Schon wieder hatte sie ihren Termin beim Arbeitsamt platzen lassen. Sie hatte sich einfach nicht aufraffen können. Jetzt schon zum zweiten Mal. Morgen musste sie zum Sozialamt. Erklären.

Auch dazu fehlte ihr eigentlich die Kraft, aber was blieb ihr schon übrig. Sie musste die Leute davon überzeugen, dass es ihr nicht scheißegal war.

Und dann die Miete.

Bei diesem Gedanken wurde ihr eiskalt. Sie konnte es einfach nicht begreifen. Sie wusste, dass sie das Geld gehabt hatte. Sie musste ihnen auch noch verklickern, warum sie nicht hatte zahlen können.

Sie presste ihre Fäuste fest an die Schläfen. Sie wusste, dass sie das Geld gehabt hatte! Wie zum Teufel hatte sie sich nur derart verrechnen können?

Sie ging vom Zentrum Richtung Vikstavägen. Zum dritten Mal an diesem Tag. Sie machte Umwege, sobald sie ein bekanntes Gesicht sah. Sie wollte sich mit niemandem unterhalten, sondern nur ziellos herumlaufen. Dann musste sie nicht mehr daran denken. Eine Weile lang zumindest.

Plötzlich schossen ihr die Tränen in die Augen. Das würde noch furchtbar enden. Alles. Das wusste sie. Das konnte einfach nicht gut gehen. Nicht bei ihr. Immer wenn sie zwei Stufen nach oben stieg, fiel sie vier wieder hinunter. Sie war glücklich, und dafür musste sie jetzt bezahlen!

Sie konnte nicht nach Hause gehen. Sie hatte einfach nicht die Kraft dazu. Woanders konnte sie auch nicht sein. Auch nicht bei Mama.

Trotzdem betrat sie das Haus Nummer 53 und ging wie in Trance die Treppe hinauf.

Katja Walter sagte nicht viel, saß entspannt zurückgelehnt auf dem Sofa und hörte zu. Sie zündete sich eine Zigarette an, inhalierte tief und blies den Rauch in Lis Richtung.

»Du kriegst es zurück, das weißt du«, sagte Li und rutschte nervös hin und her. »Ehrenwort.«

»Wie kannst du nur so verdammt dumm sein?«, herrschte die Ältere sie an.

Li starrte verbissen auf den Boden.

»Ich dachte, ich hätte es. Dann kam auf einmal diese ganze andere Scheiße … Ich weiß nicht, vielleicht habe ich mich verrechnet …«

Katja Walter zog wieder an ihrer Zigarette.

»Trotzdem ist es total bescheuert. Du weißt doch, wie pingelig die sind. Auch wenn du jetzt noch zahlst, setzen die dich trotzdem vor die Tür. Die können dich rauswerfen, wenn sie dein Geld nur eine Stunde zu spät bekommen haben, wenn ihnen danach ist.«

Sie setzte sich auf.

»Außerdem habe ich nicht mal genug für mich selbst.«

Li stand auf und ging rasch auf die Tür zu.

»Lauf nicht weg! Ich bin noch nicht fertig. Es gibt da noch ein paar Typen, die mir eine Hand voll Öre schulden. Ich muss mich nur auf die Socken machen und die Kohle einfordern. Du musst dich bis heute Abend gedulden. Geht das?«

Li hielt inne.

»Mensch, Mama. Ich weiß nicht, was ich sagen soll …«

Sie ging zum Sofa, streckte die Hand aus und berührte ihre Schulter.

»Du kriegst es zurück. Jede Öre. Verdammt, das verspreche ich hoch und heilig!«

Die ältere Frau zuckte bei der Berührung zusammen.

»Na, das will ich mal hoffen«, sagte sie nach einer kurzen Pause.

Dann stand sie auf, trat ans Fenster und schaute hinaus.

»Waren sie wegen Bosse wieder hinter dir her?«

Li nickte schweigend.

»Gestern. Sie waren zu zweit. Haben mich wegen diesem verdammten Einbruch in der Wohnung ausgefragt. Fast eine Stunde hat das gedauert. Pfui Teufel. Die haben so getan, als würden sie mich verdächtigen!«

»Dann kommen sie wohl auch bald zu mir, vermute ich«, murrte Katja Walter heiser.

»Dich habe ich mit keinem Wort erwähnt«, entgegnete die junge Frau rasch.

»Das war auch gar nicht nötig. Schließlich haben sie bereits die Witterung aufgenommen.«

Katja Walter starrte vor sich hin.

»Sie haben nicht mehr nach diesen Feiertagen und diesem ganzen Zeug gefragt?«

»Doch, danach auch.«

»Und was hast du gesagt?«

Li schluckte.

»Dass ich mich möglicherweise geirrt und die Tage verwechselt hätte.«

»Gut so«, erwiderte die andere, »ein bisschen Grips hast du wohl doch noch im Schädel.«

Li rang die Hände.

»Bosse war’s nicht! Das weißt du ganz genau!«

Katja Walter zuckte mit den Schultern.

»Dann braucht er sich ja auch keine Sorgen zu machen. Und du auch nicht, oder?«

 

Magnusson betrachtete Bo Lindberg aufmerksam. Der Befragte wurde immer ärgerlicher, und Magnusson beschloss, noch einmal zu dem Thema zurückzukehren.

»Sie haben also nicht die geringste Ahnung, was hinter diesem Einbruch stecken könnte, Bosse?«

Der Angesprochene konnte sich nur mit Mühe beherrschen.

»Mir kommt es so vor, als hätte ich diese Frage gerade eben schon beantwortet.«

»Sie behaupten also, dass Sie keine Ahnung haben«, stellte Magnusson fest. »Und es ist nichts verschwunden, sagen Sie?«

»Sie kennen die Antwort. Soweit ich sehen konnte, nichts.

Aber Sie haben mich ja auch nur ein paar Minuten herumgeführt. Ich hatte keine Gelegenheit, mir einen genauen Überblick zu verschaffen, falls Sie das meinen.«

Magnusson verzog den Mund.

»Ja, das dürfte doch nicht so schwer sein. Sie scheinen nicht sonderlich viel zu besitzen. Aber Ihnen ist nicht aufgefallen, ob etwas Wertvolles verschwunden ist?«

»Es gab nichts Wertvolles«, sagte Bosse Lindberg. »Aber ich habe auch nicht gesehen, dass was Wertloses gefehlt hat.«

»Seltsamer Einbruch, finden Sie nicht auch?«, fuhr Magnusson fort.

»Spielt es irgendeine Rolle, was ich finde?«

Magnusson riss die Augen auf.

»Natürlich ist das wichtig, Bosse. Sie glauben doch nicht, dass ich Sie schikaniere?«

»Sie versuchen anzudeuten, dass ich irgendwie in den Einbruch in meine Wohnung verwickelt bin. Und dass irgendwas von dort verschwunden ist. Etwas, was Sie gerne in Ihren Händen hätten. Das glaube ich.«

»Und das ist nicht der Fall?«

Bosse Lindberg seufzte leise.

»Ist das nicht wieder dieselbe Frage? Und zum wievielten Mal? Noch einmal, nein. Und es ist sinnlos, weiterhin diese Frage zu stellen, oder nicht? Wenn das wirklich der Fall wäre, würde ich Ihnen das doch wohl kaum auf die Nase binden?«

»Sagen Sie das nicht.«

Magnusson schmunzelte jovial.

»Viele haben plötzlich das Bedürfnis, endlich die Wahrheit zu sagen, wenn man die Frage nur oft genug stellt.«

Er lehnte sich vor und stützte sich mit den Ellbogen auf den Tisch.

»Außerdem ist es recht schwer, ausdauernd überzeugend zu lügen. Irgendwann verrät man sich doch.«

Lindberg erwiderte seinen Blick. Dann schüttelte er den Kopf.

»Dieser Anwalt, der meinen Pflichtverteidiger spielen soll. Es wäre langsam Zeit, dass er hier auftaucht.«

Magnusson hob die Hände.

»Sie wissen doch, wie es mit den öffentlichen Finanzen aussieht. Leider kann er heute nicht kommen. Er hat zu viel zu tun. Aber beim nächsten Verhör könnten wir ihn wahrscheinlich hinzuziehen. Wenn wir ihn rechtzeitig verständigen.«

»Dann äußere ich mich bis dahin nicht mehr.«

Magnusson runzelte bedauernd die Stirn.

»Manchmal ist es nicht empfehlenswert zu schweigen.«

Er musterte sein Gegenüber.

»Ihre Verlobte kann sich offenbar nicht mehr so gut erinnern.

Aber das spielt keine größere Rolle. Schließlich waren wir uns ja recht einig darüber, dass ihre Aussage hauptsächlich als missverstandene Loyalität zu deuten sei, nicht wahr?«

Er wartete einen Augenblick.

»Aber es gibt noch einen anderen Zeugen. Jemand, der Sie gesehen hat, als Sie Freitagmorgen nach Hause gekommen sind.

Obwohl Sie vor unserem Eintreffen Ihre Wohnung nicht verlassen haben wollen. War das nicht so? Diese Person hat auch gesehen, wie Sie in der Nacht auf Sonntag zum Schuppen mit den Mülltonnen gegangen sind, um etwas zu entsorgen, das Sie nicht unbedingt im Haus haben wollten. Was sagen Sie dazu?«

Bosse Lindberg fixierte ihn einen Augenblick. Dann schüttelte er den Kopf. Jetzt wirkte er nicht mehr verärgert, sondern eher belustigt.

Magnusson beugte sich noch weiter vor.

»Sie sind mit einem Auto gekommen. Jemand hat Sie abgesetzt. Sie haben diese Sache also nicht allein durchgezogen.

Das haben wir auch nie geglaubt. Es ist unklug, die ganze Schuld auf sich zu nehmen, wenn das gar nicht zutrifft.

Vielleicht haben Sie nicht mal die Hauptrolle gespielt? Sondern wurden gegen Ihren Willen irgendwo reingezogen und hätten nie damit gerechnet, dass es so endet? Das Beste für Sie wäre doch, wenn Sie uns einfach alles erzählten.«

Bosse Lindberg lächelte plötzlich.

»Sie reden von Katja, stimmt’s? Katja Walter?«

Magnusson sah ihn mit ausdrucksloser Miene an.

»Wir haben einen Zeugen, der Sie am Freitag mit einer anderen Person nach Hause kommen sah. Wie gesagt, wäre es nicht das Beste, wenn Sie uns sagen, wer diese Person ist?«

Bosse Lindberg grinste und schüttelte wieder den Kopf.

»Sie haben nichts, nur ein verlogenes altes Weib. Der werden Sie doch wohl kaum glauben?«

Er verschränkte die Arme vor der Brust.

»Sie haben nichts«, wiederholte er. »Und ich sage Ihnen auch, warum … Magnusson … so heißen Sie doch, oder? Weil es nichts gibt. So einfach ist das. Es gibt nichts zu erzählen.«

Peter Larsson starrte nachdenklich auf einen Punkt an der Wand.

Magnusson betrachtete ihn.

»Und?«

Larsson schielte in seine Richtung.

»Es läuft nicht so gut, oder?«

Magnusson neigte den Kopf zur Seite.

»Ich weiß nicht. Es läuft gar nicht mal so schlecht, wir müssen nur methodisch vorgehen. Kein Grund zur Panik.«

»Ach nein?«

Peter Larsson atmete geräuschvoll aus.

»Wir müssen uns Haglunds Bekanntenkreis ansehen.

Vielleicht findet sich ja dort ein Motiv. Wir müssen in Erfahrung bringen, wer ihn in letzter Zeit besucht hat. Und zwar sofort.«

»In Ordnung«, erwiderte Magnusson, »machen wir. Aber wir müssen uns auch um Lindbergs Bekanntenkreis kümmern.

Vielleicht stoßen wir ja auf den Freund, der ihn gefahren hat.

Das ist nicht ausgeschlossen und liefert uns möglicherweise die fehlenden Puzzleteile.«

Peter Larsson schüttelte den Kopf.

»Wir sollten uns nicht so auf ihn festlegen. Wir müssen auch noch andere Möglichkeiten in Betracht ziehen.«

»Wir legen uns auch gar nicht fest. Und wir können uns weiträumig umsehen. Aber wir müssen ihn in jedem Fall im Auge behalten. Vorläufig jedenfalls. Was ihn betrifft, gibt es zu viele offene Fragen.«

»Es könnte aber auch sein, dass er nicht das Geringste damit zu tun hat und dass wir nur unsere Zeit verschwenden.«

Magnusson machte eine unwirsche Geste.

»Dann legen wir mal los! Schließlich wollen wir keine Zeit verschwenden.«

Er erhob sich, aber Peter Larsson blieb sitzen.

»Und die Theorien von Reyes?«, fragte er.

»Er darf da ruhig noch weiter herumstochern. Aber wir verlieren darüber kein Sterbenswort.«

»Glaubst du, das bringt etwas?«

»Das bezweifle ich, aber vielleicht hält es ihn ja bei Laune.

Und damit wäre allerhand gewonnen.«

Er wurde wieder ernst.

»Außerdem wüsste ich gerne, ob Lindberg in eines dieser Muster passen könnte, nach denen Reyes sucht.«

Der Jüngere holte rasch Luft:

»Ich dachte, wir sollten uns nicht festlegen. Das hast du doch gerade noch gesagt?«

Magnusson betrachtete ihn nachdenklich.

»Irgendwas stimmt nicht mit diesem Lindberg. Spürst du das nicht auch? Irgendwas an ihm ist nicht so, wie es sein sollte.

Fällt dir nicht auch auf, dass er glaubt, er könne mit uns Katz und Maus spielen und uns insgeheim auslachen?«

»Du übertreibst. Und siehst nur die Dinge, die du sehen willst.«

»Es wird sich ja herausstellen, ob ich mich irre«, entgegnete Magnusson schroff. »Und wenn ja, dann ist das mein Problem und nicht deins.«

Er öffnete die Tür. Peter Larsson erhob sich seufzend und folgte ihm.

»Hast du noch mal mit Henning gesprochen?«, fragte er.

»Du hoffst, das könnte mich eines Besseren belehren? Ich rede mit ihm, keine Sorge. Vielleicht erfahre ich dann noch etwas über Lindberg, und das wäre ja auch nicht verkehrt, oder?«

 

Sie saßen draußen auf der großen Terrasse. Die Straße schräg unter ihnen verschwand zur Hälfte hinter einem Birkenhain.

Nielsen schaute sich um. Ausnahmslos niedrige Häuser mit Eigentumswohnungen. Er überlegte einen Augenblick, wie teuer sie wohl sein mochten. Inzwischen kosteten sie wahrscheinlich ein Vermögen. Eine Summe, für die man sich auf dem Land ein kleineres Gut kaufen konnte. Oder zwei. Lasse Henning hatte ein gutes Geschäft gemacht. Genauer gesagt Gisela, die wahrscheinlich sowohl über den Geschäftssinn als auch über die notwendigen finanziellen Mittel verfügte. Lasses Vermögen war bei der Scheidung draufgegangen.

Aus südlicher Richtung war das leise Rauschen der E 4 zu hören. Er beugte sich vor. In einiger Entfernung konnte er zwischen Häusern und Grünflächen die Autobahnauffahrt ausmachen. Auf der anderen Seite lagen die Vororte Bredäng und Sätra. Die alten Jagdgründe seiner Kindheit, nachdem er als Zehnjähriger mit Janne und Kerstin dorthin gezogen war. Seit Jahren war er nicht mehr dort gewesen. Seit Jahrzehnten.

Obwohl Kerstin noch lange nach Jannes Tod, bis in die neunziger Jahre, in der alten Wohnung gewohnt hatte. Weshalb?

Er hatte es einfach nicht über sich gebracht. Zu viele ungeklärte Dinge, denen er sich nicht hatte stellen wollen, und für die er sich geschämt hatte. Ein Teufelskreis der Schuld, aus dem er sich nicht befreien konnte.

Er wandte den Blick ab und schüttelte den Kopf bei dem Gedanken, dass Lasse ausgerechnet hier gelandet war, wo er Teile seiner Kindheit verbracht hatte.

Lasse Henning kam mit einem Tablett heraus. Er schob eine Flasche Mineralwasser über den Tisch, ließ sich auf einen der Stühle sinken und öffnete eine Dose Bier.

»Auf das neue Leben, Johnny«, sagte er und deutete auf das Mineralwasser.

Nielsen hob die Schultern.

»Ich weiß nicht, ob es einen Grund zum Anstoßen gibt.

Weder, was das Neue, noch, was das Alte betrifft.«

Er goss sich dennoch Mineralwasser ein und hob das Glas.

»Du bist so verdammt heikel«, schnaubte Lasse Henning.

»Das warst du schon immer. Man soll nicht mit seinem Schicksal hadern. Lernst du das denn nie?«

Er nahm einen Schluck aus seiner Bierdose, kratzte sich am Kinn und musterte den anderen nachdenklich.

»Das mit Haglund war schlampig«, fuhr er nach einer Weile fort. »Das hätte ich herausfinden müssen. Aber du hast dann ja trotzdem alles Nötige erfahren. Und noch mehr. Dir scheint die Fähigkeit, andere zum Reden zu bringen, nicht abhanden gekommen zu sein.«

»Das ist keine Kunst«, meinte Nielsen. »Die Leute wollen erzählen, hast du das nie bemerkt? Dafür braucht es nicht viel, nur einen kleinen Stups, dann legen sie los.«

»Besonders wenn man ihnen ein Honorar verspricht«, ergänzte Lasse Henning.

»Nordin?«

Nielsen wirkte schuldbewusst.

»Ja, das war nicht gerade nett. Obwohl ich ihm genau genommen nichts versprochen habe. Er hatte sich eher selbst etwas versprochen. Ich habe ihm, wie gesagt, nur einen kleinen Stups gegeben. Und bei der Tochter und dem Schwiegersohn war nicht mal das nötig. Die quasselten ohne mein Zutun gleich drauflos.«

Lasse Henning nickte.

»Das war ein regelrechter Wortschwall. Obwohl sie vermutlich nichts mit den Morden zu tun hat. Weder sie noch ihr Typ. Laut Magnusson haben sie ein Alibi für das gesamte Wochenende. Sie waren in ihrem Sommerhaus am Meer nördlich von Gävle. Die Nachbarn konnten das bezeugen.«

»Und Nordin?«

»Der stand eigentlich nie unter Verdacht. Genauso wenig wie die Besitzer der Sommerhäuser. Schließlich haben sich bisher alle auf Lindberg konzentriert.«

Nielsen nahm einen Schluck Mineralwasser.

»Die Opfer. Das Ehepaar Haglund«, meinte er. »Weißt du jetzt mehr?«

»Zumindest über ihn. An einiges erinnere ich mich sogar noch.«

Lasse Henning kratzte sich erneut das Kinn und räusperte sich.

»Harry Haglund, geboren 1928. Bereits Ende der Vierziger zum ersten Mal verurteilt, oben in Borlänge. Kleinkriminalität, ich glaube, dass er ein paar Monate einsaß. Und dann ging es immer so weiter. In den Fünfzigern wird er mehrmals wegen Körperverletzung und Diebstahl verurteilt. Aber meistens konnte man ihm nichts nachweisen. Es war nicht leicht, jemanden zum Reden zu bringen, wenn es um Haglund ging. Er war berüchtigt für seine Niedertracht. Man legte sich mit ihm nicht an, wenn es sich vermeiden ließ. Bei ein paar ungeklärten Todesfällen - Totschlag beziehungsweise Mord - tauchte er auf der Verdächtigenliste auf. Gegen Mitte der Sechziger kletterte er ein Stück die Leiter nach oben und beschäftigte sich mit Geldschränken. Er wurde ein paarmal verurteilt, obwohl er immer alles abstritt. Zweiundsiebzig wurde er wieder festgenommen. Er hatte nachweislich zwei Tresore gesprengt und kam für zweieinhalb Jahre in Haft. Fünfundsiebzig wurde er wieder entlassen, aber nach ein paar Jahren war es dann wieder so weit. Zusammen mit zwei Kumpanen nahm er sich eine Reihe von Geldschränken vor. Borlänge, Avesta, Hedemora, bis nach Västmanland. Außerdem verübte er einen Raubüberfall, über den recht viel in den Zeitungen stand. Ein Juwelier wurde schwer misshandelt - regelrecht gefoltert -, zusammen mit seiner Familie gefesselt und ein paar Tage eingesperrt.

Unterdessen wurden sein Laden und sein Haus vollständig ausgeräumt, wobei die Diebe mit Ausnahme der Tapeten so gut wie alles mitnahmen. Der Juwelier trug eine bleibende Behinderung davon, und ich glaube, dass die Staatsanwaltschaft wegen versuchten Mordes Anklage erhob, jedoch ohne Erfolg.

Immerhin wurde Haglund zu fünf Jahren verurteilt und saß fast die ganze Strafe ab.«

Er verstummte. Nielsen sah ihn an.

»Und dann? Besann er sich eines Besseren?«

»Sozusagen, vielleicht«, meinte Lasse Henning. »Es gab Gerüchte über das, was dann passierte. Er war um die sechzig, als er rauskam, und überschätzte offenbar seine Fähigkeiten. Er wollte überall mitmischen und trat den falschen Leuten auf die Zehen. Irgendwann waren sie den alten Sack einfach leid. Er bezog eine so gründliche Tracht Prügel, dass er auf der Intensivstation landete. Es dauerte ein Jahr, bis er wieder auf den Beinen war. Das muss 86 oder 87 gewesen sein und hat das Ende seiner Karriere eingeläutet, könnte man sagen. Jedenfalls gibt es seitdem nichts mehr über ihn.«

Er schwieg kurz, holte Luft und fuhr fort.

»Und nun zu Frau Haglund, die eigentlich nicht Frau Haglund war, sondern Marie Pettersson. Die beiden hatten nie geheiratet.

Sie war zehn Jahre jünger als er und wohnte mit einem anderen üblen Gesellen zusammen, ehe Haglund sie übernahm. Diese Bruchbude im Wald gehörte übrigens ihr. Jedenfalls in der Theorie. Haglund besaß nichts, außer

Schadensersatzforderungen aus seiner aktiven Zeit.«

Nielsen starrte die Mineralwasserflasche in seiner Hand an. Er versuchte, sich ein Bild von Harry Haglund zu machen, was ihm nicht recht gelingen wollte. Alles deutete darauf hin, dass er ein Schwein gewesen war. Aber war das Grund genug, ihn und eine weitere Person fünfzehn, zwanzig, fünfundzwanzig Jahre später umzubringen? Er bezweifelte das. Alles verlor an Bedeutung.

Hass, Liebe, Trauer. Nach ein paar Jahren fiel es einem schwer, sich noch zu erinnern, worum es eigentlich gegangen war …

Er sah Lasse Henning an.

»Gibt es eine Verbindung zwischen Lindberg und Harry Haglund?«

»Meines Wissens nicht«, antwortete der andere. »Und offenbar ist auch niemandem sonst so etwas bekannt. Eigentlich gibt es in diesem Fall überhaupt nichts über Lindberg. Außer seine Brieftasche.«

Er schwieg.

»Obwohl es, als ich zuletzt mit Magnusson in Gävle gesprochen habe, eine neue Zeugenaussage gab«, meinte er nach einer Pause. »Er schien das für einen Durchbruch zu halten. Ein Zeuge hat ausgesagt, gesehen zu haben, wie Lindberg am Morgen des 1. Mai vor seinem Haus aus einem Auto gestiegen ist. In der darauf folgenden Nacht soll er das Haus verlassen und etwas in den Müll geworfen haben.«

Nielsen rümpfte die Nase.

»Aber dich scheint das nicht sonderlich zu beeindrucken?«

Lasse Henning hob die Hände.

»Das besagt eigentlich nicht viel. Wäre ich der Staatsanwalt, würde ich nicht gerade in Jubelrufe ausbrechen. Es handelt sich bei der Zeugin um eine circa fünfundfünfzigjährige Frau, die in derselben Gegend wohnt wie Lindberg und in denselben Kreisen verkehrt. Sie wurde in den siebziger Jahren wegen Kuppelei verurteilt und steht nach wie vor unter dem Verdacht krimineller Machenschaften. Einer Anklage wegen Hehlerei wurde aus Mangel an Beweisen nicht stattgegeben. Zuletzt wurde sie vor vier bis fünf Jahren eingehend verhört, nachdem ihr Lebensgefährte das Zeitliche gesegnet hatte. Also nicht gerade eine Traumzeugin.«

»Und was sagt Lindberg dazu?«, wollte Nielsen wissen.

»Er leugnet. Übrigens sagt er wohl überhaupt nichts mehr. Er verweigert jegliche Zusammenarbeit.«

John Nielsen goss sich die letzten Tropfen Mineralwasser ins Glas, trank es aus und verzog das Gesicht. Allmählich gewöhnte er sich daran, dass es nach nichts schmeckte und auch keine Wirkung hatte, außer dass es ihn in schlechte Laune versetzte.

»Weshalb machen wir das überhaupt, Lasse?«, fragte er plötzlich. »Warum stochern wir in dieser Angelegenheit herum?

Das ist doch wirklich keine Sache, mit der du dich nebenher beschäftigen solltest. Wahrscheinlich gibt es wahnsinnigen Ärger, wenn es rauskommt.«

»Warum denn? Ich sagte doch schon, dass diese alte Geschichte mit Lindberg - ja, einiges schien mir da noch offen zu sein …«

»Das genügt nicht«, unterbrach ihn Nielsen.

Lasse Henning warf ihm einen irritierten Blick zu.

»Ich bin eben neugierig! Klingt das besser?«

Nielsen nickte.

»Auf jeden Fall ehrlicher. Dir ist also langweilig. Hättest du stattdessen nicht anfangen können, Golf zu spielen?«

Es dämmerte. Die Luft hatte sich abgekühlt. Nielsen vertrat sich die Beine und starrte zu den Lichtern auf der Autobahn und dem fernen Skärholmen hinüber.

»Und Eva und du, ihr habt überhaupt keinen Kontakt mehr?«

Lasse Henning schüttelte den Kopf.

»Seit der Scheidung kaum mehr. Sieben Jahre ist das nun her, und damals herrschte Krieg. Der dauert noch an. Auch wenn er jetzt kälter ist. Eiskalt. Du weißt schon.«

Nielsen nickte. Er wusste Bescheid. Anfang der Neunziger hatte Lasse Henning umgesattelt. Er hatte sich beurlauben lassen und Jura studiert. Anschließend hatte man ihn gefragt, ob er nicht beim Dezernat für Wirtschaftskriminalität anfangen wolle.

Er hatte sich die Entscheidung nicht leicht gemacht, aber schließlich zugesagt und war sechs Jahre geblieben. Dann hatte er sich bei der neu gegründeten Behörde für Wirtschaftskriminalität beworben. In dieser Zeit hatte er Gisela kennen gelernt und war aus der Ehe mit Eva ausgebrochen. Die beiden waren fünfzehn Jahre lang verheiratet gewesen, und ihre Söhne waren zehn und zwölf Jahre alt. Die Trennung hatte ihm Eva nie verziehen.

»Man sollte meinen, dass sich die Wellen mal hätten glätten müssen«, sagte Lasse Henning seufzend. »Nach all den Jahren.

Es wäre nett, wenn man sich mal wieder sehen könnte.

Schließlich verbindet uns immer noch einiges.«

Er sah Nielsen an, als suche er bei ihm Bestätigung. Aber dieser wandte mit einem Achselzucken den Blick ab.

Er kannte Eva fast genauso lange wie Lasse. Er hatte ihre Kinder heranwachsen sehen. Aber das war Teil der

Vergangenheit, und er hatte keine Lust, unaufrichtige Worte des Bedauerns zu äußern oder Partei zu ergreifen.

»Vielleicht. Aber so läuft es vermutlich nicht immer.«

Er betrachtete das breite, etwas rötliche Gesicht seines Gegenübers. Sein graublondes, zurückgekämmtes Haar war feucht von Schweiß. Er war gealtert. Seine Gesichtshaut war faltiger geworden, und die Wangen waren weniger straff. Sein Haaransatz war deutlich nach hinten gewandert. Die Lachfältchen um Augen und Mund waren tiefer geworden und schienen keine Freude mehr auszudrücken. Eher Überdruss, vielleicht sogar Bitterkeit.

Vielleicht war das ja auch die Erklärung dafür, dass sie hier saßen und etwas durchkauten, wovon sie besser die Finger gelassen hätten. Sie wollten die Uhr zurückdrehen oder sich einfach nur die Zeit vertreiben.

»Lindberg«, begann er. »Erzähl mir, was du über ihn weißt, vor dieser Geschichte mit dem Überfall.«

Lasse Henning wurde wieder munter. Er rieb sich die Hände und dachte einen Augenblick nach.

»Er stammt aus der Gegend von Söderhamn, aber seine Eltern sind nach Gävle gezogen, als er noch recht klein war. Er ist dort aufgewachsen, später auch an mehreren Orten der Mälarregion.

Seine Eltern leben nicht mehr, und er hat keine Geschwister.

Auch als Erwachsener ist er wiederholte Male umgezogen, hat ein paar Jahre in Malmö gewohnt, in Göteborg, zweimal auch in Stockholm. In Gävle wohnt er jetzt wieder seit zwei Jahren. Er hat keinerlei Ausbildung vorzuweisen. Meist war er nur kürzere Zeit irgendwo beschäftigt. In der Krankenpflege. Bei der Post.

Aushilfe im Restaurant. Wenn er überhaupt gearbeitet hat, versteht sich. Die meiste Zeit hat er einfach in den Tag hineingelebt oder schwarz gearbeitet. Die letzten zehn Jahre, seit dem Überfall, war er auch oft krankgeschrieben.«

»Vorstrafen?«, fragte Nielsen.

»Er wurde ein einziges Mal verurteilt und zwar in den achtziger Jahren, als er in Malmö gewohnt hat. Einbruch in ein Einfamilienhaus. Damals habe ich ihn natürlich auch dazu befragt. Er hat nicht versucht, sich herauszureden, hat nur gemeint, dass er verdammt dumm gewesen sei. Und jung, erst Anfang zwanzig. Eine ganze Bande war beteiligt gewesen, aber nur er wurde erwischt. Nachbarn hatten eine Streife alarmiert, der er dann geradewegs in die Arme gelaufen ist, als er ein Gemälde im Wert von zwanzigtausend Kronen aus dem Haus schleppen wollte. Aber darüber hinaus? Nichts.«

»Und wenn man weiter zurückgeht? Gibt es jemanden, mit dem man reden könnte, der etwas über ihn weiß?«

»Wie weit zurück?«, fragte Lasse Henning.

»So weit wie möglich.«

Lasse Henning dachte nach.

»Es gab da einen Verwandten. Den nächsten Angehörigen.

Daran erinnere ich mich. Ein Onkel väterlicherseits, glaube ich.«

»Kannst du seine Adresse herausfinden? Vielleicht lebt er noch.«

Lasse Henning nickte.

»Und diese Freundin?«, fuhr Nielsen fort. »Die ihm ein Alibi liefern wollte?«

Lasse Henning zögerte einen Augenblick.

»Da musst du dich gedulden. Darüber darf ich nichts sagen, und das weißt du. Schließlich handelt es sich um eine laufende Ermittlung.«

Nielsen schnaubte verächtlich.

»Ich kriege das schon noch selbst raus. Das dauert dann nur etwas länger. Aber sie steht unter keinem Verdacht, soweit ich weiß? Es ist also kein Verbrechen, mit ihr zu reden.«