Sullivan Field war ein ausgedehntes Areal mit Sport- und Spielplätzen, zwei Meilen vom Stadtzentrum entfernt. Sechs Jahre zuvor hatte ein Großunternehmen, die International Data Systems, das Grundstück der Stadt gestiftet und dafür beim Bau ihres Firmenhauptsitzes in der Nähe großzügige Nachlässe bei der Grunderwerbsteuer erhalten. Die Firma hatte nicht nur das Baugelände zur Verfügung gestellt, sondern auch die Architekten, Baufirmen und Landschaftsgärtner bezahlt, um einen der besten Sportparks im Bundesstaat zu bekommen.
Es gab Footballfelder mit Trainerbänken und Tribünen, Fußball- und Baseballplätze, Tenniscourts und Basketballplätze. Hinzu kam ein Sportstadion mit 400-Meter-Bahn. Es gab sogar ein Eishockey-Spielfeld, das von November bis März in Betrieb war. In einem Zentralgebäude waren Umkleideräume und Duschen untergebracht. Der Rasen war erstklassig gepflegt und hätte zu einem Golfplatz gehören können, und ein Sprinklersystem sorgte dafür, dass die Sträucher und Blumen außerhalb der Sportanlagen prächtig gediehen.
Sullivan Field lag nur zwei Meilen nordwestlich des Flughafens; von hier aus ließ sich das Starten und Landen der Maschinen auf ihren täglichen Flügen von und nach Westchester Airport beobachten.
Irgendetwas Positives in einem tragischen Unglück zu finden, einer Katastrophe, bei der 212 Menschen ums Leben gekommen waren, erscheint unmöglich, doch der Absturz hatte sich zum Glück an einem Freitag während der Sommerferien ereignet. Die Schule war geschlossen, und das Ferienlager befand sich auf der anderen Seite der Stadt; Sullivan Field war menschenleer gewesen, als achtzig Tonnen Flugzeug auf den Fußballplatz aufschlugen, einen drei Meter tiefen Krater rissen und sich eine halbe Meile durch Baseballplätze und Footballfelder fraßen, um schließlich eine Viertelmeile vor dem Umkleidegebäude zum Stehen zu kommen. Das Gebäude war nun zur Zentrale für die Bergungs- und Aufräumungsarbeiten an der Absturzstelle von Flug 502 geworden.
Feuerwehrwagen aus dem ganzen Bezirk bildeten eine Art Wagenburg rings um die Wrackteile. Tausende Liter Wasser dampften von dem noch heißen, schwelenden Boden. Feuerwehrleute saßen auf den Trittbrettern ihrer Wagen, physisch und emotional ausgelaugt, da ihre Anstrengungen keinem einzigen Menschen das Leben retten konnten.
Ein kleines Kontingent der Nationalgarde riegelte die Absturzstelle ab. Die meisten Gardisten hätten sich nie träumen lassen, dass ihr Dienst einmal solch eine Tragödie einschließen würde.
Das Flugzeug war regelrecht zerfetzt worden, als hätte ein wildes Tier die Zähne in eine Coladose geschlagen und sie auseinandergerissen. Am Waldrand ragte das weiße Heckteil empor; das Logo der North East Air prangte noch am Leitwerk, von den Flammen unberührt. Sogar die Registriernummer der Maschine, N95301, war noch lesbar. Das Heckteil war das einzige Trümmerstück, das noch erkennen ließ, dass es sich bei den Wrackteilen um ein Passagierflugzeug gehandelt hatte.
In der Luft lag der süßliche Gestank des Todes, der Geruch nach verbranntem Fleisch, geschmolzenem Metall, versengter Erde und verschmortem Gummi. Der Gestank hätte Übelkeit erregt, wäre nicht jedem Betrachter schon beim ersten Blick auf die Absturzstelle schlecht worden. Die mit hochentzündlichem Treibstoff gefüllten Tanks der Maschine waren explodiert und hatten das Flugzeug in einen Feuerball verwandelt, als es am Boden aufschlug. Die Hitze der ersten Welle hatte noch eine Viertelmeile entfernt Bäume und Pflanzen versengt, und der Feuerball war als meilenweit sichtbare Pilzwolke in den Himmel gestiegen, während der schwarze Qualm stundenlang die Sonne verdunkelt hatte, bis er dem weißen Dampf der Wassermassen weichen musste, die den Brand schließlich bezwangen. Seltsamerweise waren die meisten Wrackteile bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, während andere völlig unversehrt geblieben waren.
Große Stücke der Aluminiumaußenhaut lagen verbogen auf dem schlammigen Boden. Gepäckstücke waren aufgeplatzt und hatten ihren Inhalt verstreut. Der Anblick von Frauenblusen und Kinderschühchen offenbarte das ganze Ausmaß des menschlichen Leids.
Hinzu kamen mehr als zweihundert Leichen – Männer, Frauen und Kinder. Keine war zu identifizieren, keine vollständig. Hunderte von weißen Laken sprenkelten die schwarze Erde; eine grässliche Erinnerung an den Tod, der unter ihnen lag – den Tod, der ohne Warnung kommt.
Trauernde Familienangehörige wurden von Stadtbewohnern und Verwandten mühsam zurückgehalten. Schreie der Qual und des Schmerzes waren neben dem Zischen des dampfenden Bodens und den Rufen der Rettungsmannschaften die einzigen Laute. Ansonsten sprach niemand ein Wort. Blickkontakten wich man aus.
Nichts wurde von der Stelle bewegt, als das Nationale Amt für Transportsicherheit die Wrackteile untersuchte und die Flugschreiber barg, die die letzten Augenblicke des Fluges aufgezeichnet hatten.
Kleine gelbe Flaggen, nummeriert und mit Strichcodes versehen, wurden neben jedem Wrackteil in den Boden gesteckt, um die Zerstörung zu katalogisieren, sodass Computermodelle erstellt werden konnten. Experten sollten auf deren Grundlage die Ursache des Unglücks ermitteln. Während das Nationale Amt für Transportsicherheit die Trümmer durchkämmte und eine peinlich genaue Rekonstruktion der Ereignisse erstellte, die zu dem Absturz geführt hatten, bestand sein eigentliches Ziel in der Vermeidung ähnlicher Unglücke. Durch die Formulierung neuer Richtlinien sorgte es dafür, dass die noch zu ermittelnde Unfallursache nie wieder auftreten konnte.
Als Nick sich Sullivan Field näherte, konnte er nicht vermeiden,
immer wieder zur Absturzstelle zu blicken. Die Zufahrtsstraße
senkte sich zu dem tiefer gelegenen Sportpark ab und führte um die
gesamte Anlage herum, sodass Nick die Tragödie in ihrem ganzen
Ausmaß zwangsläufig zu Gesicht bekam. Mehr als einhundert
Krankenwagen standen bereit, doch die Notärzte und
Rettungssanitäter konnten lediglich die sterblichen Überreste der
Opfer ins Leichenschauhaus transportieren.
Pkws und Pick-ups der freiwilligen Helfer säumten die Straße; dazwischen standen Humvees der Nationalgarde und andere Geländefahrzeuge. Mit hängenden Schultern und tränennassen Gesichtern verließen Menschen die Stätte des Grauens.
Nick bog um die letzte Ecke vor dem Eingang zum Sportpark, als ein Nationalgardist in voller Montur mit übergehängtem M16-Sturmgewehr ihn anhielt. Mit einer kreiselnden Handbewegung bedeutete er Nick, zu wenden und wegzufahren. Doch Nick ignorierte den Mann und ließ das Seitenfenster herunter.
»Sir.« Der Nationalgardist kam zum Wagen. »Sie müssen hier weg.«
»Ich muss zur Polizei«, erwiderte Nick.
»Vielleicht kann ich Ihnen helfen.«
Nick schaute den jungen blonden Reservisten an. Er konnte nicht älter als fünfundzwanzig sein und hatte seine Collegeausbildung gewiss mit einem staatlichen Stipendium finanziert, für das er seinem Land zuvor vier Jahre lang hatte dienen müssen.
»Ich muss zur Polizei«, sagte Nick mit Nachdruck. »Und zwar sofort.«
»Das müssen Sie mir schon genauer erklären«, sagte der junge Soldat, der es sichtlich genoss, zum ersten Mal im Leben den Geschmack der Autorität zu kosten. »Sie haben hier keinen Zutritt.«
Nick winkte den Mann näher, bis er das Namensschild auf der linken Brustseite lesen konnte. »Corporal McManus?«
»Jawohl, Sir.«
»Wie ist Ihr Vorname?«
»Neil.«
»Ich nehme an, Sie können mit Ihrer Waffe umgehen, Neil?«
»Ja, Sir, ich …«
»Das ist schön. Hören Sie, Neil, jemand will meine Frau ermorden, deshalb muss ich zur Polizei. Unbedingt. Haben Sie das verstanden?«
Als McManus den Ausdruck in Nicks Augen sah, schluckte er. »Jawohl, Sir.« Er winkte ihn zur Absturzstelle durch. »Die Polizei ist im Zentralgebäude. Fragen Sie nach Captain Delia, Sir.«
Auf der Zufahrtsstraße war der vorherrschende Eindruck der des
Todes gewesen. Als Nick nun an zahllosen Rettungsfahrzeugen vorbei
zum Hauptparkplatz fuhr, begrüßte ihn ein Bild aus der Hölle. Er
war nie im Krieg gewesen, doch als er aus dem Wagen stieg und auf
die verkohlten Überreste der einst so makellosen Spielfelder
blickte, konnte er sich vorstellen, wie ein Kriegsschauplatz
aussah. Für einen Augenblick vergaß er seine eigene bedrückende
Lage.
Zu Hunderten schwärmten Leute über die Absturzstelle. Auf dem geschwärzten Boden wirkten sie wie Ameisen. Einige beugten sich über Leichen, zogen die weißen Laken zurück, starrten auf die verkohlten Überreste und versuchten zu ergründen, ob sie einen Erwachsenen oder ein Kind vor sich hatten, einen männlichen oder weiblichen Leichnam. Andere markierten Trümmerstücke und suchten nach Hinweisen, während wieder andere die Verwüstung fotografierten und filmten.
Nick durchschritt den See aus Menschen, vorbei an den Sendewagen und Notstromaggregaten, die Strom für die Rettungskräfte lieferten, vorbei an Pritschenwagen mit grellen Halogenscheinwerfern, die die aufgerissene Erde beleuchten würden, sobald die Nacht hereinbrach und es möglich machten, dass rund um die Uhr gearbeitet werden konnte.
Nick sah Bilder der Hilfsbereitschaft und der Selbstlosigkeit – Menschen, die sich von der besten Seite zeigten, jetzt, wo die Zeit am schlimmsten war.
Schließlich erreichte Nick den Befehlsstand in einer Reihe von Zelten neben dem Ziegelbau, in dem sich die Umkleideräume befanden. Kartentische und Stahlrohrstühle standen ordentlich an einer Wand aufgereiht; Behelfstelefone und Computer waren aufgebaut worden. Die Computer waren von Geschäften und örtlichen Schulen zur Verfügung gestellt worden, um die Desktop-Rechner und Notebooks der Nationalgarde zu ergänzen.
Nick entdeckte den Tisch mit einem hastig geschriebenen Schild, auf dem Byram Hills Police stand. Ein breitschultriger, älterer Mann mit grauem, einst schwarzem Haar saß dahinter. Nick erkannte ihn als den Mann, der in sechs Stunden sein Verhör unterbrochen hatte.
»Captain Delia?«
Der Captain sah mit müden Augen auf. »Ja. Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Ich weiß, dass es ein schwerer Tag für Sie und alle anderen ist, Captain, aber es geht um einen Notfall.«
»Was für ein Notfall?«, fragte der Captain.
»Heute Morgen gab es einen groß angelegten Einbruch. Mehr als fünfundzwanzig Millionen Dollar in Antiquitäten und Edelsteinen wurden aus Washington House auf der Maple Avenue gestohlen.«
Delia hob überrascht den Kopf. »Davon habe ich gar nichts gehört.«
»Meine Frau gehört zu den Anwälten des Eigentümers. Sie wurde über den Einbruch informiert und hat sich vergewissert.«
»Ausgerechnet heute, verdammt!« Der Captain stand auf und sah um sich. Dann zuckte er die Schultern. »Ich wüsste nicht, wen ich hinschicken könnte. Ich habe so schon zu wenig Leute. Wurde das Haus wieder verschlossen?«
»Ja«, sagte Nick. »Aber deshalb bin ich nicht hier.«
»Sondern?« Delia wischte sich eine verschwitzte Haarsträhne aus der Stirn.
Nick schaute zur Seite und überlegte einen Augenblick, ob er den Grenzpunkt, hinter dem es kein Zurück mehr gab, wirklich überschreiten sollte. Dann wandte er sich wieder dem Captain zu. »Wer immer die Tat verübt hat, ist hinter meiner Frau her.«
»Ich verstehe nicht … Was soll das heißen?« Der Captain wirkte plötzlich nervös.
»Er will meine Frau umbringen.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ihr Büro wurde bereits verwüstet.«
Delia musterte ihn einen Augenblick. »Haben Sie einen Verdacht, wer es gewesen sein könnte?«
Nick zog das ausgedruckte Standbild hervor. »Dieser Mann ist in den Einbruch verwickelt. Aber ich weiß nicht, auf welche Weise. Ich weiß nicht einmal, wer er ist.«
»Woher haben Sie das?«, fragte der Captain, während er das Foto musterte.
»Es stammt von einer Überwachungskamera. Möglicherweise ist die Sicherheitsfirma in die Sache verwickelt.«
Der Captain antwortete nicht, starrte weiter auf das Bild.
»Außerdem habe ich einen blauen Chevy Impala in der Nähe unseres Hauses gesehen«, log Nick über den Wagen, den er erst in der Zukunft gesehen hatte – den Wagen, in dem die Männer gesessen hatten, die gekommen waren, um Julia zu töten. »Es war ein Leihwagen von Hertz. Er wurde von einem gewissen Paul Dreyfus gemietet. Seine Firma hat die Sicherheitssysteme in Washington House installiert.«
»Und Sie sind Privatdetektiv?«, fragte Captain Delia.
»Nein.«
»Wie haben Sie das alles dann so schnell herausgefunden?«, fragte der Captain misstrauisch.
»Sie würden sich wundern, wie einfallsreich man wird, wenn jemand versucht, die eigene Frau umzubringen.«
»Wo ist Ihre Frau jetzt?«, fragte Delia.
»Bei Freunden.« Nick war keineswegs sicher, wo Julia zu dieser Stunde war, hielt es aber für das Beste, nicht zu viel zu sagen.
Der Captain nahm das Walkie-Talkie vom Tisch und drückte mit dem Daumen einen Knopf an der Seite. »Bob?«
»Ja«, meldete sich eine Stimme, sehr laut und von statischem Rauschen überlagert.
»Machen Sie, dass Sie herkommen«, befahl der Captain, legte das Walkie-Talkie zurück auf den Tisch und wandte sich erneut Nick zu. »Ich will ehrlich zu Ihnen sein. Wir können niemanden entbehren. Solange Ihre Frau nicht unmittelbar bedroht wird, ist schwer festzustellen, ob die Gefahr tatsächlich existiert. Ich kann Ihre Besorgnis verstehen, aber wer immer den Einbruch begangen hat, er ist vermutlich längst verschwunden und wird nicht riskieren, in der Nähe zu bleiben, wo man ihn fassen könnte.«
Der Captain nahm wieder Platz, beschäftigte sich mit seinen Papieren und hob den Hörer ab, als das Telefon klingelte.
Nick drehte ihm den Rücken zu und blickte sich um. Als die Tür zum Umkleidegebäude sich öffnete, drangen Schluchzen und Klagelaute heraus. Man hatte das Gebäude den Hinterbliebenen der Absturzopfer zur Verfügung gestellt. Nick begriff ihre Qual umso mehr, nachdem er vor Julias entstelltem Leichnam gestanden hatte.
Unerwartet mit dem Tod eines geliebten Menschen konfrontiert, bewegen die Gefühle sich in sämtliche Richtungen – Wut, Zorn, Selbstmitleid, Schuld, Trauer, Niedergeschlagenheit –, während die Gedanken sich mit dem Unmöglichen befassen, dem Was-wenn und Wenn-nur. Was, wenn er im Stau stecken geblieben wäre und sein Flugzeug verpasst hätte? Was, wenn ich gesagt hätte, sie dürfe nicht fliegen und müsse bis Montag warten? Was, wenn ich ihn nicht gedrängt hätte, den Flug für heute zu buchen, damit ich nächste Woche ans Meer fahren kann?
Was, wenn sie wegen einer geschäftlichen Angelegenheit in letzter Sekunde aus dem Flugzeug gestiegen wäre?
Nick wusste, dass er von Glück sagen konnte, jetzt nicht in diesem Gebäude stehen und mit Fremden über seine Trauer sprechen zu müssen, ohne dass die Chance bestand, dass Julia je zurückkehrte. Sie war in der Maschine gewesen, die nun zerschmettert auf dem Sportfeld lag. Sie hatte sich eingecheckt, hatte ihr Handgepäck verstaut und den Sicherheitsgurt angelegt in einer Maschine, die zum Untergang verdammt war. Doch Julia war gerettet worden, vom Schicksal aus der Maschine geholt.
Aber nur für zehn Stunden. Diese zehn Stunden Lebenszeit hatte sie durch eine Laune des Schicksals erhalten, durch einen Einbruch – ein Verbrechen, das zu verstehen sie niemals die Gelegenheit bekommen würde, weil sie am Ende von den gleichen Leuten, deren Verbrechen ihr das Leben gerettet hatte, erschossen wurde …
Als Nick das Schluchzen von Kindern hörte, deren Väter nie mehr nach Hause kommen würden, von Frauen, die sich nun allein der Welt stellen mussten, dachte er an die Uhr in seiner Tasche und fragte sich, wieso er mitten in diesem schrecklichen, verrückten Tagtraum stand, in dem er versuchte, Julia vor dem Grab zu retten. War es nur eine Wahnvorstellung, ein Traum der Hoffnung, aus dem er nicht mehr herausfand? Er war Zeuge geworden, wie die Stunden zurückliefen, wie das Unfassbare ihn umschloss. Er hatte Julia tot daliegen sehen … und dann, nur Augenblicke später, war sie ihm quicklebendig aus der Küche entgegengekommen.
Es war verrückt, widersinnig.
Als die Tür sich langsam wieder schloss und die Klagelaute verstummten, kehrte Nick in die Wirklichkeit zurück. Er würde sämtliche Widersinnigkeiten verdrängen und allen Schmerz bekämpfen, den er durchlebt hatte. Wider die Gesetze der Physik von Zeit und Raum, die Einstein formuliert hatte, würde er die Kluft der Zeit mit seinem Herzen überbrücken. Zum zweiten Mal an diesem Tag würde er Julia den Klauen des Schicksals entreißen. Er würde das Was-wenn geschehen lassen.
Entschlossen wandte Nick sich zu dem Captain um, der gerade mit einem großen muskulösen Mann in eng sitzendem schwarzem Hemd sprach, der am Gürtel seiner Jeans Dienstmarke und Pistolenholster trug. Seine Hände waren schwarz vom Ruß, durch den Schweißstreifen liefen. Sein zerzaustes schwarzes Haar erzählte die Geschichte eines mühseligen Tages.
»Mr. Quinn«, rief der Captain.
Nick trat auf den Detective zu und hoffte, endlich einen Verbündeten gefunden zu haben, der ihm zuhören und helfen würde, Julias Mörder zu fassen.
»Mr. Quinn, das ist Detective Bob Shannon.«
Nick wandte sich um und blickte direkt in Shannons schiefergraue Augen. Eine Woge der Panik erfasste ihn, als ihm klar wurde, wem er da ins Gesicht schaute.
»Bob Shannon.« Der Kriminalbeamte reichte ihm die Hand.
Die Welt drehte sich um Nick. Vor ihm stand der Mann, der ihn in der Zukunft verhaftet hatte, der ihn behandelt hatte wie den letzten Dreck. Der Mann, der im Verhörraum mit dem Schlagstock auf den Tisch geschlagen hatte; der Nick angebrüllt und ihm vorgeworfen hatte, Julia ermordet zu haben; der mit der Pistole auf Nicks Kopf gezielt hatte, bereit, den Abzug zu drücken.
Den Ausdruck in Shannons Augen kannte Nick von den meisten Freiwilligen, die er heute gesehen hatte: Erschöpfung, Betroffenheit, Hoffnungslosigkeit.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte Shannon.
Nicks Blick fiel auf Shannons Hals. Wegen der Hitze hatte der Detective sein zu enges schwarzes Hemd aufgeknöpft, sodass die muskulöse Brust zu sehen war. Dass Nick dort keinen Christopherus-Anhänger sah, beruhigte ihn ein wenig, was die Vertrauenswürdigkeit der Polizei anging.
Er wusste nicht, wo er anfangen sollte, und es gelang ihm einfach nicht, seine Befürchtung abzuschütteln, Shannon könnte ihn irgendwie erkennen und über den Haufen schießen, weil er aus dem Verhörraum geflohen war. Dann aber rief er sich in Erinnerung, dass all das ja erst noch geschehen würde.
»Jemand ist hinter meiner Frau her«, sagte er.
»Was meinen Sie damit?« Shannons Stimme klang müde.
»Jemand versucht, sie zu töten.«
»O Gott«, sagte Shannon mit überraschender Anteilnahme. »Wie heißen Sie?«
»Nick Quinn.«
»Und Ihre Frau?«
»Julia.«
Shannon führte Nick in eine Ecke des Zeltes, zog zwei Klappstühle heran, setzte sich auf einen davon und bot Nick den anderen an. »Möchten Sie etwas zu trinken? Wasser? Limo? Oder etwas anderes?«
Nick schüttelte den Kopf, während er sich setzte.
»Erzählen Sie mir, was los ist«, forderte Shannon ihn auf.
Nick berichtete ihm von dem Einbruch und davon, wie Julias Computer aus ihrem Büro gestohlen worden war. Er erzählte, wie die Diebe ihre Spuren verwischt hatten. Jedes seiner Worte war wohlbedacht, damit er keine Andeutung machte, dass die geschilderten Ereignisse zum Teil noch in der Zukunft lagen.
»Darf ich fragen, wo Ihre Frau jetzt ist?«
»Sie …« Nick verstummte. Obwohl Shannon nicht als der Mistkerl auftrat, der er im Verhörraum gewesen war, musste er sich Nicks Vertrauen erst noch verdienen. Nick hielt es für besser, ein paar Dinge für sich zu behalten. Obwohl er nicht genau wusste, wo Julia war, log er. »Sie ist bei Freunden in Bedford.«
»Allein?«
»Ja.«
»Warum hat sie Sie nicht begleitet?«
»Sie hatte Angst. Sie sagte, sie könne es nicht ertragen, hierherzukommen.«
»Das kann ich verstehen«, sagte Shannon mit einem Blick auf die Verwüstung.
»Sie sollte eigentlich in diesem Flugzeug sitzen …«
»Was?« Shannon riss überrascht die Augen auf.
»Sie ist dann aber von Bord gegangen, weil sie eine SMS bekam, die sie über den Einbruch informierte.«
Shannon blieb sitzen. Sein Gesicht zeigte, dass er die Ironie begriff. »Oh Mann, das Schicksal ist wirklich unberechenbar. Es muss ihr beschissen gehen, wenn man sich vorstellt, dass sie nur überlebt hat, um ins Visier eines Irren zu geraten.«
Nick musste sich eingestehen, dass er Shannon offenbar falsch eingeschätzt hatte. Shannon hatte geglaubt, mit einem Mörder zu reden, als er ihn verhört hatte – mit einem Mann, der seine Frau erschossen hatte. Seine Heftigkeit hatte einschüchternd gewirkt, doch sie gehörte zu dem Instrumentarium, mit dem man einem Verbrecher die Wahrheit entlockt. Shannon schien kein so übler Kerl zu sein.
»Ich weiß, dass Sie Angst haben, Ihre Frau könnte in Gefahr sein«, sagte Shannon. »Und ich glaube Ihnen. Wenn ich in Ihrer Haut stecken würde, wäre ich sofort zur Polizei gegangen. Sie haben richtig gehandelt. Sie haben das Beste getan, was Sie in der Situation tun konnten …«
»Aber?«, fragte Nick.
»Nun, Sie wollen uns Informationen über die Leute geben, denen diese Sicherheitsfirma gehört, damit wir der Sache nachgehen. Aber das können wir nicht, tut mir leid. Nicht in dieser Situation. Sie sehen ja selbst, dass hier die Hölle los ist. Außerdem scheinen diese Leute genau zu wissen, was sie tun. Sie sind gut informiert und clever und haben vermutlich kaum Spuren hinterlassen. Ich will nicht sagen, dass es überhaupt keine Spuren gibt, aber wir brauchen Leute, um sie zu finden, und daran mangelt es uns im Moment.«
Nick wusste, dass Shannon recht hatte. Er hatte die gleiche Schlussfolgerung gezogen. Die Chance, Julias Mörder zu finden, war gering. Aber wie hoch war andererseits die Wahrscheinlichkeit, in letzter Minute aus einem Flugzeug gerufen zu werden, das kurz nach dem Start abstürzte? Die letzten sechs Stunden, die Nick durchlebt hatte, waren unmöglich, unvorstellbar, und doch waren sie geschehen.
»Hier ist ein Ausdruck von den Überwachungskameras«, sagte Nick und reichte Shannon das Bild des dunkelhaarigen Einbrechers.
Shannon musterte das Gesicht des Mannes. »Sie sagten doch, das Sicherheitssystem von Washington House wurde außer Gefecht gesetzt und das Back-up im Büro Ihrer Frau sei gestohlen worden. Offenbar verschweigen Sie mir etwas.«
Nick verfluchte sich für seine Dummheit. Er hatte die Informationen auf Julias PDA für sich behalten wollen, denn er wusste, dass sie letztendlich das waren, was der Mörder suchte. »Meine Frau hat die Informationen auf ihrem Computer noch einmal gesichert«, gab er zu, weil er wusste, dass Shannon bei weiteren Ausflüchten misstrauisch geworden wäre.
»Ich muss sie sehen. Wo sind sie?«
»In meinem Wagen«, antwortete Nick. Der Palm Pilot war zwar in seinem Jackett, doch auf dem Weg zum Auto würde er noch ein paar Minuten darüber nachdenken können, ob er die richtige Entscheidung traf. »Und da ist noch etwas. Ich habe in der Nähe meines Hauses einen blauen Chevy gesehen. Ein Leihwagen, gemietet von einem gewissen Paul Dreyfus. Seine Firma hat die Sicherheitssysteme in Washington House installiert.«
»Verstehe. Das Video-Backup, das Sie haben, der Mietwagen und dieser Dreyfus – damit können wir vielleicht etwas anfangen. Was halten Sie davon, wenn wir zum Washington House fahren? Vielleicht haben wir Glück.« Shannon stand auf.
»Da ist nichts zu finden«, sagte Nick.
»Es gibt immer etwas zu finden«, widersprach Shannon zuversichtlich und blickte auf Captain Delia, der sich ihnen näherte. Offenbar hatte er den letzten Teil des Gesprächs mitgehört, denn er sagte: »Warum nehmen Sie Dance nicht als zweiten Mann mit?« Es hörte sich wie eine Frage an, doch es war ein Befehl.
»Ich komme schon allein zurecht«, entgegnete Shannon.
»Ich kann mich nicht entsinnen, Sie vor die Wahl gestellt zu haben. Dance trifft Sie bei Ihrem Wagen.«
»Das ist der schlimmste Albtraum, den ich je erlebt habe. Nichts
bereitet einen auf so etwas vor«, sagte Shannon, als sie der Straße
folgten, die um die von Wrackteilen übersäten Felder herumführte.
»Wir alle machen uns hin und wieder Gedanken darüber, wie wir mal
sterben. Bei einem Flugzeugabsturz ums Leben zu kommen muss
furchtbar sein. Hilflos in einer Metallröhre gefangen, während man
umhergeschleudert wird, inmitten von Schreien und Chaos … und durch
die Fenster sieht man den Boden, der auf einen zurast. Lassen Sie
Ihre Frau auf keinen Fall auch nur in die Nähe der Absturzstelle.
Wenn sie das hier sieht, verliert sie den Verstand.«
Nick konnte den Blick nicht von dem schwarzen Boden nehmen, von den mit weißen Laken zugedeckten Leichen. »Niemand sollte so etwas sehen müssen.«
»Ja. Man wünscht sich, man könnte es irgendwie aufhalten, nicht wahr?«, sagte Shannon. »Das ganze Leid verhindern.«
»Jedes Jahr sterben mehr als vierzigtausend Menschen in den USA bei Autounfällen. Das sind mehr als hundertzwanzig Tote jeden Tag. Trotzdem nehmen wir es kaum zur Kenntnis. Aber wenn so etwas wie das hier passiert, verfolgt es uns für den Rest unseres Lebens.« Nick schüttelte den Kopf. »Kennt man die Ursache schon?«
»Spielt das eine Rolle?«, erwiderte Shannon. »Ich habe Gerüchte gehört, aber das ändert ja nichts. Es macht die Leute nicht wieder lebendig.«
Die verbleibende halbe Meile gingen sie schweigend an der Flotte der Rettungsfahrzeuge vorbei, deren rote Lichter sinnlos flackerten. Vierzehn Fernsehkameras waren auf vierzehn Reporterinnen gerichtet, die mit kollagengeblähten Lippen und perfekten Frisuren vom Tod berichteten, wobei jede darauf hoffte, die anderen in den Einschaltquoten zu übertreffen.
»Verdammt«, sagte Nick, als er sah, dass sein Audi zwischen zwei Feuerwehrwagen und einer Ambulanz eingeklemmt war, wo man versuchte, den hysterischen Verwandten eines der Opfer zu beruhigen.
»Keine Sorge«, sagte Shannon. »Sie fahren mit mir. Holen Sie das Video-Back-up aus Ihrem Wagen. Mir gehört der schwarze Mustang da vorn.« Shannon wies auf den schnittigen Sportwagen, der fünfzig Meter weiter an der belebten Zufahrt parkte.
Nick öffnete seinen Wagen und gab vor, etwas aus dem Handschuhfach zu holen und es sich in die Innentasche zu stecken, in der sich bereits Julias PDA befand.
Als Nick die Autotür zuschlug, stand ein Mann mit billigem Blazer und geschmackloser Krawatte vor ihm.
»Mr. Quinn«, sagte Shannon, »darf ich Ihnen Detective Ethan Dance vorstellen?«
Nick reichte dem Mann die Hand, doch Dance sah nicht einmal in seine Richtung.
»Wir haben hier zweihundertzwölf Opfer«, sagte er, »und ich wühle mich durch Trümmer und Leichenteile. Ich bin nicht in Stimmung, einen kontaminierten Tatort aufzusuchen. Ich fahre zum Revier und ziehe mich um. Wenn Sie meine Hilfe brauchen, bekommen Sie sie nur dort.«
Nick sagte sich, dass das nicht der »gute Bulle« war, der ihn verhaftet und lächelnd vernommen hatte. Schweiß lief Dance übers Gesicht, und er keuchte von der Anstrengung, sich die Straße hinaufgeschleppt zu haben. Zorn brannte in seinen müden, blutunterlaufenen Augen. Seine billigen Slipper waren schmutzig, die graue Hose bis auf halbe Wadenhöhe schlammverkrustet.
»Hören Sie.« Shannon zog Nick beiseite, während Dance weiterging. »Dance ist ein Arschloch, aber ein wirklich guter Ermittler. Fahren Sie mit ihm zum Revier. Lassen Sie ihn einen Blick auf Ihre Videodatei werfen. Der Kerl spürt noch in der Sahara Wasser auf, und er kann weitere Informationen über diesen Dreyfus zusammentragen. Ich fahre nach Washington House und zur Kanzlei Ihrer Frau. Mal sehen, was ich finde.«
Nick stimmte zu und eilte Dance hinterher, der sein billiges Jackett auszog und auf den Rücksitz seines grünen Ford Taurus warf. An den Achseln seines weißen Hemdes waren große Schweißflecken zu sehen. Nick öffnete die Beifahrertür und setzte sich schweigend neben Dance, der wütend die Fahrertür zuknallte.
Ohne ein Wort ließ er den Motor an und fuhr vom schlammigen Parkplatz. Er schnitt zwei andere Fahrzeuge und verließ den Bereitstellungsraum der Katastrophenhelfer.
Ströme von Freiwilligen, städtischen Angestellten und Nationalgardisten kamen zum Ort der Katastrophe oder verließen ihn. Schweigend marschierten die Helfer die Zufahrtsstraße entlang, die bis zu diesem Morgen nur Busse voller Kinder und sportbegeisterter Eltern auf dem Weg zu einem vergnüglichen Tag gesehen hatte.
Die Dichte der geparkten Wagen nahm rasch ab, je weiter sie fuhren. Als sie an einem blauen Chevy Impala vorbeikamen, wollte Nick seinen Augen nicht trauen. Ein Blick auf das Nummernschild ließ ihn erkennen, dass es sich um Dreyfus’ Mietwagen handelte.
»Halten Sie an«, sagte Nick. »Der blaue Impala dort …«
Dance beachtete ihn nicht.
»He, anhalten! Das ist der Wagen, von dem ich Shannon und Ihrem Captain erzählt habe. Der Mistkerl ist hier!«
Dance sagte kein Wort, nahm das Walkie-Talkie und drückte auf den Sprechknopf. »Captain?«
»Das darf doch wohl nicht wahr sein, Dance«, meldete sich Captain Delia. »Da sind Sie gerade drei Minuten weg, und schon haben Sie ein Problem?«
»Schicken Sie jemanden zur Seitenstraße, wo die hiesigen Freiwilligen parken. Ein blauer Chevy Impala. Kennzeichen …« Er wandte sich an Nick, der den Satz beenden sollte.
»Z8JP9.«
»Sagen Sie dem Mann, er soll das Fahrzeug unauffällig beobachten. Sobald der Fahrer des Wagens auftaucht, muss er festgehalten werden, bis wir zurückkommen.«
»Wird gemacht«, versprach Delia.
»Entspannen Sie sich«, sprach Dance endlich Nick an. »Wenn der Kerl hier ist, kommt er nicht weg.«
»Was will er hier eigentlich?«
»Das können Sie ihn selbst fragen, wenn wir wieder da sind.« Dance wischte sich die schweißnasse Stirn mit dem Hemdsärmel ab und strich das feuchte braune Haar zurück.
Sie fuhren durch den stockenden Verkehr. Dance verzichtete darauf, Sirene oder Blaulicht einzuschalten; sie wären dadurch nicht schneller vorangekommen.
»Tut mir leid, dass ich so kurz angebunden war«, sagte Dance. »Shannon ist ein ziemliches Arschloch, das mir sehr oft auf den Wecker geht.«
»Schon gut. Heute ist für jeden ein schlimmer Tag.«
»Aber Ihrer Frau geht es gut, oder?«
Nick bejahte.
Dance lockerte seine Krawatte, nahm sie ab und warf sie auf die Rückbank. Dann öffnete er die beiden obersten Knöpfe seines Hemdes und richtete die Düsen der Klimaanlage auf sich. Als die kühle Luft ihn traf, seufzte er wohlig.
»Der Captain hat mir erzählt, was Sie und Ihre Frau heute durchgemacht haben«, fuhr Dance fort. »Wenn so etwas geschieht, werden wir blind für den Rest der Welt und vergessen, dass sie sich trotz der Tragödien noch immer dreht.«
Während Nick Dance’ Worten lauschte, musterte er fast gegen seinen Willen den Hals des Detectives und suchte nach dem Christopherus-Anhänger, schalt sich dann aber wegen seiner übertriebenen Angst einen Narren.
Schließlich verließen sie die lange Zufahrtsstraße auf die Route 22, die gespenstisch leer war – ein schreiender Gegensatz zu dem lärmenden Chaos, das sie hinter sich gelassen hatten.
»Sie haben also eine Kopie des Sicherheitsvideos?«, fragte Dance in die Stille hinein.
»Ja«, antwortete Nick und klopfte sich auf die Brusttasche seines Blazers.
»Haben Sie sich die Aufnahme angeschaut?«
»Nur zum Teil, aber ich habe ein Gesicht gesehen. Ich werde Ihnen nachher einen Ausdruck zeigen. Es ist aber hauptsächlich Schnee zu sehen. Die Einbrecher haben die Kameras außer Gefecht gesetzt.«
»Wir sehen es uns im Revier an. Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich zuerst eine Dusche nehme, oder?«
Nick schüttelte den Kopf, bedauerte es aber augenblicklich. Die Uhr tickte. Seine Zeit mit Dance war begrenzt. Er musste so viel wie möglich erfahren, ehe die Stunde um war.
»Mir kommt es vor, als wäre ich von Kopf bis Fuß voller Tod«, sagte Dance.
»Wie spät ist es?« Nick wollte die Taschenuhr nicht hervorziehen.
Der Wagen näherte sich einer Brücke mit grünem Geländer. Eine Viertelmeile lang, überspannte sie in fünfzehn Metern Höhe das Kensico Reservoir, einen Stausee, der zu den idyllischsten Flecken in ganz Byram Hills gehörte.
»Viertel vor vier«, sagte Dance.
»Ich frage Sie das nicht gerne, aber glauben Sie, wir könnten vielleicht …«
Dance schaute ihn mit unergründlicher Miene an und nickte schließlich. »Sicher, ich wollte nicht gefühllos sein. Es ist nur noch eine Minute bis zum Revier. Wir haben Notstrom, wir legen sofort los.«
»Danke.« Nick bereute inzwischen, sich nicht früher an die Polizei gewandt zu haben. Hätte er es getan, könnte er bei seiner Suche nach Julias Mörder schon viel weiter sein.
»Tun Sie mir einen Gefallen?« Dance wies mit dem Daumen nach hinten auf die Rückbank. »Da liegt meine Sporttasche. Können Sie mir die angeben?«
»Klar.« Nick löste den Sicherheitsgurt, drehte sich um und schob sich halb über die Sitzlehne, da die Leinentasche außerhalb seiner Reichweite lag.
Ohne Warnung machte Dance eine Vollbremsung. Die Reifen kreischten, und das Antiblockiersystem stotterte, als es zu verhindern versuchte, dass der Wagen ins Schleudern geriet, bis er mitten auf der Brücke zum Stehen kam. Nick wurde gegen das Armaturenbrett geworfen und rutschte halb auf den Wagenboden. Dance hielt ihm eine Pistole an die Stirn.
»Hände auf das Armaturenbrett!«, befahl er.
»Was ist denn los?«, fragte Nick benommen, als er wieder auf den Sitz kletterte. Seine Hände zitterten aus Verunsicherung über die plötzliche Wendung der Ereignisse und aus Furcht vor der Mündung der Waffe, die gegen seine Stirn drückte.
Dance hielt die Pistole in der rechten Hand, während er mit der Linken seine Handschellen hervorholte und sie um Nicks Handgelenke zuschnappen ließ.
»Was soll denn …«
Dance drückte Nick nach vorn, riss ihm die SIG Sauer aus dem Hosenbund und warf die Waffe nach hinten in den Wagen.
»Wieso tragen Sie heimlich eine Waffe?«, fragte Dance.
»Immer mit der Ruhe. Ich …«
»Machen Sie die Tür auf!«, befahl Dance. »Schön langsam. Los, raus aus dem Wagen. Tun Sie nichts Unüberlegtes.«
»Hören Sie zu, Dance.« In Nick stieg Wut auf. »Ich habe keine Zeit für irgendwelche Spielchen. Wenn wir nicht schnellstens …«
»Raus!« Dance schaltete das Polizeisignallicht ein. Die hellen roten Blitze stachen Nick in die Augen. Mit den gefesselten Händen öffnete er die Tür und stieg unbeholfen aus dem Wagen. Dance schob sich direkt hinter ihm hinaus.
»Hände aufs Brückengeländer!«, rief der Detective, ging zum Heck des Wagens und öffnete den Kofferraum.
»Verdammt, Dance, was ist denn los? Ich trage die Waffe zum Schutz meiner Frau. Ich habe einen Waffenschein, wenn es das ist, was Sie stört!«
Nick konnte nicht sehen, was Dance tat, doch plötzlich spürte er, wie ihm etwas um die Beine gewickelt wurde. Mit zwei großen Kabelbindern schnürte der Detective ihm die Fußgelenke aneinander.
»He, was soll das? Was haben Sie vor?« Nick starrte verwirrt auf seine gefesselten Hände und Füße.
Dance riss ihn herum, griff ihm in die Jacke und zog Julias PDA heraus.
»Dance!«, rief Nick. »Was soll dieser Blödsinn?«
Doch als er sich nach links beugte und in den offenen Kofferraum sah, ergab plötzlich alles einen Sinn.
Der Kofferraum war voller Sporttaschen, von denen eine halb offen stand. Und aus der Tasche ragte, in der Nachmittagssonne funkelnd, ein goldener Schwertknauf.
»Das darf doch nicht wahr sein!«, stieß Nick hervor. »Sie?«
Dance öffnete schweigend die Fondtür des Wagens, nahm Nicks Pistole von der Rückbank, packte Nick beim Kragen, schob ihn hinein und knallte die Tür zu.
Nick saß allein im verschlossenen Wagen.
Die LED-Uhr am Armaturenbrett zeigte 3:50.
Alles ergab plötzlich einen Sinn – warum man ihn verhaftet hatte und weshalb Dance die Untersuchung leitete: Dance war in den Raub und in Julias Ermordung verwickelt.
So mies die Lage auch geworden war, Nick wusste jetzt, wer für Julias Tod verantwortlich war. Er wusste, wen er aufhalten musste. In den nächsten Minuten ging es nur darum, am Leben zu bleiben. Er musste bis zur vollen Stunde überleben.
Die Uhr zeigte 3:52. Nick war das Verstreichen der Zeit noch nie so schnell und zugleich so langsam vorgekommen.
Dance öffnete die Hintertür, wedelte mit seiner Waffe und bedeutete Nick auf diese Weise, wieder auszusteigen.
»Halten Sie sich bloß von meiner Frau fern«, stieß Nick hervor, »oder ich …«
Er verstummte abrupt, als Dance ihm die Pistolenmündung auf die Lippen drückte.
»Tolle Sache, diese PDAs. Ich weiß jetzt Ihre Privatnummer und kenne jeden Ihrer Kollegen, Freunde und Nachbarn mit Namen. Ob ich Ihre Frau wohl anrufe und ihr sage, sie soll ins Revier kommen? Vielleicht sage ich ihr, dass Sie einen Unfall hatten …« Dance holte mit der Faust aus und schmetterte sie Nick auf den Mund, dass ihm der Kopf in den Nacken flog und das Blut hervorquoll. »Dann beeilt sie sich wenigstens. Natürlich müssen wir jetzt herausbekommen, wer noch Bescheid weiß und welche Freunde Sie verständigt haben.«
Dance hob eine große Eisenplatte aus dem Kofferraum. In der Mitte war eine Drahtseilschlinge befestigt. Mit einiger Mühe schleppte Dance die Platte zum Rand der Brücke und ließ sie mit lautem Klirren auf den Gehweg fallen.
»Wir wollten bis heute Abend warten«, fuhr Dance fort. »Wir
wollten sie zu Hause erschießen und es Ihnen anhängen. Aber da
Sie sich entschlossen haben, Ihre Nase in diese Sache zu stecken,
müssen wir sie jetzt gleich töten.«
Nick sank das Herz. Er hatte Julia nicht gerettet, im Gegenteil:
Durch seine Unfähigkeit hatte er den Mord an ihr beschleunigt.
»Shannon wird herausfinden, was Sie getan haben.«
»Vergessen Sie Shannon. Der findet ohne Hilfe nicht mal aus ’ner Brötchentüte raus.«
Dance schob die hundert Pfund schwere Platte unter dem
grün angestrichenen Geländer durch und packte die Drahtseilschlinge,
die er fest in der linken Hand hielt. Dann richtete er
sich auf, drückte Nick die Pistolenmündung an den Hinterkopf,
zwang ihn vorzugehen und ließ das Drahtseil an der Kette von
Nicks Handschellen einrasten.
»Hatten Sie schon mal das Gefühl des Déjà-vu?«, fragte
Dance. »Als hätte man irgendetwas schon mal getan, oder als
wäre man schon mal irgendwo gewesen? Als wäre die Zeit auf
den Kopf gestellt?«
Dance schob die Platte mit dem Fuß zur Kante. Bald hing sie
zur Hälfte über dem Stausee.
In diesem Moment sah Nick die Brust des Detectives. Dances
Hemd stand bis zur Taille offen; von der Anstrengung beim
Tragen der Platte waren die drei unteren Knöpfe aufgesprungen.
So mies dieser Mann war, so viel er auch darüber sprach, Julia
zu ermorden – er war es nicht, den Nick gejagt und angegriffen
hatte. Dances Hals war nackt. Von einem Christopherus-Anhän-
ger war nichts zu sehen.
Nick stand da, den Leib gegen das grüne Geländer gepresst,
und blickte hinaus auf den Stausee, der trotz der schrecklichen
Geschehnisse, die sich in nur einer Meile Entfernung zugetragen
hatten, still und friedlich dalag. Dance war Helfershelfer der Einbrecher, möglicherweise sogar der Kopf der Bande, der direkt mit Paul Dreyfus zusammenarbeitete, doch er war nicht Julias Mörder. Aber er war ein Komplize und wollte Julias Tod.
»Gute Reise«, sagte Dance mit einem Grinsen und stieß die Platte mit dem Fuß um. Die Kante der Brücke wirkte wie ein Drehpunkt. Die Platte schaukelte einen Augenblick; dann hob sich langsam die eine Seite, und sie kippte hinunter.
Sie fiel einen oder zwei Fuß tief; dann wurde sie ruckartig angehalten. Die Handschellen schnitten in Nicks Handgelenke. Er versuchte das Drahtseil zu halten, um den Schmerz zu mindern, doch es war zu dünn. Nick mobilisierte seine letzten Kräfte. Obwohl in seinen abgeschnürten Handgelenken der Schmerz pochte, hob er die Platte mit der Kraft seiner Schulter- und Rückenmuskeln hoch und lehnte sich nach hinten, um sie über das Geländer zu ziehen.
In diesem Moment packte Dance die Plastikfesseln, die um Nicks Füße lagen, und riss ihm die Beine hoch. Nick prallte mit dem Bauch aufs Geländer. Das Gewicht der Eisenplatte machte es Dance leicht, Nick hochzuheben und über den Rand zu stoßen.
Einen Lidschlag später segelte Nick durch die Luft. Die Eisenplatte flog ihm voran in das nasse Grab.
Fünfzehn Meter tiefer stürzte Nick kopfüber ins Wasser, als würde er auf Beton aufschlagen. Ringsum spritzte das Wasser hoch. Das Gewicht der Platte zog ihn unentrinnbar nach unten. Er verschwand in der Dunkelheit. Der Stausee war zwischen sechs und einhundert Meter tief, doch an dieser Stelle unter der Brücke erreichte er nur knappe acht Meter. Nicht dass die Tiefe eine Bedeutung für Nicks Überlebenschance gehabt hätte.
Während er in den Tod gezogen wurde, wuchs mit jedem Meter der Druck in seinen Ohren.
Dann traf das Gewicht auf den Boden. Nick schwebte über der Platte wie eine versenkte Boje. Am Rand seines Gesichtsfelds tanzten Sterne. Lichtstrahlen drangen glitzernd durch die Wasseroberfläche über ihm, brachen sich in der Tiefe und beleuchteten den steinigen, schlickbedeckten Grund des Sees.
Als Wettkampfschwimmer konnte Nick den Atem weit länger anhalten als die meisten Menschen, aber er wusste nicht, wie lange seine Lunge noch durchhalten würde.
Trotzdem war es nicht der Schmerz, an den er dachte, oder die Plötzlichkeit des unentrinnbaren Todes. Er dachte an Julia. Alles, was gut gewesen war in seinem Leben, alles, was das Leben für ihn lebenswert gemacht hatte, war ihm genommen worden. Er empfand Scham und Schuldgefühle, dass er sie nicht vor ihrem Schicksal hatte bewahren können. Er hatte sich so leicht täuschen lassen, hatte so blauäugig daran geglaubt, dass Fremde ihm helfen würden … nur um von einem Mann, der bezahlt wurde, ihn zu beschützen, in den Tod gestoßen zu werden.
Nick hing mit dem Kopf nach unten am Gewicht und atmete ständig sehr kleine Luftmengen aus, damit ihm kein Wasser in die Nase drang und er nicht vorzeitig ertrank. Dank des flimmernden Oberflächenlichts konnte er sich endlich orientieren, als ihm irgendetwas gegen den Rücken stieß. Nick drehte sich herum …
… und starrte in die leeren Augen eines Toten. Die Leiche schwebte mit dem Kopf nach oben im Wasser und tanzte träge in der Strömung. Die Hände des Toten steckten in Handschellen; seine Beine waren mit Plastikbindern gefesselt, die an einer ähnlichen Eisenplatte befestigt waren wie die, die Nick unter Wasser hielt.
Drei Meter dahinter entdeckte Nick einen weiteren Toten. Er konnte ihn nicht gut sehen, doch die Uniform, der hagere Körper und das rote Haar des Mannes ließen erkennen, dass es sich um einen Polizisten handelte.
Dank der weißen Lichtspeere, die das Wasser durchstachen, sah Nick schließlich die Umrisse eines dritten Toten in einem blauen Hemd. Sein langes Haar wogte geisterhaft in der Strömung.
Nick schließlich die Umrisse eines dritten Toten in einem blauen Hemd. Sein langes Haar wogte geisterhaft in der Strömung.
Nick war auf einem Friedhof, auf der Leichendeponie eines Serienmörders.
Er begriff augenblicklich, weshalb Dance von einem Déjà-vu gesprochen hatte.
Der Mann unmittelbar neben ihm war noch nicht lange tot. Seine grässlich verdrehten Augen quollen hervor; die Haut um das eine Auge war geschwollen und blau-schwarz gefärbt. Sein Mund war schlaff, die Unterlippe aufgeplatzt, als wäre eine Faust darauf geschmettert worden. Er hatte graues Haar, das um sein Gesicht trieb wie sanft wogendes Gras.
In Nicks Lunge begann es zu brennen. Die Luft ging ihm aus. Er schätzte, dass er inzwischen eine Minute unter Wasser war. Noch vierzig oder fünfzig Sekunden, und er würde das Bewusstsein verlieren.
Rasch ergriff er das Drahtseil, das ihn mit dem Todesanker verband, und zog sich nach unten. Er packte den Mann neben sich beim Gürtel, griff ihm mit der gefesselten rechten Hand in die Tasche, zog seine Brieftasche heraus und hielt sie fest, als könnte sie ihn irgendwie retten.
Doch seine Lunge schrie nach Luft, und sein Kopf pochte mit den letzten Schlägen seines immer schwächeren Herzens. Er war nun mehr als zwei Minuten ohne Sauerstoff, und es gab keinen Zweifel, dass er sich bald dem verführerischen Ruf des Todes ergeben würde.
Ein letztes Mal dachte er an Julia, an ihre Schönheit, ihre Sanftheit, und was er mit ihr verlieren würde, weil …
Weil er versagt hatte.