
Julia saß in ihrem Geländewagen auf der Zufahrt eines bescheidenen Hauses mit Halbgeschoss in Pound Ridge. Wie viele Einwohner von Byram Hills war Julia an den Absturzort geeilt, um zu helfen, sobald sie von dem Unglück gehört hatte. Doch als ihr Blick auf die Überreste der Maschine des Fluges 502 fiel und ihr klar wurde, dass es das Flugzeug war, mit dem sie hätte fliegen sollen, sah sie immerzu die Gesichter der Passagiere vor sich, die neben ihr gesessen hatten, und musste daran denken, wie knapp sie selbst der Katastrophe entronnen war.
Statt an der Absturzstelle zu arbeiten, meldete sie sich freiwillig, als jemand gesucht wurde, einen Arzt abzuholen, den man aus dem Ruhestand gerufen hatte, um an der Absturzstelle zu helfen. Eine halbe Stunde früher war Julia nach Bedford gefahren, um zu tanken; nun wartete sie vor dem Haus des Arztes, bis dieser seine Utensilien zusammengesucht hatte.
Während sie allein im Wagen wartete, dachte Julia daran, welches Glück sie heute tatsächlich gehabt hatte: Sie war nicht als Einzige dem Tod entkommen. Julia legte eine Hand auf ihren Leib in dem Bewusstsein, dass an diesem Tag zwei Leben gerettet worden waren.
Die Ironie bestand darin, dass sie nicht wegen einer Besprechung ins Flugzeug nach Boston gestiegen war, wie sie behauptet hatte, sondern um ihren Arzt aufzusuchen.
Ein Jahr nach ihrer Heirat hatten Nick und sie in Winthrop, Massachusetts gelebt. Nick war dorthin versetzt worden, und Julia war ihm gefolgt und hatte einen Job bei einer kleinen Bostoner Kanzlei gefunden. Eine Kollegin hatte ihr Dr. Colverhome empfohlen, einen Frauenarzt, der einen erstklassigen Ruf genoss.
Nach ihrer Rückkehr nach Byram Hills hatte Julia den Arzt nicht gewechselt, denn es war kein Problem, ihre jährliche Untersuchung mit einer Geschäftsreise zu verbinden.
In dieser Woche hatte sie Colverhome angerufen und ihm ihren Verdacht mitgeteilt. Daraufhin hatte der Arzt dafür gesorgt, dass ein ortsansässiger Mediziner bei Julia einen Schwangerschaftstest vornahm. Der Test war positiv ausgefallen – sie war in der sechsten Woche. Julia erfüllte diese Nachricht mit einem Hochgefühl, wie sie es noch nie erlebt hatte. Sie brannte darauf, es Nick zu sagen, wollte aber etwas Besonderes daraus machen. Deshalb hatte sie mit Dr. Colverhome einen Termin für eine pränatale Untersuchung vereinbart, bei der sie ein Ultraschallbild ihres Kindes erhalten würde. Julia wollte das Bild rahmen und Nick bei einem romantischen Abendessen im La Crémaillère damit überraschen. In diesem Restaurant hatte er damals um ihre Hand angehalten; es war der Beginn ihres gemeinsamen Lebens gewesen, und Julia wollte die gleiche Umgebung und die gleiche feierliche Atmosphäre wie damals, um Nick die erfreuliche und unerwartete Neuigkeit mitzuteilen.
Bei ihrem Streit am Morgen war es um ein Abendessen gegangen, das nie stattfinden würde. Sie hatte nie die Absicht gehabt, mit den Millers essen zu gehen. Ihr ging es nur um die Gelegenheit, Nick mit der Nachricht von ihrer Schwangerschaft zu überraschen. Es würde einer der schönsten Augenblicke in ihrer beider Leben werden.
Eigentlich hatte Julia erst in ein paar Jahren eine Schwangerschaft eingeplant. Ihr Leben war so sehr von ihren beruflichen Aufgaben bestimmt, dass der Gedanke an Kinder ihr fern gewesen war. Nun aber begriff sie, dass sie so viel Zeit auf ihre Karriere verwendet hatte, dass die Vorstellung, ein Kind zu bekommen, beinahe zu etwas Fremdem geworden war. Julia war so sehr von ihrer Karriere als Anwältin vereinnahmt gewesen, dass sie viele Freundinnen aus den Augen verloren hatte, die ihre beruflichen Ambitionen zurückgestellt hatten und Mütter geworden waren.
Sie hatte mit Nick nun ihr halbes Leben verbracht. Sie beide besaßen mehr Geld, als sie brauchten, hatten ein schönes Haus, waren viel gereist und hatten das Leben genossen.
Dennoch gab es eine Leere, die sich besonders an Festtagen schmerzhaft bemerkbar machte: Julia sehnte sich nach der Rückkehr des Weihnachtsmanns und des Osterhasen, der Zahnfee und der Halloween-Süßigkeiten. Sie sehnte sich nach einem Kind.
Als sie an den Flugzeugabsturz dachte, an die vielen Leben, die
geendet hatten, an die nette ältere Dame, die neben ihr gesessen
hatte, traten ihr Tränen in die Augen. Eine automatische SMS hatte
sie aus dem Flugzeug geholt und ihr das Leben gerettet – die
Textnachricht, dass in Shamus Hennicots Villa eingebrochen worden
sei. Dieser Nachricht hatte Julia es zu verdanken, dass sie
weiterlebte. Doch nicht nur ihr Leben war gerettet worden, sondern
auch das ihres ungeborenen Kindes. Sie betrachtete es als ein
Zeichen, dass dieses Kind zur Welt kommen sollte. Soweit es Julia betraf, war ein Wunder
geschehen.
Anfänglich verärgert, weil sie es für einen Fehlalarm hielt, war sie aus dem Flugzeug gestiegen und hatte sich hinter das Steuer ihres Wagens gesetzt. Als sie Washington House erreichte, ging sie das Grundstück ab, überprüfte sämtliche Türen und Fenster und fand alle verriegelt vor.
Doch kaum hatte sie das Haus betreten, wusste sie, dass etwas nicht stimmte. Keine dreißig Sekunden, nachdem sie die Schwelle überschritten hatte, erschütterte ein Stoß das Haus. Das Porzellan in den Schränken und die Gläser in der Bar klirrten, als hätte es ein Erdbeben gegeben. Doch in New York sind Erdbeben so selten wie Schnee auf den Bermudas. Die Lichter flackerten ein paar Sekunden und erloschen. Augenblicke später schaltete sich die Notbeleuchtung ein und erhellte Treppen und Ausgänge. Rhythmisches Piepen von den USVs der Computer wiesen auf den Stromausfall und die bevorstehende Notabschaltung hin.
Julia schaute auf die Uhr: sechs Minuten vor zwölf. Sie hätte nach Boston unterwegs sein sollen, statt in einem leeren Haus zu stehen, in dem wegen eines Erdstoßes der Strom ausgefallen war.
Julia ging zur Küche, zog die Codekarte über das Lesegerät, von dem sie wusste, dass es eine Notstromversorgung besaß, die vierundzwanzig Stunden vorhielt, und öffnete die schwere Brandschutztür des Untergeschosses. Im grellen Halogennotlicht stieg sie die Treppe hinunter, geblendet vom Glanz der teuren Lilientapetete, die Hennicot aus Paris hatte kommen lassen. Julia gab ihre Sozialversicherungsnummer in das Tastenfeld ein und zog dreimal die Magnetkarte über das Lesegerät. Dann nahm sie den achteckigen Sicherheitsschlüssel und schob ihn mit dem D nach oben in die Tresortür aus gebürstetem Stahl.
Mit einer kräftigen Drehung öffnete Julia die Tür und wurde von Dunkelheit umfangen. Sie zog einen Stuhl heran und verstellte damit die Tür, sodass das helle Licht aus dem Gang in den Raum fiel.
Ihr Blick fiel sofort auf die zerstörten Ausstellungskästen in der Mitte des Raums und auf den Kasten mit der roten Halbkugel, der nicht hierher gehörte. Zorn loderte in ihr auf. Sie ging weiter, öffnete Türen und steckte den Kopf in die Räumlichkeiten dahinter. Im klimatisierten Lagerraum brannte ein Notlicht, doch es sah nicht so aus, als wäre eine der Kisten geöffnet worden.
Julia kehrte in den Hauptraum und zu dem Licht zurück, das vom Treppenhaus hereinfiel, und öffnete die Tür zu Hennicots Büro. Sie bog nach rechts ab, ging zu einer Tür, die in der Vertäfelung verborgen war und sah, dass die Tür einen Spalt weit offen stand. Julia drückte sie auf.
Im Raum war es fast völlig dunkel. Im Vorraum tanzten schwache Lichtreflexe, die aber nicht hell genug waren, dass man deutlich sehen konnte.
Doch Julia wusste auch so, was in der Mitte dieses Raumes stand. Sie machte zwei vorsichtige Schritte, wobei sie versuchte, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, und ertastete die beiden Safes. Mit der Hand fuhr sie über den ersten und stellte fest, dass er geschlossen war. Der zweite Safe jedoch … Julia verschwendete keine Zeit mit weiterem Abtasten. Ihre Augen hatten sich inzwischen gut genug an das Dämmerlicht gewöhnt, dass sie die Umrisse der massigen, offen stehenden Tür ausmachen konnte.
Mit einem Mal überfiel sie eisige Furcht.
Sie hatte das Haus betreten und war sofort ins Kellergeschoss gegangen, um sich zu vergewissern, dass tatsächlich ein Einbruch verübt worden war. Dabei hatte ihr Zorn sie blind gemacht für die Gefahr, in die sie sich begab, wenn sie in der Finsternis umherirrte und leichtsinnig das Schicksal herausforderte. Julia hatte nie unter Klaustrophobie gelitten, doch nun spürte sie, wie die Schwärze sich um sie herum zusammenzog. Sie wusste nicht, ob außer ihr noch jemand im Raum war oder ob sich jemand hinter einer Tür versteckte, horchend, lauernd wie ein Raubtier und bereit, sie zu töten, um sich selbst die Flucht zu ermöglichen.
Doch heute war kein Tag zum Sterben.
Julia stürmte aus dem Raum und die Treppe hinauf. Mit dem achteckigen Schlüssel öffnete sie die versteckte Sicherheitskammer hinter der Scheinwand in der Küche. Ihr Blick fiel sofort auf die zerstörten Server: Die Festplatten waren herausgerissen. Wer immer dafür verantwortlich war, wusste genau, was er tat und wie er seine Spuren zu verwischen hatte.
Julia war froh, ein zweites Back-up in ihrem Büro zu haben, das nicht nur auf ihrem Arbeitscomputer, sondern auch auf dem Server der Kanzlei lag. Die unbekannten Täter würden niemals daran denken, dort nachzusehen.
Als Julia aus der Sicherheitskammer in die Küche zurückkehrte, verebbte ihre Furcht allmählich. Wer immer diesen Einbruch begangen hatte, war längst verschwunden. Dieser Coup war bis ins Kleinste geplant und wahrscheinlich binnen Minuten durchgezogen worden, ohne dass es Spuren gab.
Julia nahm eine Taschenlampe vom Regal in der Küche und holte eine Digitalkamera aus ihrem Auto. Dann ging sie wieder in den Keller, machte eine erste Bestandsaufnahme aller gestohlenen Gegenstände und fotografierte den aufgeschnittenen Schaukasten sowie den offenen Safe. Der Einbruch hatte seine Besonderheiten: Der Lagerraum war überraschenderweise nicht angerührt worden, obwohl die Kisten Gemälde im Wert von Zigmillionen Dollar enthielten. Die Diebe hatten es nur auf die Waffen und den einfachen Safe abgesehen gehabt.
Julia besaß zwar ein Inventarverzeichnis sämtlicher Kunstwerke, Antiquitäten und Edelsteine, das Shamus Hennicot jedes Jahr mehrere Male aktualisierte, aber sie wusste nicht, was sich im Safe befunden hatte. Der Inhalt der beiden Panzerschränke blieb ein Geheimnis, sah man davon ab, dass Hennicot neben persönlichen Gegenständen einen Beutel mit Brillanten darin aufbewahrt hatte.
Julia kehrte ins Obergeschoss zurück und wählte die Nummer von Hennicots Sommerhaus in Massachusetts, um ihm die schlechten Neuigkeiten mitzuteilen.
Doch Talia, Hennicots Sekretärin, meldete sich und erklärte, der Chef sei nicht zu erreichen, da er sich um einen familiären Notfall kümmern müsse. Julia bat um schnellstmöglichen Rückruf; es habe einen Zwischenfall in Washington House gegeben. Damit befolgte sie Hennicots Anweisungen, was »Zwischenfälle« betraf, auf den Punkt genau: Hennicot wollte unter keinen Umständen, dass die Polizei eingeschaltet wurde, ehe er die Tatsachen kannte und entschieden hatte, wie am besten vorzugehen sei. Die Entscheidung lag bei ihm, und Julia würde sie respektieren, wie sie es seit nunmehr drei Jahren tat.
Shamus Hennicot war in den letzten Wochen krank gewesen, doch als kranker Mann von zweiundneunzig hatte er noch immer mehr Energie, als Julia im Alter von einunddreißig aufbringen konnte. Vor zwei Wochen – sie hatten darüber gesprochen, Hennicots Monet-Sammlung dem New Yorker Metropolitan Museum of Art als Leihgabe zur Verfügung zu stellen – war ihr Gespräch zu Fragen der Familie und des Lebens abgeschweift. Julia hatte so großen Respekt vor Hennicot und seinen Leistungen, dass sie sich öfters mit Fragen an ihn wandte, die über das Geschäftliche hinausgingen.
Obwohl er keine eigenen Kinder hatte, sprach Shamus Hennicot oft über die Dinge, auf die es im Leben wirklich ankäme: dass man Liebe und Familie nicht im Weg stehen solle, weil sie der wahre Schlüssel zum Glück seien. Sosehr Julia darauf brannte, Nick von ihrer Schwangerschaft zu erzählen – sie freute sich beinahe genauso sehr darauf, Shamus einzuweihen, denn sie wusste, wie begeistert er reagieren würde. Julias Eltern waren schon älter gewesen, als sie zur Welt gekommen war, und vor mehreren Jahren verstorben. Auf seltsame Weise füllte Shamus Hennicot den frei gewordenen Platz in Julias Herzen und war zu einer Art Ersatzgroßvater für sie geworden, der ihre Erfolge lobte, dann und wann eine kluge Bemerkung fallen ließ und sie mit freundlichem Lächeln und fröhlicher Stimme anleitete.
Die selbstlose Art des alten Mannes berührte Julia ebenso wie seine Freigebigkeit. In einer Welt, die dieses Wort vergessen zu haben schien, war er ein wahrer Gentleman. Er schätzte das geschriebene Wort und schickte ihr Briefe in makelloser, schön geschwungener Handschrift. Die unpersönliche Welt der E-Mail mied er.
Es belastete Julia sehr, ihn von dem Einbruch berichten zu müssen – vom Diebstahl kostbarer Dinge, die über Jahrzehnte hinweg im Besitz seiner Familie gewesen waren. Obwohl sie wusste, dass er nur sagen würde: »Keine Sorge, meine Liebe, Dinge aus Metall, Stein und Leinwand sind nicht die wahren Wertsachen in meinem Leben«, fragte sie sich, ob der Zwischenfall ihm Kopfzerbrechen bereiten würde und ob zu der Sammlung irgendetwas gehörte, das sich nicht im Inventarverzeichnis fand.
Als Julia das Haus verließ, summte ihr PDA – aus dem Büro war eine E-Mail eingetroffen. Überraschenderweise waren es die Hennicot-Dateien und -Sicherheitsdaten. Da die Übertragung bei einem Stromausfall automatisch erfolgte, war Julia sofort klar, dass die Kanzlei von dem gleichen Blackout betroffen war wie dieser Teil der Stadt.
Als Julia vom Grundstück fahren wollte, jagten Polizei- und Feuerwehrwagen an ihr vorbei. Die Ampeln waren ausgefallen, und die Menschen auf den Straßen blickten nach Süden. Und da hatte auch Julia die riesige Wolke aus fettigem schwarzem Rauch entdeckt.
Selbst jetzt, wo sie fünfzehn Meilen nördlich der Absturzstelle in ihrem Lexus saß, konnte sie den allmählich auseinandertreibenden Rauch am südlichen Horizont noch sehen. Sie blickte auf die Uhr am Armaturenbrett ihres Geländewagens. Es war kurz nach zwei, und sie hatte noch immer nicht mit Nick gesprochen. Sie nahm gerade ihr Handy, um es noch einmal bei ihm zu versuchen, als die Beifahrertür geöffnet wurde und ein alter Mann sie begrüßte, ehe er zu ihr einstieg.
»Danke, dass Sie mich mitnehmen«, sagte er, während er den Sicherheitsgurt anlegte. »Ich bin Dr. O’Reilly.«
»Julia Quinn.« Sie reichte ihm die Hand und schaute den Mann genauer an. Obwohl sein Haar weiß war, waren seine Brauen schwarz wie die Nacht und verliehen ihm einen jugendlichen Anstrich. Neugierig neigte sie den Kopf und fragte: »Sind wir uns schon mal begegnet?«
»Das glaube ich nicht«, erwiderte O’Reilly kopfschüttelnd. »Es sei denn, Sie hätten vor mehr als fünf Jahren mit der Gerichtsmedizin zu tun gehabt. Tja, leider beendet die heutige Tragödie meinen wohlverdienten Ruhestand.«
Nick saß in dem ledernen Bürosessel hinter dem Schreibtisch seiner
Bibliothek. Er triefte vor Nässe, rang nach Atem und war für den
Moment völlig orientierungslos. Er hatte geglaubt, am Grund des
Stausees sterben zu müssen, und fand sich nun fassungslos im
eigenen Haus wieder.
Nick zwang sich zur Ruhe und blickte verwirrt auf die Brieftasche, die er in der Hand hielt. Sie war von Gucci, ein teures Stück aus schwarzem Kalbsleder. Er hatte sie dem Toten am Grund des Stausees aus der Tasche gezogen. Nun klappte er die Brieftasche auf. Sie war mit Hundertdollarscheinen gefüllt; außerdem entdeckte Nick eine schwarze American-Express-Karte und eine goldene Visa-Karte. Doch beides beachtete er nicht, denn was er eigentlich suchte, befand sich ganz oben.
Der Führerschein.
Dennoch war die Identifizierung des Toten schwierig und warf mehr Fragen auf, als beantwortet wurden. Nick schaute sich den Führerschein noch einmal an: wohnhaft 10 Merion Drive, Haverford, Pennsylvania. Geboren am 28. Mai 1952. Größe eins achtundsiebzig, braune Augen. Organspenderkästchen angekreuzt. Paul Dreyfus, der Inhaber jenes Unternehmens für Sicherheitstechnik, das die Alarmanlage in Shamus Hennicots Villa installiert hatte, war ertrunken. Seine Leiche verrottete am Grund des Kensico-Stausees.
Nick schoss eine Frage durch den Kopf. Wenn er alles mitnahm, was er berührte – wieso war er dann nicht mehr gefesselt? Wo war das Gewicht an seinen Händen? Offenbar war es so, dass er nur mitnahm, was er als zu sich gehörig betrachtete. Oder war die Nähe des Todes irgendwie von Bedeutung gewesen? Durch die Zeitsprünge hatte er schon so viele verrückte und paradoxe Dinge erlebt, dass ihm nichts mehr unmöglich schien.
Aber darüber konnte er sich später den Kopf zerbrechen. Nick eilte nach oben, riss sich die nasse Kleidung herunter und zog eine frische Jeans und ein sauberes weißes Hemd an. Er nahm einen dunklen Blazer aus dem Schrank und leerte die Taschen seiner triefend nassen Jeans und des Jacketts. Er fand den Brief, den Marcus an sich selbst geschrieben hatte, sowie das Schreiben des Europäers, der ihn im Verhörraum aufgesucht hatte. Die Tinte auf den Umschlägen war kaum zerlaufen. Nick nahm die Taschenuhr und klappte den Deckel auf. Die Uhr war erstklassig gefertigt und wasserdicht und hatte den Tauchgang offenbar unversehrt überstanden. Der Minutenzeiger hatte die XII überschritten und zeigte fünf Minuten nach zwei Uhr.
Mit Nicks Handy sah es ein bisschen anders aus. Der Kurzschluss hatte das Gerät zerstört. Nick war beinahe froh darüber, weil damit das schreckliche Foto der toten Julia für immer verschwunden war. Er nahm seine Brieftasche und seine Schlüssel, den Christopherus-Anhänger, Dreyfus’ Brieftasche und die Briefe und steckte sich alles in die Taschen. Dann eilte er nach unten, betrat wieder die Bibliothek und öffnete den Safe. Als er seine Pistole mitsamt mehrerer Ersatzmagazine darin liegen sah, lächelte er. Das war endlich mal keine Magie, kein Zeitparadoxon oder wie man es nennen wollte. Die Waffe war nicht aus Dance’ Auto durch die Zeit hierhergesprungen. Da es 14.05 Uhr war, hatte sie den Panzerschrank schlicht und einfach noch nicht verlassen.
Nick nahm die Waffe an sich, dazu mehrere gefüllte Magazine, und schob sie sich in den Hosenbund. Dann suchte er zwischen den Papierstapeln auf seinem Schreibtisch und fand dort sein Handy – trocken, unversehrt und gebrauchsbereit.
Er lachte auf. Doch seine Belustigung schwand rasch und wich heißer Wut auf sich selbst. Er wäre beinahe gestorben – und wenn das geschehen wäre, hätte er Julia mit in den Tod genommen. Er war dumm und leichtsinnig gewesen; er hatte geglaubt, er bräuchte nur rückwärts durch die Zeit zu reisen und könnte Julia retten.
Wenn es doch nur so einfach wäre.
Nichts von dem, was er über die Zukunft wusste, hatte er benutzt, um die Vergangenheit zu ändern. Es war wie ein Spiel – nur dass es ein Spiel war, das Nick kaum beherrschte. Bisher hatte er sich nur darauf verlassen, dass Fremde ihm aus dem Augenblick heraus halfen. Doch er selbst musste Veränderungen bewirken, und zwar sofort, denn die Zeit, die ihm blieb, um Julia zu retten, lief ab.
Er nahm die feuchte Brieftasche, die er der Leiche abgenommen hatte, und schob sie in die Tasche seines Blazers. Von nun an würde er nichts mehr passiv dem Zufall überlassen.
Als Erstes würde er Paul Dreyfus suchen.
Nick parkte seinen Wagen vor der Straßensperre an der Absturzstelle
direkt hinter dem blauen Chevy Impala, mit dem Julias Mörder fahren
und den er, Nick, Stunden später von der Straße gegen einen Baum
drängen würde.
Rasch ging er zu Corporal McManus, den Nationalgardisten, der ihn angehalten hatte, als er zu Captain Delia wollte.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte der junge Mann.
»Ich bringe Captain Delia Beweismaterial über den Absturz.« Ohne stehen zu bleiben, hob Nick die feuchte Brieftasche.
McManus nahm Nicks Gebaren ohne Gegenfrage hin und ließ ihn passieren.
Nick blickte auf die Absturzstelle. Feuerwehrleute rollten ihre Schläuche ein, aber noch konnten sie sich nicht für eine Verschnaufpause auf die Trittbretter ihrer Feuerwehrwagen setzen. Familienangehörige der Opfer wurden mit Bussen zum Umkleidegebäude gefahren, damit sie in der Nähe der sterblichen Überreste ihrer Lieben waren, Neuigkeiten erfuhren und vielleicht sogar von jemandem hörten, der wie durch ein Wunder überlebt hatte.
Solche Zerstörungen hatte Nick noch nie gesehen. Obwohl er schon vor einer Stunde am Absturzort gewesen war, hatte er sich nicht an den Anblick gewöhnt. Er beobachtete die Hunderte von Freiwilligen, die den Rettungsmannschaften halfen und sich um trauernde Familien kümmerten. In der Katastrophe, wenn das Leben sich von der schlimmsten Seite zeigt, kehrt die Menschlichkeit ihre beste Seite hervor.
Und irgendwo dort, mitten in diesem Meer aus Trümmern und Leibern, war Paul Dreyfus.
Nick zog Dreyfus’ noch immer feuchte Brieftasche heraus, entdeckte eine Visitenkarte und wählte die Handynummer, die darauf stand.
»Ja?«, meldete sich eine tiefe Stimme.
»Mr. Dreyfus?« Nick ließ den Blick über das Heer der Freiwilligen schweifen; dann schaute er zu der Menge, die sich am Umkleidegebäude und bei den Zelten versammelt hatte.
»Ja.«
»Mein Name ist Nick Quinn.«
»Aha«, sagte Dreyfus ohne jede Regung.
Nick musterte das Trümmerfeld, das von Meilen Absperrband umgeben war, und entdeckte ihn endlich, das Handy am Ohr. Dreyfus stand auf dem Acker des Todes. Nick unterbrach die Verbindung und ging auf den Mann zu, ohne den Blick von ihm zu nehmen.
Dreyfus war schwerer, als Nick gedacht hätte – ein Mann, der einst wie ein Fels gebaut gewesen war, dessen Gewicht sich allerdings aus Schultern und Armen zu Bauch und Hüften verschoben hatte.
Das graue Haar trug er sauber gescheitelt; nichts erinnerte an die wogenden Locken, die Nick an der Leiche dieses Mannes auf dem Grund des Stausees gesehen hatte.
Dreyfus trug Chirurgenhandschuhe aus Gummi und hatte die Ärmel hochgekrempelt. Er hob ein weißes Laken nach dem anderen und betrachtete die Leichen darunter.
»Mr. Dreyfus?«, fragte Nick, als er näher kam.
Dreyfus ließ sich nicht stören. Er schaute weiterhin unter die Laken, ohne Nick eines Blickes zu würdigen.
»Mein Name ist Nick Quinn.« Nick hielt Dreyfus die Hand hin.
Der Mann übersah sie geflissentlich. Nick war nicht sicher, ob es wegen der Handschuhe war oder aus Unhöflichkeit.
»Sie sind heute hierhergeflogen?«, fragte Nick.
»Wieso fragen Sie? Müsste ich Sie kennen?«
»Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen sagen soll …« Nick hielt inne, unsicher, wie er fortfahren sollte.
»Ich habe keine Zeit für dumme Spielchen«, sagte Dreyfus ungehalten. »Kommen Sie zur Sache.«
»Man wird Sie töten«, stieß Nick hervor.
»Ach ja? Und wer?« Dreyfus sah nicht von seiner Arbeit auf, als hätte er nichts gehört oder als wäre es ihm egal.
»Ihre Partner.«
»Partner?«, fragte Dreyfus und sah endlich auf. »Sie wissen ja gar nicht, wovon Sie reden.«
Nick packte den Mann bei den Schultern und drehte ihn zu sich um, damit er ihm zuhörte. »Und dann werden diese Leute meine Frau umbringen!«
Für einen Augenblick wurde das Gesicht des Mannes weich. »Dann sollten Sie Ihre Frau beschützen, statt mich zu behelligen«, sagte er.
»Kennen Sie Ethan Dance?«
»Sind Sie Polizist?«
»Dance wird Sie zusammenschlagen.« Nick rieb sich die Lippe. »Anschließend bindet er Ihnen eine Eisenplatte an die Füße und wirft Sie in den Stausee.«
»Wollen Sie mir Angst einjagen?«
»Sie sollten auf mich hören«, erwiderte Nick.
»Nachdem ich das hier gesehen habe«, Dreyfus wies auf ihre Umgebung, »werden Sie gewiss verzeihen, wenn ich Ihre Warnung ignoriere. Ich habe Wichtigeres zu tun.«
Nach einem zornigen Blick ging Dreyfus davon. Nick blieb einen Augenblick stehen, nicht sicher, wie er den Mann zum Reden bringen sollte. Dann folgte er Dreyfus, schloss rasch zu ihm auf und ging neben ihm her über den versengten Boden. Bei jedem Schritt vermied er es, auf Trümmer und Fetzen von Gepäckstücken zu treten. Dreyfus blieb vor jedem weißen Laken stehen, neigte den Kopf wie als Ehrerbietung und hob das Laken an einer Ecke an.
Die Laken waren in aller Eile vom Northern Westchester Hospital hergebracht worden und dienten nun einem ganz anderen Zweck als dem, für den sie eigentlich gedacht waren. Obwohl Nick wusste, dass sie Leichen bedeckten, war ihm nicht klar gewesen, was sich tatsächlich unter dem Meer aus weißen Tüchern befand, die diese Höllenlandschaft sprenkelten: verstümmelte, zerfetzte, bis zur Unkenntlichkeit verbrannte Körper. Einige Laken bedeckten nur Rümpfe, andere abgetrennte Gliedmaßen. So etwas hatte Nick noch nie gesehen. Der Anblick drehte ihm den Magen um. Wie Dreyfus in jedes Gesicht blicken konnte, ohne mit der Wimper zu zucken, würde er nie begreifen.
»Was tun Sie hier?«, fragte er.
»Ich war Heeressanitäter in Vietnam. Ehrlich gesagt, ich hatte nicht gedacht, so etwas noch einmal sehen zu müssen. Leider habe ich mich geirrt.«
»Und Sie glauben, wenn Sie hierherkommen und freiwillig helfen, reinigt das Ihre Seele?«
»Was reden Sie denn da? Verschwinden Sie. Lassen Sie mich in Ruhe, sonst rufe ich die Polizei.«
Nick ließ sich nicht einschüchtern. »Worauf hoffen Sie? Auf Buße?«
Dreyfus wandte sich Nick zu. In seinen Augen standen Wut und Schmerz. »Ich hoffe, dass ich meinen Bruder finde.«
Nick erstarrte. Dass Dreyfus’ Bruder im Flugzeug gewesen war, traf ihn völlig unvorbereitet.
»Tut mir leid«, sagte er. »Das habe ich nicht gewusst.«
»Dann wissen Sie es jetzt. Lassen Sie mich nun endlich in Ruhe?«
»Eine Sache noch. Heute Morgen wurde in Washington House eingebrochen, dem Anwesen der Hennicots. Sie waren für den Schutz des Hauses verantwortlich. Es wurden Brillanten und antike Waffen gestohlen. Die Täter haben ihre Spuren verwischt, aber ich weiß, dass diese Leute es auf Sie abgesehen haben. Sie müssen von hier verschwinden. Ich helfe Ihnen, wenn Sie mir sagen, wer in den Einbruch verwickelt ist. Ich muss jeden Namen kennen, wenn ich meine Frau retten will.«
Dreyfus hob den Blick. In seinen Augen lag nun kein Zorn mehr, sondern Mitgefühl. »Tut mir leid wegen Ihrer Frau«, sagte er. »Aber sie lebt wenigstens noch. Von meinem Bruder kann ich das leider nicht behaupten. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen …«
Dreyfus bückte sich und hob das nächste Laken an.
»Mr. Dreyfus?«, rief eine Stimme hinter ihnen.
Dreyfus hob den Kopf. »Na, toll. Wer sind Sie denn nun schon wieder?«
»Ich bin Detective Ethan Dance.«
Nick drehte sich um. Er sah Dance, hinter dem vier uniformierte Polizisten standen.
»Ich muss Sie bitten, uns zu begleiten.« Dance packte Dreyfus’ rechten Arm, einer der Uniformierten den linken. Nick musterte die Beamten. War einer von ihnen der Mann, den er tot am Grund des Stausees gesehen hatte? Nein, keiner hatte rotes Haar, und alle waren kräftig gebaut.
Nick dachte kurz an seine Pistole, doch wenn er sie zog, wäre er entweder tot oder in Handschellen.
»Lassen Sie ihn los!«, stieß er hervor.
»Wer sind Sie?«, fragte Dance.
»Kennen Sie denn kein Mitgefühl?«, stieß Nick aufgebracht hervor. »Der Mann sucht nach seinem Bruder.«
»Das ist nicht alles, wonach er sucht«, entgegnete Dance und drehte sich um.
Er und die anderen führten Dreyfus ab.
Nick starrte auf die weiß verhüllten Leichen und verzweifelte
beinahe an der Frage, weshalb diese Unschuldigen sterben mussten.
Welchem Zweck sollte das dienen? Wie viele Angehörige blieben in
schrecklicher Trauer zurück?
Nick wusste, wie es war, wenn man den Menschen verliert, den man am meisten liebt.
Er wünschte sich, er könnte es verhindern, könnte alles ungeschehen machen. Er wünschte sich, er hätte mehr als fünf Stunden. Wenn er zwölf Stunden brauchte, um ein Verbrechen aufzuklären und Julia zu retten, wie lange dauerte es dann, mehr als 200 Menschen vor dem Tod zu bewahren? Konnte er in der Zeit zurückreisen und jeden auf der Passagierliste warnen, an Bord zu gehen? Oder konnte er die Unfallursache herausfinden und den Absturz verhindern?
Es brach ihm schier das Herz, dass er all diesem Leid kein Ende machen konnte.
Und Dreyfus hatte kein neues Licht auf den Einbruch geworfen, ehe er von Dance abgeführt worden war. Der Mann suchte nach der Leiche seines Bruders.
Aber Dance hatte gesagt: »Das ist nicht alles, wonach er sucht.«
Was hatte er damit gemeint? Wonach konnte Dreyfus sonst noch suchen?
Nick schüttelte diese Gedanken ab. Er musste handeln. Vielleicht konnte er die Passagiere nicht retten, aber Dreyfus konnte er möglicherweise vor dem Tod bewahren. Und vielleicht bekam er dabei sogar ein paar Antworten.
Nick wusste, wohin die Polizisten fuhren.
Paul Dreyfus wurde auf die Rückbank eines grünen Ford Taurus
gestoßen. Dann sprach Dance mit den uniformierten Polizisten und
schickte sie weg.
Der Detective setzte sich auf die Rückbank neben Dreyfus, zog die Waffe und drückte sie dem Mann in die Seite. »Wie fühlt man sich, wenn der eigene Bruder mehr als zweihundert Menschen ermordet hat?«
Dreyfus starrte Dance schweigend an.
»Er hat uns betrogen. War das von Anfang an euer Plan? Ich will wissen, wo der Kasten ist! Sofort!«
Doch Dreyfus war fest entschlossen, keine Fragen zu beantworten. Niemand würde ihn zum Reden bringen, schon gar nicht dieser korrupte Bulle. Wollte der Kerl ihn einschüchtern? Lächerlich. Dreyfus hatte Schlimmeres hinter sich.
1972 hatte er in Vietnam die kläglichen Reste von Lieutenant Reeses Zug verarztet und war dabei vom Vietcong gefangen genommen worden. Man hatte ihn in eine Grube geworfen und fünf Tage lang verhört. Er bekam nichts zu essen, nur brackiges Wasser. Die Vietcong prügelten ihm mit Gerten und Gewehrkolben den Rücken blutig, doch Dreyfus sagte kein Wort, nannte nicht einmal seinen Namen, seinen Dienstgrad oder seine Dienstnummer. Am sechsten Tag befreite ihn ein Trupp Navy Seals und brachte ihn zurück, doch vorher riss er einem toten Vietcong das Sturmgewehr aus den Händen und tötete seine Folterer einen nach dem anderen durch Kopfschuss.
Als er 1975 in die USA zurückkehrte, gründete er seine Sicherheitsfirma. Zu Anfang war es nur eine Werkstatt gewesen. Auf Tür- und Fensteralarmanlagen für die Häuser von Freunden und Nachbarn folgten Videoüberwachungssysteme für kleine Läden; dann kamen die ersten Sicherheitslösungen für Firmen. Mit Glück und Fleiß hatte Dreyfus seine Firma schließlich zu einem der bekanntesten Unternehmen auf dem Gebiet der Sicherheitstechnik ausgebaut.
Samuel Dreyfus war einen ganz anderen Weg gegangen als sein älterer Bruder. Während Paul, der Strebsame, das College besuchte, um eine medizinische Laufbahn einzuschlagen, brach Sam die Highschool ab, um sich mit Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll zu vergnügen, stets auf der Suche nach Erleuchtung und Wahrheit. Während Paul in die Army eintrat, ging Sam unter die Protestler. Als Paul nach Vietnam flog, flüchtete Sam nach Kanada.
Nach dem Krieg befand Paul Dreyfus, er habe zu viele Wunden und zu viel Blut gesehen. Er führte sein Medizinstudium nicht weiter, sondern schlug eine Laufbahn ein, an die er nie gedacht hatte. Der Erfolg verschaffte ihm ein Landhaus im Kolonialstil in einer Vorstadt von Philadelphia, seinen beiden Töchtern ein Studium an Eliteuniversitäten und seiner Frau Susan, mit der er inzwischen fünfunddreißig Jahre verheiratet war, ein Leben in Luxus. Er legte sich ein Boot und ein Flugzeug zu. Das Fliegen liebte er seit seiner Kindheit; er war dreizehn oder vierzehn gewesen, als die Leidenschaft seines Vaters für die Fliegerei auf ihn übergesprungen war. Zweimal im Monat hatte sein Vater ihn und Sam bei Ausflügen über das Lehigh Valley mitgenommen und seine Söhne die Maschine fliegen lassen, womit er die Saat für eine lebenslange Leidenschaft gelegt und Paul und Sam vermittelt hatte, dass das Gefühl des Fliegens mit nichts zu vergleichen war.
Nachdem Präsident Carter alle Wehrflüchtigen amnestiert hatte, kehrte Sam in die USA zurück und glaubte, die Welt schulde ihm seinen Lebensunterhalt. Und wenn nicht die Welt, so doch sein Bruder Paul. Immerhin blieben die Flucht vor der Einberufung und Drogenmissbrauch die einzigen Vergehen, die Sam zur Last gelegt werden konnten. Seine Unhöflichkeit und Ichbezogenheit waren schließlich keine Verbrechen. Wäre es anders gewesen, hätte Sam längst hinter Gittern gesessen.
Im Lauf der letzten zwanzig Jahre hatte Paul seinem Bruder immer wieder Arbeit gegeben und zahlte ihm dafür, dass er absolut nichts tat, ein Gehalt, das auf fast eine Million Dollar im Jahr angewachsen war. Paul überschrieb ihm sogar einen Anteil an seiner Firma, damit er seinen Kindern etwas hinterlassen konnte. Paul hatte gehofft, damit ein wenig Stolz bei Sam zu wecken und für ein bisschen Engagement zu sorgen, doch wie so viele Bemühungen zuvor erwies sich auch dieser Versuch als wirkungslos. Sam trug kaum zum Erfolg des Unternehmens bei, brachte keinen einzigen neuen Kunden ein und schien am Geschäft mehr oder weniger desinteressiert zu sein. Allmählich war der Punkt erreicht gewesen, an dem Paul ernsthaft überlegte, seinen Bruder fallen zu lassen.
Doch während des letzten Jahres hatte Paul eine Veränderung bei Sam bemerkt. Mit einem Mal kam er um acht Uhr morgens ins Büro und leistete volle Arbeitstage ab. Er brachte sogar neue Ideen ein und behandelte die Angestellten mit dem Respekt, der ihnen zustand. Neunundvierzig Jahre hatte Sam Dreyfus gebraucht, um erwachsen zu werden, doch endlich hatte er es geschafft.
Die Familien der Brüder nahmen wieder Kontakt zueinander auf. Auf Präsentationen stellte Paul ihn stolz als seinen Bruder vor. Innerhalb von sechs Monaten zog Sam drei große Aufträge im Wert von etlichen Millionen Dollar an Land. Er verdiente sich tatsächlich sein üppiges Gehalt.
Dann aber wurde Pauls Welt erneut auf den Kopf gestellt.
Eines Morgens war er um Viertel vor sieben ins Büro gekommen und hatte auf dem Boden eine Quittung für einen seiner patentierten achteckigen Schlüssel gefunden. Als er den Zettel aufhob, fluchte er stumm auf den Trottel, der diesen Zettel hatte fallen lassen. Dann sah er, von wem die Quittung unterzeichnet worden war. Und plötzlich begriff er, was Sam getan hatte.
Für Paul brach eine Welt zusammen, als er feststellte, dass das firmeneigene Schließsystem kompromittiert und die Akten und Pläne des Anwesens von Shamus Hennicot verschwunden waren. Passcodes waren gestohlen, Safe- und Schlosskombinationen abgerufen, Codekarten erstellt und autorisiert worden.
Paul loggte sich in Sams Computer ein. Obwohl sein Bruder in den zurückliegenden Monaten sein Vertrauen erworben hatte, hatte Paul sich eine Hintertür offen gelassen, um auf Sams Dateien zugreifen zu können, falls dieser einen Rückfall in sein früheres Ich erleiden sollte. Wegen dieses Vertrauensmangels fühlte Paul sich anfangs schrecklich, doch die Entdeckungen, die er machte, als er die persönlichen Dateien seines Bruders aufrief, rissen jedes Schuldgefühl davon. Von dunklen Ahnungen erfüllt, druckte er Sams Notizen aus. Als er sie las, erkannte er, wie sehr sein Bruder ihn tatsächlich verraten hatte.
Ohne seiner Frau ein Wort zu sagen, nahm Paul seinen »Notkoffer« mit Passcode-Resets, fünfhunderttausend Dollar in bar und eine Smith & Wesson. Er legte noch drei Seiten aus dem Computer seines Bruders dazu, ehe er zu dem kleinen Flugplatz fuhr, wo seine Cessna 400 stand. Tony Richter, dem Fluglotsen, den er seit zwanzig Jahren kannte, zahlte er zehntausend Dollar, damit er vergaß, dass seine Maschine um 7.15 Uhr vom Rollfeld abhob; stattdessen sollte Richter behaupten, das Flugzeug stände noch immer im Hangar. Paul wollte nicht, dass jemand von seinem Aufbruch erfuhr oder sein Kommen ahnte; er hatte verhindern wollen, dass Sam herausfand, was er plante …
Dance’ Faust traf Paul Dreyfus auf das rechte Auge, riss ihn aus
den Erinnerungen an die Vergangenheit und zerrte ihn in die
Gegenwart zurück.
»Wo ist der Kasten?«
Dreyfus starrte Dance an und lachte hämisch. »Er hat vorausgesagt, dass Sie das tun würden«, verspottete er Dance.
»Wer?«
»Er hat gesagt, er weiß alles über den Einbruch«, fügte Dreyfus hinzu und genoss die Wirkung, die seine Worte auf Dance hatten. »Er sagte, Sie würden mich in einen See werfen. Ich hätte ihm zuhören sollen.«
»Wem?«
»Weiß ich nicht, aber er sah reichlich sauer aus.« Paul Dreyfus hielt kurz inne. »Mordsmäßig sauer.«
»Der Kerl, der bei Ihnen war?«
Paul grinste ihn nur an.
Ohne Warnung schmetterte Dance ihm die Faust auf den Mund. »Hat er auch gesagt, dass ich das hier tun werde?« Er hämmerte ihm die Faust in den Magen. »Oder das?«
Ohne ein weiteres Wort sprang Dance in den Wagen und setzte sich auf den Fahrersitz, ließ den Motor an und bog auf die verstopfte Zufahrtsstraße ein.
»Mal sehen, wie gut Sie schwimmen«, sagte er.
Nick rannte, so schnell er konnte. Er überquerte das Feld, stürmte
am Umkleidegebäude vorüber und hinein in den Wald. Die
Zufahrtsstraße führte um den gesamten Komplex herum. Wenn er
schnell genug lief, konnte er sie dank des langsamen Verkehrs und
der viel kürzeren Fußstrecke noch abfangen.
Er bog in das Waldstück rechts ein. Seine Beine schmerzten, seine Lungen brannten wie kurz vor dem Ziel eines Marathonlaufs.
Im Wald duckte er sich unter dem niedrigen grünen Blätterdach hindurch. Er dachte an Julia, als er über Baumstämme sprang und sich durch Sträucher kämpfte. Endlich gelangte er in das hohe Gras, das die Zufahrtsstraße eingrenzte.
Ohne innezuhalten, griff er nach hinten und zog die Pistole. Als Dance’ Wagen in Sicht kam, entsicherte er die Waffe.
Das Auto fuhr langsam. Es war noch eine Viertelmeile entfernt und näherte sich der Stelle, an der Corporal McManus Wache hielt, um niemanden auf das Gelände zu lassen. Nie wäre er auf die Idee gekommen, dass er jemanden am Verlassen des Geländes hindern müsste.
»McManus!«, rief Nick, als er zu dem Nationalgardisten rannte.
Der Corporal wandte sich ihm zu. Selbst aus der Entfernung war ihm seine Verwirrung anzusehen.
Nick wies auf Dance’ näher kommenden Wagen und rief: »Halten Sie die Leute auf!«
McManus drehte sich um und sah den grünen Ford Taurus.
»Die Leute haben etwas aus dem Wrack gestohlen!«, rief Nick, um sich McManus’ Aufmerksamkeit zu versichern.
»Woher wissen Sie das?«, rief der Corporal zurück.
»Fragen Sie nicht lange! Sie sind doch ein guter Schütze! Jetzt beweisen Sie’s.«
Der Corporal blickte dem näher kommenden Wagen entgegen.
»Lassen Sie die Kerle nicht durch!« Nick war keine dreißig Meter von dem Wachtposten entfernt.
Plötzlich beschleunigte der Taurus. Der Motor brüllte auf. Wegen der Absperrungen war die Straße gerade noch so breit wie das Fahrzeug. In der Lücke stand McManus und hob sein M16, während der anderthalb Tonnen schwere Wagen auf ihn zuraste.
Nick stellte sich neben den Corporal und brachte seine Pistole in Anschlag.
Der Taurus war noch hundert Meter entfernt und beschleunigte weiter.
»Versuchen Sie, den Reifen zu treffen!«, sagte Nick.
»Das schaffe ich nicht.« McManus hielt das Sturmgewehr im Anschlag.
»Sie schaffen das. Es ist wie am Schießstand.«
Fünfzig Meter.
»Feuern!«, rief Nick.
McManus konzentrierte sich und gab einen Schuss aus dem Sturmgewehr ab.
Ein Hinterreifen des Taurus zerbarst und schleuderte einen Hagel aus schwarzem Gummi umher. Die wirbelnde Aluminiumfelge sackte Funken sprühend auf die Fahrbahn. Als die Bremsen getreten wurden, schleuderte der Wagen zur Seite und kam mit protestierend kreischenden Reifen zum Stehen.
Nick und McManus richteten ihre Waffen auf Dance, der nach seiner Pistole greifen wollte, sich dann aber eines Besseren besann.
»Was zur Hölle soll das?«, fragte McManus mit zusammengebissenen Zähnen, ohne Dance aus den Augen zu lassen.
»Sehen Sie sich den Mann auf der Rückbank an. Achten Sie auf das Blut.«
McManus warf einen Blick auf Dreyfus. Als er dessen Zustand sah, richtet er sein Sturmgewehr auf Dance’ Kopf. »Aussteigen!«, rief er. »Los!«
»Junge«, sagte Dance, während er die Tür öffnete und die Hände auf Schulterhöhe hob, »Sie machen einen Fehler, der Ihr ganzes Leben verändern wird.«
Nick griff in den Wagen, entriegelte die Türschlösser und ließ Dreyfus aussteigen.
»Achten Sie nicht auf ihn, Corporal«, sagte er. »Warten Sie mal, bis Sie sehen, was der Kerl im Kofferraum hat. Dieser sogenannte Detective hat zwei Taschen mit Antiquitäten aus den Trümmern entwendet. Antike Schwerter und Dolche, dazu Brillanten. Sie haben jemandem gehört, dessen Leiche noch nicht kalt ist.« Nick wusste, dass diese Lüge viel überzeugender war als die Wahrheit.
»Er lügt!«, rief Dance und starrte Nick wütend an.
Nick entriegelte den Kofferraum. »Außerdem finden Sie Eisenplatten und Drahtseile darin, mit denen er Mr. Dreyfus fesseln und im Kensico-Stausee ertränken wollte.«
Dance riss überrascht den Kopf zu Nick herum.
Der Kofferraumdeckel hob sich langsam und gewährte den Blick auf zwei Sporttaschen und Eisenplatten. Nick öffnete den Reißverschluss einer der Taschen. Im Innern schimmerte es golden. Dolche kamen zum Vorschein, Schwerter, drei kostbar verzierte Schusswaffen und schließlich ein schwarzer Samtbeutel, aus dem beim Öffnen funkelnde Brillanten rollten.
»Mistkerl«, sagte McManus und drückte die Gewehrmündung gegen Dance’ Kopf. »An den Wagen!«
Dance gehorchte widerstrebend.
Während McManus ihn mit vorgehaltener Waffe in Schach hielt, nahm Nick Dance die Pistole, die Handschellen und die Autoschlüssel ab. Als er ihn abtastete, fand er einen kleinen Revolver in einem Fußknöchelholster. Er fesselte Dance die Hände mit Handschellen vor dem Bauch. Dann ging er zu seinem Audi, öffnete die Tür und warf die Waffen des Detectives auf den Sitz. Dance’ Blick folgte jeder seiner Bewegungen.
»Sie wissen nicht, was Sie tun«, sagte er zu Nick. Seine Augen brannten, als er ihn anstarrte. »Wir finden Sie! Und glauben Sie mir, ich hole Sie mir persönlich! Ich schneide Ihnen das Herz aus der Brust!«
Der Gewehrkolben traf Dance in den Bauch, und er klappte zusammen. »Schnauze.« McManus holte erneut mit der Waffe aus, besann sich dann aber eines Besseren und schob Dance in den Wagen. »Rein da. Für jemanden, der in den Knast geht, haben Sie eine verdammt große Klappe.«
Dance rollte sich auf die Rückbank seines Wagens und stöhnte vor Schmerz.
»Haben Sie die Schlüssel dafür?«, wandte McManus sich an Nick und wies auf Dance’ Handschellen.
Nick reichte sie dem Corporal, der sie sich in die Tasche steckte. »Das stand nicht in der Broschüre der Nationalgarde, als ich mich gemeldet habe.«
»Was tun Sie im wirklichen Leben?«, fragte Nick.
»Ich habe gerade meinen MBA gemacht, aber dank der Wirtschaftskrise ist der nicht viel wert. Ich brate immer noch Hamburger.«
»Hören Sie zu.« Nick musste das Gespräch beschleunigen. »Ich bringe ihn lieber zu einem Arzt«, log er und zeigte auf Dreyfus. »Sie sind ein guter Mann, und ich bin dankbar für Ihre Hilfe. Wenn Sie mal etwas brauchen …«
»Klar«, sagte McManus mit spöttischem Lächeln. »Ich verstehe schon.«
»Das ist mein Ernst«, beharrte Nick, als er den Zweifel im Blick des Corporals sah. »Geben Sie mir Ihre Handynummer.«
McManus nannte sie ihm.
Nick gab sie in sein Handy ein. »Ich verspreche Ihnen, ich verschaffe Ihnen einen Job.«
McManus lächelte. Er wollte an den Hoffnungsschimmer glauben.
»Sie müssen Leute von Ihrer Einheit herrufen«, sagte Dreyfus und wischte sich das Blut vom Mund. »Rufen Sie bloß nicht Dance’ Polizeikumpel. Die halten zusammen wie Pech und Schwefel. Sie werden behaupten, dass er unschuldig ist.«
»Ich verständige Colonel Wells, meinen Kommandeur«, sagte McManus. »Soll er sich darum kümmern.« Er blickte prüfend in Dreyfus’ blutiges Gesicht. »Alles okay?«
Dreyfus nickte bloß.
Nick lenkte seinen Audi über die Route 22. Neben ihm auf dem
Beifahrersitz saß Dreyfus, im Schoß den Aktenkoffer, den er aus dem
Kofferraum des blauen Leihwagens genommen hatte, der noch immer auf
der Zufahrtsstraße parkte.
»Ich danke Ihnen«, sagte Dreyfus. »Wahrscheinlich schulde ich Ihnen mein Leben.«
»Gern geschehen.« Nick brach ein Eispack aus dem Erste-Hilfe-Kasten des Wagens auf und reichte ihn Dreyfus. »Tut mir wirklich leid, dass Sie Ihren Bruder verloren haben.«
»Sie wussten genau, was dieser Dance mir antun würde. Wie kommt das?«
»So macht er es fast immer.« Nick betastete seine geschwollene Lippe und hoffte, weitere Fragen zu seinem Vorwissen verhindern zu können. »Hören Sie, ich habe nicht viel Zeit, aber ich muss erfahren, was vor sich geht. Wissen Sie irgendetwas über den Einbruch?«
Dreyfus drückte sich das Eispack aufs Auge. »Mein Bruder war für den Einbruch verantwortlich. Er hat alle nötigen Informationen aus unseren Firmenakten gestohlen. Er war der Kopf von allem, was geschah. Ich habe erst heute Morgen herausgefunden, was er vorhatte. Er hat ein Flugzeug genommen und kam um Viertel nach zehn hier an. Dance holte ihn vom Flughafen ab. Dann fuhren sie zu Hennicots Villa und raubten sie aus. Ich bin hierhergeflogen, weil ich gehofft hatte, ihn aufhalten zu können, ehe er den schlimmsten Fehler seines Lebens beging.«
»Das tut mir leid.« Nick konnte nachempfinden, dass Dreyfus sich verraten und verkauft fühlte.
»Sie waren zu fünft. Sie sind mühelos hineingekommen und haben sich genommen, was sie wollten. Aber dann entwickelte sich das Ganze zu einer Katastrophe. Dance und seine Leute glaubten, mein Bruder wollte sie übers Ohr hauen, und mein Bruder wiederum beschuldigte sie, undankbar zu sein. Ein Zusammenstoß von Machtstreben und Habgier wie aus dem Bilderbuch.«
»Es ging um Hunderte von Millionen«, sagte Nick.
»Ja. Und das war niemandem klar außer Hennicot, seinen Anwälten, mir und leider auch meinem Bruder. Die Leute, die ihm geholfen haben – dieser Dance und die anderen –, würden solche Kostbarkeiten nicht mal erkennen, wenn man sie ihnen ins Gesicht schlägt.«
»Warum sollte Ihr Bruder andere mit hineinziehen, wenn er die Schlüssel zum Haus hatte?«
»Es gibt immer eine Ersatzsicherung. Leider war mein Bruder ein Dummkopf. Er glaubte, dass im Polizeirevier eine Alarmglocke klingelt, und sagte sich, dass er dort Kontakte braucht, wenn er die Sache durchziehen lässt, also ließ er Dance ein Team zusammenstellen. Sie beobachteten das Haus, stellten fest, wer aus und ein geht, standen Schmiere und holten das Zeug schließlich raus. Mein Bruder versprach ihnen … nein, er lockte sie mit Gold und Brillanten. Er hat ihnen nie gesagt, worauf er es abgesehen hatte, weil er der Meinung war, es ginge sie nichts an. Er ließ Dance und seinen Leuten die Schwerter und Dolche, während er an den Safe ging.«
»Konnten sie nicht einfach den Monet von der Wand nehmen? Der ist mehr wert als alles andere.«
»Schön, dass wenigstens einer sich mit Kunst auskennt. Diese Idioten glaubten wahrscheinlich, den Monet hätte jemand mit Fingerfarben gemalt. Mein Bruder wusste genau, was es war, aber er wollte mehr.«
»Was meinen Sie damit?«, fragte Nick.
»Außer den Brillanten war noch etwas im Safe …« Dreyfus hielt inne.
»Und was?«
»Hennicots Mahagonikasten.«
»Was für ein Kasten?«
»Mein Bruder wusste nicht mal, was drin ist. Er hatte nur Gerüchte gehört, glaubte aber, es sei das Risiko wert.«
»Er wollte mehr als den Monet, das Gold und die Brillanten?«, fragte Nick ungläubig. »Was war denn in diesem Kasten?«
»Haben Sie je vom Konzept der Wahrnehmung des Wertes gehört?«
»Nein«, sagte Nick.
»Wenn ich eine Schachtel in der Hand hätte, von der ich mich auf keinen Fall trennen wollte, wären Sie neugierig, was da darin ist, nicht wahr? Und wenn ich Ihnen die Kiste nicht mal für eine Million Dollar verkaufen würde, hätten Sie die Bestätigung, dass sie sehr viel wert ist. Aber dieser Wert besteht nur in meinen Augen. Vielleicht liegt die Asche meines Vaters in der Schachtel … Staub, den der Wind verwehen würde. Für Sie wäre er völlig wertlos. Aber für mich wäre es alles, was ich von meinem Vater noch hätte, und deshalb unbezahlbar.«
Dreyfus wandte sich von Nick ab, schob beide Hände in die Taschen, zog sie wieder hervor und hielt sie Nick hin. Die eine Hand war zur Faust geballt, die andere war offen; auf der Handfläche lag ein Vierteldollar.
»Sehen Sie sich meine Hände an«, sagte Dreyfus. »Entscheiden Sie sich für eine.«
Nick betrachtete den Vierteldollar und blickte dann auf Dreyfus’ geschlossene Hand, ehe er sie berührte.
»Sehen Sie? Was Sie gerade getan haben, tun neun von zehn Menschen. Sie entscheiden sich für das Unbekannte. Warum?«, fragte Dreyfus rhetorisch. »Nun, aus einer Reihe von Gründen. Einmal, um zu erfahren, was darin ist, weil die meisten Leute das Unbekannte für wertvoller halten als das Bekannte. Wie viele Menschen leben im Augenblick? Wie viele Menschen leben für das Morgen und opfern dafür das Heute?« Dreyfus öffnete die Faust. Sie war leer. »Obwohl das Morgen niemals etwas garantiert. So ist es auch mit dem Mahagonikasten. Seinetwegen ist mein Bruder tot, und seinetwegen werden diese Leute auch mich töten, wenn ich ihnen nicht helfe, das Ding zu finden. Und Ihre Frau ermorden sie, um ihre Spuren zu verwischen. Und dabei wissen sie nicht mal, was in dem Kasten ist!«
»Dance hatte einen Kofferraum voll Gold, und trotzdem war er versessen auf einen Holzkasten, von dem er nicht einmal wusste, was er enthält?«
»Ja. Die ganze Sache ging schief. Dance und seine Männer stürzten sich auf die Antiquitäten und die Brillanten, und beides hätte sie glücklich gemacht. Dann sahen sie den Kasten. Sie wussten nicht, was darin ist, bemerkten aber, wie versessen mein Bruder darauf war. Sie schlossen daraus, dass sein Wert alles überstieg, was sie mitnahmen, und glaubten, sie würden über den Tisch gezogen und als Helfershelfer mit einem Trinkgeld abgespeist.«
»Und das alles wegen des Kastens?«
»Wir alle haben etwas, das uns teuer ist und von dem wir uns um keinen Preis trennen würden. Für Sie ist es Ihre Frau, für mich sind es meine Kinder. Bei Shamus Hennicot war es dieser mehr als zwölf Kilo schwere Kasten – ein Erbstück, das angeblich die Geheimnisse der Familie enthielt.« Dreyfus atmete tief durch. »Wir klammern uns an unsere Herzen, an das, was sie erwärmt, an das, was uns Hoffnung gibt, an Dinge, die wir nur anzusehen brauchen, um zu wissen, dass die Welt eines Tages in Ordnung sein wird.«
Im Lichte des Verlusts seines Bruders und des Todes Hunderter Menschen wirkten Pauls Worte prophetisch.
»Was kann zwölf Kilo wiegen und kostbarer sein als Gold und Brillanten?«, fragte Nick.
»Neugierde ist ansteckend, nicht wahr? Sie haben den Kasten noch nicht einmal gesehen, und trotzdem wollen Sie wissen, was darin ist.«
»Wissen Sie es denn?«, fragte Nick.
Dreyfus lächelte wissend. »Sie haben doch wohl nicht angenommen, dass es bei der Sache nur um eine Handvoll Brillanten und ein paar alte Schwerter ging, oder?«
Die Hintertür des Taurus stand offen. Dance saß in Handschellen auf
der Rückbank und vermochte seine Wut kaum im Zaum zu halten.
Der junge Nationalgardist stand vor dem Wagen, das M16 in einer Hand, das Handy mit der anderen ans Ohr gedrückt, während er darauf wartete, dass sein Vorgesetzter antwortete.
Dance’ Gedanken überschlugen sich. Er schaute sich um und schätzte seine Chancen ab, zu fliehen, ehe ein Kontingent Wochenendsoldaten kam und ihn festnahm. Dance war nicht so weit gekommen, um jetzt aufzugeben.
Er blickte auf seinen verstümmelten Ringfinger. »Eine Anzahlung auf sein Leben« hatten sie es genannt.
Niemand wusste es, doch er hatte nur bis Mitternacht, oder er wäre ein toter Mann. Und das passte ihm verständlicherweise gar nicht.
Dance hatte zu viele Nebenbeschäftigungen, die sich mit seinem Hauptberuf nicht vereinbaren ließen. Die sechzigtausend Dollar im Jahr, die ein Detective erhielt, genügten ihm nicht zum Leben, jedenfalls nicht in Westchester, wo die Reichen wohnten, die sich zwar schutzsuchend an die Polizei wandten, Polizisten aber als Bürger zweiter Klasse behandelten.
Mit kleinen Geschäften hatte Dance sein Einkommen aufgebessert: hier und da ein Diebstahl, dann und wann eine Erpressung bei Rauschgiftkonsumenten und Kleindealern aus reichem Hause, deren millionenschwere Eltern sie enterben würden, falls sie erfuhren, dass sie Stoff an Vierzehnjährige verkauften.
Aber das war noch nicht alles. Dance hatte geraubt, gestohlen, gegen Bezahlung Brandstiftung begangen und in zwei Fällen auch gemordet. Zehntausend Dollar pro Kopf – mit Rauschgift in Zusammenhang stehende Morde am anderen Ende des Bezirks. Dance hatte Futtersäcke aus Nylon über die Leichen gezogen, hatte sie mit Ketten umwickelt, mit einem fünfzig Kilo schweren Eisengewicht beschwert und sie vor Manhattan in den East River geworfen. Derart gesichert, würde man die Leichen jahrelang nicht finden – falls überhaupt.
Niemand wusste von Dance’ Nebeneinkünften – außer Shannon und Horace Randall, seinem Mentor, den nur noch drei Monate von der Pensionierung trennten. Diebesgut wurde rasch verkauft, Spuren nie gefunden. Und wenn ein Verdacht entstand, nutzte Dance sein polizeiliches Vorwissen, um die Ermittlungen in eine andere Richtung zu lenken.
Aber nicht alle Coups liefen glatt.
Vor vierzehn Monaten hatte er sich einer Bande von Kleinganoven bedient – Jugendliche, die er festgenommen hatte und dann erpresste, damit sie für ihn arbeiteten, um dem Gefängnis zu entgehen. Zwei von ihnen hatten in der Bronx einen Kastenwagen mit Computern gestohlen und in ein Lagerhaus in Yonkers gefahren, wo Dance auf sie wartete. Der Käufer der gestohlenen Notebooks und Desktop-Rechner hatte ihm vierzigtausend Dollar in bar gezahlt, von denen Dance fünftausend an die beiden Jugendlichen abtrat, damit sie den Mund hielten.
Eine Woche später wurden beide tot in einer Gasse gefunden. Kopfschüsse – eine typische Hinrichtung.
Am folgenden Tag wurde Dance von zwei breitschultrigen Schlägern gepackt, als er vor der Garage seines Zweifamilienhauses aus dem Auto stieg. Die Kerle brachten ihn in eine Werkstatt in Flatbush, wo sie ihn an einen schweren Holzstuhl fesselten.
Drei Stunden saß er in dem dunklen Raum unter den wachsamen Augen der beiden Schläger; dann hörte er, wie jemand eintrat.
»Du hast meinen Lieferwagen gestohlen«, erklang hinter ihm eine Stimme mit schwerem Akzent.
Dance saß still da und blickte starr nach vorn. Er brauchte den Mann nicht zu sehen, er kannte seine Stimme.
»Ausgerechnet du solltest es besser wissen.« Der kleine, schwarzhaarige Mann kam um Dance’ Stuhl herum, blieb vor ihm stehen und beugte sich zu ihm hinunter. »Jetzt sind zwei Kids tot.«
Das linke Auge des Albaners war blind, und eine hässliche Narbe verlief über seine Wange, was ihm ein furchterregendes Aussehen verlieh. Ghestov Rukaj gehörte der neuen Generation osteuropäischer Bandenchefs an, die bevorzugt Terrortaktiken einsetzten, um ihr Gebiet zu beherrschen und ihre Opfer zu kontrollieren. Der alte Cosa-Nostra-Typ des Verbrechers war beinahe harmlos im Vergleich zu Leuten wie Rukaj.
»Das war nicht Ihr Lieferwagen.« Dance blickte Rukaj in das gesunde Auge.
»Ich hatte ihn im Visier!«, stieß Rukaj hervor. »Er war auf meinem Gebiet, und meine beiden Leuten wollten ihn sich gerade schnappen, als deine Kids uns zuvorkamen!«
»Machen Sie sich überhaupt eine Vorstellung, was Ihnen passieren könnte? Ich bin Polizeibeamter«, sagte Dance.
»Machst du dir eine Vorstellung, was dir passieren wird, Mr. Polizeibeamter? Ich wusste gar nicht, dass die Polizei Computer stiehlt und weiterverscherbelt.«
Rukaj nickte, und die beiden klotzigen Männer traten vor und stellten sich links und rechts neben Dance, packte sein rechtes Handgelenk und pressten es auf die hölzernen Armlehnen.
Rukaj setzte sich vor Dance auf den Tisch, griff in die Tasche, holte ein großes Klappmesser hervor und ließ es aufschnappen.
»Das Leben, das zu führen wir beschlossen haben, hat seinen Preis.« Rukaj fuhr mit dem Finger über sein linkes Auge und über die breite Narbe auf seiner Wange. »Unser Ego, unsere Unverwundbarkeit muss sich manchmal der Realität stellen.«
Rukaj legte die Klinge auf den zweiten Knöchel von Dance’ rechtem Ringfinger.
»Hast du eine Million Dollar, Mr. Polizist?«
Dance schwieg. Seine Miene war undeutbar unter dem Schweiß, der ihm von der Stirn lief.
»Du hast mich fünfzigtausend Dollar gekostet, und die hätte ich gerne zurück – plus Schadenersatz. Du kommst an Drogengeld und Diebesgut heran«, sagte Rukaj mit seinem schweren Akzent. »Nicht wahr?«
Dance’ Augen brannten, während er Rukaj trotzig anstarrte.
Ohne ein weiteres Wort oder eine dramatische Pause drückte Rukaj mit seinem ganzen Gewicht auf die Klinge und trennte mit einem Schnitt Dance’ Finger ab.
Dance riss vor Schmerz den Kopf zurück und brüllte auf.
»Schrei nur, das ist keine Schande«, sagte Rukaj. »Ich verspreche dir, es keinem zu erzählen.«
Rukaj wischte die blutige Klinge an Dance’ Hose sauber, klappte das Messer zusammen und schob es wieder in die Tasche.
»Du bist ein wertvoller Mann, Ethan Dance, deshalb schenke ich dir für eine Million Dollar dein Leben. Und ehe du jetzt nervös wirst – ich gebe dir ein Jahr Zeit. Das reicht, um die Kohle zu beschaffen. Du kannst in Raten zahlen oder alles auf einmal, wie es für dich am bequemsten ist. Betrachte das hier«, Rukaj hielt den abgetrennten Finger hoch, »als Anzahlung.«
Mittlerweile waren vierzehn Monate vergangen. Dance hörte täglich von Rukaj und wurde jedes Mal daran erinnert, dass es keinen weiteren Aufschub gäbe, keine weitere Nachsicht. »Bald ist die Zeit gekommen, zu zahlen oder zu sterben«, sagte Rukaj jedes Mal.
Jetzt, da Dance im eigenen Wagen gefangen saß, den Kofferraum voller Antiquitäten und Brillanten – von denen ein Bruchteil ihm sein Leben erkaufen würde –, erfüllte ihn eine Wut, wie er sie noch nie erlebt hatte. Sam Dreyfus hatte ihn betrogen und war mit einem Kasten von unbekanntem Wert verschwunden; er selbst war von einem dilletantischen Soldaten verhaftet worden, und jemand freute sich schon darauf, ihm die restlichen Gliedmaßen zu amputieren.
Dance blickte den jungen Corporal an, der Polizist spielte und der am Montag wieder in seinen eigentlichen Beruf zurückkehren und damit prahlen würde, wie er einen korrupten Bullen festgenommen hatte.
»Hallo, Colonel«, sagte McManus in sein Handy und wandte Dance den Rücken zu, als sein Vorgesetzter endlich zu sprechen war.
Dance sprang aus der offenen Tür des Taurus, schlang dem arglosen McManus die gefesselten Handgelenke von oben über den Helm um den Hals und riss so kräftig, dass er dem Corporal die Luftröhre zudrückte.
McManus ließ das Handy fallen. Die M16 fiel herunter. Die Hände des jungen Mannes fuhren an seine Kehle. Er war im Kampf mit dem Sturmgewehr ausgebildet worden, hatte als Nationalgardist aber nie etwas gesehen oder erlebt, das einem Krieg auch nur nahekam. Nicht einmal bei einer Kneipenschlägerei war er dabei gewesen.
Dance beugte sich mit seinen ganzen neunzig Kilo nach hinten und zog die Handschellenkette in McManus’ gequetschte Kehle, trieb den gebrochenen Knorpel seiner Luftröhre ins weiche Fleisch und schnitt gleichzeitig den Blutzufluss zum Kopf seines Opfers ab.
Er ließ sich in den Taurus zurückfallen, riss dabei McManus von den Füßen und zerrte ihn mit sich in den Wagen. Die Hände des jungen Mannes rissen verzweifelt an der Kette, die ihm die Kehle zuschnürte, und er trat Halt suchend mit den Beinen, während ihm ein grässlicher Gurgellaut über die blau angelaufenen Lippen kam.
Endlich ließen McManus’ Zuckungen nach. Seine Arme sanken schlaff herab, und ein Krampf ließ sein rechtes Bein zittern.
Dann starb er.
Dance griff dem toten Nationalgardisten in die Tasche, zog die Handschellenschlüssel heraus und befreite sich.
Nachdem er die Leiche auf die Rückbank gelegt hatte, holte er Wagenheber und Ersatzrad aus dem Kofferraum und wechselte den Reifen so schnell, als gehörte er zur Boxenmannschaft eines Formel-1-Teams. Zwei Minuten später hob er McManus’ M16 und das Handy auf und warf beides in den Wagen. Dann sprang er auf den Fahrersitz, ließ den Motor an und jagte davon; Wagenheber und Rad ließ er mitten auf der Straße zurück. McManus’ Leiche würde er im Stausee versenken, wenn er die Zeit fand, doch im Augenblick gab es Dringenderes zu tun.
Nachdem er losgefahren war, klappte er die Tastatur des Polizeicomputers herunter und gab das Nummernschild ein, das er sich eingeprägt hatte. Der Halter des blauen A8 erschien auf dem Display: Nicholas Quinn, Townsend Court, Byram Hills. Das Foto passte genau zu dem Mann, der vorhin aus dem Wald hervorgerannt war, um ihn aufzuhalten, der ihm Handschellen angelegt und zurückgelassen hatte, damit man ihn ins Gefängnis schaffte. Der Mann, der aus irgendeinem Grund genau wusste, was Dance in seinem Kofferraum transportierte.
Dance las die Adresse auf dem Klebezettel an seinem Armaturenbrett. Es war die Anschrift von Hennicots Anwältin, in deren Büro sich das Überwachungsvideo befand, das die Frau wahrscheinlich gesehen hatte. Dance hatte schon mit ihr gesprochen.
Nicholas Quinns Frau vertraute ihm bereits. Nick folgte der Route 22. Als er auf der Brücke die Interstate 684 überquerte, sah er unter sich den fließenden Verkehr. Ihm war, als blickte er in eine andere Welt: die Straßen voller Autos, deren Insassen miteinander redeten, ohne an das Unglück zu denken, das sich nur eine Meile abseits des Highways ereignet hatte. Fast schien es, als wäre Byram Hills eine Geisterstadt unter Quarantäne, während die Welt ringsum die Katastrophe bereits vergessen hatte.
Nick gelangte in die verlassene Stadt und fuhr auf den leeren Parkplatz des Valhalla – das Restaurant, in dem Julia und er am Abend mit den Mullers verabredet waren.
»Sind Sie sicher, dass Sie nicht ins Krankenhaus wollen?«, fragte Nick, als er den Wagen abstellte.
»Ich bin okay«, antwortete Dreyfus. »Ich bin beim Football schon übler zugerichtet worden.«
»Wohin soll ich Sie dann bringen?«, fragte Nick und blickte auf die Uhr am Armaturenbrett seines Wagens. »Um drei habe ich einen Termin.«
»Zum Flugplatz kann ich noch nicht zurück«, sagte Dreyfus.
»Ich mache Ihnen einen Vorschlag«, sagte Nick. »Setzen Sie mich bei mir zu Hause ab. Sie können meinen Wagen nehmen.«
Dreyfus schüttelte den Kopf. »Das geht nicht.«
»Doch, sicher. Sie behalten den Wagen ja nicht. Rufen Sie mich an, wenn Sie ihn nicht mehr brauchen. Sie haben Ihren Bruder verloren. Und bei dem, was jetzt noch geschieht, brauchen Sie den Wagen dringender als ich.«
Dreyfus nickte. »In Ordnung. Danke.«
»Außerdem steht in zehn Minuten genau der gleiche Wagen wieder bei mir vor der Tür«, fuhr Nick mit einer Ironie fort, die niemand je begreifen konnte.
»Ich danke Ihnen sehr.«
»Aber dafür müssen Sie mir helfen.« Nick sah Dreyfus an. »Einer von Dances Männern wird versuchen, meine Frau umzubringen. Ich weiß nur nicht, wieso.«
»Wissen Sie, ich hatte nicht verstanden … Ich hatte Sie nicht mit Ihrer Frau Julia in Verbindung gebracht. Ich kenne sie … Ich bin ihr mehr als einmal begegnet. Sie ist großartig. Hennicot mag sie. Er hält große Stücke auf sie, und wenn Sie mich fragen, beurteilt niemand einen Charakter besser als dieser alte Mann.«
»Tja, wenn ich nicht langsam Hilfe bekomme«, erwiderte Nick, »überlebt sie den heutigen Tag nicht.«
Dreyfus zog den Aktenkoffer auf seinen Schoß, öffnete ihn und nahm drei Blatt Papier heraus.
»Ich habe erst heute Morgen herausgefunden, was mein Bruder vorhat. Ich habe seine Dateien durchsucht und das hier gefunden.« Er reichte Nick die Papiere.
Nick las sie rasch durch. Es waren eine planlose Checkliste und hastig getippte Notizen zum Einbruch.
»Viel ist es nicht, aber Sie erfahren immerhin die Namen.«
Nick überflog die Einzelheiten des Einbruchs; die stichwortartigen Lebensläufe, die Sam zusammengestellt hatte, sah er sich allerdings genauer an:
Unternehmen »Fahr zur Hölle« – 28.7.
Dance – Ethan Dance. 38. Detective.
Korrupt. Hinterhältig. Ein Dreckskerl
Seine Handlanger:
Randall – Bulle. 58. Fetter alter Mann.
Brinehart – Bulle. Neu bei dem Verein. Eine
Flasche.
Arilio – Bulle. Unscheinbar. Mitte 30.
Hehler – überprüft – chines.
Staatsbürger,
fünf Mio. in bar für Waffen.
Diamantenpreis VS
nach Inspektion.
Rukaj – kein Bulle. Wer ist der Typ? Hat Dance
mittags
angerufen. Dance war danach nervös, ängstlich. Schuldet Dance
ihm Geld? Oder einen Gefallen?
»Wenn jemand es auf Ihre Frau abgesehen hat«, sagte Dreyfus und
zeigte auf die Namen, »muss es einer von denen hier sein.«
»›Fahr zur Hölle‹?«, fragte Nick mit einem Blick auf die oberste Zeile.
»Das ist das Datum von heute.«
»Wer ist dieser Rukaj?«
»Ich bin mir nicht ganz sicher, aber es könnte Ghestov Rukaj sein, ein Albaner, der den Ehrgeiz hat, Boss des organisierten Verbrechens in New York zu werden. Aber wenn Sie mich fragen … Wenn er Dance Angst einjagt, kann er kein durch und durch schlechter Mensch sein.«
»Oder«, erwiderte Nick düster, »er ist viel schlimmer.«
»Ich würde Dance jedenfalls nicht aus den Augen verlieren«, sagte Dreyfus.
»So wahnsinnig der Mann auch ist«, sagte Nick, »ich glaube nicht, dass er es war.«
»Sagten Sie war?«, fragte Dreyfus verwirrt.
»Ist«, verbesserte Nick sich rasch. Sosehr er mit Dreyfus auf einer Wellenlänge lag – den Beweis behielt er in der Tasche. Julias Mörder trug den Christopherus-Anhänger um den Hals, und Nick hatte Dance’ Hals und seine entblößte Brust gesehen und kein Medaillon entdeckt. Randall, der 58-jährige, übergewichtige Cop auf Sams Liste, hatte ebenfalls nicht abgedrückt, denn Nick hatte gesehen, wie er in dem Augenblick, in dem Julia erschossen wurde, in den blauen Chevy Impala gestiegen war. Also musste einer der übrigen drei geschossen haben: Brinehart, Arilio oder Rukaj.
»Nach dem Raub heute Morgen hat Dance meinen Bruder verfolgt«, fuhr Dreyfus fort. »Wenn er nicht beim Flugzeugabsturz ums Leben gekommen wäre, hätten er und seine Leute ihn umgebracht. Dance hat unerbittlich nach dem Kasten gesucht, weil er glaubt, er wäre ein Vermögen wert. Ich bin sicher, er ist genauso unerbittlich dabei, alle Spuren zu vernichten, sodass er nie gefasst wird.« Damit bestätigte Dreyfus die Gefahr, in der Julia schwebte.
»Woher wissen Sie so viel über die Vorgänge während des Einbruchs?« Misstrauen schlich sich in Nicks Stimme.
Dreyfus zögerte, als müsste er jetzt zugeben, eine Leiche im Keller zu haben.
»Nach dem Einbruch habe ich meinen Bruder gefunden und den Kasten aus Hennicots Safe bei ihm gesehen. Ich habe ihn zu überzeugen versucht, sich von mir helfen zu lassen und dass der Kasten nicht das enthielt, was er glaubte … dass der Inhalt die Leere in seinem Leben nicht füllen könne. Er sagte, es sei zu spät, Dance sei hinter ihm her und würde ihn töten, sobald er ihn sehe.«
»Wo haben Sie mit Ihrem Bruder gesprochen?«, fragte Nick.
»Am Flughafen.«
»Mein Gott«, sagte Nick. »Das tut mir leid.«
Als Dreyfus ihn anschaute, lag irgendetwas in seinem Blick, das Nick nicht zu deuten vermochte.
»Mein Bruder ist bei dem Flugzeugunglück gestorben, Nick«, sagte er schließlich, »aber er war nicht an Bord von Flug 502.«
»Was soll das heißen?«
»Er kam in einem gestohlenen Polizeiwagen zum Flughafen, den Holzkasten unter dem Arm. Ich habe versucht, zu ihm durchzudringen …«
»Womit?«, fragte Nick, als Dreyfus stockte.
»Ich habe versucht, ihn aufzuhalten.« Dreyfus’ Stimme war von schmerzlichem Bedauern erfüllt.
»Das wusste ich nicht«, sagte Nick.
»Er hat mein Flugzeug gestohlen«, fuhr Dreyfus fort und blickte aus dem Fenster. Er konnte Nick nicht in die Augen sehen. »Mit vorgehaltener Waffe hat er mir die Schlüssel abgenommen und mein Flugzeug gestohlen. Wenn ich gewusst hätte, was als Nächstes geschieht, hätte ich ihn aufgehalten. Ich hätte ihn sogar getötet.«
Nick starrte Dreyfus an, der um die nächsten Worte kämpfte, und fragte sich verwirrt, worauf das Gespräch hinauslief.
»Ich habe zugesehen, wie er mein Flugzeug geradewegs in das Passagierflugzeug gelenkt hat … in die Maschine von Flug 502. Ich habe zugesehen, wie all die Menschen in den Tod stürzten …«
Nick saß in fassungslosem Schweigen da. Er wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass die beiden schrecklichen Ereignisse in Byram Hills miteinander zu tun hatten.
»Es tut mir leid«, sagte Nick schließlich. Ihm wurde klar, dass der Ausdruck in Dreyfus’ Augen nicht bedeutete, dass er sich betrogen fühlte, sondern Zerknirschung und Trauer verriet – und ein überwältigendes Schuldgefühl, weil sein Bruder für den Tod von zweihundertzwölf Menschen verantwortlich war.
Beide Männer schwiegen und hingen den eigenen Gedanken nach, als Nick den Parkplatz verließ und die anderthalb Meilen nach Hause fuhr.
Vor dem Haus hielt er an. Dreyfus und er stiegen aus dem Wagen und schüttelten sich ernst die Hand.
»Danke, dass Sie mir den Wagen leihen. Und noch eines, Nick …«, fuhr Dreyfus eindringlich fort. »Wenn diese Leute glauben, dass Ihre Frau sie identifizieren kann, weil sie das Überwachungsvideo vom Einbruch gesehen hat, dann geben sie nicht auf, ehe sie Ihre Frau zum Schweigen gebracht haben. An Ihrer Stelle würde ich sie sofort aus dieser Stadt schaffen. Wenn Sie Freunde haben, denen Sie vertrauen, wenden Sie sich an sie, nicht an die Polizei. Ich würde niemandem trauen, der dem hiesigen Polizeirevier angehört.«
»Da bin ich ganz Ihrer Meinung.«
Dreyfus nickte dankend, als er sich auf den Fahrersitz von Nicks Audi setzte. Er schloss die Tür und fuhr die Scheibe herunter. »Viel Glück.«
Nick beobachtete, wie Dreyfus von der Auffahrt fuhr und um die Ecke verschwand. Dann nahm er die Taschenuhr und schaute nach der Zeit: drei Minuten vor drei. Julias Lexus stand nicht vor dem Haus. Er wusste nicht, wo sie im Moment war, doch dieser Moment wäre ohnehin bald vorbei.
Er nahm sein Handy und rief McManus an, froh, dessen Nummer gespeichert zu haben. Während des Freizeichens blickte er auf Dreyfus’ Notizen mit den Namen der anderen Polizisten.
»Hallo, Corporal«, sagte Nick, als abgenommen wurde. »Hier ist Nick Quinn.«
»Hallo.«
»Hören Sie gut zu, McManus, es ist sehr wichtig! Es gibt drei weitere Polizisten, die mit Dance unter einer Decke stecken. Sie heißen Randall, Arilio und Brinehart.« Nick wiederholte die Namen. »Sagen Sie Ihrem Kommandeur, er soll sie festnehmen lassen.«
»Tut mir leid, Mr. Quinn, aber Mr. McManus weilt nicht mehr auf dieser Welt.«
Nick erkannte Dance’ Stimme.
»Wo sind Sie, Quinn? Sind Sie zu Hause?«, fragte Dance. »Eines sollte Ihnen klar sein: Ich kriege Sie. Und wenn ich Sie habe, breche ich Ihnen das Genick.«
»Jetzt hören Sie mal zu …«, begann Nick.
»Nein!«, brüllte Dance. »Sie hören mir zu! Ihre Frau, Julia … Können Sie sich vorstellen, wie sie tot aussieht? Können Sie das?«
Nick erstarrte vor Schreck. Er versuchte, das grässliche Bild ihres Leichnams aus seinen Gedanken fernzuhalten, doch es ließ sich nicht verdrängen.
»Eine Kugel in den Kopf«, fuhr Dance fort, »oder wie wär’s mit einem Messer, über ihren Bauch gezogen, damit sie zusehen kann, wie ihr die Eingeweide rausrutschen? Meine Leute suchen bereits nach ihr, und wenn sie das Weib finden … nun, lassen Sie einfach Ihrer Fantasie freien Lauf!«