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Am Flughafen von Westchester stellte Julia sich auf einen Platz für Kurzparker, nahm die Handtasche vom Sitz und rannte zum Terminal. Durch ein unerwartetes Konferenztelefonat, das mehr als fünfundvierzig Minuten gedauert hatte, hinkte sie hinter dem Zeitplan zurück und befürchtete nun, ihren Flug zu verpassen.

Am Montag hatte sie sich von Dr. Colverhome den Termin geben lassen und sich den Freitagnachmittag freigehalten, um sich ein wenig der Vorfreude auf ihr Mutterglück hingeben zu können.

Auf dem Beifahrersitz ließ Julia drei Bilderrahmen unterschiedlicher Größe und Aufmachung liegen. Sie hatte die Rahmen auf dem Weg zum Flughafen gekauft, weil sie nicht wusste, wie groß ein Ultraschallbild eigentlich ausfiel. Doch sie wollte es Nick unbedingt an diesem Abend geben und ihn mit der Neuigkeit überraschen. Sie hatte Geschenkpapier mit Teddybärmuster und eine Ausgabe von Dr. Seuss’ Fox in Socks gekauft. In ihrer Kindheit war das ihr Lieblingsbuch gewesen; es hatte für sie nichts Schöneres gegeben, als ihrem Vater zuzuhören, wenn er ihr aus dem Buch vorlas. Sie hoffte, dass Nick diese Tradition mit ihrem Kind fortsetzte.

Julia schaute auf die Uhr. Eine Minute nach elf. Das Flugzeug sollte um 11.16 Uhr starten; sie konnte es also gerade eben schaffen. Auf einem kleinen Regionalflughafen wie dem Westchester Airport waren die Warteschlangen kurz, und auch mit Sicherheitsüberprüfungen hielt man sich nicht lange auf.

Nachdem Julia ihre Bordkarte erhalten hatte, brachte sie rasch die Sicherheitssperre hinter sich und sah zu ihrer Erleichterung, dass die anderen Passagiere gerade erst in die Maschine stiegen. Aus irgendeinem Grund war sie über alle Maßen aufgeregt, und sie hätte nichts lieber getan, als Nick anzurufen und ihm die freudige Nachricht mitzuteilen – doch ihre Geduld trug letztlich den Sieg davon. Sie wollte die Überraschung auf Nicks Gesicht sehen, wollte spüren, wie er sie mit der gleichen Freude in die Arme schloss, die sie selbst empfunden hatte, als sie von ihrer Schwangerschaft erfuhr.

Nick wusste nicht, was sie vorhatte, und er ahnte auch nicht, dass sie heute eine kurze Flugreise machte. Bei diesem Gedanken verspürte Julia leise Schuldgefühle. Nick hasste das Fliegen und bestand jedes Mal darauf, von ihr zu erfahren, wann sie in eine Maschine stieg. Nach jeder Landung musste sie ihn sofort anrufen. Diesmal jedoch informierte Julia ihn nicht. Nick würde Fragen stellen – und ihre Antworten wären allzu durchsichtige Schwindeleien für einen Menschen, der in ihrem Gesicht lesen konnte wie in einem offenen Buch.


 
Nick saß in seinem Audi, die SIG Sauer in der Hand. Er überprüfte die Sicherung, legte ein Magazin ein und schob sich die Waffe unter den Hosenbund.

Nick war durch Byram Hills gefahren, das sich in der gewohnten Sommervormittagsroutine befand: Mütter mit Kinderwagen unterwegs zu einem frühen Mittagessen im Country Kitchen; Arbeiter, die sich ihre erste Pizza des Tages holten; Landschaftsgärtner, die ihre Kleinlaster mit Pflanzen beluden; Immobilienmakler, die vor ihren Büros Kaffee tranken und über ihre neuesten Angebote sprachen, während Väter in die Bankfiliale eilten, um das Geld für das lange Wochenende am Strand abzuheben. Eine ganz normale Kleinstadt; ein friedliches Nebenher und Miteinander.

Noch ahnte niemand, dass sich in weniger als einer Stunde alles dramatisch ändern würde.

Nick bog zum Polizeirevier ab. Er wusste, dass es nur noch einen Menschen gab, dem er trauen konnte und der über die nötigen Fähigkeiten und die erforderliche Autorität verfügte. Nick hatte die Gesetzestreue dieses Mannes erkannt, als er seinem korrupten Partner die Stirn geboten hatte; er hatte seinen lauteren Charakter im Angesicht der Katastrophe auf der Absturzstelle bewiesen und gezeigt, dass er von seinem Glauben an das Richtige und Falsche überzeugt war.

Vor allem konnte Nick sich darauf verlassen, dass dieser Mann das Richtige tat.


 
Sam Dreyfus klappte das kleine Dreibein aus, stellte den fünfzehn Zentimeter langen Mikrolaser fest auf den Boden und richtete ihn genau auf die Linse der Kamera an der Ostwand des Gebäudes, die den Parkplatz überwachte, sodass der Laserstrahl das Bild, das die Optik aufnahm, mit Lichtrauschen überflutete. Dabei wurde die Kamera zwar nicht zerstört, doch das Rauschen störte die Aufnahmefähigkeit der Optik derart, dass sie fünfzehn Minuten lang funktionsuntüchtig war; danach würde die Unstimmigkeit im System einen Alarm auslösen und eine Untersuchung anfordern.

An den Kameras im Westen und Norden wiederholte Sam den Vorgang und warf eine virtuelle Decke über alles, was in der kommenden Viertelstunde auf dem Parkplatz vor sich gehen würde. Dann zog er das Funkgerät aus der Tasche und drückte dreimal den Sprechknopf.

Bis auf einen kleinen Bierbauch, der ihm über den Krokodilledergürtel hing, war Sam Dreyfus spindeldürr. Er trug sandbraune Chinos und ein weißes Oberhemd, dessen Ärmel er bis zur Mitte der Unterarme hochgerollt hatte. Seine Krokodillederslipper vervollständigten eine Garderobe, die für die meisten Einbrecher eher untypisch war. Das braune Haar trug er seitlich gescheitelt. Seine Augen waren müde und blutunterlaufen, was er im Moment hinter einer dunklen Sonnenbrille zu verbergen suchte.

Mit seinen neunundvierzig Jahren fühlte Sam sich jung und schrecklich alt zugleich. Der Schatten, den sein Bruder Paul warf, war gewaltig. Von Sam sprach man immer nur als »Pauls Bruder« und vergaß oft sogar seinen Namen. Besonders wütend machte es Sam, wenn jemand sagte: »Ich wusste gar nicht, dass die Dreyfus’ zwei Söhne haben.«

Von klein auf hatte Sam sich nicht mit Paul messen können, weder in den Augen ihrer Eltern noch in denen Außenstehender. Deshalb hatte Sam sich irgendwann entschieden, immer das genaue Gegenteil von dem zu tun, was sein Bruder tat.

Sam ließ sich mit schlechter Gesellschaft ein und stellte fest, dass Rauschgift, Alkohol und Prügeleien ihm lagen. Er genoss das rebellische Vergnügen des Augenblicks.

Mit siebzehn war er nach Kanada geflohen – nicht so sehr, weil er Angst hatte, in den Krieg ziehen zu müssen. Es ging ihm viel eher darum, seinen Vater zur Weißglut zu bringen. Sam war das sprichwörtliche schwarze Schaf der Familie geworden. Aber wenigstens dadurch hatte er eine eigene Identität erlangt.

Im Laufe der Jahre hatte er sich auf verschiedenen Geschäftsfeldern versucht: Immobilien, Finanzberatung, Marketing. Immer hatte er an der Spitze sein wollen. Er wusste, dass er intelligent war, aber man gab ihm keine Chance.

Trotz der Fehler und Schwächen Sams hatte Paul stets auf seinen jüngeren Bruder aufgepasst und hatte ihm Arbeit gegeben, wenn er sie brauchte, hatte ihn unbegrenzt auf der Gehaltsliste stehen lassen. Er hatte ihm sogar einen Teil der Firma überschrieben, damit er seinen Kindern etwas hinterlassen konnte. Sams Fehler hatte Paul mit keinem Wort erwähnt. Während ihr Vater von Sam bitter enttäuscht war und ihn mit verbalem Gift und Galle überschüttete, hatte Paul ihn nie offen verurteilt.

Vor etwa einem Jahr hatte Sam schließlich der Wirklichkeit ins Gesicht gesehen. Sein Haus, sein Leben – alles hing allein von der Gnade seines Bruders ab. Endlich hatte er sich eingestanden, was er stets gewusst hatte: dass er ein Versager war. Paul hatte ihn bloß bemitleidet und deshalb für ihn gesorgt!

Das ärgerte Sam maßlos; es machte ihn rasend und verlieh ihm neuen Antrieb.

Er hatte Paul angerufen und ihm gesagt, er wolle arbeiten, wirklich arbeiten, und eine »echte Funktion« in der Firma erfüllen. Von nun an kam er jeden Tag pünktlich ins Büro, arbeitete volle acht Stunden, akquirierte Aufträge und leistete zum ersten Mal in seinem Leben etwas Sinnvolles. Abends war er müde – müder als je zuvor in seinem Leben –, doch mit dieser Müdigkeit kam ein bisher ungekanntes Gefühl der Erfüllung.

Sechs Monate lang blieb Sams Arbeitseifer bestehen. Daraufhin belohnte Paul ihn, diesmal nicht aus Mitleid, sondern aus Dankbarkeit und Stolz auf seine Leistungen. Sam wurde noch mehr in das Unternehmen integriert, und Paul behandelte ihn als vollwertigen Partner und gewährte ihm vollen Zugriff auf die Aufträge, Techniken und Strategien.

An einem Mittwochnachmittag im Januar war es dann geschehen – in den dunklen Tagen des Winters. Es war nach sieben Uhr abends gewesen; Sam hatte noch in seinem Büro über Akten gesessen. Dabei stolperte er über den Namen Shamus Hennicot, der mit Reichtum und Großzügigkeit gleichgesetzt wurde. Hennicots Vermögen ging in die Milliarden.

 Paul kümmerte sich persönlich um alles, was mit Hennicot zusammenhing; er unterhielt zu dem alten Mann eine Beziehung, die über das rein Geschäftliche hinausging. Er hatte das Hightech-Schließsystem für Hennicots Washington House selbst entworfen und die Installation persönlich vorgenommen – eine Arbeit, die er gewöhnlich seinen Angestellten überließ. Damit hatte er Sams Neugier geweckt. Sam vergrub sich tiefer in Pauls Akten und erfuhr von den einzigartigen Zugangssystemen, von Alarmanlagen und Überwachungsvorrichtungen, die das Untergeschoss von Hennicots Haus zu einem einzigen großen Tresor für dessen unvergleichliche Kunstsammlung machten.

Noch faszinierter war Sam, als er die Inventarliste von Hennicots Minimuseum entdeckte. Antike Waffen, Juwelen, Gemälde und Skulpturen; der Schätzwert jedes einzelnen Gegenstands lag zwischen Hunderttausenden bis zu Zigmillionen Dollar. Paul hatte Schaukästen für die antiken Waffen entworfen, klimatisierte Räume für die Kunstwerke, Sockel mit Sensoren für die Skulpturen und einen speziellen achteckigen Schlüssel für die Haupttür zum Gewölbe.

Doch was Sam nicht mehr losließ, war der Gedanke an den Kasten, den Paul zu Hause mit eigenen Händen gebaut hatte, zumal es – anders als bei jedem anderen Gegenstand im Gewölbe – keinen Plan und keine technische Beschreibung dafür gab. Lediglich von einem Mahagonikasten war die Rede. Größe: sechzig Zentimeter im Geviert, dreißig Zentimeter Höhe. Inhalt: persönlich & vertraulich. Für den Kasten war ein eigener Safe angeschafft und ein Geheimraum konstruiert worden, ohne dass es irgendeinen Hinweis auf den Inhalt des Kastens gegeben hätte.

Sams Neugierde wuchs ins Unermessliche. Er durchstöberte jede Akte, durchsuchte jeden Schrank und jede Schublade im Büro seines Bruders, bis er schließlich auf eine handschriftliche Notiz aus Pauls privater Werkstatt stieß, eine zusammengeknüllte linierte Karteikarte, die im Werkzeugkasten lag. Was darauf stand, ging nicht sehr in die Einzelheiten, und wer nicht wusste, was er da las, hätte womöglich nie erraten, worum es dabei ging.

Sam jedoch fand auf der Karteikarte etwas, das sein Leben zu ändern vermochte und ihm den Reichtum und die Macht, vor allem den Respekt verleihen konnte, den er sich mehr als alles andere wünschte, um aus Pauls Schatten treten zu können.

Der Kasten sollte die Familiengeheimnisse behüten, das Wissen, das vom Vater an den Sohn weitergegeben wurde.

Sam lächelte, denn er wusste, was in dem Kasten war.

Im Laufe der nächsten vier Monate verschaffte er sich Kopien der Grundrisse, brachte in Erfahrung, wo die Kameras angebracht waren, und besorgte sich die Codes, die er benötigte, um Schlüssel und Passkarten zu erhalten. Er beschaffte sich Kombinationen und Zugangskennungen, von denen die meisten in Pauls persönlichen Dateien standen.

Nachdem Sam den Besitz ausgespäht hatte, fand er den idealen Kontaktmann im Byram Hills Police Department, einen habgierigen, korrupten Cop. Im Gegenzug für Informationen und Geld sollte dieser Detective seine Kollegen im Zaum halten. Alle Teile hatten sich wunderbar zusammengefügt; es war und wäre Sams größte Leistung.

Er fand, dass er ein opferloses Verbrechen beging, denn der Verlust für Hennicot würde weniger als ein halbes Prozent des Familienvermögens betragen und wäre nach wenigen Wochen in Form von Zinsen selbst dann wieder hereingeholt, wenn die Versicherung den Schaden nicht erstattete.

Und der Inhalt des Kastens … nun, dachte Sam, seinen Wert konnte man mit keinem Preisschild versehen, und weder Ideen noch Geheimnisse ließen sich versichern. Ohne Erben hatte Shamus Hennicot niemanden, dem er den Kasten hinterlassen konnte. Warum also sollte das gute Stück in Zukunft nicht bei jemand anderem sein? Bei einer anderen Familie? Bei jemandem, der nach Höherem strebte als nach Familienstiftungen und Sicherheitsfirmen?

Sam würde am Ende Erfolg haben – zu seinen eigenen Bedingungen. Endlich würde er aus dem Schatten seines Bruders hervortreten, der sein Leben lang über ihm gehangen hatte.

Keine zehn Sekunden nachdem er die Sprechtaste des Walkie-Talkies gedrückt hatte, fuhr ein grüner Ford Taurus auf das Grundstück und parkte hinter Washington House. Ein weißer Chrysler Sebring folgte ihm. Dance stieg vom Fahrersitz des Taurus, während Randall und Johnny Arilio aus dem Chrysler stiegen.

Arilio war seit zehn Jahren Polizist. Er war kontaktfreudig und hielt sich mit seinem breiten Lächeln für den beliebtesten aller Beamten des Reviers, ohne zu begreifen, dass die anderen ihn als unangenehm aufdringlich empfanden. Obwohl zweiunddreißig, trug er sein dunkles Haar sehr lang, als wollte er seine wilde Jugendzeit bewahren. Er betrachtete sich als Frauenheld, hoffte aber insgeheim, ein Mädchen kennenzulernen, mit dem er eine Familie gründen konnte. Leider gelüstete es ihn nach edlem Champagner, wo sein Verdienst nur für Bier aus der Dose reichte: Ihm fehlte schlicht das Einkommen, um sich die Frauen leisten zu können, zu denen er sich hingezogen fühlte.

Arilio stopfte sich das blaue Hemd in die Khakihose, während er mit Randall hinters Haus ging. Sie gaben sich den Anschein, als wären sie dienstlich unterwegs.

Auch Brinehart traf nun mit seinem zivilen Streifenwagen ein, hielt rechts neben Dance und stieg mit einem aufgeregten Lächeln aus.

Dance nahm zwei halbvolle Sporttaschen aus dem Kofferraum und stellte sie an die Hintertür.

Sam Dreyfus eilte von der Stelle herbei, wo er den letzten Laser platziert hatte, und zog dabei einen Schlüssel und eine Magnetkarte aus der Tasche. »Wir haben vierzehn Minuten.«


 
Julia schritt über den Mittelgang des A300. Außer ihrer Handtasche trug sie nichts bei sich. Gewöhnt, mit Aktenkoffer und schwerem Bordcase zu reisen, hatte sie ständig das Gefühl, etwas vergessen zu haben.

Sie fand ihren Platz in der Businessklasse und ließ sich in einem der breiten Ledersessel sinken. Sie hatte es rechtzeitig geschafft; es war sogar Zeit übrig. Neben ihr saß eine elegante ältere Dame mit silbrigem Haar, das sie hochgesteckt trug, und konzentrierte sich auf das Magazin der Fluggesellschaft aus dem Sitzbeutel.

Weitere Passagiere stiegen ein, die übliche Freitagsmischung von Reisenden, die sich vom Rest der Woche unterschied. Während sonst hauptsächlich Geschäftsleute in der Maschine saßen, nahmen heute auch etliche Familien den Morgenflug zu einem Wochenende in ihren Ferienhäusern. Julia sah die fröhlichen, lärmenden kleinen Kinder mit anderen Augen als sonst. Was normalerweise ihre Geduld auf die Probe stellte, wenn sie sich auf die Arbeit zu konzentrieren versuchte, entlockte ihr heute ein Lächeln, und ihr fiel die Verzauberung in den kleinen Gesichtern auf. Zwei Schwestern, beide nicht älter als fünf, beschäftigten sich mit einem Singsangspiel, bei dem in die Hände geklatscht werden musste, und bekamen jedes Mal einen Lachanfall, wenn sie riefen: »Miss Mary Mack, Mack, Mack.«

Der blonde junge Geschäftsreisende auf der anderen Seite des Ganges lächelte. »Meine Kinder sind ein bisschen kleiner, aber sie sind genau so ausgelassen«, sagte er.

»Fliegen Sie übers Wochenende zu ihnen?«, fragte Julia.

»Zuerst muss ich nach Boston. Mit ein bisschen Glück bekomme ich die frühe Abendmaschine und bin rechtzeitig zu Hause, um ihnen Gute Nacht zu sagen.«

 »Termin in letzter Sekunde?«, fragte Julia, die selbst schon zu viele solcher Reisen unternommen hatte.

»Ich hoffe auf einen neuen Abschluss.« Der Mann tätschelte den Laptop auf seinem Schoß. »Übrigens, ich heiße Jason Cereta.«

»Julia«, antwortete sie lächelnd.

»Wie viele Kinder haben Sie?«

»In neun Monaten wenigstens eines.« Julia berührte ihren Bauch – das erste Mal, dass sie einem anderen Menschen gegenüber zugab, schwanger zu sein.

»Oh, da gratuliere ich herzlich!«, sagte die ältere Dame auf dem Fensterplatz, die sich als Katherine vorstellte, und schaute zu Julia. »Reisen Sie geschäftlich?«

»Nein. Zu einer Ultraschalluntersuchung.«

»Das ist aber ein weiter Weg, nur um ein Foto machen zu lassen«, sagte die Frau, zog die Jacke aus und faltete sie auf dem Schoß zusammen.

»Ich weiß«, erwiderte Julia. »Aber ich bin mit meinem Arzt sehr zufrieden, und ich wollte meinen Mann mit dem ersten Foto unseres Kindes überraschen.«

»Er weiß noch nichts?«

»Nein.«

»Das ist ja großartig!«, sagte die ältere Dame. Ihre grünen Augen funkelten lebhaft, und ihre Haltung und ihr Lächeln machten es schwierig, ihr wahres Alter zu schätzen. »Wir hatten niemals Kinder, mein Mann und ich, obwohl wir sie immer geliebt haben. Kinder schenken einem Perspektive und erinnern einen daran, was im Leben wirklich wichtig ist. Habe ich recht?«, fragte sie und beugte sich vor, um Jason anzusehen.

»Oh ja«, erwiderte der junge Mann. »Glauben Sie mir, für mich allein würde ich niemals so hart arbeiten.«

»Wohin sind Sie unterwegs, Katherine?«, fragte Julia.

 »Nach Chilmark. Ich war bei meiner Schwester in Larchmont zu Besuch. Mein Mann ist krank geworden.«

»Das tut mir leid.«

»Ach, Sie wissen ja, wie Männer sind, wenn sie Schnupfen oder Fieber bekommen. Das wird schon wieder.« Doch die Furcht in ihren Augen strafte ihre Worte Lügen.

Aus Julias Handtasche drang ein Summen. »Entschuldigen Sie«, sagte sie, holte ihr Handy heraus und rief die SMS auf. Es war eine kurze, knappe Nachricht:


 
Einen sicheren Flug und ein schönes Wochenende

Jo


 
Julia mochte ihre Sekretärin sehr; sie war das organisierte Yin zu ihrem hektischen Yang.

Sie überlegte, Nick anzurufen und ihm von ihren Plänen zu erzählen, sagte sich dann aber, dass es besser sei, ihn nicht mitten in der Arbeit zu stören.

Sie lehnte sich zurück, zog ein Magazin aus der Sitztasche und gönnte sich ein wenig Zeit für sich selbst, während sie auf den Start wartete.


 
In seinem schwarzen Mustang Cobra – dem einzigen Luxus, den er sich gönnte – fuhr Detective Bob Shannon auf die Zufahrt von Washington House. Er spielte nicht Golf, ging nicht angeln und interessierte sich nicht fürs Pokern, aber er liebte schnelle Autos, und da es keine Frau in seinem Leben gab, die es ihm ausgeredet hätte, hatte er sich für 38 800 Dollar einen gebrauchten nachtschwarzen 99er Shelby Cobra zugelegt.

Dance, Brinehart, Randall, Arilio und Sam Dreyfus drehten sich erstaunt um, als Shannon aus dem Wagen stieg.

»Hallo, Jungs«, sagte er mit einem Nicken.

 »Hallo, Shannon«, sagte Brinehart, als wären sie die besten Freunde.

Shannon beachtete ihn nicht und richtete seine Aufmerksamkeit auf Dance.

»Ich dachte, du wärst im Revier und schreibst Protokolle«, sagte Dance.

»Ich hab einen Anruf bekommen.«

Alles wandte sich Nick zu, als er vom Beifahrersitz stieg. Er erwiderte die bohrenden Blicke.

»Also seid ihr auch gekommen, was?«, fuhr Shannon fort.

Dance starrte ihn nur an.

»Der Einbruch …?«, sagte Shannon.

»Ja«, stieß Brinehart zu Dance’ Bestürzung hervor.

»Er hier.« Shannon wies mit dem Finger auf Nick, ohne die Blicke von Brinehart zu nehmen. »Er hat Sie auch angerufen?«

Brinehart wusste, dass er es sich nicht leisten konnte, den gleichen Fehler zweimal zu begehen.

»… weil der Einbruch nicht über Funk gemeldet wurde.«

Die Spannung stieg. Alles sah auf Dance, der ohne die leiseste Regung vor Shannon stand.

»Ich will verdammt noch mal wissen, was hier los ist«, sagte Shannon verärgert.

»Wer ist der Kerl?«, fragte Brinehart und wies auf Nick.

»Ist doch jetzt egal!«, fuhr Shannon ihn an, während sein Blick sich in Dance’ Augen bohrte. »Beantworte meine Frage, Ethan. Was tust du hier?«

Dance blickte Brinehart und Randall an, die ruhig blieben, während Dreyfus seine Sonnenbrille zurechtrückte und sich einen Schritt zum Gebäude zurückzog, um notfalls unbemerkt verschwinden zu können.

»Wer sind Sie?«, fragte Shannon mit einem wütenden Blick auf ihn.

 »Ich … ich bin …«, stammelte Dreyfus. Seine Hände zitterten.

Brinehart ging um Nick herum und stellte sich direkt hinter ihn. »Und wer sind Sie?«

Sein Arm schoss vor. Er zog die Pistole aus Nicks Hosenbund. »Was ist denn das? Sind Sie ein Cop?«

Shannon starrte auf die Waffe und hob den Blick zu Nick. »Sie haben mir nicht gesagt, dass Sie bewaffnet sind.«

»Nach dem Tag, den ich hinter mir habe«, erwiderte Nick, »hielt ich es für eine gute Idee.«

»Dance.« Shannon wandte sich wieder seinem Vetter zu. »Der Mann sagt, dass du hier bist, um einzubrechen und zu stehlen. Mal sehen, ob ich das noch zusammenbekomme: vier goldene Schwerter, zwei Degen, drei Säbel, fünf Dolche, drei Schusswaffen, einen Beutel Brillanten und …«, er hielt kurz inne, »irgendeinen Kasten.«

Alles schwieg.

»Hört zu«, fuhr Shannon leiser fort. »Ihr habt euch noch nichts zuschulden kommen lassen. Deshalb schlage ich vor, ihr steigt in eure Wagen und verschwindet, und wir vergessen, dass ihr je hier wart.«

»Sind Sie der Typ, der einen Kollegen anschwärzt?«, fragte Brinehart.

»Wie lange sind Sie Detective? Seit einem Jahr? Also kommen Sie mir bloß nicht mit diesem Scheiß von wegen Kodex des Schweigens.« Er wandte sich wieder Dance zu. »Ethan, was soll das?«

Dance starrte ihn an. »Du vergisst es vielleicht, aber er nicht«, sagte er und zeigte auf Nick.

Er zog plötzlich die Pistole und drückte sie gegen Shannons Bauch.

»Verdammt, was soll das?«, explodierte Shannon, ohne den Blick auf die Waffe zu richten. »Tu die Knarre weg, ehe ich sie dir in den Rachen stopfe, du Blödmann. Ich bin dein Vetter!«

Ohne den Blickkontakt zu unterbrechen, drückte Dance ab.

Die Kugel stieß Shannon zurück. Doch er ging nicht zu Boden, sondern machte drei Schritte nach vorn, legte die Hände um Dance’ Hals und versuchte ihn zu erwürgen.

Dance schoss ihm erneut in den Bauch.

Diesmal schwankte Shannon, taumelte zurück und brach zusammen.

Dance’ Helfershelfer rissen die Köpfe herum und suchten nach Zeugen.

Nick stand entsetzt da und beobachtete den sterbenden Shannon.

»Na toll«, sagte Brinehart mit brüchiger Stimme. »Du hast gerade einen Cop ermordet. Und das auch noch vor einem Augenzeugen.«

»Handschellen!«, befahl Dance und richtete die Waffe auf Nick.

»Wollen Sie den auch noch umbringen?«, fragte Sam Dreyfus mit Panik in der Stimme.

Dance ging zu Nick, nahm ihm die Brieftasche ab und schaute auf den Führerschein. »Woher wissen Sie, was hier vor sich geht, Mr. Quinn?«

»Quinn?«, fragte Sam. »So heißt Hennicots Anwältin. Wollen Sie ihn auch erschießen?«

»Warum sollte ich einen Verdächtigen töten? Wir haben hier jemanden mit einer Verbindung zu diesem Haus, dem wir alles anhängen können. Einen Cop zu ermorden ist ein Kapitalverbrechen.« Dance musterte Nick und tätschelte ihm höhnisch die Wange. »Ich möchte nicht in Ihrer Haut stecken, mein Freund.« Julia beobachtete, wie die Stewardess die Einstiegstür schloss und verriegelte.

»Meine Damen und Herren, wir möchten Sie bitten, während des Starts Ihre Mobiltelefone und Pager abzustellen und sämtliche elektronischen Geräte auszuschalten, bis wir in der Luft sind und Ihnen per Durchsage gestatten, sie wieder zu benutzen.«

Julia wählte rasch Nicks Nummer. Als sofort die Mailbox antwortete, sagte sie hastig: »Hallo, Schatz. Tut mir leid wegen des Streits über das Abendessen mit den Mullers. Wir sagen ihnen ab. Ich habe etwas Schöneres geplant. Nur wir beide. Ich muss wegen einer Blitzbesprechung nach Boston. Tut mir leid, dass ich dir nicht gesagt habe …«

»Entschuldigen Sie, Ma’am«, sagte die Stewardess und beugte sich zu Julia hinunter. »Die Mobiltelefone müssen jetzt abgeschaltet werden.«

»Tut mir leid, Nick«, flüsterte Julia, »ich muss aufhören. Ich rufe dich an, sobald wir gelandet sind.«

Julia schaltete das Handy aus. »Entschuldigen Sie.«

»Kein Problem. Ich fliege auch nie, ohne meinen Mann noch einmal anzurufen«, sagte die Stewardess lächelnd und ging weiter zur Bordküche.

Julia erwiderte das Lächeln. Sie konnte es gar nicht erwarten, Nick von der Schwangerschaft zu erzählen. Sie schob ihr Handy zurück in die Handtasche. Dann lehnte sie den Kopf an die weiche lederne Stütze und war mit den Gedanken noch immer bei Nick, als sie die Augen schloss.


 
»Beide nach hinten«, befahl Dance. Brinehart und Arilio öffneten die Autotür und wuchteten Shannons Leiche auf die Rückbank. Brinehart drehte sich zu Nick um, dem sie die Hände auf den Rücken gefesselt hatten, und packte ihn beim Arm.

»Brinehart, am besten, du bleibst hier draußen und hältst die Augen offen.« Dance packte Nick beim Arm. »Kommen Sie mit, lächeln Sie in die Kameras.«

Sam drehte sich zur Tür und schob seinen Schlüssel ins Schloss. »Wir sind vier Minuten hinter dem Zeitplan.«

»Und wenn Sie nicht mit dem Gejammere aufhören, werden es fünf. Mir ist es scheißegal, dann muss eben jeder doppelt so schnell sein.«

Sie zogen sich Einmalhandschuhe über.

»Vergessen Sie nicht unseren neuen Partner«, sagte Dance und übergab Nick an Sam Dreyfus.

»Stimmt«, sagte Sam und schob Nick vor die Tür. »Wo die ganze Welt ihn sehen kann.«

Sam hob sich die beiden Sporttaschen auf die Schulter, fuhr mit der Magnetkarte über das Lesegerät, drehte den Hausschlüssel und öffnete die Tür. Aus seiner Tasche nahm er ein Kästchen mit einer durchsichtigen roten Halbkugel, legte an der Seite einen Schalter um und befestigte das Kästchen an der Wand. Rasch ging er zur weiß lasierten Holzfurniertür. Ein weiteres Kästchen befestigte er auf der Küchentheke, schaltete es ein und pfiff leise.

Alle anderen folgten ihm, bis auf Brinehart.

Sam Dreyfus schob seine Magnetkarte neben der Tür vorbei, wo das Lesegerät verborgen war, und öffnete das Schloss. Er zog die Tür zurück, von der er wusste, dass sie einen siebeneinhalb Zentimeter starken Stahlkern hatte. Eine hell erleuchtete, mit Teppich belegte Treppe wurde sichtbar. An den Wänden hing eine blassgrüne Tapete mit Lilienmuster.

Sam packte Nick wieder beim Arm und führte ihn, sodass sein Gesicht deutlich von der verborgenen Kamera in der Wand des Treppenhauses erfasst wurde, während Sam selbst abgeschirmt war.

»Warten Sie, bis ich die Tür geöffnet und die Kameras lahmgelegt habe«, sagte Sam zu Dance, Randall und Arilio, die am oberen Ende der Treppe warteten.

Sam und Nick erreichten die Kellertür aus gebürstetem Stahl, der jede Angel und jeder Türknauf fehlte. Nick kannte diese Tür; er war vor ein paar Stunden bereits hindurchgegangen.

Sam nahm den achteckigen Schlüssel aus der Tasche und vergewisserte sich dreimal, dass der Buchstabe D nach oben zeigte.

»Achten Sie darauf, dass D nach oben zeigt, sonst werden wir nicht nur ausgesperrt, sondern auch eingesperrt«, sagte Nick.

»Woher wissen Sie das?«, fuhr Sam ihn an. Furcht schwang in seiner Stimme mit.

»Ich habe bloß geraten«, erwiderte Nick. »Aber ehe Ihr Freund Dance uns einholt … Sie sollten wissen, dass er versuchen wird, Sie umzubringen. Ich weiß, dass er Brinehart und Arilio in den Stausee werfen will.«

»Glauben Sie etwa, ich traue Dance über den Weg? Was den Kerl angeht, habe ich längst Vorsichtsmaßnahmen getroffen.«

»Und wie wollen Sie sich vor Ihrem Bruder Paul schützen? Er weiß, was Sie hier tun.«

»Deshalb wissen Sie über alles Bescheid! Sie arbeiten für ihn, stimmt’s?« Sam wurde wütend.

»Nein, wir sind uns noch gar nicht begegnet. Wenn er vor mir stünde, würde er weder mein Gesicht noch meinen Namen kennen.«

»Was quatscht ihr da so lange?«, brüllte Dance vom oberen Ende der Treppe. »Die Zeit läuft. Wir haben nur zehn Minuten.«

Sam Dreyfus schob den Schlüssel in das achteckige Schloss, den Buchstaben D nach oben gerichtet, so wie Nick es gesagt hatte, und gab die Sozialversicherungsnummer seines Bruders in das Tastenfeld an der Wand ein. Dann fuhr er mit der Magnetkarte dreimal über den Kartenleser, drehte den Schlüssel und schob die zwei Tonnen schwere Tür auf.

 Sam Dreyfus wusste, dass die Stahltür bei unplanmäßigem Betreten des Gewölbes einen stillen Alarm auslöste, bei dem nicht wie üblich die Polizei benachrichtigt wurde, sondern die Dreyfus Security sowie Hennicots Anwältin. Doch bis diese reagieren konnten, wäre er bereits wieder verschwunden.

Sam Dreyfus hatte die Pläne der Alarmanlage studiert und wusste, wie der Eindringalarm sich abstellen ließ; im Grunde war es ein Kinderspiel. Dieser Eindringalarm diente aber nicht allein der Benachrichtigung, er löste auch ein sekundäres Protokoll aus. Die Videoaufnahmen wurden nicht nur zu Hennicots Anwältin weitergeleitet; zusätzlich aktivierten sich Zweitkameras, die auf keinem Plan verzeichnet waren, und speicherten ihre Aufnahmen in einer verschlüsselten Datei. Doch Sam kannte die Positionen der Kameras und konnte ihnen ausweichen, während sie Dance und seine Leute aufnehmen würden, sobald sie die Treppe herunterkamen.

Diese Aufnahmen waren seine Versicherung, der Hebel, den er benutzen würde, sobald Dance ihm in den Rücken fiel, womit er fest rechnete. Unter Dieben gab es keine Ehre. Und Quinn drückte mit seiner Behauptung, Dance werde jeden beseitigen, nur eine Befürchtung aus, mit der Sam Dreyfus den gesamten vergangenen Monat verbracht und gegen die er vorgesorgt hatte. Mit Furcht konnte er allerdings leben, und er war bereit, jedes Risiko einzugehen, um den Kasten aus Hennicots Safe in die Hände zu bekommen.

»Okay, Dance«, sagte Sam.

Der Detective, Randall und Arilio kamen die Stufen herunter und stellten sich in dem kleinen Vestibül neben Nick.


 
Als die Stahltür aufschwang, fiel Nicks Blick auf den großen gläsernen Schaukasten in der Mitte des Raumes. Seine Glasoberfläche war unversehrt, anders als er sie vor fünf Stunden – von nun an gerechnet – gesehen hatte. In dem Schaukasten lagen die Schwerter und Dolche, Degen und Säbel, vor allem aber der goldverzierte Colt Peacemaker, mit dem Julia getötet werden würde.

Mit seinen behandschuhten Fingern holte Sam Dreyfus vier weitere Kästchen aus seinen Sporttaschen; auf jedem saß eine rote gläserne Halbkugel wie eine Kuppel. Sam riss Nick herum. »Festhalten«, sagte er, drückte Nick eines der Kästchen in die gefesselten Hände und nahm es ihm dann wieder ab. »Fingerabdrücke verraten viel!«

»Nette Idee«, sagte Dance grinsend.

»Warten Sie hier«, fuhr Sam fort, als könnte Nick, mit Handschellen gefesselt und von drei Bewaffneten umgeben, irgendetwas anderes tun.

Sam schaltete sämtliche Kästchen ein, eilte durch den Raum und verteilte sie. Eines der Kästchen befestigte er an der Wand gegenüber der Tür. Eine halbe Minute später kam er zurück. »Los geht’s. Sämtliche Kameras sind außer Gefecht.«

Dance und seine Leute packten Nick und zerrten ihn mit sich.

Sam warf seine beiden Taschen auf den Boden und holte eine lange Metallstange mit einem Saugnapf heraus, den er auf dem großen Schaukasten ansetzte, in dem sich die Waffen befanden. Als Nächstes befestigte er ein streichholzschachtelgroßes quadratisches Kästchen am rechten inneren Bein der Vitrine. Das kleine Gerät erzeugte eine elektromagnetische Störung und setzte die Alarmanlage des Schaukastens außer Gefecht, die sein Bruder Paul entworfen hatte.

Dance und seine Männer umstanden den Schaukasten und beobachteten, wie Sam mit einem Glaserdiamanten einen Kreis in die Abdeckscheibe schnitt.

Nick konnte nicht anders, er musste grinsen, als er gleich hinter Dance den Monet an der Wand sah, das Achtzig-Millio- nen-Dollar-Gemälde. Allein das Seerosengemälde hätte diesen Dummköpfen – selbst auf dem Schwarzmarkt – mehr Reichtum verschafft, als sie sich vorstellen konnten, viel mehr, als die goldenen Waffen in dem Schaukasten je gebracht hätten.

Sam beendete vorsichtig seinen Kreisschnitt. Mit einer Hand hielt er den Saugnapf fest, mit der anderen klopfte er an dem Kreis entlang und zog schließlich einen großen runden Scheibenausschnitt heraus.

»Dance, Sie und Ihre Leute füllen die beiden Sporttaschen. Wickeln Sie die Waffen einzeln in die Handtücher ein, damit sie sich nicht gegenseitig zerkratzen.«

»Gibt es keine Drucksensoren?«, fragte Dance.

»Seien Sie nicht albern.« Sam musterte ihn, als hätte er ein begriffsstutziges Kind vor sich. »Was meinen Sie denn, was dieses Kästchen tut, das ich gerade ans Bein der Vitrine geklebt habe? Seine Impulse schalten die magnetischen Druckschalter aus.« Er nahm Nick beim Arm und ging den Korridor entlang.

»Wohin wollen Sie?«, rief Dance ihm nach.

»Brillanten«, erwiderte Sam nur.


 
Sam eilte in Shamus Hennicots Büro, als wäre er schon ungezählte Male dort gewesen. Er stieß Nick in die Ecke; dann befestigte er ein weiteres seiner Kästchen mit den roten Kuppeln auf dem Schreibtisch und schaltete die Schreibtischlampe ein. Er nahm sie hoch, drehte Nick herum und drückte ihm die Lampe in die Hände, nahm sie ihm wieder ab und stellte sie auf die lederbezogene Schreibplatte zurück. Dann riss er Nick wieder herum.

»Nur für den Fall, dass man beim Prozess gegen Sie noch ein paar Beweise braucht«, sagte Sam.

»Danke«, erwiderte Nick spöttisch. »Zu schade, dass Sie nicht lange genug leben werden, um zuschauen zu können.«

Ohne auf Nicks Anspielung zu achten, wandte Sam sich ab, stellte sich vor die Wand aus dunklem Nussholz und fuhr mit der Magnetkarte über die linke Schreibtischecke. Es klickte fast unhörbar. Er ging zur Wand und legte die Hand dagegen. Als er leicht drückte, schwang die Geheimtür auf flüsterleisen Angeln nach innen.

»Warten Sie hier.« Sam nahm das letzte Kästchen mit roter Kuppel und kicherte. »Nicht dass Sie an Dance und seinen Leuten vorbeikämen …«

»Wenn Sie Hilfe beim Safe brauchen, rufen Sie mich einfach«, entgegnete Nick und lehnte sich an den Schreibtisch.

Sam ignorierte ihn, trat über die Schwelle und befestigte das Kästchen an der Wand. Der kleine Raum hatte kahle Betonwände; von der Decke hingen drei Lampen und beleuchteten die beiden Harris-Safes.

Sam blickte auf die Uhr. Ihnen blieben keine fünf Minuten mehr, dann lösten die deaktivierten Kameras auf dem Parkplatz einen Alarm aus.

Er nahm die Sonnenbrille ab, schob sie in die Tasche und kauerte sich vor den rechten Panzerschrank. Dann drehte er das Messingrad dreimal nach rechts, um die Stifte zu befreien. Bei der vierten Umdrehung wurde er langsamer und hielt bei 64, drehte das Rad dann einmal ganz nach links und hielt bei 88; schließlich drehte er es nach rechts auf 0 und zum Schluss nach links auf 90.

Als hätte er es schon hundertmal getan, nahm Sam den Messinggriff, drückte ihn voller Zuversicht und zog die stählerne Safetür auf.

Als das Licht in den Tresorraum fiel, sah er ihn dort stehen, in all seiner schlichten Schönheit. Aus Shamus Hennicots Lieblingsholz gefertigt, dem dunklen afrikanischen Mahagoni, erschien er wie ein Baumgott in schimmerndem Glanz. Der Kasten war quadratisch, mit sechzig Zentimetern Kantenlänge und dreißig Zentimetern Höhe; der Deckel war fünf Zentimeter dick und hob sich nur durch einen kaum wahrnehmbaren Spalt ab. Die inneren Scharniere waren unsichtbar, und in den anderen drei Seiten befand sich je ein Schlüsselloch von ungewöhnlichem, achteckigem Umriss ähnlich dem Schloss an der Stahltür, das Sam vor zwei Minuten geöffnet hatte.

Sam nahm den achteckigen Schlüssel aus der Tasche und probierte ihn rasch, doch er war zu groß. Er schob ihn in die Tasche zurück. Er würde sich später damit befassen, wie er den Holzkasten aufbekam.

Sam öffnete die kleine Schublade links oben im Safe und nahm einen großen Samtbeutel heraus. Rasch öffnete er das Zugband und überzeugte sich, dass tatsächlich in dem Beutel war, was er darin vermutete. Eine Explosion aus Regenbogenfarben erstrahlte, als sich das Licht in den Facetten Hunderter großer Brillanten brach. Sam schloss den Beutel wieder und stopfte ihn sich in die Tasche.

Erst da sah er die Nachricht, die innen an der Safetür klebte. Wie hatte er sie übersehen können? Die schlichte weiße Karteikarte hätte genauso gut eine Zeitbombe sein können.

Sam konnte sich nicht vorstellen, wie sie dorthin gekommen war und woher er es wissen sollte. Er hatte zwar das seltsame Gefühl gehabt, jemanden zu spüren, als er hereingekommen war, hatte es aber seinen blank liegenden Nerven zugeschrieben.

Sam ergriff den Mahagonikasten und hob ihn aus dem Panzerschrank. Das Gewicht erstaunte ihn; der Kasten wog wenigstens zwölf Kilo. Dann riss er die Nachricht von der Safetür und las den einzelnen Satz, der darauf stand, noch einmal:


 
Überleg Dir genau, was Du tust.

Du weißt, wo ich auf Dich warte.


 
Wütend zerknüllte Sam das Schreiben. Dance nahm jedes Schwert, jeden Dolch, jeden Degen und Säbel einzeln heraus und musterte die Stücke genau, ehe er die Stücke Arilio reichte, der sie einzeln in Handtücher wickelte und in die Sporttasche legte. Aus purem Gold gefertigt, war der Griff jeder einzelnen Waffe ein juwelenbesetztes Meisterwerk aus Saphiren, Rubinen und Smaragden.

Der Käufer der Beute war ein Mann chinesisch-japanischer Herkunft – ein Sammler, dessen Vermögen angeblich in die Milliarden ging. Der Vertreter dieses Mannes erschien um 21.00 Uhr und würde zwanzig Millionen Dollar für die Sammlung zahlen, eine Summe, die viermal so hoch lag, wie Dance seinen Partnern gesagt hatte, Sam Dreyfus eingeschlossen. Jeder glaubte, Dance würde eine Million in bar erhalten, und alle waren damit zufrieden – auch wenn nur Randall und Sam Dreyfus lange genug leben würden, um das Geld zu kassieren. Und mit den Brillanten würde Dance’ Anteil auf mehr als zwanzig Millionen steigen – eine Million für Rukaj und neunzehn Millionen, um Byram Hills für immer hinter sich zu lassen.

Dance nahm die drei Schusswaffen heraus: einen Smith & Wesson Model 1 von 1857, einen Colt Peacemaker von 1876 und eine Pistole von Belatoro aus dem Jahre 1789. Alle waren Sonderanfertigungen, aber funktionstüchtig, mit Gold- und Silberverzierungen am Rahmen, Gravuren am Griff und frommen Zitaten auf dem Lauf. Dance nahm sich eine Handvoll Patronen mit silbernen, gravierten Kugeln, in die ihre Eigentümer Flüche und blasphemische Behauptungen über ihre Opfer und deren Götter hatten einätzen lassen; jede war mit dem Namen des Zieles personalisiert, für das sie bestimmt war – die Feinde, die sie ins Herz treffen sollte.

Als Dance die letzte Schusswaffe an Arilio weiterreichte, begriff er, dass Shannons Liste genau dem entsprach, was er gerade in die Tasche gelegt hatte. Shannon hatte die genaue Anzahl von Schwertern, Dolchen und Schusswaffen gewusst. Sogar die Brillanten hatte er erwähnt. Fast schien es, als hätte er eine Einkaufsliste gefunden und sie aus dem Kopf aufgesagt.

Sam und Nick kehrten aus dem Gang in das Vestibül mit der leer geräumten Vitrine zurück. Sam schob Nick vor sich her, während er die sperrige Kiste unter dem Arm trug.

»Legt die Taschen in meinen Kofferraum und kommt sofort wieder«, sagte Dance zu Arilio und Randall.

Er starrte auf Sam und den Mahagonikasten und überlegte einen Augenblick.

»Wisst ihr was?« Dance drehte sich Nick zu. »Nehmt den Kerl hier auch, sperrt ihn zu Shannon in meinen Wagen und sagt Brinehart, er soll ihn im Auge behalten.«

Arilio warf sich die beiden Sporttaschen über die Schulter, während Randall Nick am Arm packte und durch die offene Stahltür zerrte.

Als sie allein waren, trat Dance näher an Sam heran. »Was ist in dem Kasten?«

»Hier.« Sam reichte ihm den großen Beutel mit den Brillanten.

Dance öffnete das schwarze Samtsäckchen und blickte auf die funkelnde Pracht. Es waren mehr Brillanten, als er in seinem ganzen Leben gesehen hatte. Er schüttete sich ein paar Steine in die Hand und stieß sie mit dem Zeigefinger hin und her. Sie waren größer, als er je zu hoffen gewagt hatte – drei, vier und fünf Karat. Lupenrein. Sam und er hatten die Beute aus dem Safe unterschätzt. Es waren sicher mehr als zweihundert Brillanten; Dance vermutete, dass sie ihre ursprüngliche Schätzung von zweiundzwanzig Millionen mehr als verdoppeln konnten.

»Ich glaube, wir bekommen ein bisschen mehr raus, als Sie gedacht haben«, staunte Dance.

 »Ich habe nicht gewusst, dass es so viele sind«, entgegnete Sam.

»Von einem Holzkasten haben Sie auch nichts gesagt«, sagte Dance. Er lächelte, als er Sam anschaute, doch seine Augen sprachen eine andere Sprache. »Aber wenn ich jetzt darüber nachdenke … Shannon hat in der Tat von einem Kasten gesprochen.«

»Er gehört mir«, sagte Sam.

»Was ist da drin?«, fragte Dance, während er die Brillanten zurück in den Beutel gleiten ließ, den er dann fest in der linken Hand hielt. »Sie versuchen doch nicht, einen Extraanteil für sich herauszuschlagen, Sam?«

Sam starrte ihn nervös an.

»Sam …?«

»Er gehört Hennicot.«

»Alles hier gehört Hennicot«, sagte Dance.

»Er lag im Safe. Da sind auch seine Geschäftsgeheimnisse, Papiere und dergleichen.«

»Darf ich mal?« Dance zeigte auf den Kasten.

Sam konnte nichts dagegen tun. Dance schüchterte ihn ein – jetzt erst recht, nachdem Sam gesehen hatte, wie Dance kaltblütig seinen eigenen Vetter über den Haufen geschossen hatte. Widerwillig überließ er ihm den Kasten.

»Ganz schön schwer«, stellte Dance überrascht fest. Er brauchte beide Hände, um ihn zu halten. »Zu schwer für ein bisschen Papier. Was ist wirklich da drin? Gold? Noch mehr Brillanten?«

»Nein, nichts in der Art.«

»Okay. Ich will die Hälfte von dem, was da drin ist.« Dance wuchtete den Kasten hoch und ließ ihn wieder sinken. »Mit den anderen teilen wir nicht, aber ich will meine Hälfte.«

»Wir müssen hier weg«, sagte Sam mit einem Blick auf die Uhr. »Wir haben nur noch vier Minuten.«

 »Erst wenn Sie mir gesagt haben, was in dem verdammten Kasten ist.« Dance stellte sich zwischen Sam und den Ausgang.

Sam fühlte sich in die Ecke gedrängt. Seine Blicke huschten durch den Raum. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. »Ich gebe Ihnen meinen Anteil an den Brillanten und den Antiquitäten.«

Etwas Schlimmeres hätte Sam nicht sagen können, denn seine Worte bestätigten den Wert des Kastens.

»Sie nehmen lieber die Schachtel mit dem Fragezeichen als alles andere, was wir hier rausbringen?«, fragte Dance erstaunt.

Sam nickte.

»Ich will Ihren Anteil nicht«, sagte Dance. »Sie haben ihn sich verdient. Ich will nur sicher sein, dass niemand mich wegen ein paar zusätzlichen Dollar übers Ohr haut.«

»Ich versuche nicht, Sie übers Ohr zu hauen.«

»Arbeiten Sie mit Ihrem Bruder zusammen?«

»Was?«, fragte Sam erstaunt.

»Holt er Sie ab? Versuchen Sie zu verschwinden?«

»Na klar, ich stehle ihm sämtliche Informationen über die Alarmvorrichtungen hier unten, und dann rufe ich ihn an, dass er mich abholen soll.«

»Geben Sie mir Ihr Handy.« Dance streckte die Hand aus.

»Was ist denn jetzt schon wieder? Bekommen Sie jetzt Angstzustände, oder was?«, fragte Sam, zog aber sein Mobiltelefon aus der Tasche und reichte es dem Detective.

»Ich bin nur vorsichtig. Ich will nicht, dass Sie Ihren Bruder tatsächlich anrufen und ihm sagen, er soll Sie irgendwo abholen.«

»Das ist doch albern!«

»Warum machen Sie nicht den Kasten auf und zeigen mir, was drin ist? Dann werden wir ja sehen, wie albern das ist.«

»Das kann ich nicht.«

 »Wieso nicht?«

»Weil ich die Schlüssel nicht habe. Begreifen Sie doch«, sagte Sam bittend, »er ist wertlos.«

»Für jeden außer Ihnen und Hennicot.« Dance stellte den Kasten auf einen Tisch, drehte ihn herum und betrachtete die drei Schlüssellöcher. »Erstaunlich viele merkwürdige Schlösser für etwas von so geringem Wert.«

Sam hüllte sich in Schweigen.

»Warum sagen Sie mir nicht einfach die Wahrheit?« Dance zog die Pistole, ließ den Lauf jedoch gesenkt.

»Wenn Sie mich erschießen, bekommen Sie den Kasten niemals auf. Und eines sollten Sie nicht vergessen«, fuhr Sam mit wachsender Selbstsicherheit fort. »Wenn ich tot bin, erfahren Sie nie, wie Sie die Ersatzsicherung löschen, die eine Aufnahme von Ihrem Gesicht aufgezeichnet hat.«

Dance hob die Waffe. »Was haben Sie getan?«

»Ich will Ihnen etwas zeigen.« Sam führte Dance zu der Stahltür in dem kleinen Vestibül und bedeutete ihm, sich mit dem Rücken zur Treppe direkt vor die unterste Stufe zu stellen.

»Sehen Sie hoch«, sagte er.

Dance musterte die Wand mit der Lilientapete, legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die Zierleiste zwischen Wand und Decke. Sein Herz machte einen Satz, als er sie sah. Sie war klein und sah aus wie eine Falte in der Tapete, wo sie die Zierleiste berührte; tatsächlich aber befand sich dort eine winzige Linse.

»Die Kamera ist genau auf das obere Ende der Treppe gerichtet, und sie taucht in keinem Plan auf. Was diese Kamera überträgt, geht wie alle anderen Aufnahmen in eine Datei auf dem Server von Hennicots Anwälten, aber die Bilder dieser speziellen Kamera sind zusätzlich verschlüsselt. Der Code, mit dem man sie betrachten oder löschen kann, ist nur Hennicot, meinem Bruder und mir bekannt. Gute Idee – eine Sicherheitsmaßnahme gegen einen Einbruch mit Informanten, nicht wahr? Hennicots Anwältin braucht die Datei nur an Hennicot, Paul oder mich zu schicken. Wir können sie öffnen, und dann kann die ganze Welt sich daran erfreuen. Man wird Sie sehen … und Arilio … und Randall …«

»Und Sie«, erwiderte Dance und richtete die Waffe auf Sam.

»Nein, nur Quinn. Ich wusste, dass die Kamera dort war, also habe ich darauf geachtet, dass mein Gesicht nicht von ihr aufgenommen wird.«

Dance starrte Sam durch die Tür an.

»Vergessen Sie nicht«, sagte Sam, »ich bin der Einzige, der an diese Dateien herankommt und dafür sorgen kann, dass niemand sie sieht. Aber wenn wir ein Problem haben …«

Dance kehrte ins Vestibül zurück.

»Erfreuen Sie sich an Ihren Einkünften aus diesem Coup«, sagte Sam. »Aber der Kasten gehört mir.«

Randall und Arilio kamen die Treppe herunter.

»Was soll die Kanone?«, fragte Randall.

Dance und Sam überhörten die Frage.

»Nehmt den Glasschneider, und vergesst das Glasstück nicht«, sagte Dance zu ihnen und deutete auf die Werkzeuge am Boden. »Und zieht die Handschuhe erst aus, wenn wir das alles losgeworden sind.«

»Wir verspäten uns«, drängte Sam. »Wir haben keine zwei Minuten mehr, ehe der Systemalarm für die ausgeschalteten Kameras losgeht.« Er blickte Dance an. »Und ich muss mich noch immer um den primären Videoserver kümmern.«

»Also gut, gehen wir«, sagte Dance. »Aber wissen Sie was, Sam? Sie gehen voraus.«

Arilio und Randall blickten zwischen den beiden Männern hin und her, ohne zu begreifen, was vor sich ging.

»Wenn Ihr Gesicht auf dem Weg herein von Quinn verdeckt wurde, dann jedenfalls nicht mehr auf dem Weg raus«, sagte Dance und richtete die Pistole auf Sam. »Und vergessen Sie nicht unseren Kasten.«

Sam starrte auf die Waffe. Mit zitternden Händen nahm er den Kasten auf und ging zur Tür hinaus. Randall und Arilio schlossen sich ihm an.

»Nur die Ruhe, ihr beiden«, sagte Dance. »Lasst ihn zuerst gehen.«

Sam trat durch den Durchgang aus gebürstetem Stahl.

»Ich hoffe, Ihnen ist klar, Sam«, sagte Dance, »dass Ihre Drohungen mich kaltlassen. Mich kümmert es nicht, ob mein Gesicht auf irgendeinem Überwachungsvideo zu sehen ist. Ich könnte Ihnen eine Kugel ins Bein schießen und Sie hier zurücklassen, damit Sie als Lenker und Denker bei diesem Einbruch die ganze Schuld aufgeladen bekommen. Ein Verbrechen, bei dem Sie auf frischer Tat ertappt wurden.« Dance bedeutete Sam mit der Waffe, die Treppe hinaufzusteigen.

Sam ging die fünfzehn Stufen hoch und blieb am oberen Ende stehen.

»Und jetzt, Sam«, sagte Dance und richtete die Waffe auf ihn. »Bitte umdrehen und lächeln.«

Sam gehorchte und blickte genau auf die Stelle, wo die kleine Kamera war.

»Wir sind ein gutes Team, was?«, fragte Dance.

Sam lächelte Dance siegessicher an.

Dance brauchte einen Augenblick zu lange, um zu begreifen, dass Sams Lächeln nicht gezwungen, sondern echt war. Ehe Dance zwei Schritte tun konnte, huschte Sam durch den Durchgang am oberen Ende der Treppe und schloss die siebeneinhalb Zentimeter dicke Stahltür mit einem Knall, der den Boden erbeben ließ. Das Magnetschloss verriegelte sich augenblicklich und sperrte Dance und seine Komplizen ein. Sam rannte zur Vorratskammer an der Küche, riss die Tür auf, schob den achteckigen Schlüssel ins Schloss und drückte das verborgene Türpaneel auf, sodass er den klimatisierten Computerraum betreten konnte.

Der im Rack montierte Server enthielt vier separate Festplatten, die man einzeln während des Betriebs entnehmen konnte; jede hatte fünfhundert Gigabyte Kapazität – genug, um die Überwachungsvideos von fünf Tagen redundant abzuspeichern.

Sam schob ein Kabel in die Schnittstelle, isolierte das andere Ende ab und schob die blanken Kabelenden in eine Wandsteckdose. Der Server verfügte über einen Überspannungsschutz gegen Spannungsspitzen und einen Stromkreisunterbrecher gegen Blitzschlag, doch diese Vorrichtungen schützten allesamt die Spannungsversorgung und die Netzwerkeingänge des Systems. Nichts widerstand der Vernichtungskraft von 110 Volt Wechselspannung, die durch eine gewöhnliche Schnittstelle in die Computerschaltkreise eingespeist wurde.

Es vergingen nur Sekunden, dann schlug das Gehäuse Funken, und Rauch quoll aus den Medienschächten. Nachdem Sam das System im Wortsinn gegrillt hatte, zog er das Kabel wieder aus der Steckdose, ehe ein Brand ausbrach. Er hatte sich vielleicht zu Einbruchdiebstahl herabgelassen, doch das konnte er letztendlich rechtfertigen. Mord und Brandstiftung gehörten allerdings nicht in sein Vokabular.

Mit seinem Messer hebelte er die vier verschmorten Festplatten aus dem Gehäuse, legte sie auf den Mahagonikasten und hob ihn auf. In der Speisekammer schloss er das Türpaneel wieder, stürmte durch die Küche, verließ das Haus durch die Hintertür und gelangte auf den Parkplatz.

»Sind wir fertig?«, fragte Brinehart, an seinen Wagen gelehnt.

»Erfolg auf ganzer Linie«, sagte Sam und versuchte, den jungen Cop seine Aufregung nicht anmerken zu lassen.

 »Na, toll.« Brinehart grinste breit. »Das war ja einfach.«

Sam ging zu Shannons Mustang. Die Fahrertür stand noch offen, und wie erhofft steckte der Schlüssel. Er warf Kasten und Festplatten auf den Beifahrersitz.

»He!«, rief Brinehart. »Hat Dance gesagt, dass Sie Shannons Mustang nehmen dürfen?«

Als Sam sich umdrehte, lehnte Brinehart an Dance’ klapprigem Taurus. Durch das Heckfenster starrte Nick ihn an.

»Sie müssen zugeben, dass Shannon einen guten Geschmack hatte, was Autos angeht«, sagte Brinehart, wobei er auf Sam zuging.

»Stimmt«, entgegnete Sam und nahm auf dem Fahrersitz Platz. Er war froh, dass Brinehart nicht die Schlüssel abgezogen hatte. Sam schaute unter dem Sitz und in den Taschen der Türen nach und fand schließlich, was er suchte. Er wusste, dass Dance zwei Waffen besaß und war froh, dass sein Partner Shannon die gleiche Entscheidung getroffen und im Handschuhfach eine zweite 9-mm-Pistole deponiert hatte.

»Also sind wir fertig?«, fragte Brinehart, ohne stehen zu bleiben.

Sam drehte den Zündschlüssel. Der großvolumige Shelby-Motor erwachte grollend zum Leben, als wäre er aus langem Schlaf geweckt worden. Sam packte die Pistole mit festem Griff. Ein Gefühl der Sicherheit durchströmte ihn, als er die Waffe in den Hosenbund steckte. Dann trat er aufs Gas, legte den ersten Gang ein und ließ die Kupplung kommen. Mit aufbrüllendem Motor schoss der Wagen schlingernd und mit qualmenden Reifen vom Parkplatz.

»Oh ja, wir sind fertig«, rief Sam gegen den Lärm des Motors an. Dance stürmte die Treppe hinauf und rammte die Schulter gegen die siebeneinhalb Zentimeter dicke Feuerschutztür aus Stahl. Sie gab nicht einmal ein Geräusch von sich, als er mit seinen hundert Kilo von ihr zurückprallte.

»Verdammtes Mistding!«, fluchte Dance und richtete seine Pistole auf die Tür.

»Nein!«, rief Randall. »Der Querschläger bringt dich um!«

Dance begann vor Wut zu zittern. Er stürmte die Treppe wieder hinunter und rannte durch die Tür des Gewölbes auf der hektischen Suche nach einem Ausweg. Er eilte durch das Lager, durch den Besprechungsraum und in Hennicots elegantes Büro – irgendwo musste doch ein Notausgang für Situationen sein wie die, in der sie sich befanden!

Er wollte das Büro gerade wieder verlassen, als er auf dem Fußboden ein zusammengeknülltes Stück Papier entdeckte, das so gar nicht in diese ordentliche, blitzsaubere Umgebung passte.

Dance nahm das Papier auf, faltete es auseinander, las rasch durch, was darauf stand, stopfte es sich in die Tasche und rannte wieder zur Treppe.

»Was ist, wenn wir die Sprinkleranlage auslösen?«, schlug Arilio vor und nahm sein Feuerzeug aus der Tasche. »Ich wette, das gibt die Tür frei. Hennicot würde bestimmt nicht zulassen, dass einer seiner Angestellten hier versehentlich gebraten wird.«

»Weg damit«, sagte Dance und riss Arilio das Feuerzeug aus der Hand. Er zeigte auf die flachen Metallscheiben, die in regelmäßigen Abständen auf der Decke saßen. »Hier gibt es ein Halon-Löschsystem, damit keines der Sammlerstücke nass wird. Wenn du das System aktivierst, bleibt uns die Luft weg. Außerdem wird die Feuerwache alarmiert. Noch irgendwelche genialen Ideen, du Trottel?«

»Na ja«, sagte Randall. »Die Türen sind magnetisch verschlossen und haben bestimmt ’ne Notbatterie, also hilft es nichts, die Stromversorgung zu unterbrechen.«

»Danke, dass du das Offensichtliche aussprichst, Idiot«, sagte Dance.

»Natürlich!«, rief Randall unvermittelt.

»Was ist?«, fragte Dance, als er in Randalls Augen die Hoffnung sah.

»Wir brauchen nur den Magneten auszuschalten, den Stromkreis zu unterbrechen«, sagte er, ging zum Schaukasten und nahm das kleine Kästchen von dem Stützbein. Dann ging er zur Treppe und stieg sie hinauf. Dance und Arilio folgten ihm im Abstand von zwei Schritten.

Randall befestigte das Kästchen am oberen Ende der Tür auf der Magnetplatte.

Die Stahltür schwang auf.


 
Der A 300 stand auf der Startbahn und wartete auf die Freigabe. Die Maschine hatte bereits fünfzehn Minuten Verspätung. Seit der Ankündigung, dass sie mit kurzer Verzögerung starten würden, hatte es keine weitere Erklärung gegeben. Es kursierte bereits das Gerücht, die Maschine könne wegen eines mechanischen Defekts überhaupt nicht starten, und die Passagiere müssten in ein anderes Flugzeug umsteigen. Doch niemand glaubte so recht daran, weil vor ihnen bereits drei weitere Flugzeuge auf die Starterlaubnis warteten und sich hinter ihnen immer mehr Maschinen in die Warteschlange einreihten.

Julia überlegte, ob sie kurz das Handy einschalten sollte, um nachzusehen, ob sie Nachrichten erhalten hatte, ließ es dann aber bleiben, als über Lautsprecher eine Stimme erklang:

»Guten Morgen, meine Damen und Herren. Mein Name ist Kip Ulric. Ich werde auf unserem kurzen Flug nach Boston Ihr Kapitän sein. Wie Sie vermutlich bereits festgestellt haben, sind wir ein wenig verspätet, aber ich versichere Ihnen, es liegt kein technisches Problem vor, und auch das Wetter spielt uns keinen Streich. Der Grund für unsere Verspätung ist ein niedliches, vierbeiniges Tier. Wenn Sie auf der linken Seite der Maschine sitzen, können Sie es sehen. Vielleicht winken Sie ihm einmal zu.«

Als Julia und Katherine aus dem Fenster blickten, sahen sie einen gelben Labrador, der über die Startbahn flitzte, verfolgt von vier Mitarbeitern des Bodenpersonals.

»Ich kann Ihnen versichern, meine Damen und Herren, dass die Jagd sich ihrem Ende nähert, denn ich habe gerade erfahren, dass ein Mechaniker mit einem saftigen Steak unterwegs ist. Wir werden in Kürze starten.«

Julia lächelte Katherine an. Beide warfen einen letzten Blick auf den hechelnden Labrador; dann schlossen sie die Augen und warteten auf den Start.


 
Nick saß auf der Rückbank von Dance’ Wagen neben Shannons Leiche, die blutverschmiert am Fenster lehnte, von einem Sicherheitsgurt gehalten, als wäre es ein schlechter Scherz. Er stemmte sich gegen seine Handschellen, doch jedes Mal, wenn er sich bewegte, schlug Brinehart drohend gegen das Fenster. Der Streifenbeamte hielt sich für einen harten Burschen, dem Reichtum und Erfolg so gut wie sicher waren; er ahnte nicht, dass er in drei Stunden ein toter Mann sein würde, von seinem Mentor von einer Brücke gestoßen.

Nick konnte noch immer nicht die kalte Gleichgültigkeit fassen, die er in Dance’ Augen gesehen hatte, als er den eigenen Vetter erschoss. Ohne es gesehen zu haben, wusste er, dass Dance mit dem gleichen kalten Blick auch Julia fixiert hatte, als er sie ermordet hatte.

In diesem Augenblick stürmte Dance laut brüllend aus dem Gebäude und rannte über den Parkplatz. Randall und Arilio folgten ihm auf dem Fuße. Dance packte Brinehart beim Kragen, schleuderte ihn gegen das Auto und schlug ihn zu Boden. Mit tierhafter Wut riss er die Tür auf und warf sich auf den Fahrersitz, ließ den Motor an, trat das Gaspedal durch und setzte mit rauchenden Reifen von der Auffahrt des Washington House auf die Maple Avenue. Dance bog nach links auf die Route 22 ab. Nick wurde gegen Shannons Leiche gedrückt, als der Wagen in der Kurve schlingerte.

Schweißperlen bildeten sich auf Dance’ Stirn, als er sein Walkie-Talkie einschaltete.

»Hallo, Lena?«, fragte er mit geheuchelter Heiterkeit. Ein falsches Lächeln trat auf sein Gesicht und machte die Täuschung komplett.

»Hallo, Dance«, antwortete eine von Rauschen unterlegte Stimme.

»Shannons Funkgerät ist hinüber, und ich bekomme ihn nicht ans Handy. Wir sollen uns heute Morgen irgendwo treffen, aber ich weiß nicht, wo er steckt.«

»Kleinen Moment …«, sagte Lena. »Er ist auf der Sechs-acht- vier.«

»Ich liebe GPS«, sagte Dance. »In welche Richtung fährt er?«

»Nach Süden … nein, halt, er ist gerade zum Flughafen abgebogen. Fliegt ihr zusammen in ein romantisches Wochenende?«

»Jetzt hast du uns ertappt.« Dance lachte.

»Ich sehe gerade, Shannon fährt zum Terminal für Privatflugzeuge.«

»Danke, Lena.«

»Kein Problem. Und nächstes Mal schreib es dir auf.«

»Aber sicher, Lena.«

Nick wurde auf der Rückbank hin und her geworfen, als Dance den Taurus beschleunigte, sich auf die US-684 einfädelte und mit flackerndem Blaulicht und heulender Sirene mit hundertsiebzig Stundenkilometern über die Interstate jagte, bis er sie nach zwei Meilen an der Ausfahrt zum Flughafen wieder verließ. Dance fuhr nach links, benutzte die Gegenfahrbahn und wich entgegenkommendem Verkehr immer wieder auf halsbrecherische Weise aus, indem er Lücken auf der rechten Spur nutzte.

Dance’ Handy klingelte. Er klappte es auf und sagte: »Ja.«

»Detective.« Die Stimme mit dem schweren albanischen Akzent erfüllte über die Freisprechanlage den ganzen Wagen. Nick machte die Stimme eine Gänsehaut.

»Wie oft wollen Sie heute noch anrufen?«, fuhr Dance ihn an, doch Nick spürte, dass sich Angst in die Wut des Detectives mischte, was er bei Dance bisher noch nie erlebt hatte. Es war nicht bloß Furcht, es war ein Entsetzen, das an Panik grenzte.

»Ich bin ein großzügiger Mann«, sagte die ausländische Stimme. »Sie sollten es als Gunst auffassen, dass Sie noch leben. Zweimal haben Sie Aufschub erhalten. Mehr gibt es nicht. Vielleicht gefällt es Ihnen ja, mich in noch mehr Körperteilen zu bezahlen.«

»Ich sagte, Sie bekommen es am Freitag.«

Vor ihnen erschien die Einfahrt zum Flughafen.

»Heute ist Freitag.«

Dance klappte das Handy zu und stopfte es sich wieder in die Tasche. Blind vor Wut trat er aufs Gaspedal und schlug den Weg zum Privatflugzeugterminal ein.


 
Sam Dreyfus fuhr auf das offene Rollfeld, wo dreißig verschiedene Privatflugzeuge abgestellt waren: Pipers, Lear Jets, Cessnas, Hondas. Ein Parkplatz für den Jetset im wahrsten Sinne des Wortes.

Er hielt direkt auf die weiße Cessna 400 zu, neben der sein Bruder Paul stand, kam schlitternd zum Stehen und sprang aus dem Wagen.

 »Was ist hier los, verdammt?«, brüllte Sam.

»Ich verstehe dich nicht«, entgegnete Paul kopfschüttelnd. »Nach allem, was ich für dich getan habe, und nach allem, was du letztes Jahr gesagt hast. Ich dachte, du wärst ein anderer geworden.«

»Machst du dir eine Vorstellung, was für ein Wert hier drin ist?« Sam nahm den Mahagonikasten vom Beifahrersitz. »Begreifst du überhaupt, was wir hiermit auf die Beine stellen könnten?«

»Warum sagst du ›wir‹? Das Wort hat in deinem Vokabular nie existiert. Du bist immer den leichtesten Weg gegangen. Und wenn die Welt sich nicht um dich gekümmert hat, bist du sauer geworden.«

»Du hast mir eine Scheißnachricht hinterlassen: ›Überleg dir genau, was du tust. Du weißt, wo ich auf dich warte.‹ Willst du dich mir in den Weg stellen, oder willst du einen Anteil?« Sam hob den Kasten.

»Ich wollte, dass du erkennst, wie leicht man dir auf die Schliche kommt.«

»Du hast genau gewusst, was ich vorhabe. Du hättest dich an die Bullen wenden sollen.«

»Das hast du ja bereits getan.«

»Warum hast du den Kasten zurückgelassen, wenn du genau wusstest, dass ich ihn mitnehme? Hast du gedacht, ein dämlicher Zettel bringt mich von meiner Entscheidung ab?«

»Sam.« Paul musterte seinen Bruder eindringlich und voller Enttäuschung. »Gib mir den Kasten. Lass mich versuchen, die Sache wieder in Ordnung zu bringen.«

»Bist du verrückt geworden?«, explodierte Sam. »Das lasse ich mir nicht abnehmen!«

»Niemand braucht zu wissen, dass du in den Einbruch verwickelt bist. Noch haben wir Zeit.«

»Zeit wofür?«, fuhr Sam seinen Bruder an. »Du glaubst, du kannst das alles ungeschehen machen? Du meinst, du kannst den Einbruch einfach auslöschen? Die anderen dazu bringen, dass sie ihre goldenen Messer, Schwerter und Revolver zurückgeben? Ich glaube nicht, dass sie gerne auf die Brillanten verzichten würden.« Sam lachte auf. »Du bist wirklich ein Sonnyboy, weißt du das? Lass dir gesagt sein, Paul, die Welt ist in Unordnung. Und du hast sicher recht – ich habe mein Leben in dem Glauben vergeudet, dass die Welt mir etwas schuldig sei, dass ich versorgt werden müsse. Aber du hast mich die Wahrheit gelehrt: Wir müssen uns nehmen, was wir wollen, ehe ein anderer uns zuvorkommt.«

Aus dem Nichts schlugen rings um sie Kugeln ein, rissen den Boden auf, prallten sirrend von den Flugzeugen und Autos ab. Als Paul und Sam herumfuhren, sahen sie Dance, der auf sie zugerannt kam. Seine Dienstwaffe war direkt auf Sam gerichtet. Er schoss unablässig; immer wieder zuckten Feuerzungen aus dem Lauf.

Sam und Paul warfen sich aus der Schusslinie und gingen hinter einer Cessna Caravan in Deckung. Die tief liegende Unterseite und der dicke Rumpf des umgebauten Frachtflugzeugs schützten sie perfekt.

»Gib mir die Schlüssel von deiner Cessna!«, rief Sam, an den Boden gedrückt.

»Was? Du bist zwanzig Jahre nicht mehr geflogen! Heute gibt es keine mechanischen Instrumente mehr. Ich habe ein Glascockpit, keinen Uhrenladen. Das ist komplizierter als jedes Kleinflugzeug, das du je geflogen bist, und jeder Computer, den du je angerührt hast.«

Sam zog Shannons Ersatzpistole aus dem Hosenbund und richtete sie auf seinen Bruder. »Die Schlüssel. Nun mach schon!«

»Du bringst dich um«, erwiderte Paul, ohne auf die Waffe zu achten.

 »Vielleicht.« Sam spähte um die Nase des Flugzeugs herum. Dance war noch fünfzig, sechzig Meter entfernt und kam rasch näher. »Aber das Vergnügen gönne ich keinem anderen.«

Sam drückte seinem Bruder die Pistolenmündung aufs Herz. In Pauls Augen war keine Furcht zu sehen, keine Panik, nur tiefe Traurigkeit und die bittere Enttäuschung, dass der eigene Bruder, von dem er geglaubt hatte, er könne vernünftig mit ihm reden und den er noch immer liebte, tatsächlich auf ihn schießen wollte.

»Möchtest du, dass Susan Witwe wird?«, rief Sam. »Was ist mit deinen Töchtern? Sind dir ein paar verdammte Schlüssel lieber?«

Wider besseres Wissen griff Paul in die Tasche, holte die Schlüssel heraus und reichte sie seinem Bruder.

Sam klemmte sich den Kasten unter den Arm, überprüfte das Magazin in seiner Waffe und rannte los. Die Cessna stand nur dreißig Meter entfernt mit dem Bug zur Zufahrtsstraße, flugbereit. Sam sprintete, so schnell er es mit seinen neunundvierzig Jahren konnte. Nach wenigen Metern keuchte er laut, der Preis für lebenslangen Zigarettenkonsum.

Dance näherte sich rasch. Er hatte die Entfernung zur Hälfte zurückgelegt, und seine Kugeln pfiffen in einem metronomartigen Sekundenabstand heran.

Sam war sicher, dass er es schaffte. Er würde dieser Stadt entkommen, diesem mordlustigen Polizisten, dieser ganzen beschissenen Situation. Und war er erst einmal in der Luft, könnte ihn nichts mehr aufhalten. Für die drei Schlösser am Mahagonikasten bräuchte er Zeit, Monate vielleicht, doch er hatte sich die entsprechenden Pläne aus Pauls Akten kopiert. Für ihn gab es keinen Zweifel, dass er diesen Kasten knacken konnte, und dann …

Er war nur noch fünf Meter vom Flugzeug entfernt, als die Kugel ihn in die Seite traf. Brennender Schmerz riss ihn von den Füßen, und er stürzte schreiend zu Boden. Als er mit dem Schädel auf das Hallenvorfeld prallte, flog ihm der Kasten aus den Händen und segelte sich überschlagend unter die Cessna 400.


 
Als Dance am anderen Ende des Hallenvorfelds Sam Dreyfus mit seinem Bruder Paul neben einer Reihe Privatflugzeugen entdeckte, den Mahagonikasten unter dem Arm, vergaß er sich vor Wut. Er sprang aus dem Wagen, riss die Pistole heraus und feuerte auf den Mistkerl, der ihn betrogen hatte.

Doch in seinem Zorn hatte er Nick allein auf der Rückbank des Taurus zurückgelassen.

Unbeobachtet zog Nick die Knie an die Brust, zerrte seine mit Handschellen auf den Rücken gefesselten Hände über sein Hinterteil und schob die Beine durch die Arme, froh, dass Schwimmen und Fitnesstraining ihn gelenkig gehalten hatten. Mit den gebundenen Händen griff er nach Shannons Leiche. Das Blut auf dem Hemd des Toten war hart geworden, und seine toten Augen starrten Nick an. Hastig suchte Nick in Shannons Taschen, fand den Handschellenschlüssel, zog ihn heraus und befreite sich, so schnell er konnte.

Dann nahm er Shannons Pistole, eine österreichische Glock, musste jedoch feststellen, dass das Magazin fehlte. Er zog den Schlitten zurück: Die Kammer war leer. Er drehte Shannon herum und suchte am Gürtel des Toten nach Ersatzmagazinen, doch sie waren verschwunden. Brinehart war kein Dummkopf: Er hatte Nick nicht mit einem Toten und einer geladenen Waffe im Wagen gelassen.

Nick behielt die Glock trotzdem und zerschlug mit dem Griff die Fensterscheibe. Nachdem er die Splitter aus Sicherheitsglas herausgeschabt hatte, schob er sich durchs Fenster, öffnete die Fahrertür und betätigte den Kofferraumhebel.

Er eilte hinter den Wagen und riss die Sporttaschen auf. Eine nach der anderen holte er die kostbaren exotischen Waffen aus den Handtüchern und ließ sie auf den Boden des Kofferraums fallen: Schwerter und Dolche, Degen und …

Revolver.

Nick nahm den kunstvoll gravierten, mit Gold eingelegten Colt Peacemaker an sich, die Waffe, die ihm in seiner Garage untergeschoben werden würde. Er brauchte sie nicht auszuprobieren; er wusste, dass sie funktionierte, denn damit würde Dance in Kürze Julia ermorden, falls er nicht aufgehalten wurde.

Nick drehte die Trommel und suchte in der Sporttasche, bis er an deren Boden die Silberkugeln fand. Er nahm sich eine Handvoll, lud die sechs Kammern der Trommel und stopfte sich den Rest in die Tasche.

Mit schussbereiter Waffe rannte er Dance hinterher. Der verbrecherische Detective stand vor dem am Boden liegenden, blutüberströmten Sam Dreyfus. Als Nick sah, wie Dance die Pistole an Dreyfus’ Hinterkopf setzte, hob er den Revolver und feuerte in rascher Folge drei Kugeln ab. Dance sprang zwischen den Flugzeugen und Autos in Deckung.

Nick gelangte bis zu den in einer Reihe stehenden Privatflugzeugen und arbeitete sich von dort aus weiter voran, spähte um Ecken und unter die Bäuche der Maschinen. Immer wieder schaute er nach hinten und zu den Seiten, um nicht aus dem Hinterhalt angegriffen zu werden.

Als er Shannons Mustang erreichte, blickte er unter das Fahrzeug und erkannte, dass jemand hinter dem Wagen hockte, ohne zu ahnen, dass Nick ihn sah. Vorsichtig kroch Nick um den Wagen herum, arbeitete sich geräuschlos am Heck vorbei nach vorne …

… als ihm plötzlich eine Pistolenmündung gegen den Hinterkopf gestoßen wurde.

»Waffe fallen lassen«, sagte eine Männerstimme. »Hände über den Kopf.«

 Als Nick gehorchte und die Waffe fallen ließ, erkannte er zu spät seinen tödlichen Fehler. Er war noch nie beschossen worden und hatte vorschnell Schlüsse gezogen, wo Dance sich befände. Die Füße, die er hinter dem Wagen gesehen hatte, hatten aber nicht Dance gehört, sondern Paul Dreyfus, der nun die Gunst des Augenblicks nutzte und davonrannte, um sich ein neues Versteck zu suchen.

Nick drehte sich langsam um und blickte Dance in die Augen.

»Ich kann gar nicht sagen, wie gerne ich Sie längst schon getötet hätte. Jetzt ist es endlich so weit.« Dance’ Finger krümmte sich um den Abzug, drückte ihn langsam zurück.

Nicks linker Arm schoss blitzschnell vor, packte die Waffe und wand sie Dance aus der Hand. In einer einzigen flüssigen Bewegung warf er die Pistole zur Seite, während er die rechte Faust gegen Dance’ Kinn hämmerte. Dance wurde nach hinten geschleudert. Nick stürzte sich auf ihn, ließ einen Schlag nach dem anderen auf den Gegner niederhageln, hämmerte ihm die Fäuste ins Gesicht, in die Rippen, ließ seine ganze Wut an ihm aus, seine ganze Rachlust für alles, was dieser Mann getan hatte und was er in den kommenden Stunden verantworten würde: den Tod von Julia, Marcus, Paul Dreyfus, Corporal McManus und seines eigenen Vetters, Shannon, der sich auf Nicks Seite gestellt hatte.

Aber das alles würde Nick verhindern. Er würde Dance aufhalten, hier und jetzt. In wenigen Sekunden würde alles enden. Er würde Dance aus der Zukunft eliminieren, ganz gleich, welche Folgen es für ihn selbst hatte.

Plötzlich traf ihn aus dem Nichts eine Wolke Staub in die Augen, blendete ihn und raubte ihm die Orientierung. Als Dance’ Hieb ihn aufs Ohr traf, riss es ihm den Kopf zur Seite. Wieder und wieder schlug Dance mit seiner ganzen adrenalingeschürten Wut zu. Wie ein in die Ecke getriebenes Tier kämpfte er um sein Leben und konnte Nick schließlich zu Boden schlagen.

Nick lag dort. Ihm schwindelte, und er versuchte mühsam, sich zu bewegen. Ehe er wusste, wie ihm geschah, war die Pistole wieder an der gleichen Stelle wie zu Anfang: an seinem Kopf.

»Keine Zeit für Monologe«, stieß Dance schwer atmend hervor und wischte sich das Blut aus dem Gesicht, als er erneut den Finger um den Abzug krümmte.

Als der Schuss peitschte, drang ihm die Kugel vom Kaliber .45 von der Seite in den Schädel. Dance stand einen Augenblick wie angewurzelt da, einen verwirrten Ausdruck auf dem Gesicht.

Dann brach er tot zusammen.

Als Nick sich herumrollte, sah er Paul Dreyfus auf einem Knie hocken, den exotischen Colt Peacemaker im beidhändigen Anschlag.

»Ich war in Vietnam«, sagte Dreyfus und atmete tief durch. »Als Sanitäter … aber ich war auch ein verdammt guter Schütze.«


 
Mit ohrenbetäubendem Brüllen jagte hinter Nick und Paul eine Passagiermaschine vom Typ Airbus A 300 über die südliche Startbahn. Die kreischenden Triebwerke jagten das Flugzeug mit brachialer Kraft über die Piste und hoben es schließlich sanft in den blauen Vormittagshimmel.

Als Nick und Paul Dreyfus sich umwandten, sahen sie, wie Sam den Mahagonikasten auf den Sitz der Cessna 400 wuchtete. Er griff ins Innere der Maschine und schlug auf den Anlasser und den Zünderschalter. Der Motor erwachte hustend zum Leben.

An der Seite blutend, wandte Sam sich seinem Bruder zu, hob die Pistole und zielte damit abwechselnd auf Nick und Paul, während er in die kleine zweisitzige Maschine kletterte.

»Sam, bitte!«, rief Dreyfus über den Propellerlärm hinweg. Noch immer hielt er den kostbaren Colt in der Hand, doch nun baumelte er harmlos an seiner Seite. »Du bist seit Jahren nicht mehr geflogen.«

»Sag du mir nicht, was ich kann und was nicht!«, rief Sam zurück. »Mein Leben lang hast du alles bestimmt … meinen Job, meinen Gehaltscheck … Du kannst mich mal! Jetzt nehme ich mein Leben selbst in die Hand!«

»Wir können darüber sprechen!«, flehte Dreyfus.

»Was willst du noch besprechen, verdammt? Ich brauche dich nicht mehr«, erwiderte Sam und tätschelte den Kasten.

»Du wirst ihn niemals aufbekommen! Der Kasten ist aus zolldickem Titan, deshalb ist er so schwer. Das Mahagoni ist reine Zierde. Die drei Schlösser lassen sich nur mit den drei passenden Schlüsseln öffnen, die gleichzeitig gedreht werden müssen.«

»Schon wieder hältst du mich für dumm!« Sam holte mühsam Luft. Der Blutfleck auf seinem Hemd wurde größer, während sein Gesicht alle Farbe verlor. »Ich krieg das schon raus, keine Bange.«

Nick stand auf. Er begriff, was geschehen würde.

»Sie müssen ihn aufhalten!«, rief er Paul zu und trat an seine Seite.

»Halten Sie sich da raus«, erwiderte Paul, ohne Sam aus den Augen zu lassen. »Ich weiß, was ich tue.«

»Sie begreifen nicht«, bat Nick. »Wenn er losfliegt …«

»Verdammt noch mal, er ist mein Bruder! Ich weiß nicht, wer Sie sind, aber ich habe Ihnen gerade das Leben gerettet, also halten Sie sich raus, ehe Sie sich auch noch eine Kugel einfangen!« Ohne Warnung feuerte Sam vor Nick in den Boden. »Hören Sie meinem Bruder lieber zu, er irrt sich nie.«

Paul betrachtete die Wunde in Sams Seite, aus der immer noch Blut strömte. In hilflosem Zorn drückte er den exotischen Revolver in seiner Hand fester.

»Wenn du auf mich schießen willst, wenn du mich umbringen willst, dann tu es jetzt!«, rief Sam herausfordernd.

 Paul Dreyfus legte den Peacemaker auf den Boden und wich ein paar Schritte zurück.

Die Brüder starrten einander an. Der Augenblick dehnte sich.

»Sam«, sagte Paul schließlich. »Bitte …«

Ohne ein weiteres Wort knallte Sam die Tür zu, ließ den Motor der Cessna aufheulen und entfernte sich von dem kleinen Vorfeld.

Auf der schmalen Zufahrtsstraße nahm die Maschine rasch Geschwindigkeit auf.


 
Nick raffte den Colt vom Boden auf, betätigte den Patronenauswerfer, kramte hastig vier Patronen aus der Tasche und lud nach. Dann hetzte er über das Hallenvorfeld dem Flugzeug nach und eröffnete das Feuer, doch seine Schüsse gingen weit daneben. Keuchend blieb er stehen, ließ sich auf ein Knie nieder, zielte mit beiden Händen und setzte sein Sperrfeuer auf die fliehende Cessna fort.

Doch nach nur zwei weiteren Schüssen wurde Nick der Revolver aus der Hand gerissen. Dreyfus stand neben ihm und schleuderte den Peacemaker ins entfernte Gebüsch.

»Sie begreifen es nicht!«, brüllte Nick ihn an und richtete sich vor Dreyfus auf. »Mehr als zweihundert Menschen werden sterben!«

»Was reden Sie da?«, rief Dreyfus. »Mir ist es egal, was Sie denken. Aber Sam ist immer noch mein Bruder, und ich lasse nicht zu, dass jemand ihn kaltblütig abknallt.«

Nick sah der Cessna 400 hinterher, als sie die Zufahrtsstraße entlangholperte, ohne Freigabe auf die Startbahn einbog und die Geschwindigkeit erhöhte, als das Vorfeld endete. Nick war kein Pilot, doch er wusste, dass Sam niemals über den Zaun am Ende der Startbahn setzen würde, wenn er die Geschwindigkeit nicht schnellstens erhöhte.

 Die Nase der Cessna hob sich, als der Motor aufheulte, und die Räder federten am Boden auf und ab. So schrecklich der Gedanke war – Nick hoffte, dass Sam es nicht schaffte, sondern in den Zaun raste, oder dass eine der Revolverkugeln den Motor getroffen hatte. Nicht dass er Sam den Tod gewünscht hätte; er hofft nur auf ein Ende des schicksalhaften Fluges, das 212 Menschen das Leben retten würde.

Dann aber hob die Cessna ab und verfehlte den Zaun um Zentimeter. Nick beobachtete voller Entsetzen, wie das Flugzeug in einem eigenartigen Winkel in die Höhe stieg, gelenkt von einem verletzten, unerfahrenen Piloten, der verzweifelt versuchte, die Kontrolle über die Maschine zu halten, und auf ein Entkommen hoffte.

Und dann sah Nick den A 300, der nach dem Start eine Schleife flog und Kurs auf Boston nahm.


 
Julia warf einen letzten Blick aus dem Fenster, als sie den Kensico-Stausee überflogen. Dann schloss sie wieder die Augen, um ein Nickerchen zu machen und sich ein bisschen auszuruhen für einen Abend, der für sie und Nick zu den denkwürdigsten in ihrer Ehe gehören würde.

Ohne Warnung kippte der Airbus hart nach links. Getränke wurden verschüttet, Gepäckstücke brachen aus den Staufächern über den Sitzen, fielen in den Gang und auf die Passagiere. Menschen schrien erschrocken auf, als Angst sie erfasste.

Der Pilot brachte die Maschine in einen Rollwinkel von sechzig Grad. Julia drückte sich in den Sitz, presste die Arme auf die Lehnen und hielt sich krampfhaft fest, um nicht aus dem Sitz gerissen zu werden, während das Flugzeug immer weiter nach links rollte. Sie dachte an das Kind, an Nick … tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Voller Angst blickte sie aus dem Fenster auf den Boden, der tausend Meter unter ihr lag. Sie konnte kaum atmen, war vor Entsetzen wie erstarrt. Als sie den Kopf drehte, sah sie Jason, den jungen Familienvater, auf der anderen Seite des Ganges. Er hatte sein Handy herausgenommen und schaltete es ein. Wahrscheinlich wollte er seine Frau anrufen, um ihr Lebewohl zu sagen.

Überall um sie herum schrien die Passagiere um Hilfe, weinten, jammerten, beteten stumm oder bettelten, dass jemand etwas tat, irgendetwas, während vorn im Cockpit der Pilot alles versuchte, um die Fluggäste und sich selbst zu retten.

Dann spürte Julia, wie jemand ihre Hand nahm. Es war Katherine, die ihr nun beruhigend über den Handrücken strich, wie es früher Julias Mutter getan hatte, wenn ihre Tochter Angst hatte. Julia blickte in die weisen alten Augen der Frau und entdeckte einen Frieden darin, der in völligem Gegensatz zu all dem Schrecken stand, der sie umgab.

»Keine Angst, Kind«, sagte Katherine.

Und alles verlangsamte sich. Das Heulen der Düsentriebwerke, die Schreie der Menschen – alles fiel von Julia ab, als die Wärme von Katherines liebevoller Hand sie umfing.

Ein letztes Mal blickte Julia aus dem Fenster und entdeckte den Grund für die Ausweichmanöver der Maschine: die kleine Cessna, die genau auf sie zuhielt. Sie konnte deutlich den Mann erkennen, der die Maschine flog. Er saß zusammengekrümmt im Pilotensessel, und Julia sah die Panik auf seinem Gesicht, als er verzweifelt nach rechts steuerte.


 
Alle Blicke waren zum Himmel gerichtet. Der A 300 legte sich so tief nach links, dass es aussah, als würde die Maschine jeden Moment wegkippen. Die Tragflächen der Cessna flatterten, als der Pilot nach rechts auszuweichen versuchte, doch wie bei zwei Magneten, die einander anziehen, schien die drohende Katastrophe unausweichlich. Nick sah es in Pauls Gesicht, erkannte es daran, wie er den Atem anhielt, wie er hoffte und still um ein Wunder betete. Doch Nick wusste, dass es kein Wunder geben würde, diesmal nicht …

Und die Schuld an allem trug Dance, der nun tot auf dem Hallenvorfeld lag. Seine Habgier hatte die verhängnisvolle Ereigniskette in Gang gesetzt. Dance war es, der Sam in Panik versetzt hatte, indem er versucht hatte, ihn zu töten. Niemand wusste, wie ernst Sam verletzt worden war, wie viel Blut er verloren hatte; doch ob das Geschoss nun ein lebenswichtiges Organ getroffen oder eine Arterie punktiert hatte oder nicht – Sam würde so oder so sterben.

Nick hatte das Schicksal verändert, und Dance war beseitigt worden; das Haupt der Schlange war abgetrennt, und ihr Leib, der aus korrupten Detectives bestand, würde ebenfalls sterben. Dennoch – als Nick nun beobachtete, wie die beiden Flugzeuge aufeinander zurasten, musste er erkennen, dass er das Schicksal nicht ausreichend verändert hatte.

Nick sah die winzige Cessna auf Kollisionskurs mit der riesigen A 300. Er wusste, dass es für die Passagiere keine Hoffnung mehr gab.

Die Maschinen stießen zusammen. Mit dem Bug voran bohrte die Cessna sich in die Passagiermaschine. Aus der Entfernung – die Flugzeuge waren eine Meile hoch und eine Meile weit weg – sah es aus, als würde eine Mücke einen Vogel angreifen, doch der Schaden, den das kleine Flugzeug seinem riesigen Opfer zufügte, war tödlich. Die Linkskurve der Passagiermaschine setzte sich fort. Flug 502 war nun vom Aufprall regelrecht auf den Kopf gestellt. Ein Feuerball breitete sich aus, als die beiden Maschinen lodernd vom Himmel fielen. Alle Blicke waren auf die abstürzenden Flugzeuge gerichtet.

»O Gott«, flüsterte Dreyfus und bekreuzigte sich. Erst jetzt hatte er vollends begriffen, was sein Bruder soeben getan hatte.

 Nick wollte sich die Panik und das Entsetzen an Bord der Passagiermaschine gar nicht erst vorstellen. Der Zusammenprall hatte mit Sicherheit die meisten Fluggäste nicht auf Anhieb getötet. Ohne Zweifel lebten die meisten noch, waren gefangen in dem abstürzenden Wrack und wussten, dass sie einen Tod sterben würden, vor dem sich jeder fürchtete, der flog.

Während das verbogene, glühende Metall zur Erde stürzte, fielen Pünktchen aus dem Heck der Passagiermaschine, von denen Nick wusste, dass es keine Trümmer waren, sondern Menschen. Alle rasten wie die Steine der Erde entgegen.

Nick und Dreyfus überfiel ein Gefühl der Hilflosigkeit. Sie wünschten, sie könnten etwas tun, könnten zum Himmel greifen und das Geschehen aufhalten.

Der abstürzende Jet, dieser Sarg aus Metall, angefüllt mit Chaos, verschwand hinter den Bäumen. Beim Aufprall entzündete sich das hochentflammbare Flugbenzin. Ein Feuerball loderte auf und blähte sich hundert Meter hoch in den Himmel. Sekunden später hörten sie die Explosion. Der Boden erzitterte wie bei einem Erdbeben. Schwarzer Rauch quoll träge zum Himmel – ein Wegweiser für die Retter, die aber niemanden mehr lebend vorfinden würden.

Nick konnte sich nicht vorstellen, was er getan hätte, wäre Julia in dem Flugzeug gewesen, und empfand im Angesicht des Todes so vieler Menschen Trauer und Schmerz, aber auch tiefe Dankbarkeit, dass Julia in letzter Sekunde wegen des Einbruchs aus der Maschine gerufen worden war. Das Schicksal blieb unergründlich, und obwohl Nick es kurz berührt und beeinflusst hatte, ließ es sich von niemandem vorhersehen oder gar kontrollieren.

Der Augenblick war wie in der Zeit erstarrt. Stumme Gebete wurden für die Toten gesprochen.

»Wie konnten Sie …« Dreyfus blickte Nick an, fragte aber nicht weiter, sondern zückte sein Handy.

 Nick tat es ihm gleich. Er musste Julias Stimme hören, musste ihr sagen, dass er sie liebte und dass alles in Ordnung war. Doch sein Anruf wurde an die Mailbox weitergeleitet. Erst jetzt fiel Nick ein, dass Julia sich gerade in Washington House vergewisserte, ob tatsächlich ein Einbruch verübt worden war.

»Ich bin’s, Schatz«, sprach Nick ins Handy. »Der Streit heute Morgen … es tut mir leid. Ich weiß, dass du beschäftigt bist, aber ich würde gerne vorbeikommen und dich sehen. Ruf mich an, wenn du die Nachricht abgehörst hast.«

Nick drückte die Auflegen-Taste. Ihm wurden eine SMS und ein Anruf in Abwesenheit angezeigt. Nick wählte seine Mailbox an. Er wusste, dass der Anruf von Julia sein musste. Wahrscheinlich hatten ihre Anrufe sich überschnitten.

Nick hörte sich Julias Nachricht an, und die Wärme in ihrer Stimme tröstete ihn. Er stand da, das Handy ans Ohr gepresst, als wäre es ein Talisman, eine magische Verbindung zu ihr.

Plötzlich hörte er, wie die Stewardess Julia unterbrach: Sie solle bitte ihr Handy abstellen; die Maschine werde gleich starten.

Nick krampfte es die Eingeweide zusammen, als er begriff, was er getan hatte.

O Gott.

Auf irgendeine Weise hatte er verhindert, dass Julia aus dem Flugzeug stieg … ja, natürlich: Er hatte den Einbruch um fünf Minuten hinausgezögert; deshalb war die SMS des Alarmsystems fünf Minuten später gesendet worden. Zu diesem Zeitpunkt war Julias Handy schon ausgeschaltet. Sie hatte nie von dem Einbruch erfahren und war deshalb nicht mehr aus der Maschine gestiegen …

Nick wurden die Knie weich. Er sank mit dem Rücken gegen Shannons Mustang. Alles, was er getan hatte, alles, was er durchgemacht hatte, um Julia zu retten, war vergebens gewesen. Er hatte mit der Zeit gespielt, hatte dem Schicksal ins Handwerk gepfuscht, als könne er es seinem Willen unterwerfen. Doch dieser Macht war nichts und niemand gewachsen. Keine Zauberuhr, keine Verletzung der Gesetze der Physik. Das Schicksal war stärker.

hatte mit der Zeit gespielt, hatte dem Schicksal ins Handwerk gepfuscht, als könne er es seinem Willen unterwerfen. Doch dieser Macht war nichts und niemand gewachsen. Keine Zauberuhr, keine Verletzung der Gesetze der Physik. Das Schicksal war stärker.

In diesem Augenblick waren 213 Passagiere tot.

Und Julia lag inmitten der Leichen von Flug 502.


 
Nick zog die Uhr aus der Tasche. Fünf Minuten vor zwölf.

Julia war tot. Schon wieder tot. War er in einer Hölle aus Zeitschleifen gefangen, in der er Julias Tod jede Stunde neu erdulden musste?

Diesmal war sie nicht von Dance’ Hand gestorben, sondern durch seinen Fehler. Er, Nick, hatte sie aus der einen Gefahr gezerrt und in diese zum Absturz verurteilte Maschine gesetzt. Er hatte Dance die Sense aus den Händen genommen und Julia durch seine fehlgeleitete Arroganz selbst getötet.

Alles, wonach er gestrebt hatte, alles, was er getan hatte oder geglaubt hatte, tun zu müssen, war falsch gewesen.

Nick holte sich den Colt Peacemaker aus dem Gebüsch, eilte zu Dance’ Leiche und durchwühlte die Taschen des Toten. Er fand das Handy, klappte es auf und prägte sich die Nummer ein, von der Dance seinen letzten Anruf erhalten hatte. Er richtete sich auf, warf das Handy zu Boden und rannte zu Dance’ Wagen, zur Leiche von Robert Shannon.

Noch hatte er Zeit.