verschwand.

Vielleicht wurde er auch überrascht.«

»Wirkte das Ganze professionell?«

»So halbwegs.«

Reyes dachte nach.

»Die Wohnungstür - da braucht man vielleicht gewisse Vorkenntnisse, um das sauber hinzukriegen. Aber ein gutes Brecheisen, rohe Gewalt und etwas Glück können auch ausreichen. Obwohl das Vorgehen in der Wohnung darauf hindeuten könnte, dass es jemand war, der wusste, was er tat.

Nichts Überflüssiges und keine Fingerabdrücke.«

Er hob ratlos die Hände.

»Aber das könnte auch ein Zufall sein. Schwer zu sagen.«

Magnusson seufzte.

»Und stimmt es, dass der Abdruck aus Rönnåsen nichts ergeben hat?«

Reyes schüttelte den Kopf.

»Das war kein guter Fingerabdruck. Unvollständig. Und undeutlich. Die Blutspuren am Türrahmen stammten weder von Lindberg noch von einem der Opfer.«

Magnusson starrte ins Leere.

»Er muss also jemanden dabeigehabt haben.«

»Falls er überhaupt dort war«, erwiderte Reyes.

Magnusson warf ihm einen irritierten Blick zu.

»Er war dort.«

Reyes zog ungläubig die Brauen hoch.

»Das ist deine Ansicht. Ich habe jedenfalls nichts gefunden, womit sich eindeutig beweisen ließe, dass er sich in dem Haus aufhielt. Ich glaube allerdings auch, dass es mehrere Täter waren, obwohl es auch da nichts Konkretes gibt. Die gesamte Vorgehensweise deutet aber darauf hin.«

Er schwieg einen Augenblick.

»Wir sollten uns vergleichbare Fälle der letzten Jahre anschauen.«

»Es gibt nichts Vergleichbares«, erwiderte Magnusson schroff.

»Doch, doch«, widersprach Reyes, »auch wenn es nicht immer so übel ausgegangen ist. Überfälle auf alte Leute. Einbrüche.

Versuchter Raub…«

Magnusson sah ihn durchdringend an.

»Ich nehme an, dass du bereits losgelegt hast?«

Reyes hob die Hände.

»Ich habe nur ein paar Nachforschungen angestellt. Hast du was dagegen?«

Magnusson antwortete nicht. Er massierte sein bleiches Gesicht und merkte plötzlich, wie müde er war. Er hätte auf der Stelle einschlafen können, wenn er die Augen zugemacht hätte.

Blinzelnd musterte er Reyes. Wie alt mochte er sein?

Zweiunddreißig, dreiunddreißig? Ungefähr wie Larsson. Wie war er selbst in diesem Alter gewesen? Er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern. Er war jedenfalls keiner gewesen, der sich hervorgetan hatte. Keiner, der auffiel. Er hatte getan, was man von ihm erwartete, aber auch nicht mehr.

»Wie viele hast du dir angeschaut?«, fragte er.

»Etwa zwanzig.«

»Was Interessantes dabei?«

»Ein paar davon sollte man sich näher ansehen.«

Magnusson nickte.

»Dann tu es. Vielleicht ergibt sich ja ein Muster oder eine andere Übereinstimmung. Na, du weißt das ja genauso gut wie ich.«

Er schickte dem Jüngeren ein schiefes Lächeln.

»Wenn nicht sogar besser, nicht wahr?«