Nick rannte über den Rasen zu Marcus’ Haus. Ohne sich mit Anklopfen aufzuhalten, stürmte er zur unverschlossenen Vordertür hinein, eilte durchs Foyer und riss die Schiebetür zur Bibliothek auf, in der Marcus arbeitete, wie Nick wusste.
Marcus schien völlig ungerührt von Nicks abruptem Eintreten. Er saß hinter seinem großen Schreibtisch, und seine drei Computer summten.
Nick zog den Umschlag aus der Tasche und legte ihn vor Marcus hin.
»Was ist das?« Marcus blickte neugierig auf den wasserfleckigen Brief und erkannte schließlich seine eigene Handschrift.
»Ehe du das öffnest, muss ich dich um Hilfe bitten.«
»Na klar. Setz dich und sag, was du brauchst.«
Nick nahm widerwillig in dem Ohrensessel vor Marcus’ Schreibtisch Platz.
»Ich habe drei Minuten, um dich von dem Unmöglichen zu überzeugen. Was in dem Brief steht, ist wahr. Du selbst hast ihn auf meine dringende Bitte hin geschrieben.«
»Was willst du damit …«
Nick hob die Hand. »Ehe du etwas sagst, schwöre ich dir, dass ich dich niemals täuschen würde. Ich schwöre dir, dass ich bei klarem Verstand bin.«
Marcus starrte ihn ernst an; dann nahm er den Brief und riss das Kuvert auf. »Du bist ein Spinner, weißt du das?«, sagte er halb im Scherz.
»An mich selbst«, las er dann laut. Die Wörter waren verschwommen von Wasser, aber lesbar. Am wichtigsten aber war, dass Marcus die Schrift als seine eigene erkannte. »Ich weiß, es klingt verrückt … Na, das ist ja toll. Wann habe ich das geschrieben?« Er schaute zu Nick hoch, die Augen zusammengekniffen.
»Lies nur«, sagte Nick.
Marcus las stumm weiter.
An mich selbst!
Ich weiß, es klingt verrückt, aber ich schreibe an
mich selbst. Du
(also ich) weißt, dass dies meine Handschrift ist und dass wahrscheinlich
niemand diese Klaue je nachmachen könnte außer
Onkel Emmett, aber da er tot ist …
So schwer es zu glauben ist, vor Dir steht Nick und bittet
Dich um Hilfe, damit er Julia das Leben retten kann.
Marcus schaute kurz zu Nick hoch; dann blickte er wieder auf den
Brief.
Irgendwie kennt Nick die Zukunft, das steht außer
Frage. Ehe
Du jetzt denkst, er wäre verrückt – oder Du selbst, weil Du so
etwas schreibst –, werde ich Dir die Stichhaltigkeit meiner/unse-
rer Worte beweisen.
Du weißt es noch nicht, aber Jason Cereta ist tot. Du wirst
erst nach drei Uhr davon erfahren, wenn seine Frau in Tränen
aufgelöst im Büro anruft. Jason saß heute Morgen in Flug 502
von Westchester und ist bei dem Absturz umgekommen. Er wollte
nach Boston, um mit Reiner Hertz über die Aufnahme von Verkaufsverhandlungen
für seine Halix Ski Company zu sprechen.
Erinnere Dich, dass Du außer Jason niemandem von Deinem
Wunsch erzählt hast, Halix zu kaufen, und nur Nick gegenüber
hast Du erwähnt, wie sehr Du die Skier dieses Herstellers magst,
besonders aber die schweizerischen Models, die Halix jedes Jahr
für sich werben lässt. Ich habe ihr schwarz-orangenes Design
geliebt, seit ich ein kleiner Junge war und Dad mir gegen Moms
Wunsch ein Paar Skier zu Weihnachten gekauft hat. Am Hunter
Mountain hat er mir dann das Fahren beigebracht; es war der
27. Dezember, und Mom war furchtbar sauer, weil wir erst nach
Mitternacht wieder nach Hause kamen. Wie auch immer, Jason
war ein guter Junge und dachte, er macht Dir und mir eine
Freude und treibt gleichzeitig seine Karriere voran. Möge er in
Frieden ruhen.
Nick steht jetzt vor Dir und bittet Dich, ihm zu helfen, wenn
er Julia das Leben zu retten versucht. Ich will nur sagen, ich habe
die Zukunft gesehen. Was Nick tun musste, um mich zu überzeugen,
dass er die Wahrheit spricht, war das Schrecklichste, das
Entsetzlichste, was ich je gesehen habe. Sie kommen, um Julia zu
töten, und wenn Du Nick nicht hilfst, muss sie sterben.
Du hast bereits Schuldgefühle, weil Du Dad verloren hast,
ohne Dich mit ihm versöhnt zu haben. Sei Dir gewiss, die
Zukunft kommt, und wenn Du Nick nicht hilfst, ist Julia tot,
ehe die Sonne untergeht, und die Schuld dafür lastet auf Deinen
Schultern, wenn Du nicht tust, worum er Dich bittet.
Ich beschwöre Dich, hilf ihm!
Ich – und das bist Du,
Marcus Bennett
Marcus starrte auf seine Unterschrift und die erhabene Prägung des
Firmensiegels, das er seit Wochen nicht mehr aus dem Schreibtisch
genommen hatte. Er griff wieder in den Umschlag, zog die Titelseite
des Wall Street Journal heraus und überflog
es rasch.
Eine ganze Minute verstrich, ehe er wieder aufsah.
Wortlos hob er den Hörer vom Telefon und wählte.
»Helen? Ich bin’s. Ich muss sofort Jason sprechen … Was soll das heißen, er ist nicht im Büro? Kommen Sie mir nicht damit. Geben Sie mir seine Sekretärin!«
Fünf Sekunden lang schwieg er. Dann:
»Christine, hier Marcus. Wo ist Jason?«
Als sie in Marcus’ Bentley Continental GTC Cabrio über den Sunrise
Drive jagten, war Nick froh, einmal an diesem Tag nicht selbst
hinter dem Steuer zu sitzen. Und er war froh, einen Verbündeten zu
haben, dem er vorbehaltlos trauen konnte. Er hatte Julia angerufen
und erfahren, dass sie an der Tankstelle in Bedford war, nördlich
der Stadt. Da sämtliche Tankstellen in Byram Hills geschlossen
hatten, war sie die fünf Meilen gefahren, um ihren fast leeren Tank
zu füllen, ehe sie einen Arzt abholen wollte, dessen Hilfe an der
Absturzstelle gebraucht wurde.
Mit bebender Stimme hatte Julia ihm erzählt, dass sie unmittelbar vor dem Start aus der Maschine gestiegen war. Nick sagte ihr, sie solle nicht weiterfahren, sich in ihren Wagen setzen und auf ihn warten.
»Ich kann nicht fassen, dass Jason tot ist«, sagte Marcus kopfschüttelnd. »Ich hatte keine Ahnung, dass er nach Boston fliegt.«
»Es tut mir leid«, sagte Nick.
Schweigend fuhren sie durch die Geisterstadt Byram Hills.
»Ich bin ziemlich überzeugend«, brach Marcus schließlich das Schweigen.
»Du meinst deinen Brief? Ja, du kannst sehr überzeugend sein. Gott sei Dank«, erwiderte Nick und blickte auf Washington House, als sie daran vorbeifuhren.
»Die ganze Sache ist unfassbar. Nick, du musst mir sagen, was los ist.«
Nick brauchte fünf Minuten, um Marcus ins Bild zu setzen – über Dance und Dreyfus, Julia und den Mahagonikasten und seine Begegnungen mit dem Tod. Dann zog er die goldene Taschenuhr hervor, klappte den Deckel auf und hielt sie Marcus hin.
»Nimm sie weg«, sagte Marcus.
»Du willst sie dir nicht anschauen?«
»Im Leben gibt es ein paar Dinge, die wir lieber nicht sehen und nicht wissen sollten.«
Als sie sich auf der Route 22 dem Sullivan Field näherten, schwiegen sie beide. Flammen loderten zum Himmel, und dicker schwarzer Rauch verdeckte die Sonne. Es war Viertel nach eins, und die Feuerwehren von Banksville, Bedford, Mount Kisco, Pleasantville und fünf anderen Gemeinden unterstützten die Freiwilligen aus Byram Hills, die seit über einer Stunde gegen den Brand kämpften. Es war eine Schlacht, bei der es keinen Sieger geben würde.
»Verstehe mich nicht falsch, du tust das Richtige, aber … hast du dir schon mal überlegt, inwiefern dein Handeln die Zukunft ändert? Hast du über die Auswirkungen nachgedacht, die jeder deiner Schritte, jedes Gespräch haben wird?«
Ein roter Toyota 4 Runner schoss an Marcus’ Limousine vorbei und schnitt ihn, ehe er davonraste.
»Unser Handeln hat weitreichende Folgen, die wir niemals sehen.« Marcus zeigte auf den Toyota, der die Straße hinunter verschwand. »Durch einen rücksichtslosen Fahrer wie den da kann eine Ereigniskette in Gang gesetzt werden, die im Dominoeffekt das Leben von hundert Menschen verändert, und die haben wiederum Auswirkungen auf alle Menschen, mit denen sie Kontakt haben.
Angenommen, ein Mann rast über einen Highway und verursacht einen Unfall. Durch den Stau, der dadurch entsteht, kommen zahlreiche Menschen nicht rechtzeitig nach Hause. Unter diesen Verspäteten ist vielleicht ein Arzt, dessen kleines Kind etwas verschluckt hat, das ihm die Luftröhre verstopft. Der verängstigte Babysitter weiß nicht, was zu tun ist, und das Kind stirbt. Wäre der Vater rechtzeitig nach Hause gekommen, hätte er an dem Kind den Heimlich-Handgriff angewendet und es retten können. Und das Kind wäre aufgewachsen und hätte, von seinem Vater zu einer medizinischen Ausbildung inspiriert, möglicherweise das Heilmittel gegen Krebs entdeckt. Das aber geschieht nicht, weil der Mann den Unfall gebaut und den Stau verursacht hat. Es sind die oft zitierten Paradoxe, die durch Zeitreisen entstehen. Wie die Sache mit dem Mann, der in die Vergangenheit reist und seinen Großvater im Kindesalter umbringt, wobei sich dann die Frage stellt, wie der Mann in die Vergangenheit hat reisen können, weil er gar nicht existieren dürfte, da er seinen Großvater ermordet hatte.«
Die helle Mittagssonne tauchte die Welt in grellen Schein. Marcus setzte die verspiegelte Sonnenbrille auf und griff in die Seitentasche der Tür, holte Sonnenmilch hervor und rieb sich damit die Halbglatze ein.
»Mein Gott«, sagte er, »überleg nur, was du mit der Macht anstellen könntest, die du in Händen hältst.«
»Ja, auf der Pferderennbahn wäre ich der Größte«, erwiderte Nick.
»Ach was, Pferderennen! Denk mal an die Börse. An das Geschäftsleben. Da winkt das große Geld. Wenn du das Verhalten deiner Gegner kennst, ehe sie ihren Zug machen.« Marcus zog den Umschlag, den er an sich selbst adressiert hatte, aus der Tasche und schaute auf die Seite aus dem Wall Street Journal. »Ist dir klar, dass ich mit einem Informationsvorlauf von fast vier Stunden Milliarden verdienen könnte?«
»Schön zu sehen, dass der Kapitalist in dir noch lebt.«
»Oder denk an internationale Beziehungen, an Friedensgespräche. Man könnte den Lauf der Geschichte ändern, Katastrophen verhindern. Man könnte den Ausgang von Mordprozessen beeinflussen, sogar den Ausgang von Kriegen. In den falschen Händen – und ich glaube, das betrifft so ziemlich jeden – ist dieses Ding unfassbar gefährlich. Die Macht, die Zukunft zu kennen, korrumpiert selbst den edelsten Menschen.« Er blickte Nick an. »Versprich mir, dass du sie vernichtest, sobald du sicher sein kannst, dass Julia außer Gefahr ist.«
»Du hast mein Wort«, sagte Nick.
Marcus blickte wieder auf die Seite aus dem Wall Street Journal, steckte sie in den Umschlag zurück und reichte ihn Nick. »Mir fehlen die Worte, um auszudrücken, was für eine große Versuchung das ist. Mit einem einzigen Anruf …«
Nick steckte den Umschlag in die Tasche. »Gut zu sehen, dass nicht jeder so leicht zu korrumpieren ist.«
»Nick.« Marcus sah ihn kurz an. »Weiß Julia von ihrem Tod?«
Nick schüttelte den Kopf. »Sie hat ihn durchlitten, oder sie wird es noch, aber erst in ein paar Stunden. Im Augenblick ist sie nur froh, rechtzeitig aus dem Flugzeug gestiegen zu sein.«
»Ich gewöhne mich nie an diese Vorstellung«, sagte Marcus kopfschüttelnd. »Du redest von der Zukunft, als wäre sie Vergangenheit.«
»So ist das ganze Leben in den letzten acht Stunden für mich verlaufen.«
»Wie behältst du den Überblick? Ohne jemanden, der sich erinnert, was passiert ist? Ohne roten Faden? Ich würde völlig durcheinanderkommen.«
»Ich denke einzig und allein an Julia. Die Zeit ist mir egal. Ich kümmere mich um gar nichts, nur darum, ihren Mörder zu finden und aufzuhalten. Sie ist der roten Faden.«
Die Flammen loderten zwanzig Meter hoch, und die intensive Hitze
hinderte die Feuerwehrmannschaften wie ein unsichtbares Kraftfeld
daran, sich den Brandherden auf weniger als fünfzig Meter zu
nähern. Das Feuer brüllte wie eine unmenschliche Bestie, versengte
die Luft und ließ das Metall des Flugzeugrumpfs ausglühen.
Über das Trümmerfeld war weißer, wolkenähnlicher Schaum gelegt worden, der das Löschen des Flugbenzins unterstützen sollte. Acht Wasserkanonen kämpften gegen die sich ausbreitenden Flammen, die bereits an den umliegenden Wäldern nagten.
Zum Glück waren für den kurzen Flug nach Boston die Tanks in den Tragflächen der Maschine nur halb gefüllt gewesen, da man es bei den heutigen Brennstoffpreisen vermied, unnötiges Gewicht zu transportieren. Doch dieser Glücksfall interessierte die Feuerwehrleute wenig, als sie sich nun verzweifelt abmühten, elftausend Liter brennendes Flugbenzin einzudämmen.
Männer in Brandschutzanzügen durchsuchten das Gelände in der Hoffnung auf ein Wunder, fanden jedoch nichts außer zermalmten Leichen und Metallsplittern. Frische Kräfte der Nationalgarde trafen ein, um die Einsatzkräfte vor Ort zu unterstützen. Scharen von Neugierigen schauten zu, schockiert und fasziniert zugleich, bis man sie aufforderte, zu gehen, oder sie als Helfer rekrutierte.
Dance umging das lodernde Wrack und achtete nicht auf die Schläuche der Feuerwehr, von denen das Wasser auf seinen blauen Blazer spritzte. Bei all dem Tod, dem sinnlosen Leiden und Sterben, empfand Dance keinen Augenblick Mitleid, weinte keine Träne um die Toten. Irgendwo dort lag die Leiche von Sam Dreyfus, und irgendwo dort war der Kasten, von dem er sich nicht hatte trennen wollen – ein Gegenstand von unvorstellbarem Wert. Wenn er einem Millionär wie Dreyfus wichtiger war als Gold und Brillanten, musste sein Wert in die Hunderte Millionen Dollar gehen.
Dance lächelte. Sam Dreyfus hatte bekommen, was er verdiente. Dance hoffte nur, dass der Kerl sich seines unmittelbar bevorstehenden Todes bewusst gewesen war, als die Maschine vom Himmel stürzte.
Dance hatte keine Furcht, dass jemand vor ihm den Kasten erreichte, sofern er den Aufschlag überstanden hatte. Die Absturzstelle war wie ein Verbrechensschauplatz; jeder, der ertappt wurde, wenn er etwas entwendete, zog nicht nur öffentlichen Zorn auf sich – er kam außerdem wegen Verstoßes gegen Bundesgesetze vor Gericht. Wenn der Holzkasten noch intakt war, wüsste niemand, worum es sich dabei handelte. Und weil Dance einer der Kriminalbeamten war, in deren Zuständigkeitsbereich die Absturzstelle lag, würde es ihm auf jeden Fall gelingen, dorthin zu kommen, wo die Trümmer aufbewahrt wurden, und den Kasten zu stehlen, ehe jemand auch nur ahnte, was geschah.
Nach Sam Dreyfus’ Verrat und Tod war es an Dance und seinen Leuten, die Spuren zu verwischen, die Überwachungsdateien zu finden und zu löschen und jeden zu beseitigen, der sie sich angeschaut haben könnte.
Als Sam Dreyfus ihn vor einem Monat kontaktiert hatte, war Dance’ erster Gedanke gewesen, er hätte es mit der Abteilung für interne Ermittlungen zu tun. Er hatte befürchtet, die »Polizei der Polizei« sei ihm auf die Schliche gekommen und wolle ihn nun mit der Aussicht auf Gold und Brillanten zu einem unüberlegten Schritt verleiten.
Doch mit den Mitteln der Recherche, die einem Detective zur Verfügung standen, hatte Dance rasch herausgefunden, dass Sam Dreyfus der unfähige jüngere Bruder des Inhabers und Gründers der DSG war, Paul Dreyfus, Entwickler des Sicherheitssystems in Hennicots Washington House. Und während Paul Dreyfus als kluger Kopf und harter Arbeiter galt, war Sam das absolute Gegenteil – der totale Versager, der stets nach mehr gierte und sein aberwitzig hohes Einkommen und den Lebensstil, den ihm letztlich sein Bruder finanzierte, nie zu schätzen wusste.
Sam Dreyfus war der perfekte Partner bei einem Verbrechen: ein Mann von schwachem Charakter, von dem Dance wusste, dass er ihn in der Hand haben würde. Dreyfus war wie ein Wunder, vom Teufel geschickt, das Dance’ Überleben sichern und Ghestov Rukaj im Zaum halten würde.
Dance hatte überlegt, Drogendealer auszurauben, Asservatenkammern zu plündern und Verbrecher zu erpressen, um an Geld zu kommen, doch keine dieser Möglichkeiten hätte ihn auch nur in die Nähe der Million Dollar gebracht, die er brauchte, um sein Leben zu retten.
Sosehr Rukajs Ultimatum ihm Angst einjagte – Dance wusste, dass er sich an niemanden wenden und nirgendwohin fliehen konnte. Der Albaner hatte überall Beziehungen; er lauschte, beobachtete und folgte jedem, dem er folgen wollte. Und für einen Detective mit Dreck am Stecken gäbe es von keiner Seite Sympathie: Typen wie Dance wurden von Polizei und Verbrechern gleichermaßen gehasst. Und Rukajs Ruf gründete sich nicht auf Gerüchte, sondern auf Tatsachen: Die Hinrichtungen, die er persönlich vorgenommen hatte, waren legendär für die endlosen Qualen, die sie den Opfern bereiteten; manche hatten stundenlang um den Tod gefleht.
Rukaj hatte Dance in der Hand.
Und der einzige Ausweg für Dance waren eine Million Dollar.
Dance hatte Sam Dreyfus viermal im Shun Lee Palace in Manhattan getroffen und war mit ihm den Ablauf des Coups, die Pläne der Alarm- und Schließsysteme und die Frage durchgegangen, wie sie ihre Beute an einen Hehler verkaufen sollten. Sam erklärte, dass es ein zweites Back-up der Überwachungsvideos geben würde, und wenn es nicht im Polizeirevier gespeichert wurde, dann in der Kanzlei von Hennicots Rechtsvertretung vor Ort.
Sam bestätigte, dass Hennicots Anwältin eine gewisse Julia Quinn von der Kanzlei Aitkens, Lerner & Isles sei und dass die Daten direkt auf ihren Computer übertragen wurden, wobei ein redundantes Back-up auf dem Server der Kanzlei abgelegt wurde. Dreyfus sollte Quinn sofort nach dem Einbruch aufsuchen unter dem Vorwand, im Interesse seiner Firma prüfen zu wollen, was geschehen war. Dabei sollte er ein Virus auf Julias Computer einschleusen, der den Beweis löschte, ehe die Daten um zwei Uhr morgens bei einer Sicherheitsfirma außerhalb der Kanzlei gespeichert wurden.
Doch nun, da Sam tot war, musste Dance selbst sich um Julia Quinn kümmern.
Er und seine Leute verstanden nichts von Computerviren und internen Sicherheitsprotokollen. Ihnen waren die Vorgehensweisen einer Anwaltskanzlei unbekannt, was Überwachungsvideos anging. Doch Dance besaß andere Mittel, um Beweismaterial verschwinden zu lassen.
Nun, nach dem Raub von Shamus Hennicots Gold und Brillanten und Dreyfus’Tod, verrann die Zeit im Eiltempo, und Dance konnte nicht riskieren, dass irgendeine Spur zu ihm führte.
Was als Einbruch aus dem Bilderbuch geplant gewesen war, hatte sich zu einer Katastrophe entwickelt. Doch der Flugzeugabsturz war dennoch ein glücklicher Augenblick an einem Morgen, der angefüllt gewesen war mit Verrat und Komplikationen. Das Unglück war eine perfekte Ablenkung: In der ganzen Stadt fiel der Strom aus, und Familien eilten schockiert nach Hause und ließen Byram Hills verlassen zurück. Chaos und Verwirrung wurden zum Normalzustand und bildeten die ideale Tarnung, um das Durcheinander zu beseitigen, das Sam Dreyfus hinterlassen hatte.
Dance’ Leute würden in Kürze in die Kanzlei von Aitkens, Lerner & Isles eindringen und sämtliche Videodateien vernichten, die gefährlich werden konnten, selbst wenn sie dafür das ganze Gebäude niederbrennen mussten. Und was Shamus Hennicots persönliche Anwältin anging …
Dance zog ein Handy aus der Tasche, das Sam Dreyfus gehört hatte. Der Trottel hatte es zurückgelassen, als er mit seinem kostbaren Mahagonikasten zum Flugzeug geflohen war.
Dance schaltete das Handy ein und blätterte durchs Telefonbuch, bis er Julia Quinns Büro- und Handynummer fand, die bequemerweise im Verzeichnis standen.
Dance wählte die Handynummer und drückte die Gesprächstaste. Es war sehr angenehm, dass die Anruferanzeige ihn als Sam Dreyfus ausweisen würde – das erste Saatkorn seiner Täuschung.
»Mrs. Quinn?«
»Ja?«
»Hier ist Sam Dreyfus von der DSG«, log Dance.
»Oh, Sie sind Pauls Bruder, nicht wahr? Wir hatten noch nicht das Vergnügen.«
»Sie können sich wahrscheinlich denken, weshalb ich anrufe.«
»Ja«, antwortete sie. »Ich kann mir nicht erklären, wie die Einbrecher hereingekommen sind.«
»Haben Sie sich das Video schon angesehen?«, fragte Dance, bemüht, nicht allzu interessiert zu klingen.
»Nein, der Server in Hennicots Haus ist zerstört, und nach dem Flugzeugabsturz und dem Blackout bin ich noch nicht ins Büro gekommen.«
»Der Stromausfall erschwert es natürlich, sich diese Dateien anzuschauen«, erwiderte Dance, froh, dass sie an die Computer heran konnten, ehe die Frau irgendetwas zu sehen bekam.
»Keine Sorge. Ich habe ein Back-up auf meinem PDA. Es ist ziemlich groß, aber sobald ich an einen Computer komme …«
»Na, so ein Glück.« Dance musste an sich halten, damit ihm seine Wut nicht anzuhören war.
»Ich muss Mr. Hennicot anrufen, auch wenn es mir schwerfällt, ihm die Neuigkeit zu überbringen.«
»Das geht uns allen so.« Dance ging völlig in seiner Rolle auf. »Haben Sie die Polizei schon benachrichtigt?«
»Wir ziehen die Polizei erst hinzu, wenn Shamus sein Okay gibt. Er sagt, er traut den Beamten nicht.«
»Das ist klug«, entgegnete Dance grinsend. »Sind Sie in der Stadt?«
Sie schwieg kurz. »Ich hätte eigentlich im Flugzeug sitzen müssen.«
»Wirklich?« Dance heuchelte Mitgefühl und wünschte, sie läge tatsächlich tot auf dem Sportfeld. Das hätte alles sehr einfach gemacht. »Diese Sache ist wirklich tragisch. Vielleicht können wir uns treffen«, fuhr er fort. »Sollen wir gemeinsam versuchen, Mr. Hennicot zu erreichen?«
»Ich bin im Moment unterwegs. Aber später, wenn ich zu Hause bin.«
»Wie wär’s, wenn wir uns heute Nachmittag unterhalten?«
»Versuchen Sie es auf meinem Handy oder im Festnetz. Die Nummer ist …«
»Augenblick, ich brauche was zu schreiben.« Dance log; er spielte noch immer seine Rolle. »Okay.«
»914 273-9296«.
»… 9296. Verstanden. Sollten Sie eher Zeit haben, rufen Sie mich unter dieser Nummer an.«
Dance legte auf. Wie gut, dass er Sams Handy behalten hatte. Dennoch hasste er die moderne Technik. Er zog gesprochene Worte der E-Mail vor, und Adressbücher und Terminkalender waren ihm lieber als Computer. Ganz besonders hasste er PDAs. Wie hatte die Technik sich so weit entwickeln können, dass man ein Überwachungsvideo in der Handtasche mit sich herumtragen konnte?
Dance nahm sein Funksprechgerät und gab einen Code ein. »Alle mal zuhören«, sagte er auf einem abgeschirmten Kanal. »Lasst stehen und liegen, was ihr gerade tut. Ihr müsst eine Julia Quinn finden, Anwältin bei Aitkens, Lerner und Isles. Wohnhaft in Byram Hills. Lasst euch vom Straßenverkehrsamt die Zulassungsnummer ihres Wagens geben. Die Frau ist in der Gegend unterwegs. Und fahrt in regelmäßigen Abständen an ihrem Haus vorbei. Mir ist es egal, wie ihr es macht, aber wir müssen die Frau finden, sonst sind wir nicht mehr lange auf freiem Fuß.«
»Was ist mit dem Kasten?«, drang eine Stimme aus dem Funkgerät, begleitet von Knistern und statischem Rauschen.
»Macht euch darüber keine Gedanken. Das ist mein Problem. Ihr tut nur, was man euch sagt. Wenn ihr Julia Quinn findet, lasst ihr sie nicht mehr aus den Augen und verständigt mich. Falls die Frau abhauen will, haltet sie auf. Um jeden Preis.«
Julia drückte die Auflegen-Taste an ihrem Handy, froh, dass nun
noch jemand von dem Einbruch wusste. Hinter ihr lag eine
Achterbahnfahrt der Emotionen: auf der einen Seite das Hochgefühl,
dem Tod entgangen zu sein, auf der anderen Seite Trauer und Schmerz
angesichts des sinnlosen Sterbens von mehr als zweihundert
Menschen. Hinzu kam die Bestürzung wegen des Einbruchs in Shamus’
Haus und Nervosität, weil sie ihn nicht erreichen konnte. Vor allem
plagte sie das Schuldgefühl einer Überlebenden. Das alles lastete
schwer auf Julias Seele, als sie auf dem Parkplatz der Tankstelle
in Bedford wartete.
Sie drehte sich um, als Marcus’ Bentley vorfuhr. Nick sprang aus dem Wagen, kam zu ihr gerannt und zog sie in die Arme.
Julia erwiderte die Umarmung, als hätte sie Nick seit einer halben Ewigkeit nicht gesehen. Kaum hatte ihr Kopf seine Schulter berührt, brach sie in Tränen aus. Ihre Verwirrung und ihr Schmerz brachen sich Bahn und verdrängten die Erleichterung, der Katastrophe entronnen zu sein.
»Hör zu«, sagte Nick. »Ich habe nicht viel Zeit für Erklärungen, aber wir müssen weg von hier.«
Julia hob den Kopf und schaute ihm in die Augen. »Ich liebe dich«, sagte sie.
Nick zog sie an sich und küsste sie. Es war ein intensiver Kuss, der seine Gefühle besser ausdrückte, als er es mit Worten vermocht hätte.
Marcus war neben seinem Wagen stehen geblieben. Er räusperte sich und zog so ihre Aufmerksamkeit auf sich. Er schaltete sein Handy aus und tippte mit der Fingerspitze auf die Uhr.
Nick nahm Julia bei der Hand und führte sie zum Bentley.
»Hallo, Marcus«, sagte Julia. »Ich wusste gar nicht, dass ihr zusammen unterwegs seid.«
»Nick wollte mal in einem vernünftigen Auto unterwegs sein«, witzelte Marcus. »Schön, dich zu sehen.«
Julia wandte sich wieder an Nick. »Ich soll in Pound Ridge einen Arzt abholen und zur Absturzstelle bringen.«
»Das muss jemand anders übernehmen«, sagte Nick.
»Was ist mit meinem Wagen?«
»Mach dir darüber keine Gedanken. Wir müssen dich von hier fortschaffen – sofort.« Nick hielt die Tür auf, und Julia stieg auf die Rückbank.
»Warum so dramatisch?«
Nick setzte sich auf den Beifahrersitz, schloss die Tür und drehte sich zu ihr um. »Wegen des Einbruchs in Washington House.«
»Was weißt du davon?«, fragte Julia verwundert.
»Sagen wir einfach, es spricht sich herum.«
»Ich verstehe nicht …« Julia schüttelte den Kopf. »Woher weißt du das?«
Nick überlegt fieberhaft, denn er wollte nicht, dass Julia herausfand, was wirklich vorging. Sie sollte weder von der Taschenuhr wissen noch erfahren, was in acht Stunden mit ihr geschah, falls er es nicht verhindern konnte. Nick hatte sie schon zweimal in das Bevorstehende eingeweiht – in ihrer Küche um 18.30 Uhr, kurz vor ihrem Tod, und noch einmal um 17.30 Uhr, kurz bevor sie in ihrem Büro beschossen wurden. Beide Male hatte es nichts zu ihrer Rettung beigetragen.
»Ich habe mit Paul Dreyfus gesprochen«, sagte Nick.
»Woher kennst du Paul?«
»Ich kenne ihn nicht, er hat nur bei uns zu Hause angerufen«, antwortete Nick, der befürchtete, dass seine Lüge zu weit ging. »Wir haben uns ein bisschen unterhalten, nachdem ich mich vorgestellt hatte. Er hat mir von dem Einbruch erzählt.« Nick bekam Gewissensbisse. Noch nie hatte er Julia so angelogen.
»Merkwürdig … Ich habe gerade mit Sam Dreyfus gesprochen, seinem Bruder, vor ein paar Minuten erst. Er wollte sich mit mir treffen und die Videos von dem Einbruch sehen, die auf meinem PDA gespeichert sind.« Julia hielt ihren Palm Pilot in die Höhe.
»Was?«, rief Nick entsetzt.
Marcus ließ sofort den Motor an und fuhr los.
Er folgte dem gewundenen Abschnitt der Route 22, vorbei an Seen,
Wäldern und vereinzelten Gebäuden, wobei das Tacho konstant hundert
Stundenkilometer zeigte.
Nick wandte sich zu seiner Frau auf dem Rücksitz um. »Julia«, sagte er, »hör mir genau zu …«
»Ich kann es nicht leiden, wenn du so bist, Nick«, unterbrach sie ihn. »Du machst mir Angst. Sag mir einfach, was los ist.«
»Wer immer den Einbruch begangen hat, sucht jetzt nach dir und deinem PDA«, erwiderte Nick. »Und ich gehe kein Risiko ein.«
»Glaubst du nicht, dass deine Fantasie mit dir durchgeht? Ich komme schon zurecht.« Julia spannte den Arm. »Sieh dir die Muskeln an!«
»Das ist kein Scherz«, sagte Nick. »Sie werden versuchen, dich umzubringen.«
»Wenn du weißt, wer es ist, dann rufen wir die Polizei.«
»Auf keinen Fall«, widersprach Nick. »Shamus hatte recht, als er dir untersagt hat, ohne seine ausdrückliche Erlaubnis die Polizei einzuschalten.«
»Woher weißt du das?« Julia starrte ihn an. Stille senkte sich herab und hing lastend in der Luft. »Davon habe ich dir nie erzählt.«
»Doch, hast du«, log Nick.
»Nick«, beharrte Julia, »Shamus hat gesagt, es sei eine Richtlinie, aber ich habe dir nie etwas davon gesagt … weder dir noch sonst jemandem. Die Einzigen, die es wussten, sind die Dreyfus-Brüder. Sam und ich haben noch vor einer Viertelstunde darüber gesprochen.«
»Julia«, sagte Nick ernst und schaute ihr über den Ledersitz hinweg in die Augen. »Sam Dreyfus ist bei dem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Ich weiß nicht, mit wem du gesprochen hast, aber Sam war es mit Sicherheit nicht.«
Julias Gesicht wurde kreidebleich.
Der Bahnhof von Byram Hills sah aus wie im frühen 20. Jahrhundert:
ein Gebäude im englischen Stil aus Feldstein mit Schalter und
Wartesaal, gekrönt von einem patinierten Kupferdach, dessen grüne
Farbe in die Blätter der gewaltigen Eichen überging, die den
kleinen Pendlerparkplatz beschatteten. Der altmodische Bahnsteig
bestand aus dicken Zedernholzplanken. Im Augenblick war der kleine
Bahnhof leer bis auf den Fahrkartenverkäufer, einen älteren
Mann.
Marcus fuhr auf den Parkplatz und hielt direkt vor dem Schalter.
»Was soll das?«, fragte Nick.
»Du hast mich um Hilfe gebeten«, erwiderte Marcus, »und ich habe mich an meine Freunde gewandt.«
Als Nick sich umschaute, sah er bis auf den Fahrkartenverkäufer im Fenster des Schalters keine Menschenseele.
»Der Express nach New York kommt in drei Minuten hier durch. Erster Halt Grand Central. Ben und seine Männer warten am Bahnsteig auf Julia. Es gibt niemanden, dem wir ihr Leben eher anvertrauen könnten. Ben könnte sie vor einer Invasionsarmee schützen, erst recht vor ein paar verbrecherischen Cops.«
Ben Taylor war seit vielen Jahren ein enger Freund von Marcus. Nach zwanzig Jahren Militärdienst – fünf davon als Navy Seal, fünf als Delta-Force-Teamführer und weitere zehn Jahre, über die er nie sprach – war Ben ins Zivilleben zurückgekehrt und hatte mit Startkapital, das von Marcus stammte, eine Beraterfirma aufgebaut. Marcus war der erste und einzige Freund aus der Grundausbildung, mit dem Ben noch Kontakt hielt. Bens kleines Unternehmen florierte; es brachte Aufträge sowohl in den USA als auch im Ausland ein, wobei »Probleme« gelöst wurden, über die Marcus lieber nicht zu viel erfahren wollte. Er hatte einen kleinen Anteil an der Firma behalten, teils wegen der Originalität, vor allem aber wegen der vierteljährlichen Vorstandssitzungen, bei denen er sich mit Ben traf und einen langen und feuchtfröhlichen Abend mit ihm verbrachte.
»Ich weiß nicht …«, sagte Nick zögernd.
»Wer hat dir das Schießen beigebracht?«, fragte Marcus. »Wer hat dir den Waffenschein und deine Pistole verschafft? Wem würdest du, ohne zu zögern, dein Leben anvertrauen? Ben hat diesen Vorschlag gemacht, weil er niemanden innerhalb einer Stunde hierherschicken kann – dein Zeitrahmen, weißt du noch? Er sagte, sobald sie im Zug sitzt, erreicht sie auf jeden Fall sicher die Stadt.«
Marcus sprang aus dem Wagen, trat an den Schalter und kaufte eine einfache Fahrt zur Grand Central Station, New York. Dann kam er zu den anderen zurück und reichte Julia die Fahrkarte. »Er wartet auf dem Bahnsteig. Du kannst ihn nicht übersehen: über eins neunzig groß, rotes Haar, flirtet wie ein Verrückter. Du hast ihn schon auf meinen Hochzeiten gesehen.«
Julia lächelte und nickte, bevor sie ausstieg. Schweigend umarmte sie Marcus.
»Alles wird gut, Julia«, sagte er. »Es gibt niemanden, dem ich mehr trauen würde als Ben.«
»Das wollte ich gerade von dir sagen. Du kümmerst dich um ihn, ja? Pass auf, dass er keine Dummheiten macht«, sagte Julia mit einem Blick auf Nick.
»Du weißt, wie schwer das ist.«
»Was machst du?«, fragte Nick.
»Na, ich begleite dich.« Marcus blickte ihn an, als wäre das offensichtlich. »Glaubst du, ich lasse dich das allein machen?«
»Ich will dich da nicht reinziehen.«
»Was soll das jetzt? Das hast du längst getan. Was glaubst du wohl, weshalb ich Ben gebeten habe, sich um Julia zu kümmern?«, fragte Marcus. »Sie ist jetzt außer Gefahr, sodass du dich auf die anderen Dinge konzentrieren kannst … sodass wir uns darauf konzentrieren können.«
Von Norden her näherte sich der Zug.
Julia nahm Nicks Hände und blickte ihm in die Augen. »Pass auf dich auf.« Sie drückte ihm die Hände, wie ihre Mutter es bei ihr getan hatte, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war.
»Mach ich. Ich sehe dich heute Abend, spätestens um zehn. Aber ich glaube nicht, dass wir die Verabredung mit den Mullers einhalten können.«
»Das hattest du von Anfang an geplant, stimmt’s?«, fragte Julia lächelnd. »Ich habe dir etwas Wichtiges zu sagen. Komm also nicht zu spät, wenn du mich abholst.«
Der Zug fuhr in den Bahnhof ein.
»Ich bin pünktlich«, versprach Nick, als er sie auf den Bahnsteig brachte.
»Wahrscheinlich brauchst du das hier.« Julia zog den PDA aus ihrer Handtasche und gab ihn Nick.
»Danke«, sagte er und steckte ihn ein.
»Vergiss nicht, was du versprochen hast!«, rief sie Marcus zu. »Keine Dummheiten!«
Mit kreischenden Bremsen hielt der Zug. Pressluft zischte, und eine Tür öffnete sich direkt vor ihnen.
»Zehn Uhr«, sagte Julia. »Nicht vergessen.«
»Zehn Uhr«, sagte Nick. »Nicht später.«
Julia verschwand im Zug, und die Türen schlossen sich zischend. Nick konnte von ihren Lippen ablesen, was sie sagte, als sie auf der anderen Seite des Türfensters stand: »Ich liebe dich.« Horace Randall hatte nur noch sechs Monate bis zur Pensionierung. In der Hoffnung, genug zurückzulegen, um in den Ruhestand gehen zu können, hatte er fünf Jahre länger gearbeitet als nötig. Doch wie das Leben so spielt, hatte er seinen Pensionsfond bereits ausgegeben und würde im Dezember ohne einen Cent auf der Bank in den Ruhestand gehen.
Im Alter von achtundzwanzig war er in die Polizeitruppe eingetreten, voller Erwartungen und mit einem selbstlosen Gerechtigkeitsempfinden. Doch im Lauf der Jahre musste er erkennen, dass es keine deutliche Trennlinie zwischen richtig und falsch gab; stattdessen war alles von den Grauzonen der politischen Zweckdienlichkeit geprägt. Er war eine ernüchternde Feststellung. Die letzten zehn Jahre hatte Randall nur noch Dienst nach Vorschrift gemacht, Papierkram erledigt und Bier getrunken.
Nie hatte er im Dienst die Waffe abgefeuert, nie hatte er einen Verdächtigen verfolgt, nie das romantisierte Leben eines Cops auf den Straßen geführt. Und das war ihm sehr recht.
Er hatte Ethan Dance angelernt, als dieser vor zehn Jahren in die Polizeitruppe eingetreten war; er hatte ihn unter seine Fittiche genommen, hatte ihn eingewiesen und stolz beobachtet, wie er rasch zum Detective aufstieg. Randall wusste sehr genau, was Dance nebenher tat, doch solange es ihn selbst nicht betraf, kümmerte er sich nicht darum. Und auch wenn Randall vielleicht kein Vorzeigebeamter war, so war er durch und durch Polizist und hätte niemals einen Kollegen angeschwärzt.
Randall wog annähernd hundertvierzig Kilo, da er in den letzten acht Jahren gut fünf Kilo jedes Jahr zugenommen hatte, und der vorgeschriebene Taillenumfang von maximal achtzig Zentimeter war nur noch eine ferne Erinnerung. Seine Hornbrille fanden einige junge Streifenbeamte »retro-cool«; Randall trug das Modell, seit er fünfzehn Jahre alt gewesen war.
Dance kannte Randalls Lage und hatte ihm eine Lösung seines Pensionsproblems angeboten: ein gesundes Bankkonto, von dem er den Rest seines Lebens zehren konnte.
Und so war es Horace Randall zugefallen, Julia Quinn aufzuspüren. Ursprünglich hatten sie geplant, Julia an diesem Abend zu Hause zu erwischen, doch nun hatte Dance – aus welchem Grund auch immer – den Zugriff vorverlegt. Dabei wäre alles viel leichter gewesen, wenn sie bei der ursprünglichen Planung geblieben wären.
Randall war zwar als Faulpelz verschrien, doch die meisten Menschen begriffen nicht, dass Faulheit Einfallsreichtum hervorbrachte. Wenn Notwendigkeit die Mutter der Erfindung war, dann hieß ihr Vater Faulheit. Randall hatte nicht die Absicht, durch die Gegend zu fahren und nach Julia Quinn zu suchen, wenn ein bisschen Herumklackern auf der Tastatur ihn viel weiter bringen konnte.
Das Leben in Byram Hills war zwar zum Stillstand gekommen, aber trotzdem mussten die Leute einkaufen, essen und tanken. Trotz der Tragödie ging das Leben weiter. Randall schickte Julias Foto als das einer Vermissten beim Flugzeugabsturz hinaus, mailte und faxte es an die Dienststellen der Grenzpolizei, an die Bahnhöfe, Restaurants und Tankstellen in den Nachbarorten.
Sie war eine schöne Frau, das sah man sogar auf dem digital gespeicherten Führerscheinfoto. Ohne Zweifel musste sie jemandem auffallen, den er angeschrieben hatte, nur hätte er nie damit gerechnet, dass man ihn so rasch anrufen würde. Doch es war gut zu wissen, dass selbst heutzutage die Bürger des Countys noch zusammenhielten, wenn ein Menschenleben auf dem Spiel stand.
Der Express war fast leer. Gegen Mittag waren nicht so viele Züge
in die Großstadt unterwegs wie zur Rushhour, wenn man kaum einen
Sitzplatz fand. Im Waggon saßen nur zwei andere Personen: eine
ältere Dame in einem Chanel-Kostüm, offenbar unterwegs zu einem
offiziellen Freitagabendanlass, die ihr Gesicht in einem knallig
aufgemachten Roman vergrub, und ein junger Arzt in OP-Kleidung, der
vor Müdigkeit kaum den Kopf oben halten konnte und über seiner
Zeitung einzuschlafen drohte.
Julia nahm nur selten den Zug. Sie fand das Bahnfahren unbequem und zog es vor, mit dem Wagen in die Stadt zu fahren, sodass sie Radio hören und mit dem Handy telefonieren konnte, wie sie wollte.
Als sie sich endlich in ihren Sitz sinken ließ, konnte sie kaum glauben, dass sie für kurze Zeit in Flug 502 gesessen hatte, angeschnallt, bereit zum Start. Nun saß sie auf der Flucht in diesem Eisenbahnwaggon, und ihr Gefühl, dem Tod von der Schippe gesprungen zu sein, hatte sein kurzes Leben gelebt.
Sie hatte nie begreifen können, was in den Köpfen der Leute vorging, die anderen Menschen Leid zufügten. Wie konnte jemanden willentlich seinen Mitmenschen schaden? Um ihr eigenes Leben hatte Julia noch nie fürchten müssen; sie hatte sich noch nie mit dem drohenden Tod konfrontiert gesehen. Doch plötzlich, innerhalb von weniger als zwei Stunden, betrachtete sie den Tod unter einer Vielzahl von Aspekten, von denen jeder sie den Wert des Lebens höher schätzen ließ; sie erkannte den Wert des Augenblicks, um dessen Kostbarkeit man sich gemeinhin keine Gedanken machte.
Sowohl Marcus als auch Nick hatten ihr gesagt, sie solle sich keine Sorgen machen, und das gab ihr erst recht zu denken. Julia wusste nicht, weshalb Nick solche Angst hatte. In den sechzehn Jahren, die sie nun zusammen waren, hatte er vor nichts und niemandem Furcht gezeigt, außer vor Gewittern und dem Fliegen.
Doch Julia bekämpfte ihre Ängste, setzte ihr ganzes Vertrauen in ihren Mann. Nick besaß eine Mischung aus Findigkeit und Intelligenz, die sich nicht nur in seiner erfolgreichen Karriere zeigte, sondern auch in seinem erfolgreichen Leben. Wenn jemand sie retten konnte, die Dinge in Ordnung bringen konnte, dann Nick.
Julia fuhr sich mit der Hand über den Leib. Obwohl er noch flach war, spürte sie das Leben, das in ihr wuchs und sich entwickelte – die Vervollständigung ihrer Einheit mit Nick, ein Kind ihrer Liebe und vielleicht die Vereinigung ihrer beider bester Eigenschaften. Julia fragte sich, was der genetische Spielautomat des Lebens auswerfen würde. Würde das Kind mehr Nick oder mehr ihr ähneln? Oder ihnen beiden in gleichem Maße? Blondes Haar, braunes Haar? Vielleicht sogar rotes Haar, das in beiden Familien vorkam? Grüne Augen oder blaue? Würde das Kind sportlich veranlagt sein wie seine Eltern?
Wie immer es sein mochte, Julia würde glücklich darüber sein, denn es wäre ihr Kind, der neue Brennpunkt in ihrem Leben, der sämtliche bisherigen Prioritäten über den Haufen warf.
Julia hatte es Nick sagen wollen, sobald sie ihn sah – nachdem ihr Plan, ihn mit den Ultraschallbildern zu überraschen, vereitelt worden war –, doch Marcus hatte Nick begleitet, und gemeinsam hatten sie Julia aus der Stadt verbannt und mit Warnungen vor einer lebensbedrohlichen Gefahr in den Zug gesetzt. Also musste die Nachricht von der Schwangerschaft auf einen Augenblick der Zweisamkeit warten.
Der Zug wurde langsamer und hielt. Verwundert blickte Julia aus dem Fenster. Plötzlich schlug ihr das Herz bis zum Hals, denn sie waren mitten im Nirgendwo, im Niemandsland zwischen den Bahnhöfen. Eigentlich sollte sie in einem Expresszug sitzen, der erst in Grand Central Station hielt, mitten in Manhattan.
Julia steckte den Kopf in den schmalen Gang und blickte nach vorn und nach hinten, spähte durch die Glastüren, die die Waggons trennten, konnte aber nichts erkennen. Wahrscheinlich irgendein Problem mit dem Fahrplan, beruhigte sie sich und setzte sich wieder zurück. Leider kam vom Zugführer keine Durchsage über den Grund des Stopps, vom Schaffner war keine Spur zu sehen, und den anderen Fahrgästen schien der Halt egal zu sein.
Zischend öffneten sich die Türen. Die ältere Dame und der junge Mann schauten von ihrer Lektüre auf, vergruben ihre Gesichter aber rasch wieder in Buch und Zeitung, ohne darauf zu achten, was vor sich ging.
Der Halt des Zuges war kein Zufall!
Julia kauerte sich in ihrem Sitz zusammen und nahm ihr Handy heraus. Panik und Entsetzen erfassten sie, wie sie es noch nie erlebt hatte. Sie wollte fliehen, wusste aber nicht, in welche Richtung sie rennen sollte.
Sie drückte auf die Schnellwahltaste mit Nicks Nummer, den Hilferuf bereits auf den Lippen. Sein Handy klingelte, ohne dass jemand heranging. Schließlich meldete sich die Mailbox.
Und dann war er da, stand vor ihr, ein älterer Mann mit schlampigem Haarschnitt und altmodischer Hornbrille. Er war schwergewichtig und atmete schnaufend. In seiner fleischigen Hand hielt er ein Foto, musterte es und schaute dann Julia an.
»Hallo, Mrs. Quinn.«
Nick schaltete Julias PDA ein und las. Die Videodateien konnte er
nicht öffnen, aber die Dokumente lagen in einem Format vor, das
sich anzeigen ließ. Er las das Inventarverzeichnis der Kunstwerke,
die Hennicot in diversen Kisten in Washington House lagerte:
Monets, Picassos, Renoirs und Gordon Greens – einige der schönsten
Kunstwerke, die die Welt kannte, von der fernen Vergangenheit bis
in die Gegenwart. Die Antiquitäten und Skulpturen waren so
zahlreich wie vielfältig.
Nick las das Verzeichnis dreimal durch und staunte jedes Mal über die Kostbarkeit der Sammlung – sie hätte die besten Museen der Welt neidisch gemacht. Doch was er nicht fand, war ein Hinweis auf einen Mahagonikasten. Er sortierte die Datei nach Jahr, Typ, Aufbewahrungsort im Untergeschoss, und dennoch fand er nichts.
»Was wiegt über zwölf Kilo, passt in einen Mahagonikasten von sechzig mal sechzig Zentimeter und ist Abermillionen Dollar wert?«
Marcus schüttelte den Kopf. Sie fuhren wieder auf Byram Hills zu. »Zwölf Kilo Goldbarren sind gegen eine solche Summe ein Sonderangebot. Zwölf Kilo Brillanten … na gut, das sähe schon ganz anders aus.«
»So sehe ich das auch.«
»Wonach suchst du?«
»Sam Dreyfus hat den Kasten mitgenommen. Deshalb ist der ganze Einbruch völlig aus dem Ruder gelaufen.«
»Nichts ist es wert, dafür zu sterben. Außer die Liebe vielleicht, und auch da bin ich mir nicht sicher.«
»Ich glaube nicht, dass jemand für das, was er will, sterben möchte. Irgendwie denkt man wahrscheinlich immer, dass man überleben wird.«
»Tja, wenn der Kasten im Flugzeug war, ist er mittlerweile wahrscheinlich in Rauch aufgegangen. Wen interessiert das noch?«, fragte Marcus. »Wie kommen wir an diesen Dance heran?«
»Mit einem Köder«, sagte Nick und hob den PDA.
»Und was fangen wir mit dem Kerl an, wenn wir ihn in der Falle haben? Woher willst du wissen, dass nicht die gesamte Polizei von Byram Hills korrupt ist?«
»Ich glaube, ich kenne jemanden, dem ich trauen kann.« Nick klappte sein Handy auf und wählte. Die beiden ungleichen Wagen standen einander gegenüber. Der grüne Taurus und der blaue Bentley standen auf dem Parkplatz der Byram Hills High School, eine weite offene Fläche mit langer Zufahrt als einzigem Ein- und Ausgang. Es waren Ferien. Eine Meile die Straße hinunter befand sich die Absturzstelle. Die Schule war genauso verlassen wie der ganze Ort.
»Wer sind Sie?«, fragte Dance, als er aus dem grünen Taurus stieg.
Nick starrte ihn an. Mühsam zügelte er seine rasende Wut auf sein Gegenüber – den Mann, der in der Zukunft versuchen würde, ihn zu töten, und der McManus und Paul Dreyfus auf dem Gewissen hatte.
»Sind Sie allein?«, fragte Nick.
»Ja, auch wenn Sie es nicht sind«, erwiderte Dance mit einem Blick auf Marcus, der an seinem Bentley lehnte.
Nick hielt den PDA in die Höhe. »Sie wissen, was das ist?«
Dance antwortete nicht.
»Das ist eine Kopie – eine von mehreren –, die Aufnahmen von Ihnen und Ihren Freunden enthält, wie Sie in Washington House einbrechen.« In Wahrheit hatte Nick kein Bild von Dance oder jemand anderem gesehen, den er nicht erst noch identifizieren musste, aber das konnte Dance nicht wissen. »Sam hat es versaut.«
»Wer?«, fragte Dance.
»Das wissen Sie genau: Sam Dreyfus, der Sie als Helfershelfer angeheuert hat und dem Sie in den Rücken gefallen sind. Der gleiche Sam Dreyfus, der zusammen mit zweihundert Menschen tot auf Sullivan Field liegt.«
»Wenn das ein PDA ist«, sagte Dance, »dann gehört er vermutlich Julia Quinn.«
Nick versuchte, sich seinen Hass auf diesen Mann nicht anmerken zu lassen.
»Vielleicht habe ich etwas, das ich gegen dieses Ding eintauschen kann«, sagte Dance. »Vielleicht habe ich Ihre Frau.«
Nick war erleichtert, denn er wusste, dass Julia im Zug nach New York saß. Damit hatte er die Oberhand.
»Vielleicht haben Sie ja den Einbruch begangen«, fuhr Dance fort.
»Was?«
»Wussten Sie eigentlich, dass es ein Straftatbestand ist, einen Polizeibeamten zu bestechen?«
»Netter Versuch.«
Dance stand mit dem Rücken zur Zufahrtsstraße. Deshalb sah er den olivgrünen Humvee nicht, der sich näherte. Das Armeefahrzeug fuhr an Dance vorbei und hielt. Corporal McManus stieg vom Fahrersitz. Ihm folgten drei junge, in grüne Uniformen gekleidete Nationalgardisten mit umgehängten Sturmgewehren und Pistolen an den Koppeln.
Nick war froh, den Corporal zu sehen und hoffte, dass er diesmal am Leben bleiben würde. »Ich bin Nick Quinn, ich habe angerufen.«
»Ich weiß nicht, ob wir etwas für Sie tun können, Mr. Quinn. Hier sind wir nicht zuständig, wir gehören an die Absturzstelle.«
»Es dauert nicht lange.«
»Woher kennen Sie mich?«, fragte McManus verwirrt. »Ich kann mich nicht an Sie erinnern.«
»Colonel Wells hat mir Ihre Handynummer gegeben«, sagte Nick. Er wusste, dass Soldaten selten Fragen stellen, wenn der Name ihres Kommandeurs fällt. Nick würde nicht erwähnen, dass McManus ihm seine Nummer in der Zukunft gegeben hatte, einer Zukunft, in der er sterben würde, noch ehe der Nachmittag verstrichen war. Doch Nick hoffte, mit dem, was er nun tat, Leben zu retten und McManus die Zukunft zurückzugeben. »Sie haben gerade Ihren MBA gemacht. Und Sie hassen es, Hamburger zu braten, und suchen einen vernünftigen Job.«
McManus wirkte erstaunt, dass ein Fremder so viel über ihn wusste.
»Warum setzen Sie sich nicht wieder in Ihren Wagen und spielen an der Absturzstelle Soldat?«, fragte Dance mit zusammengebissenen Zähnen.
»Warum passen Sie nicht auf, was Sie sagen?«, versetzte McManus wütend.
»Sie haben hier keine Amtsgewalt«, erwiderte Dance.
»Ich glaube, da wäre der Gouverneur anderer Ansicht, und die Verfassung auch. Im Katastrophenfall kann die Nationalgarde auf Beschluss des Gouverneurs mobilisiert werden und erhält Weisungsbefugnis über alle anderen Behörden.«
»Ich will mir diesen Wochenendkriegerscheiß wirklich nicht anhören«, sagte Dance und legte eine Hand auf die Waffe.
Augenblicklich hob McManus sein Gewehr und entsicherte es. Die drei anderen Nationalgardisten schlossen sich ihm an und richteten die Waffen auf Dance – Sturmgewehre in den Händen von höchstens Zweiundzwanzigjährigen, die noch nie in einer bedrohlichen Situation gewesen waren.
»Wenn Sie meine Autorität anzweifeln«, fuhr McManus den Detective an, »sollten Sie Ihren Vorgesetzten anrufen. Und wenn Sie versuchen, die Waffe zu ziehen, kann ich für nichts garantieren.«
»Sie stören meine Ermittlungen«, sagte Dance kalt, während er in die vier Gewehrmündungen starrte, die auf ihn gerichtet waren.
»Darüber reden wir, sobald Sie Ihre Hand von der Waffe genommen haben.«
»Meinen Sie?«, erwiderte Dance und blickte über McManus’ Schulter. »Vielleicht kommt es anders, als Sie denken.«
Mit aufheulenden Motoren und blitzenden Blaulichtern, jedoch abgestellter Sirene, schossen zwei Polizeiwagen die Straße entlang und hielten mit kreischenden Reifen. Vier Uniformierte sprangen heraus, zogen die Waffen und gingen hinter den offenen Türen in Deckung.
Die drei Nationalgardisten kauerten sich sofort hinter ihren Humvee und richteten die Sturmgewehre auf die Polizeibeamten.
»Waffen fallen lassen!«, schrie ein rothaariger junger Polizist. »Sofort!«
McManus hielt die Waffe und den Blick auf Dance gerichtet. »Ich bin Corporal McManus, New York Army National Guard. Wir sind hier auf Befehl des Gouverneurs von New York und besitzen zurzeit Amtsgewalt in dieser Stadt, die der Ihren übergeordnet ist. Nehmen Sie Ihr Funkgerät und vergewissern Sie sich.«
»Die Waffen runter!«, rief der Rothaarige. Sein schmächtiger Körper zitterte.
Die Situation wurde bedrohlich. Niemand gab nach. Polizei und Nationalgardisten starrten sich über ihre Deckungen hinweg an, Waffenläufe wurden geschwenkt; McManus hielt sein Gewehr zum tödlichen Schuss auf Dance’ Stirn gerichtet. Dance’ Hand, bereit zum Ziehen, schwebte über dem Pistolenknauf.
Und Nick und Marcus steckten mittendrin.
»Rufen Sie Ihren Vorgesetzten an«, rief McManus, »ehe hier jemand einen verdammten Fehler macht!«
Die Sekunden dehnten sich.
Dann verschwand der rothaarige Polizist in seinem Wagen. Die anderen drei hielten die Stellung, die Waffen erhoben. Die Nationalgardisten ebenfalls. Keiner wich auch nur einen Zoll.
Nick und Marcus tauschten einen Blick. Sie hätten sich nie ausgemalt, in eine Lage wie diese zu geraten.
Der rothaarige Polizist kam um den Streifenwagen herum und trat vor, die Hände an der Seite, die Waffe im Holster. Er wandte sich seinen Kollegen zu und bedeutete ihnen mit einem Nicken, die Waffen wegzustecken.
»Sie machen sich keine Vorstellung, was Sie gerade getan haben«, sagte Dance zu dem jungen Polizisten.
»Detective«, erwiderte Brinehart, »der Mann hat recht. Ich schlage vor, Sie nehmen die Hand von der Waffe.«
Mit hasserfülltem Blick gehorchte Dance.
»Also«, sagte Officer Brinehart, »würde mir jemand erklären, was hier vorgeht?«
»Heute Morgen wurde in Washington House eingebrochen«, sagte Nick. »Detective Dance gehört zu der Bande, die das Verbrechen begangen hat.«
Brinehart wandte sich mit fragendem Blick Dance zu.
»Glauben Sie das etwa?«, stieß Dance hervor. »Diese beiden Kerle sind die Drahtzieher des Verbrechens. Sie haben versucht, mich zu bestechen!«
McManus und Brinehart drehten sich zu Nick um.
»Das ist lächerlich.« Nick wies auf den grünen Taurus, dessen Kofferrauminhalt er genau kannte. »Schauen Sie in den Kofferraum.«
»Warum sehen Sie nicht in den anderen Wagen?«, brüllte Dance, Schweiß auf der Stirn. »Sie haben mir Brillanten geboten! Brillanten im Wert von einer Million Dollar, damit ich den Mund halte!«
Corporal McManus und Officer Brinehart sahen einander an. Sie überlegten, was sie tun sollten.
»Warum geben Sie uns nicht beide Ihre Schlüssel?«, fragte McManus schließlich.
Brinehart ging zu Dance. »Tut mir leid, Sir, ich brauche sie. Geben Sie mir die Schlüssel.«
Dance zog die Schlüssel hervor. Sein Blick durchbohrte Nick, als er sie Brinehart in die Hand klatschte.
Marcus griff in die Tasche, wartete, dass Brinehart sich zu ihm umdrehte, und warf ihm den Bund zu.
Von Polizisten und Nationalgardisten beobachtet, ging Brinehart zum Taurus und öffnete den Kofferraum. Als er hineinblickte, verschwand er völlig hinter dem Deckel. Er hielt inne, griff hinein und schloss den Deckel rasch wieder. Wortlos ging er zu dem Bentley-Cabrio. Er öffnete den Kofferraum, schaute noch einmal hinein und schloss ihn schnell wieder. Einen Augenblick stand er da und blickte Nick, Dance und Marcus an. Dann ging er zur Beifahrertür, öffnete sie und setzte sich in den weichen Ledersitz. Er führte den Schlüssel ins Schloss des Handschuhfachs und öffnete es. Wieder verdeckte das Fahrzeug allen die Sicht, während Brinehart in das Fach griff.
Schließlich trat er von dem Luxuswagen zurück und schloss die Tür. Er nahm seine Handschellen hervor, ging zu Dance und sagte mit gedämpfter Stimme: »Das alles tut mir sehr leid.«
Er drehte sich rasch zu Nick um. »Hände auf den Rücken, bitte.«
»Was?« Nick schaute McManus an.
»Was haben Sie gefunden, Officer?«, fragte McManus.
»Bitte machen Sie es mir nicht schwerer, als es ist«, sagte Brinehart zu Nick, drehte ihn mit Gewalt um und schloss die Handschellen um seine Handgelenke.
»Officer, was haben Sie gefunden?«, wiederholte McManus.
Brinehart reichte ihm die Schlüssel.
McManus ging zu Dance’ Wagen und öffnete den Kofferraum. Als er hineinblickte, sah er einen Ersatzreifen, Eisenplatten, einen Erste-Hilfe-Kasten, einen Defibrillator, einige kabelbinderähnliche Handfesseln aus Kunststoff, eine Schachtel mit Fahrradketten und drei Leuchtraketen.
McManus wandte sich Marcus’ Wagen zu, beugte sich über die Beifahrertür, öffnete das Handschuhfach und nahm ein kleines Säckchen heraus. Er löste das Band um den Beutel und schüttelte eine Handvoll funkelnder Brillanten heraus.
»Du Mistkerl, die hast du uns untergeschoben!«, brüllte Marcus Brinehart an. Er wandte sich an Dance. »Wie viele von denen arbeiten für Sie? Alle?« Er fuhr wieder zu Brinehart herum und rief: »Für wie viel verkaufen Sie Ihre Integrität?« Er trat ganz nah an Dance heran. »Damit kommen Sie nicht durch!«
Dance starrte Marcus an. »Drehen Sie sich um«, befahl er.
»Träum weiter, du Bastard.«
Dance packte Marcus beim Arm – ein großer Fehler. Marcus riss Dance’ Hand von seiner Schulter, zog ihn mit der gleichen Bewegung zu sich heran und schmetterte ihm mit der ganzen Wucht seiner zwei Zentner die Faust ans Kinn. Der Detective ging zu Boden.
Marcus bückte sich nach ihm; dann aber traf ihn der Kolben von McManus’ Gewehr am Hinterkopf, und bewusstlos brach er neben Dance zusammen.
McManus wandte sich seinen Männern zu und bedeutete ihnen mit einer Kopfbewegung, in den Humvee zu steigen. »Tut mir leid, die Sache«, sagte er zu Dance.
Der Detective starrte den jungen Wochenendsoldaten an. »Vielleicht sollten Sie und Ihre Männer zur Absturzstelle zurückkehren. Tut eure Arbeit, und lasst uns unsere tun.«
»Okay, ja. Entschuldigen Sie«, sagte McManus.
Der Nationalgardist reichte Dance die Hand, doch der Detective ignorierte sie, stemmte sich hoch und rieb sich das malträtierte Kinn.
Ohne ein weiteres Wort sprang der Corporal auf den Fahrersitz und fuhr davon.
»Brinehart, Sie helfen, die Kerle zum Revier zu schaffen.« Dance wandte sich an die drei anderen Beamten. »Wir haben die Sache jetzt im Griff. Kehren Sie zur Absturzstelle zurück und helfen Sie den Leuten, die ihre Angehörigen verloren haben.«
Die drei Polizisten stiegen in einen Streifenwagen und fuhren los, während Brinehart sich über den bewusstlosen Marcus beugte und ihm Handschellen anlegte.
Nick blickte auf den jungen rothaarigen Polizisten in seiner frischen blauen Uniform. Er hatte ein paar Minuten gebraucht, den Mann aber schließlich wiedererkannt. »Wissen Sie schon, dass Detective Dance Ihnen eines der Gewichte im Kofferraum seines Wagens an die Beine bindet und Sie in den Kensico-Stausee wirft, damit Sie dort ertr…«
Dance knallte Nick die Pistole gegen den Kopf, und er stürzte zu Boden.
»Vielleicht werfe ich dich in den Stausee«, sagte er und trat Nick in den Magen.
Dance stieg aus dem Taurus. »Wo warst du, verdammt?«, brüllte
er.
»Man kommt da nicht so leicht weg«, erwiderte Brinehart, während er das große Tor des Lagerhauses hinter sich schloss. Er ging zum Heck seines Streifenwagens. »Hast du die Absturzstelle gesehen? Das ist unmenschlich.«
Brinehart öffnete den Kofferraum, holte die beiden Sporttaschen heraus und legte sie in den offenen Kofferraum des Taurus.
»Das hätte mein Tod sein können!«, fuhr Dance den jungen Streifenpolizisten an.
Brinehart winkte ab. »Nur die Ruhe. Ich hab dir den Arsch gerettet.«
»Wo sind die Brillanten?«
Brinehart zog den schwarzen Samtbeutel aus der Tasche und reichte ihn Dance.
»Ich warne dich! Wenn auch nur ein einziger Stein fehlt …«
»Ist das der richtige Ton für jemanden, den man gerade retten musste, weil er in eine Falle gelaufen war?«
»Pass bloß auf!« Dance richtete den Zeigefinger auf Brineharts Gesicht. »Ich war so schlau, die Taschen aus meinem Wagen zu nehmen. Schlau genug, dich Rückendeckung holen zu lassen, damit du mich retten konntest. Also habe ich mich letztendlich selbst gerettet.«
»Ja, sicher, klar doch. Und wenn die beiden Typen in dem Lagerhaus wissen, dass du in den Einbruch verwickelt bist, wie viele wissen es dann noch?« Brinehart trat nahe an Dance heran. »Und was soll das heißen, dass du mich in den Stausee wirfst? Hast du vor, mich umzubringen, Dance? Hast du vor, uns alle umzubringen? Ich glaube, du kennst mich nicht gut genug.«
»Hör gut zu.« Dance beugte sich noch näher an Brinehart heran. »Pass genau auf, sonst siehst du keinen Cent.«
»Du solltest nicht vergessen, dass sie es auf dich abgesehen hatten, nicht auf mich«, erwiderte Brinehart.
»Glaubst du, ich halte für dich den Kopf hin? Dann kennst du mich nicht gut. Vorsicht! Wenn du es zu bunt treibst, werfe ich dich wirklich in den See.«
Brineharts Augenlider zuckten, und er wich zurück. Ruhig zog er eine Pistole aus dem Hosenbund und reichte sie Dance. »Die habe ich Quinn abgenommen.«
»Gut gemacht, Brinehart. Jetzt sind die Fingerabdrücke von uns beiden drauf.«
Drei Meter voneinander entfernt saßen sich Nick und Marcus in einem
schwach erleuchteten Raum gegenüber. Das einzige Licht fiel durch
den Schlitz unter einer Stahltür. Die Hände hatte man ihnen mit
Handschellen auf den Rücken gefesselt und die Füße an die
Stuhlbeine gebunden.
»Alles okay?«, fragte Nick.
»Nein, verdammt noch mal. Ich bin stinksauer, und mir tut der Rücken weh. Und dem Mistkerl, der mich niedergeschlagen hat, breche ich den Kiefer«, rief Marcus, wobei er den Kopf hin und her drehte, um die Benommenheit abzuschütteln. »Hast du eine Ahnung, wo wir sind?«
Nick schaute sich in dem großen, schummrigen Raum um. An der Wand standen Kisten, in einer Ecke ein Schreibtisch. Der Strom war hier genauso ausgefallen wie in ganz Byram Hills.
»Auf jeden Fall ist es hier ziemlich dunkel«, antwortete Nick.
»Klugscheißer.«
»Es ist ein Lagerhaus.«
»Ach, wirklich?«, fragte Marcus mit gespielter Erheiterung. »Wo sind denn alle?«
»Entweder an der Absturzstelle oder zu Hause.«
»Weißt du, wie viel Geld ich jedes Jahr dem Pensionsfond der Polizei spende?« Marcus blickte auf sein zerknittertes Hemd und seine zerrissene Hose. »Na, damit ist es jetzt vorbei. Die haben mir die neuwertigen Sachen ruiniert.«
Nick schaute auf die Uhr an der Wand. Es war zehn Minuten vor zwei.
»Schau nicht auf die Uhr«, sagte Marcus. »Die Zeit wird davon nicht langsamer laufen.«
Nick blieben keine zehn Minuten mehr, um sich und Marcus zu befreien; dann wurde er wieder in die Vergangenheit versetzt, und Marcus bliebe allein zurück, Dance auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.
Nick kämpfte gegen das Schuldgefühl an, seinen besten Freund in diese Sache hineingezogen zu haben. Er hatte Julia retten wollen, hatte dadurch aber Marcus in tödliche Gefahr gebracht.
Nick dachte fieberhaft nach. Wenn sich an ihrer augenblicklichen Lage nicht schnellstens etwas änderte, würden sie nicht überleben.
Dance kam durch eine Seitentür hinein und schlug sie laut hinter sich zu. Schweigend umkreiste er seine beiden Gefangenen. Schließlich blieb er vor Nick stehen, beugte sich zu ihm vor und flüsterte ihm ins Ohr: »Wo ist deine Frau, Nicholas?«
Nick starrte ihn an. Zorn loderte in seinem Blick.
»Warum mache ich mir eigentlich die Mühe, dich zu fragen, Nicholas? Erkundigen wir uns mal bei deinem Freund.« Dance wandte sich an Marcus. »Wo ist sie? Wer weiß noch von dem Einbruch?«
Marcus setzte ein höhnisches Lächeln auf und schwieg.
»Hast du Bohnen in den Ohren?«, brüllte Dance. »Wo ist sie? Wer weiß noch von dem Raub?«
Dance holte aus und schlug Marcus die Faust auf die Nase, wobei sie zum vierten Mal in seinem Leben brach. Das Blut lief ihm die Lippe und das Kinn hinunter, tropfte auf das weiße Hemd und die blaue Krawatte.
»Feigling«, sagte Marcus flüsternd, scheinbar unbeeindruckt von dem Hieb. »Mach mich los und versuch’s noch mal. Dann werden wir sehen, wie hart du wirklich bist.«
Zur Antwort schlug Dance ihm die Faust auf die Wange.
»Sag mir, wo sie ist«, brüllte er Nick an, zog die Pistole und richtete sie auf ihn. »Erkennst du deine Knarre?« Er schmetterte Marcus die Waffe gegen den Kopf, ehe er ihm den Lauf unters Kinn drückte. »Sag mir, wo deine Frau ist, Quinn, oder dein Kumpel stirbt.«
Es war keine leere Drohung, das sah Nick deutlich in Dance’ Augen.
Nick starrte Marcus an. Es brach ihm das Herz, dass er gezwungen war, sich für ein Leben zu entscheiden.
Marcus schaute Nick an, schüttelte fast unmerklich den Kopf und lächelte. Es war ein Lächeln wie auf dem Eishockeyfeld, wenn einer von ihnen unsanft auf den Hintern gefallen war; ein Lächeln, wie sie es jedes Mal getauscht hatten, wenn Marcus von einer seiner Frauen verlassen worden war.
»Wenn Sie das tun, bringe ich Sie um!«, stieß Nick hervor.
»Das wäre ein echtes Kunststück«, höhnte Dance. »Schließlich bist du als Nächster an der Reihe.«
»Du dreckiger …« Nick wand sich auf seinem Stuhl. Die Adern an seinem Hals standen hervor, seine Schultern und Arme zitterten.
»Nick …«, sagte Marcus leise.
»Hör mir gut zu, du Stück Scheiße!«, brüllte Nick Dance an, ohne auf den Freund zu achten.
»Julia ist in Sicherheit«, fuhr Marcus leise und beschwörend fort.
»Ich reiß dir das Herz raus, Dance!«, schrie Nick und rüttelte heftig an seinem Stuhl.
»Nick«, sagte Marcus. Endlich erlangte er Nicks Aufmerksamkeit. »Julia ist in Sicherheit. Das weißt du. Tröste dich damit. Und um mich mach dir keine Sorgen.«
Langsam öffnete sich die Tür, in der ein untersetzter Mann stand, den Nick erkannte. Es war der Komplize bei Julias Ermordung, der grauhaarige Dickwanst, der an der Vordertür geklingelt hatte, um ihn abzulenken, damit er Julia nicht beschützen konnte, als sie erschossen wurde.
»Perfekt«, sagte Dance mit hörbarer Erleichterung.
Er drückte ab. Der Schuss zerriss die Stille. Marcus’ Hinterkopf zerplatzte. Blut spritzte, und das Kinn sank ihm auf die Brust.
Nick konnte den Blick nicht von seinem toten Freund nehmen. Der Schuss dröhnte noch in seinen Ohren, als er einen fürchterlichen Schrei aus Richtung der Tür vernahm.
Als Nick den Kopf drehte, verlor er alle Hoffnung. Alles, was er versucht hatte, war vergebens gewesen. Sein bester Freund war tot; er war machtlos, und Dance würde mit allem durchkommen.
Denn in der Tür stand, vor Angst schreiend und mit blankem Entsetzen in den Augen, der Mensch, den er hier zuallerletzt erwartet hätte.
Julia.
Dann wurde die Welt um Nick herum schwarz.