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Den großen Flachbildfernseher füllte verbrannte Erde. Auf dem weiten Feld lagen weiße Fetzen verstreut, die sich bei genauerem Hinsehen als Bettlaken erwiesen, mit denen die verbrannten und zerfleischten Überreste von 212 Flugpassagieren bedeckt worden waren. Um 11.50 Uhr hatte der A 300 den Flughafen Westchester verlassen. Zwei Minuten später war die Maschine vom klaren blauen Himmel gefallen und auf den Sportplatz der Kleinstadt Byram Hills gestürzt.

Luftaufnahmen zeigten eine Spur der Verwüstung, die einen halben Kilometer lang war, als hätte der Teufel die Hand ausgestreckt und die Erde aufgerissen. Bis auf das intakte weiße Heck, das in die Luft ragte, erinnerte keines der Trümmerstücke mehr an das moderne Flugzeug, das nach Boston unterwegs gewesen war.

»Keine Überlebenden«, sagte die übermäßig blondierte Nachrichtensprecherin. In ihren schwarzen Augen zeigte sich aufrichtiges Bedauern, ein solch tragisches Ereignis in Kurzform bringen zu müssen. »Das Nationale Amt für Transportsicherheit untersucht seit mehreren Stunden den Schauplatz des Absturzes und konnte mittlerweile den schwer beschädigten Flugschreiber von Flug 502 der North East Air bergen. Eine Pressekonferenz wurde auf einundzwanzig Uhr angesetzt.«

Bilder vom Tage wurden gezeigt: Hunderte von Feuerwehrleuten im Kampf gegen die lodernden Flammen, die auf den Wrackteilen tanzten; Aufnahmen von den Bemühungen der Rettungskräfte und von Gepäckstücken, die am Boden verstreut lagen; Bilder von müden Feuerwehrleuten mit gesenkten Köpfen und rußverschmierten Gesichtern. Herzzerreißende Videos vermittelten einen persönlichen Eindruck der Tragödie: Laptops und MP3-Player, die im Schlamm lagen; eine völlig unversehrte Yankee-Kappe, die auf einem ebenso unversehrten Grasflecken lag; ein Kinderschuh; Rucksäcke und Aktenkoffer – allesamt Ermahnungen an die Zerbrechlichkeit des Lebens.

Der Flachbildfernseher stand in den Mahagoniregalen einer Bibliothek aus der Alten Welt. Romane und Bücher über alle erdenkliche Themen – von Shakespeare-Dramen bis hin zur Autoreparatur, von Dumas bis hin zu Antiquitäten – füllten die Regale. Über dem Kaminsims hing ein majestätisches Löwengemälde von Jean-Léon Gérôme. Die Wand über dem Sofa zierten zwei Norman Rockwells, die Soldaten bei der Heimkehr aus dem Zweiten Weltkrieg zeigten, wie sie ihre Familien umarmten. Große lederne Klubsessel standen vor dem Kamin, in dem kein Feuer brannte, und der persische Teppich mit seinen blau gefleckten Erdfarben vervollständigte die Einrichtung eines Herrenzimmers aus den 1840er-Jahren.

Nick stand in der Mitte des Zimmers. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen und zitterte am ganzen Leib. Ein tiefes, dumpfes Wummern hallte ihm in den Ohren. Als er nach hinten kippte, packte er im letzten Moment eine Sofalehne und fiel auf die kastanienbraune Ledercouch mit den großen Polsternägeln.

Nick kam es vor, als wäre er aus einem Albtraum erwacht. Er hatte einen merkwürdigen Geschmack im Mund, bitter und metallisch, und seine Lippen waren trocken. Ihm war eiskalt; er war bis auf die Knochen durchgefroren. Dennoch schien der Augenblick einen goldenen Schimmer zu haben, als hätte sich das Nachbild eines Lichts in seine Augen eingebrannt, eine Erinnerung an längst vergessenen Sonnenschein. Als er sich im Zimmer umschaute und herauszufinden versuchte, wo er sich befand, spannte er unbewusst die Hände, als würde er einen unsichtbaren Blasebalg bedienen. Sein Verstand war von Sinneseindrücken überlastet, und er besaß keine Orientierung und kein Zeitgefühl mehr.

Erneut schaute er sich im Zimmer um, das ihm mit einem Mal immer vertrauter erschien, als würde es sich vom Rand seiner Wahrnehmung zusehends in die Mitte schieben. Im nächsten Moment wusste er, woher das Wummern stammte: vom Generator, der das Haus mit Elektrizität versorgte, nachdem in der ganzen Stadt das Stromnetz zusammengebrochen war.

Dann stand ihm ein Name vor Augen: Marcus Bennett. Sein bester Freund, sein Nachbar. Dies hier war sein Haus, seine Bibliothek. Nick war vor einer Stunde hier gewesen, und Marcus hatte ihm Trost gespendet …

Und dann traf ihn die Wirklichkeit wie ein tonnenschwerer Fels.

Julia war tot.

Als Nick die Augen schloss, sah er sie vor sich, ihre weichen Lippen, ihre makellose Haut, ihre natürliche Schönheit. Ihre Stimme klang klar und deutlich in seinen Ohren, als würde sie zu ihm sprechen, und er nahm den zarten Lavendelduft ihrer Haut wahr, den er noch deutlich in Erinnerung hatte. Schmerz und Trauer packten ihn, rissen ihn in eine Dunkelheit, von der er nie etwas geahnt hatte, umschlossen sein Herz und zerquetschten es in ihrem tödlichen Griff.

Schließlich sah Nick zum Fernseher hinauf, zu den Wrackteilen des Flugzeugs, den Überresten der Passagiere, die verstreut dalagen wie achtlos weggeworfene Gegenstände. Es war ein Bild von Tod und Schmerz. Das Leben war an diesem Tag für viele Menschen zur Hölle geworden. Doch so tragisch das Ereignis war, das Nick vor sich sah – er konnte in seiner Trauer nur an sich denken, war ganz auf das eigene Unglück konzentriert.

Nick nahm die Fernbedienung und ertastete den Ausschaltknopf. Er warf einen letzten Blick auf die brennenden Trümmer und schaute kurz auf die Laufschrift am unteren Ende, die mit ihren Schlagzeilen den Blick auf sich zog und am linken Bildschirmrand verschwand, um gleich darauf am rechten Rand wieder zu erscheinen.

Als Nick auf das Senderzeichen in der unteren Ecke starrte, entdeckte er etwas, was ihn erneut in Panik stürzte. Es war ein Detail, dem er sonst nie Beachtung schenkte. Angesichts der Berichterstattung über unvorstellbaren Tod und grausame Vernichtung hatte Nick es völlig übersehen. Es befand sich in der unteren rechten Ecke, in weißer Schrift – eine Information, bei der sich Nicks Gedanken überschlugen. Die Uhr hob sich hell vom Hintergrund ab, und er schaute zweimal hin, als würden seine Augen ihm einen Streich spielen. Er las noch einmal.

20.15 Uhr.

Nicks Blick zuckte zu seinem Handgelenk, doch dort, wo er normalerweise seine Armbanduhr trug, war nur blasse Haut. Dann erinnerte er sich …

Er griff in die Jacketttasche und zog den Brief heraus. Der Umschlag war cremefarben und glänzte seidenmatt. In der linken Ecke befand sich ein kunstvolles blaues Wappen, ein Löwenkopf über einem erschlagenen Drachen, dessen Kehle ein verziertes Schwert durchbohrte. Nick war sich nicht sicher, ob es das Zeichen eines Klubs oder einer Privatschule war oder ob es sich um das Wappen des seltsamen Fremden handelte, des Europäers, der ihm das Kuvert gereicht hatte.

Er griff noch einmal in die Tasche, zog die Uhr hervor, die der Europäer ihm gegeben hatte, und klappte sie auf. Die Innenseite des Deckels bestand aus spiegelblank poliertem Silber, in das mit Schreibschrift ein lateinischer Sinnspruch eingraviert war:


 
Fugit irreparabile tempus


 
Nick warf einen Blick auf das Zifferblatt. Die römischen Ziffern waren in altenglischem Stil gehalten; die Zeiger wiesen genau auf eine Viertelstunde nach acht Uhr, was bei Nick neuerliche Fassungslosigkeit hervorrief.

Sein Verhör hatte um 21.20 Uhr begonnen! Er erinnerte sich genau, wie die Wanduhr im Verhörraum langsam auf zehn Uhr zumarschiert war, während er die Fragen der Polizeibeamten über sich ergehen ließ, den verzierten Colt-Revolver betrachtete und die Spannung wuchs, bis sie ihren Höhepunkt fand, als er Dance die Pistole fortriss und für einen Augenblick alles am Abgrund des Todes schwebte …

Und dann fiel ihm wieder ein, wie er fast eine Stunde lang mit Marcus in diesem Zimmer hier gesessen und Scotch getrunken hatte, während der dumpfe Schmerz um Julias Verlust ihm beinahe das Herz zerriss. Voller Trauer waren sie beide gewesen, untröstlich. Nick erinnerte sich daran wie an einen Film in Zeitlupe. Marcus hatte vor ihm gesessen und ihm gesagt, alles würde in Ordnung kommen, als die Bibliothekstür sich plötzlich öffnete und die beiden Detectives mit grimmigen Mienen im Durchgang standen. Shannons Hand hatte auf dem Pistolengriff gelegen.

Jetzt befand sich Nick wieder in dem Zimmer, in dem er verhaftet worden war – aus dem man ihn um neun Uhr abends in Handschellen abgeführt hatte …

Sein Gedächtnis schien auf den Kopf gestellt worden zu sein. Ereignisse wirbelten umher und ordneten sich in der richtigen und falschen Reihenfolge neu. Das Letzte, woran Nick sich erinnerte, waren der Verhörraum und die Fotos von Julia, die Detective Shannon ihm hingeschoben hatte. Sie hatten ihn an den Rand des Wahnsinns getrieben. Er wusste noch, wie er Dance die Pistole abgenommen und wie Shannon und er sich gegenseitig in Schach gehalten hatten.

Doch ihm wollte nicht einfallen, was passiert war, nachdem Shannon auf den Abzug gedrückt hatte.

Kopfschüttelnd klappte Nick die Uhr zu und steckte sie zurück in die Tasche.

Dann schaute er wieder auf den Umschlag und betete, sein Inhalt möge die vielen Fragen beantworten, die ihm durch den Kopf schossen. Er riss das Kuvert auf, zog zwei Blätter cremeweißes Papier heraus und begann zu lesen.


 
Lieber Nick,


ich hoffe, von Ihrem Geist lichtet sich der Nebel, und doch

hege ich keinen Zweifel daran, dass nunmehr noch größere

Unschlüssigkeit an dessen Stelle tritt, sodass Sie sich fragen,

was eigentlich vorgeht …


 
Nick las den zweiseitigen Brief dreimal, faltete ihn dann zusammen und steckte ihn in die Brusttasche, ohne dass er hätte sagen können, was er davon halten sollte. Vielleicht hatte er doch noch eine Chance, Julia zu retten. War er verrückt, dass er diesem Gedanken noch nachhing? Dass er die unerfüllbare Hoffnung noch immer zuließ?

Sein Verstand musste ihm einen Streich spielen.

Die Bilder von Julias Leiche, die Detective Shannon ihm vorgelegt hatte, waren so echt gewesen, dass Nick glaubte, er hätte sich endgültig dem Wahnsinn ergeben, einer grotesken Ausgeburt seiner Wunschvorstellungen. Es kam ihm vor, als wäre er in einem Traum gefangen, und er mobilisierte seine ganze Willenskraft, um endlich aufzuwachen.

Er griff in die Tasche, holte erneut die Uhr hervor, von der im Brief die Rede war – die goldene Taschenuhr, die der Europäer ihm im Verhörraum gegeben hatte. Er ließ den Deckel aufklappen und starrte auf die römischen Ziffern.

Trotz seiner Zweifel und der grundsätzlichen Unmöglichkeit stand außer Frage, wo er in diesem Augenblick war und welche Uhrzeit das Zifferblatt anzeigte.

Nick hatte bereits in diesem Zimmer gesessen, mit Marcus Scotch getrunken und Julias Tod betrauert. Das war keine Fantasievorstellung, kein Tagtraum. Seine Tränen waren so echt wie der Schmerz in seinem Herzen, und Marcus’ tröstende Worte klangen ihm noch in den Ohren.

Und der Verhörraum im Polizeirevier von Byram Hills, wo er Dance’ Fragen über sich ergehen ließ und auf die Waffe starrte – er war dort gewesen! Um 21.58 Uhr hatte Detective Shannon ihn dann mit der grausamen Wirklichkeit konfrontiert, in Gestalt der Tatortfotos. Das alles war tatsächlich geschehen. Und auch an der Uhrzeit konnte kein Zweifel bestehen, denn die vom Drahtkorb geschützte Wanduhr war jener Punkt gewesen, auf den Nick sich in den neun Minuten vor zehn Uhr konzentriert hatte.

Doch hier stand er und starrte auf die kleinen schwarzen Zeiger der goldenen Uhr, eines Zeitmessers, der aussah, als wäre er über hundert Jahre alt, und der dennoch perfekt zu funktionieren schien.

Nur dass die Uhr Viertel nach acht zeigte.

Nick nahm die Fernbedienung vom antiken Schreibtisch und richtete sie auf den Fernseher, wo noch immer Bilder von Tod und Vernichtung abliefen wie in einem Horrorfilm.

Das Ausmaß der Tragödie stand außer Frage. Es war eine Katastrophe, die in den nächsten Tagen das ganze Land beschäftigen würde. Und während Nick bewusst war, dass die Welt um die Passagiere von Flug 502 der North East Air weinte, hatte er selbst nur Tränen für Julia.

In einem Augenblick sehnsüchtiger Hoffnung ließ er die Möglichkeit zu, dass in dem Brief doch die Wahrheit stand, und er fragte sich: Was, wenn es wirklich stimmt? Er hatte nichts zu verlieren und alles zu gewinnen. Wenn er den Brief als Wahrheit betrachtete, wenn er hinnahm, dass es wieder 20.15 Uhr war, dann, vielleicht …

Ganz gleich, wie unglaublich es klang und wie verrückt alles war, eines begriff Nick: Wenn im Brief die Wahrheit stand – die Wahrheit über die Uhr –, konnte er Julia vielleicht noch retten.


 
Plötzlich öffnete sich die Tür. Marcus Bennetts massige Gestalt füllte den Eingang. In seiner grauen Nadelstreifenhose, der blauen Krawatte und den aufgerollten weißen Hemdsärmeln sah er aus wie ein Holzfäller in Designerklamotten. Je ein Kristallglas in beiden prankenartigen Händen, betrat er das Zimmer.

Seit sechs Jahren wohnten Nick und Marcus in benachbarten Häusern, und es verband sie mehr als eine oberflächliche Bekanntschaft. Beide waren leidenschaftliche Eishockeyfans, die fast alle Heimspiele der Rangers besuchten. Beide hatten sie auf der Highschool selbst gespielt, aber nie die Beachtung gefunden, die sie verdient gehabt hätten – zumindest ihrem allzu ausgeprägten Selbstbewusstsein nach. Um ihren Traum zu verlängern und ihre Jugend zu bewahren, spielten sie jeden Mittwochabend in einer Altherrenmannschaft, Nick als Torwart, Marcus als sein stets gegenwärtiger Abwehrspieler.

Mit neununddreißig Jahren war Marcus sieben Jahre älter als Nick. Er hatte Jura studiert, hatte sich aber bald vom Gerichtssaal auf das Gebiet der Unternehmenszusammenschlüsse und Firmenübernahmen verlegt. Dank seines Erfolgs hatte er mit zweiunddreißig bereits ein beträchtliches Vermögen angehäuft, das allerdings durch mehrere Scheidungen und Alimentezahlungen ständig schrumpfte; dennoch war Marcus nach wie vor einer der reichsten Männer der Stadt.

Doch seinem Talent, verwundbare Firmen aufzuspüren, die sich übernehmen und ausnehmen ließen, konnte sein Geschick bei der Auswahl weiblicher Gesellschaft nicht annähernd das Wasser reichen. Nick hätte nicht zu sagen vermocht, ob Marcus sich von Lust oder von Schönheit blenden ließ, doch es gab keinen Zweifel, dass sein Gespür für Frauen bei Weitem nicht so ausgeprägt war wie sein Geschäftssinn: Innerhalb von sechs Jahren hatte er drei Ehen und drei Scheidungen hinter sich gebracht.

Nach jedem Fehlschlag, wenn Marcus’ vorübergehende Verachtung des weiblichen Geschlechts ihn blind machte für alle Vernunft, schwor er sämtlichen Frauen ab und vergrub sich in Arbeit, drohte im betrunkenen Zustand sogar damit, Mönch zu werden. Allerdings löste seine heftige Abneigung sich jedes Mal wieder in Luft auf und wich einer neuen blinden Liebe.

Als Ergebnis seines Versagens in Herzensangelegenheiten stand Marcus nicht nur Nick nahe, sondern auch Julia. Sie war die Stimme der Vernunft, die ihm Trost bot, die Schwester, die Marcus nie gehabt hatte und die ihm auf jeder emotionalen Querfeldeinfahrt beistand. Sie achtete auf ihn, wenn er die Achterbahn der Emotionen zwischen Betrübnis und Wut bis hin zu völliger Verwirrung bestieg. Bei Marcus erlosch die Liebe, die Nick für ewig hielt, schneller als der neueste Leasingvertrag für einen Bentley.

Im Moment sonnte sich Marcus in seiner jüngsten Eroberung. Sheila war ein ehemaliges Werbemodel, auch wenn niemand wusste, für wen sie warb oder ob sie jemals wirklich als Model gearbeitet hatte. Mit ihrem dichten schwarzen Haar und den tiefen haselnussbraunen Augen war sie bezaubernd und der körperliche Gegensatz zu Blythe, Marcus’ dritter Frau, einer blassen Schönheit, die sich ganze achtzehn Monate lang an ihr Lotterielos geklammert hatte und dann mit einem Gewinn von zehn Millionen Dollar abgerauscht war.

Mit seinem frühzeitig ergrauten Haar, das anschließend ins Nichts zurückgewichen war, und seiner schiefen, dreimal auf dem Eis gebrochenen Nase erfüllte Marcus schwerlich die Idealvorstellung eines gut aussehenden Mannes. Für sein Äußeres war er nie berühmt gewesen; er hatte eines jener Gesichter, mit denen man in jeder Menschenmenge anonym blieb und das die meisten Leuten nach einer Minute wieder vergessen hatten. Doch seine Attacken auf dem Schlachtfeld der Liebe ritt er stets mit prall gefüllter Brieftasche und warmherzigem Lächeln; beides zog viele Frauen an und half Marcus, jede Unsicherheit zu überwinden, die als Folge seiner ehelichen Katastrophen entstanden sein mochte.

Marcus reichte Nick schweigend ein Glas. Es bedurfte keiner Worte: Über ihnen hing die Trauer, schwarz und drückend wie eine Gewitterwolke.

In Marcus’ braunen Augen spiegelte sich Schmerz, während Nick still auf das Glas starrte. Seine Gedanken verloren sich in der gelbbraunen Farbe und dem Geruch des Scotchs.

»Ich weiß, dass du nichts trinkst«, sagte Marcus schließlich mit seiner tiefen Stimme. »Aber Regeln gelten jetzt nicht mehr.«

Nick hob das Glas und nahm einen tiefen Schluck.

Marcus hielt ihm die Hand hin, öffnete sie und zeigte ihm zwei Xanax.

»Die sind von Sheila. Wenn dir Valium lieber ist, das hat sie auch.«

Nick schüttelte den Kopf und wischte den Gedanken beiseite, Schlaftabletten zu nehmen, um dem Albtraum ein vorübergehendes Ende zu setzen.

»Der Leichenbeschauer ist mit zwei Kriminalbeamten da. Sie sehen sich alles an. Sie sagen, das ganze Haus muss auf Fingerabdrücke untersucht und fotografiert werden, ehe sie …« Marcus fiel das Weitersprechen schwer. »Ehe sie sie wegbringen.«

Nick wusste das alles. Er wusste genau, wie die Stunde ablaufen würde. Er wusste, dass der schwarze Leichensack in fünf Minuten auf einer Bahre hinausgerollt würde, der weißhaarige Coroner vorneweg. Er kannte auch die Namen der Detectives, die bald durch die Tür kommen würden: Shannon und Dance. Und er wusste alles über Mitch Shuloff.

»Erinnerst du dich noch an Mitch?«, fragte Marcus, als könnte er Nicks Gedanken lesen. »Er ist letztes Jahr mal mit zum Eishockey gekommen.«

Nick erinnerte sich. Mitch Shuloff war ein aufdringlicher Kerl, der nie den Mund hielt und besessen davon war, immer recht zu haben – was zu allem Überfluss meist zutraf.

»Er ist der Beste. Außerdem wollte ich ihn sowieso anrufen – er hat beim Wetten einen Tausender an mich verloren. Nimm es ihm nicht übel, aber er ist ein Fan der Boston Red Sox.«

Genau das hatte Marcus schon einmal gesagt. Genau das hatte Nick in Erinnerung.

»Trotz allem ist er der beste Strafverteidiger von ganz New York«, fuhr Marcus fort. »Man braucht jemanden wie ihn, der den ganzen Mist durchschaut und an den Haaren herbeigezogene Anschuldigungen abschmettert.«

Nick erinnerte sich auch, dass Mitch nicht auf dem Polizeirevier erschienen war.

»Sein Problem ist allerdings, dass er nicht der Pünktlichste ist. Ich sollte ihn dir rüberschicken. Nicht dass es irgendein Problem geben wird, aber man sollte nie ohne Anwalt mit Bullen reden, die gerade ihren Privatschulabschluss geschafft haben und deren Horizont nicht über einen Bierabend bei American Idol hinausgeht.«

 Marcus ging zu seinem großen Schreibtisch mit ledernem Bezug und nahm das Telefon ab.

Während Nick beobachtete, wie Marcus wählte, fragte er sich, ob er dem Freund von seinem kleinen Nervenzusammenbruch erzählen sollte.

»Ehe du diesen Anruf machst …«, begann Nick.

Marcus hielt inne.

»Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll.« Wieder stockte Nick. »Ich … Ich muss herausfinden, wer es getan hat.«

Marcus legte den Hörer auf, kam um den Schreibtisch herum und lehnte sich dagegen. »Die Polizei macht das schon. Und dann wird der Dreckskerl zur Verantwortung gezogen.«

»Nein. Ich muss ihn daran hindern.«

»Woran hindern?«, fragte Marcus verwirrt.

»Ich muss ihn finden.«

Marcus starrte ihn an, suchte nach Worten. »Das sollen die Bullen tun. Wer immer es getan hat, ist verdammt gefährlich.«

»Julia ist nicht tot«, stieß Nick hervor.

Marcus räusperte sich. »Ich kann mit Worten nicht ausdrücken, wie leid es mir tut, Nick. Julia war … perfekt. Wirklich, wenn dieses Wort jemals eine Bedeutung hatte, dann bei ihr.«

Nick stellte das Scotchglas auf den Beistelltisch und fuhr sich mit den Händen langsam übers Gesicht. Er versuchte sich zu konzentrieren und fragte sich dabei, ob er am Rande eines psychotischen Abgrunds stand und zum nächsten Schritt ansetzte.

»Ich kann Julia retten«, sagte er schließlich.

Marcus saß geduldig da und beobachtete hilflos den geistigen Zusammenbruch seines besten Freundes.

»Ich kann es nicht erklären, Marcus. Ich weiß nicht wie, aber ich kann sie retten.«

Marcus’ Blick blieb auf Nick gerichtet. In seinen Augen stand Schmerz, doch sosehr er es auch versuchte – er konnte sich die Tiefe der Liebe, die Nick und Julia füreinander empfunden hatten, nicht einmal vorstellen. Bei einer solchen Liebe musste der Schmerz des Verlusts so groß sein, dass man den Blick für die Realität verlor.

»Was, wenn ich sagen würde, dass ich die Zukunft vorhersagen kann?«, fragte Nick.

»Ob die Yankees dieses Jahr den Titel holen? So was in der Art?« Marcus wusste nicht, worauf Nick hinauswollte.

Nick blickte in den Kamin und überlegte, wie er fortfahren sollte.

»Tut mir leid«, sagte Marcus. »Ich wollte nicht …«

»Schon gut.« Nick wandte sich dem Freund zu und schaute ihn ernst an. »Es klingt verrückt, aber hör mich an. Nicht mehr lange, und sie werden mich verhaften, aufs Revier schaffen und mich bearbeiten, damit ich etwas gestehe, was ich nicht getan habe. Und sie werden mir einen Revolver zeigen, den ich nie zuvor gesehen hatte.«

In Marcus’ Gesicht zuckte es nervös.

»Ich habe Julia nicht erschossen, Marcus. Ich liebe sie mehr als mein Leben. Ich brauche sie wie die Luft zum Atmen. Ich würde alles geben, um jetzt mit ihr tauschen zu können. Ich würde mein Leben für sie geben.«

»Ich weiß«, erwiderte Marcus. »Aber du bist durcheinander … das ist nur zu verständlich.« Er wandte sich um und nahm den Hörer ab. »Ich rufe jetzt Mitch an. Du solltest mit ihm reden.«

»Er wird nicht rechtzeitig hier sein.«

»Rechtzeitig wofür?«

»Sie werden mich verhaften, und zwar in …« Nick holte die goldene Uhr aus der Tasche und klappte den Deckel auf. »In dreizehn Minuten.« Nick schloss die Taschenuhr und steckte sie wieder weg.

»Das ist doch Unsinn!« Marcus schüttelte den Kopf.

 »Shannon und Dance.«

»Wie bitte?«

»So heißen die beiden Detectives, die zurzeit in meinem Haus sind. Sie werden die Verhaftung vornehmen.«

Marcus hatte die beiden Männer begrüßt, als sie vor dem Haus vorgefahren waren, hatte sich vorgestellt und sie zu Julias Leiche geführt. Die Detectives hatten ihm gesagt, dass es das Beste wäre, wenn er bei sich zu Hause bliebe, bis sie fertig wären. Dann hatten sie nach Nick gefragt und erklärt, sie müssten ihn sprechen, nachdem sie sich den Tatort angeschaut hätten. Dabei hatten sie Marcus ihre Namen genannt: Shannon und Dance.

»Du kennst sie?«, fragte Marcus verdutzt.

»Ich habe sie nie gesehen … besser gesagt, ich werde sie nie gesehen haben, bis sie hierherkommen und mir Handschellen anlegen.«

Marcus starrte ihn an. »Willst du mir sagen, du weißt, was passieren wird?«

»Ja«, antwortete Nick.

»Okay.« Marcus legte das Telefon weg und setzte sich in den Ledersessel neben Nick. Das Mitgefühl in seinen Augen war zehnmal stärker geworden. »Aber du wirst mir bestimmt nicht sagen können, wie die Männer angezogen sind, oder?«

»Dance trägt einen billigen blauen Blazer«, sagte Nick wie aus der Pistole geschossen. »Weißes Hemd, gelbbraune, zerknitterte Hose. Shannon ist ein Arschloch mit Anabolikaarmen, die beinahe sein schwarzes Hemd in Damengröße sprengen. Dazu trägt er eine ausgeblichene Jeans.«

Marcus legte den Kopf schief und holte tief Luft, als er zu verdauen versuchte, was Nick gesagt hatte. Er stand vom Stuhl auf, ging ans Fenster und blickte zwischen den Leisten der Holzläden zu Nicks Haus hinüber. Er hatte ungehinderte Sicht auf die Zufahrt, wo die Detectives ihre Wagen abgestellt hatten. Nick hätte ihre Ankunft beobachtet haben können, doch Marcus wollte seinem Freund in dessen derzeitigem Zustand nicht widersprechen.

»Hör zu«, sagte Nick, der Marcus’ Zweifel zu spüren schien. »Ich bin nicht verrückt. Die Yankees …«

»Wieso redest du jetzt über die Yankees?« Marcus runzelte die Stirn.

»Weil sie das Spiel, das gerade läuft, in der zweiten Hälfte gewinnen werden …« Nicks Stimme versiegte, als ihm klar wurde, wie albern er sich anhörte. Niedergeschlagen senkte er den Kopf.

Beide wussten eine Zeitlang nicht, was sie sagen sollten.

Dann blickte Nick auf, als wäre ihm eine Erkenntnis gekommen. »Sein Ringfinger … Dances rechter Ringfinger fehlt ab dem zweiten Knöchel.«

Marcus schwieg.

»Du weißt, dass ich das auf keinen Fall durchs Fenster erkennen konnte«, sagte Nick, um die Zweifel seines Freundes zu zerstreuen. »Und frag ihn, wie es ihm an der Küste von Jersey gefallen hat.«


 
Marcus verließ sein Haus durch die Seitentür und trat hinaus in die Spätsommersonne. Das Schicksal von Julia und Nick brach ihm beinahe das Herz. Julia hatte ihm näher gestanden als irgendjemand sonst in seinem Leben. Sie wusste, wie es in ihm aussah, und sie hatte ihm immer wieder geholfen, mit sich ins Reine zu kommen; sie wusste, dass er zu vorschnellen Schlüssen neigte; sie kannte seine Fehler und Schwächen und hatte ihn kein einziges Mal abgewiesen.

Zwischen Julia und Nick bestand eine tiefe Bindung – eine Liebe, wie Marcus sie nie erlebt hatte. Sie waren wie eine Person. Julia und Nick, Nick und Julia … nur selten sprachen die Leute im Singular von ihnen.

 Julia tot am Boden liegen zu sehen, brutal ermordet und grässlich verunstaltet, war ein Angriff auf alle Vernunft. Wer konnte eine solche Tat begehen? Wer konnte eine Unschuldige so bestialisch töten? Wer konnte einem Ehemann das Liebste auf Erden nehmen und ihm den Lebenswillen rauben? Nick hatte sich ins Leugnen der Wahrheit zurückgezogen und fantasierte davon, die Vergangenheit zu ändern und Julia zu retten. Es waren die Wahnvorstellungen eines aus dem Gleichgewicht geratenen Verstandes.

Marcus war in seiner Garage gewesen und hatte in eine Akte geblickt, die im Kofferraum seines Wagens lag, als er den Schuss hörte. Die Schussdetonation ließ ihm einen eisigen Schauer über den Rücken laufen, denn das Geräusch war aus dem Haus der Quinns gekommen. So schnell er konnte, rannte Marcus los, stürmte durch die offene Garagentür zur Flurtür. Und dort sah er Julia verrenkt auf der hinteren Treppe liegen … ein albtraumhafter Anblick, denn ihr fehlte das halbe Gesicht. Marcus musste all seine Kraft aufbieten, um seinen Magen unter Kontrolle zu halten, während Schock und Bestürzung ihn überfielen. Als er sich endlich Julias Leiche genähert hatte, hatte er Nick neben der Toten auf dem Boden sitzen und ihre Hand streicheln sehen wie ein Kind, das die schreckliche Wirklichkeit des Todes nicht begreifen kann.

Marcus überquerte den weiten Rasen seines Hauses, als er nun zu Nick hinüberging. Diesmal gab es keinen Grund zur Eile. Nichts würde Julia zurückbringen.

Der Kastenwagen des Leichenbeschauers und zwei zivile Polizeifahrzeuge, ein Taurus und ein Mustang, standen in der Zufahrt. Normalerweise hätte ein Mord in einer Stadt, in der seit fünfundzwanzig Jahren niemand mehr umgebracht worden war, die gesamte Polizei mobilisiert, doch der Großteil der Beamten – Streifenpolizisten, Innendienstler, Schreibkräfte – befanden sich an der Absturzstelle. Jeder Feuerwehrmann, jeder Rettungssanitäter und jeder Arzt aus der Gegend war dort. In Byram Hills hatte es noch nie einen Flugzeugabsturz gegeben, im ganzen Bezirk nicht, doch die wohlhabende Gemeinde reagierte, als wäre sie auf Katastrophen spezialisiert. Jeder, der körperlich dazu imstande war, unterstützte das Nationale Amt für Transportsicherheit nach besten Kräften. Ob es darum ging, die Angehörigen der Opfer zu betreuen, nach Trümmern oder Leichenteilen zu suchen oder sich um verwaltungstechnische Details zu kümmern – sämtliche Bürger von Byram Hills halfen tatkräftig, der Katastrophe zu begegnen, die sich nur drei Meilen von ihrem Ort entfernt ereignet hatte. Deshalb waren nur zwei Kriminalbeamte verfügbar, die sich mit Julias Tod befassen konnten.


 
Das Eigenheim von Nick und Julia stand auf einem Grundstück von gut einem Hektar Größe – einem der letzten, die nicht vor dem Verkauf aufgeteilt worden waren. Das Haus stammte aus den Neunzigerjahren des 19. Jahrhunderts und hatte 1927, 1997 und 2007 Anbauten erhalten. Das frühere Haupthaus, das einst das weite Ackerland beherrscht hatte, bot 450 Quadratmeter Wohnfläche. Jedes Zimmer war angefüllt mit Bildern und Erinnerungsstücken, die viel über den Charakter ihrer Besitzer verrieten, das Innere aber nicht zum Museum machten, wie man es bei manchen großen Häusern erlebte; es war ein Haus, das für eine Familie gebaut worden war, und Marcus war stets überzeugt davon gewesen, dass es bei den Quinns eines Tages von Kindern nur so wimmeln würde. Doch als er sich nun unter dem gelben Absperrband durchduckte, das die Auffahrt umschloss, die Seitentür öffnete und in die große weiße Küche trat, wurde ihm schmerzlich bewusst, dass niemals Kinderstimmen von diesen Wänden widerhallen würden.

Als Marcus das Esszimmer durchquerte, hörte er die Stimmen der Detectives im Eingangsbereich. Er blieb stehen, zögerte einen Augenblick und ging dann zurück, wie von einer unsichtbaren Kraft angezogen. Und obwohl er es nicht ertragen konnte, Julias Leiche noch einmal zu sehen, verrenkte er sich den Hals, um in den Flur zu spähen, in dem sie lag.

Der weißhaarige Gerichtsmediziner beugte sich gerade über den schwarzen Leichensack, zog den Reißverschluss hoch, nahm einen schwarzen Faserschreiber und notierte etwas auf den Anhänger des Sackes, was er ohne jede erkennbare Regung tat, als würde er einen Einkaufszettel schreiben. Die schwarzen Augenbrauen des Mannes standen in scharfem Kontrast zu seinem weißen Haar; sein gebeugter Rücken und die runzlige Haut ließ ihn keinen Tag jünger erscheinen als fünfundsiebzig. Marcus konnte sich gut vorstellen, dass an diesem Tag, an dem so viele Menschen in Byram Hills den Tod gefunden hatten, mehr als nur ein paar Ärzte und Gerichtsmediziner aus dem Ruhestand geholt worden waren.

Marcus konnte die Umrisse von Julias Körper unter dem schwarzen PVC ausmachen. Er stellte sich die morbide Frage, ob ein guter Leichenbestatter die Möglichkeit hätte, ihr Gesicht zu rekonstruieren, damit ihr Ehemann sie ein letztes Mal anschauen und sich endgültig von ihr verabschieden konnte. Der Boden war noch immer voller Blut, die Wand an der Treppe voller Knochenstückchen, durchsetzt mit verklebten Haaren. Doch wegen der immensen Arbeit an der Absturzstelle würde so bald niemand hierherkommen und die schrecklichen Spuren brutaler Gewalt gegen eine Unschuldige beseitigen.

Aber so sollte es nicht sein. Marcus beschloss, bei der Stadtverwaltung anzurufen, und wenn er schon dabei war, würde er sich auch um die Beerdigung kümmern, denn Nick war in seinem jetzigen Zustand nicht in der Lage dazu.

»He!« Die Stimme erschreckte Marcus und riss ihn zurück in die Gegenwart.

 »Was tun Sie hier?«, fragte Detective Shannon ungehalten. »Wir haben Ihnen doch gesagt, Sie sollen nebenan bleiben, bis wir hier fertig sind.«

»Ich dachte …« Marcus blickte sich um. »Ich dachte, Sie wären fertig.«

»Das hier ist ein Tatort, und wir sind bloß zu zweit. Wir müssen die gesamte Spurensicherung alleine erledigen. Wir sind erst fertig, wenn ich es sage.«

»Tut mir leid.« Marcus ging zur Küchentür zurück. »Ich bin nebenan.«

»Wo ist Quinn? Ich dachte, Sie wollten bei ihm bleiben. Scheiße.« Shannon hielt inne. Plötzlich wirkte er unruhig. »Gehört er zu den Typen, bei denen man damit rechnen muss, dass sie abhauen?«

»Abhauen? Wovor sollte er denn fliehen? Seine Frau ist tot. Er kann sich kaum auf den Beinen halten.«

Der Polizist hob einen Finger. »Wissen Sie was? Wo Sie schon hier sind, sollten wir uns mal unterhalten.«

Shannon winkte Marcus, ihm zu folgen, und ging ins Wohnzimmer, als gehöre ihm das Haus. »Es dauert nicht lange.«

Marcus nickte. »Wenn es hilft, den Kerl zu fangen, der das getan hat.« Er spürte, dass der andere Detective hinter ihm ins Zimmer kam, drehte sich aber nicht um.

»Sie haben vorhin gesagt, Sie hätten der Verstorbenen und ihrem Ehemann sehr nahegestanden. Wie nahe?«

»Sie waren meine besten Freunde. Beide«, antwortete Marcus.

»Hatte einer von ihnen eine Affäre?«

»Jetzt gehen Sie zu weit!« Marcus hätte den Mann für seine unverschämte Frage am liebsten erwürgt.

»Wir müssen diese Frage stellen«, sagte Dance. »Wo waren Sie, als Mrs. Quinn erschossen wurde?«

»Nebenan, in meiner Garage. Ich wollte gerade zum Abendessen fahren. Da habe ich den Knall gehört und bin hierhergerannt.«

»War jemand bei Ihnen?«

»Nein, aber ich hatte mit meiner Freundin telefoniert. Sie ist übers Wochenende in Kalifornien.«

»Welche Art von Beziehung bestand zwischen Nicholas Quinn und der Toten?«, fragte Shannon.

»Sie heißt Julia«, erwiderte Marcus und versuchte dabei, seine Wut im Zaum zu halten. »Sie standen einander so nahe, wie es zwischen zwei Menschen nur möglich ist. Ihr Liebe war stärker als an dem Tag, an dem sie geheiratet haben.«

»Neigte einer von ihnen zu Gefühlsausbrüchen?«

»Eigentlich nicht. Beide sind ziemlich ausgeglichen.« Marcus brachte es nicht über sich, in der Vergangenheitsform von Julia zu sprechen; er konnte sich nicht an den Gedanken gewöhnen, Julias Stimme nie wieder zu hören.

»Welchen Grund könnte er dann gehabt haben, sie zu töten? Fällt Ihnen etwas ein? Geld? Eifersucht?«

»Begreifen Sie denn nicht? Nick hat sie auf keinen Fall ermordet!«, stieß Marcus hervor. »Er würde niemals die Hand gegen Julia erheben und schon gar nicht auf sie schießen!«

»Meinen Sie? Es spricht aber einiges dagegen«, entgegnete Dance und hielt einen durchsichtigen Plastikbeutel hoch. Darin befand sich ein großer, reich verzierter Colt Peacemaker, der aussah, als gehörte er einem König oder einem Scheich. Auf beiden Seiten des Griffs befand sich eine Plakette aus gehämmertem Gold. Der Griff bestand aus Elfenbein, in das Edelsteine eingelegt waren. »Haben Sie eine Erklärung dafür, weshalb er solch eine kostbare Waffe im Kofferraum seines Wagens aufbewahrt?«

Marcus starrte verdutzt auf den Revolver. Seines Wissens besaß Nick keine solche Waffe. »Der kann unmöglich ihm gehören.«

 Wortlos legte Dance den Colt in eine Schachtel.

»Und wenn Sie noch so sehr zweifeln«, sagte Shannon, »ich glaube, er war es. Wenn er einen Anwalt hat, sollten Sie ihn jetzt gleich anrufen, denn ich werde mir den Kerl so gründlich vornehmen, bis er gesteht. Und glauben Sie mir – nach einem Tag wie heute habe ich keine Geduld mit Lügnern.«

Marcus starrte den bulligen Detective in dem zu engen schwarzen Hemd und der ausgeblichenen Jeans zornig an. Der Kerl war wirklich ein ausgemachtes Arschloch. Marcus warf einen Blick auf die rechte Hand des Mannes, sah dort aber fünf vollständige Finger.

»Sie sind Detective Dance, nicht wahr?«, fragte Marcus.

»Nein, ich bin Robert Shannon. Er ist Dance.« Shannon zeigte auf seinen Partner, während sie in die Küche gingen.

»Entschuldigen Sie«, sagte Marcus zu Dance, »haben wir uns nicht an der Küste von Jersey gesehen?«

Dance funkelte ihn warnend an. »Nein«, erwiderte er misstrauisch, »wieso?«

»Ich dachte nur.«

»Da haben Sie falsch gedacht. Ich hasse die Küste von Jersey.« Dance ging weiter in den Flur.

Marcus beobachtete, wie Dance zu Julias Leiche ging. Er zog die Latexhandschuhe aus, bückte sich und half Shannon und dem weißhaarigen Gerichtsmediziner, den schwarzen Sack auf die Bahre zu hieven.

Abermals musterte er Shannons und Dance’ Kleidung. Es war unfassbar, doch Nick hatte sie haargenau beschrieben. Aber Nick hatte die Männer womöglich durchs Fenster beobachtet und es dann vergessen. Wer konnte bei seinem Geisteszustand schon sagen, ob sein Verstand sich nicht in seine eigene Wirklichkeit zurückzog.

Marcus überkam ein Gefühl der Verwirrung, als er nun auf den schwarzen Leichensack starrte, in dem Julia lag. Aber das war es nicht, was ihm den Atem verschlug. Denn als sein Blick nun wieder auf Dance fiel, der soeben die Bahre durch die Tür schob, sodass seine rechte Hand sichtbar wurde, sah Marcus, dass der rechte Ringfinger verstümmelt war und ab dem zweiten Gelenk fehlte.


 
Nick hatte sich nicht gerührt. Noch immer saß er im Ledersofa in Marcus’ Bibliothek. Er hatte den Brief nun schon dreimal gelesen. Seine Gedanken waren überschwemmt von lähmender Verwirrung. Den Worten, die der Europäer niedergeschrieben hatte, schien jede Logik abzugehen. Genauso wenig konnte Nick sich erklären, wie er hierherkam. Er war nie abergläubisch gewesen und glaubte weder an das Übernatürliche noch an Mythen, Legenden oder UFOs. Er glaubte nicht an die Macht von Glückspfennigen, von Hasenpfoten, von Freitag dem 13. oder von zerbrochenen Spiegeln. Doch er wäre gerne zum Befürworter sämtlicher Omen, Glücksboten und Verschwörungstheorien geworden, hätten sie ihm Julia zurückgebracht.

Er erhob sich, ging in der Bibliothek auf und ab und betrachtete die Bilder auf den Regalen. In Marcus’ Vergangenheit gab es keine Beständigkeit, keine Stabilität. Mehrere Rahmen enthielten Bilder von Sheila; die meisten anderen waren leer, als wollte Marcus die Erinnerungen an seine früheren Ehefrauen auf diese Weise tilgen. Schließlich fiel Nicks Blick auf ein Foto von sich und Julia, Arm in Arm mit Marcus. Sie alle lächelten. Nick erinnerte sich nicht, welche aus der Schar der abgelegten Damen des Hauses das Bild geknipst hatte, und es interessierte ihn auch nicht besonders. Es war eine schöne Zeit gewesen, eine Zeit vor dem Mord, vor dem Flugzeugabsturz, in der sie ihr Glück als eine Gabe betrachtet hatten, die ihnen für immer gehören würde …

Nick riss den Blick vom Foto los, um nicht wieder von Trauer übermannt zu werden. Stattdessen schaute er aus dem Fenster – und schlagartig kehrte seine Furcht zurück, als er die Detectives Shannon und Dance sah, die aus seinem Haus kamen und dem weißhaarigen Gerichtsmediziner halfen, die Bahre mit dem schwarzen Leichensack, in dem Julia lag, in einen Kastenwagen zu laden.

Marcus stand in der Auffahrt, den Kopf gesenkt, während die Männer Julia ins Fahrzeug hoben. Als die Türen hinter ihr geschlossen wurden, wandten sich die beiden Detectives Marcus zu; dann schlenderten die drei Männer gemächlich über den weiten Rasen zwischen den Häusern.

Nick erwog, die Flucht zu ergreifen, doch er wusste nicht, wohin er sich wenden sollte, und befürchtete überdies, dass sein Schicksal dann besiegelt wäre, egal wie schnell oder wie weit er käme. Er zog die Taschenuhr hervor und öffnete sie: Sie zeigte fünf Minuten vor neun.

Erneut holte er den Brief aus der Tasche und las die unglaublichen Worte noch einmal, langsam, mit Bedacht, nahm sie in sich auf, als würde er die Bibel lesen.


 
Lieber Nick,


 
ich hoffe, von Ihrem Geist lichtet sich der Nebel, und doch hege

ich keinen Zweifel daran, dass nunmehr noch größere Unschlüssigkeit

an dessen Stelle tritt, sodass Sie sich fragen, was eigentlich

vorgeht, nachdem Sie sich an genau der Stelle wiederfanden, an

der Sie heute Abend um zwanzig Uhr gewesen sind.

Im Leben gibt es Augenblicke, die unfassbar sind und mit

denen man sich unmöglich abf inden kann: die Ungerechtigkeit

des Todes Unschuldiger, der Schmerz und die Ratlosigkeit, die

wir beim Verlust eines geliebten Menschen angesichts der Grausamkeit

des Schicksals empf inden. Nick konnte nicht anders – er blickte aus dem Fenster zum Wagen des Gerichtsmediziners, wo Julia in dem kalten schwarzen Leichensack lag.


 
Eine einzige selbstsüchtige Tat kann durch die Zeit widerhallen,

durch das Leben, und einen Fremden seiner Existenz berauben.

Ein geliebter Mensch kann durch die Folgen eines Augenblicks

oder eines Ereignisses zu Tode kommen, von dem er vielleicht nie

etwas wusste oder das er nie verstehen konnte. Dennoch, wenn

dieser Augenblick nie geschehen wäre, wenn er zurückgenommen

werden könnte, dann könnten die Leben, die er berührt hat,

verändert werden, abgewandelt, und jenes verloren gegangene

Leben ließe sich retten.

Sie stehen nun in einem Zimmer, in einem Augenblick, der

ihrem Gedächtnis entrissen zu sein scheint, fühlen sich vielleicht

als Opfer von Zauberei oder einer göttlichen Einmischung, doch

ich versichere Ihnen, Sie sind keines von beiden.

Sie bef inden sich in genau dem Raum, in dem Sie an diesem

Abend um zwanzig Uhr gewesen sind, und durchleben die

Stunde erneut. Dieses Mal aber haben Sie die Freiheit zu tun,

was Sie wollen, sich nach links zu wenden, wo Sie zuvor nach

rechts gingen, Ja zu sagen, wo Sie zuvor verneint haben. Niemand

wird den Unterschied bemerken, noch wird jemand anders

dieses Phänomen erleben. Sie sind auf sich gestellt, den Gang der

Ereignisse zu beeinflussen, wie Sie es für richtig halten, um die

Zukunft abzuwandeln, die Sie erlebt haben.

Ihnen ist ein Geschenk zuteilgeworden, Nick: das Geschenk,

zwölf Stunden Ihres Lebens noch einmal zu durchleben.

Sie müssen jedoch sehr genau achtgeben, denn Ihre Zeit ist

begrenzt:

Zu jeder vollen Stunde, sobald der Minutenzeiger der goldenen

Uhr die XII erreicht, werden Sie um einhundertzwanzig Minuten in der Zeit zurückversetzt und erleben eine Stunde Ihres Lebens erneut.

Ein Schritt vor, zwei Schritte zurück.

Das wird zwölf Mal geschehen, nicht öfter und nicht seltener, sodass Sie am Ende nach heute Morgen zehn Uhr zurückgeführt wurden.

Während Sie in die vorherigen Stunden des Tages zurückversetzt werden, erhalten Sie die Gelegenheit, Ihre Frau zu f inden und zu retten.

Ich werde Sie nicht mit Erklärungen und technischen Einzelheiten langweilen; es soll genügen, wenn Sie wissen, dass Sie beim Stundenschlag an genau den Ort versetzt werden, wo Sie sich zwei Stunden zuvor befanden, woraufhin Sie die kommende Stunde neu erleben.

Aber seien Sie vorsichtig, denn jede Entscheidung zeitigt ganz wie im normalen Leben Folgen, die wir in dem Moment, in dem wir die Entscheidung fällen, nicht absehen können. Sie können Ihre Frau Julia retten, und Sie können Ihre Welt wieder ins Gleichgewicht bringen. Aber seien Sie gewarnt, es ist ein gefährlicher Weg, auf den Sie sich wagen, und Ihre Entscheidungen müssen wohlbedacht sein, wenn Sie nicht den Rest Ihrer Existenz und die Existenzen aller anderen Menschen aus dem Gleichgewicht bringen wollen.

Weshalb ausgerechnet Ihnen dieses Geschenk zuteilwird, was meine Identität angeht oder wie all dies geschehen kann, ist im Moment nicht wichtig. Doch seien Sie versichert, dass Sie alles erfahren werden, sobald die Zeit reif ist.


 
Ich wünsche Ihnen alles Gute. Tempus fugit.


 
Z.

 P. S.: Verwahren Sie diesen Brief und den Zeitmesser gut und

seien Sie gewarnt: Die Taschenuhr, die Sie mit sich führen,

dürfen Sie niemals verlieren, denn wenn das geschieht, oder

wenn sie zerstört wird, endet Ihre Reise rückwärts durch die Zeit,

und Sie unterliegen wieder der vorwärtsgewandten Existenz

aller Menschen. Dann wird Julias Rettung vor dem Tod zum

aussichtslosen Unterfangen.


 
Dann folgte ein seltsamer Nachsatz:


 
Φλιγητ 502 χρασηεδ ωιτη Κ ον βοαρδ, µαρψ ωασ

κιλλεδ βψ τηοσε ωηο ροββεδ µε ανδ στολε τηε φακε

µαηογανψ βοξ ιν αδδιτιον νοτε τηε ναση τηε οιυηε

ισιφυυ τοδελιϖερϖερδ τηε ωατχη, ∆ρεψφυσ ισ δεαδ,

νιχκ ισ βεινγ φραµεδ ανδ τηισ αλλ αοσιυφ σηφϕεϕ.

ακδϕφ σκφϕεοοιαηητ εηιοισφµ. ηαππενεδ βεχαυσε ι

νεϖερ δεστροψεδ τηε τιµε σδφκϕκεισιιφ ασδκλκσφ σφ

κσφ φιεϕϕαφ σκϕφ εκϕ φ σφκϕ εοιϕφ εκρϕ τηε τψουρ

φκϕδφ ε φκφϕ ειιϕφ σφιϕ φϕιφϕ εϕκαφϕ ϕκελκασδφ

δϕφκ φϕδ δϕδϕ δ ϕρ εϕ φ αδϕε φϕϕδ φ τϕεκϕφ σοιυωερ

ϕφϕσφ νε ϕδφϕ φ δπιεχε


 
Oft verwirft jemand, der vor dem Unmöglichen steht und dessen Zukunft dunkel ist, alle Vernunft und wendet sich dem Glauben zu, dem Gebet, dem Mystischen sogar, und redet sich ein, dass eine höhere Macht zu seinen Gunsten eingreifen wird. So geschieht es oft, wenn die Lage verzweifelt ist, ob es um Angelegenheiten des Herzens oder geschäftliche Dinge geht, oder im Krieg, wenn man dem Feind gegenübersteht. Ein Soldat, der zu Gott um den Sieg betet, bedenkt oft nicht, dass der Feind genauso um Errettung betet – und mit aller Wahrscheinlichkeit zum gleichen Gott. Wenn man eine Sternschnuppe sieht, wünscht man sich etwas, oder man wirft Münzen in einen Brunnen in der Hoffnung, dass es einem zum Lotteriegewinn verhilft. Es gibt viele solcher Rituale.

In ähnlicher Weise begann Nick, die Uhr in der Hand, an die Worte zu glauben, die ein Fremder ihm geschrieben hatte, obwohl er nicht einmal sagen konnte, in welcher Sprache der Nachsatz des Briefes verfasst war. Doch er war sicher, Julias Mörder aufhalten und sie retten zu können, wenn er nur entschlossen genug darum kämpfte. Und wenn er bis 21 Uhr aushielt, würde er wissen, ob diese Hoffnung nichtig und er dazu verurteilt war, die schreckliche Stunde im Verhörraum noch einmal zu durchleben. So albern, so undenkbar das klang – Nick hatte sonst nichts, woran er sich klammern konnte.

Plötzlich ein Ziel vor Augen, eilte er aus der Bibliothek und durch das marmorne zweigeschossige Foyer zur Haustür und legte den Sperrriegel vor; dann rannte er zu den Glastüren im Ess- und im Wohnzimmer und verschloss sie ebenfalls. Er sperrte die Seiten- und die Garagentür ab, eilte zurück in die Bibliothek und schloss die Mahagonitür, die er ebenfalls verriegelte. Er war dankbar, dass Marcus einen Sperrriegel an der Tür der Bibliothek angebracht hatte, was bei einer Innentür eher selten war – oder doch nicht, wenn man überlegte, dass in dem Raum ein Gérôme und zwei Norman Rockwells hingen.

Nick schaute erneut auf die Uhr: Es war zwei Minuten vor neun. Er hörte, wie sie kamen und gegen die verschlossene Haustür hämmerten.

Nick ging ans Erkerfenster und schloss die Läden, sodass es keine Möglichkeit mehr gab, in die Bibliothek zu blicken.

Mit lautem Krachen wurde die Haustür eingetreten und schlug mit einem ohrenbetäubenden Knall auf den Boden. Marcus’ empörte Stimme erfüllte das Marmorfoyer. Ohne Zweifel war er über den Schaden und die Situation verärgert.

 Es klopfte an der Bibliothekstür.

»Nick«, drang Marcus’ Stimme gedämpft herein, »ich bin’s. Ich habe Mitch angerufen. Er trifft uns im Polizeirevier. Aber die Detectives wollen, dass du sie begleitest … und zwar jetzt.«

Nick schwieg, starrte in den Raum und blickte auf die Uhr auf seinem Handteller. Es war eine Minute vor neun.

»Hör zu, ich stehe hinter dir«, sagte Marcus in drängendem Tonfall. »Ich gebe dir mein Wort, wir bringen das alles in Ordnung!«

Nick konzentrierte sich weiter auf die Uhr.

»Nick!«, rief Marcus durch die Tür. »Ich weiß nicht, was los ist, aber ich glaube dir! Ich glaube dir wirklich …«

»Das reicht jetzt«, unterbrach ihn Shannon. »Öffnen Sie auf der Stelle die Tür, Quinn!«

Nick saß da und starrte auf die Taschenuhr. Der Sekundenzeiger kroch in einem Tempo voran, das unfassbar langsam erschien. Dreißig Sekunden waren verstrichen, dreißig musste er noch warten.

»Nick, bitte, ich finde meine Schlüssel nicht, und diese beiden Typen haben schon meine Haustür zu Kleinholz verarbeitet.«

Nick starrte weiter auf die Uhr, als könnte sie ihn erlösen, als wäre sie heilig und würde die Geheimnisse des Jenseits offenbaren.

»Aus dem Weg, Bennett!«, brüllte Shannon. »Sie haben fünf Sekunden, Quinn!«

Und während Nick sich weiter auf die tickende Uhr konzentrierte, flog die Tür krachend auf, als Shannon mit einem kräftigen Tritt das Schloss aus den Angeln riss und das Mahagoni bersten ließ. Er hatte die Waffe gezogen und kam als Erster in den Raum. Dance, ebenfalls mit gezogener Pistole, folgte ihm dichtauf.

 »Auf den Boden!«, brüllte der Detective.

Nick steckte sich die Uhr in die Tasche, als Shannon ihn bei der Schulter packte und auf den persischen Teppich schleuderte.

»Verdammt noch mal«, brüllte Marcus und riss Shannon von Nick weg. »Lassen Sie ihn in Ruhe!«

Shannon fuhr herum und schmetterte Marcus die Faust ans Kinn. Ohne sich von dem Treffer beeindrucken zu lassen, schlug Marcus zurück und legte die ganze Wucht seiner zweihundertzwanzig Pfund in den Schlag. Seine Faust traf Shannons Nase und zerquetschte sie zu blutigem Brei.

Nick achtete gar nicht auf die Männer. Er blendete alles aus, konzentrierte sich ganz auf die Uhr in seiner Tasche, während er stumm die Sekunden herunterzählte.

Drei …

Zwei …

Eins …

 

 

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Diesmal fand Nick sich erheblich schneller zurecht. Er wusste, es lag daran, dass er das Phänomen akzeptierte, obwohl es ein Ding der Unmöglichkeit war. Erneut hatte er den metallischen Geschmack im Mund – wenn auch schwächer –, und von seiner Haut stieg wieder die bittere Kälte auf, doch alles in allem war er in guter Verfassung.

Er saß vor Marcus’ Haus auf der Treppe. Die Vordertür hinter ihm war unversehrt und stand an diesem warmen Sommerabend weit offen. Marcus trat hindurch, überquerte die Veranda und setzte sich neben Nick. Die Farbe war aus seinem Gesicht gewichen, und er zitterte.

»Die Bullen kommen.« Marcus bekam die Worte kaum über die Lippen. »Aber wegen des Flugzeugabsturzes können sie nur zwei Mann entbehren, alle anderen sind an der Absturzstelle. Sie sagten, wir sollen nichts anrühren. Und sie halten es für das Beste, wenn du bei mir bleibst.«

Nick nickte, den Blick auf das Haus auf der anderen Seite des Rasens gerichtet, in dem Julias Leiche lag.

Er griff in die Tasche, holte die goldene Uhr hervor und klappte sie auf. Obwohl er damit gerechnet hatte, versetzte es ihm einen Schock, als er sah, dass sie wirklich und wahrhaftig zwei Minuten nach neunzehn Uhr anzeigte – zwei Stunden vor dem Moment, in dem er die Sekunden bis einundzwanzig Uhr heruntergezählt hatte. Die Polizisten waren nicht im Haus, denn sie hatten den Tatort noch gar nicht erreicht. Marcus hatte gerade erst Julias Leiche gesehen und war von ihrem grauenhaften Tod bis ins Mark erschüttert.

Nick begriff, dass er sich zwar erinnerte, was gerade geschehen war, wobei es jedoch in der Zukunft lag. Marcus wusste noch gar nichts von Nicks Verhaftung; er kannte weder die Namen der Kriminalbeamten, noch ahnte er, welches Schicksal den Türen seines Hauses bevorstand.

Für Nick kristallisierten sich allmählich die Regeln des Spiels heraus: Während dieser Tortur ergab sich nur für ihn ein zeitlicher Zusammenhang, für niemanden sonst. Er war auf sich allein gestellt und musste bis zu jeder vollen Stunde sein Ziel erreichen, ehe er dorthin zurückversetzt wurde, wo er sich zwei Stunden zuvor befunden hatte. Dabei verlor er jede Hilfe und jede Unterstützung, die ihm in der vergangenen Stunde möglicherweise zuteilgeworden war.

Er war froh, dass Freitag war, denn an Freitagen arbeitete er stets zu Hause, und er hatte den ganzen Tag am Schreibtisch gesessen, um die Analyse seiner Geschäftsreise noch vor dem Wochenende fertigzustellen. Nicht einmal zum Mittagessen war er weggegangen – ein glücklicher Zufall, weil er damit sicher wusste, dass jeder Zeitsprung ihn nach Hause zurückbrachte. Auf diese Weise lenkte ihn nichts von der Untersuchung des Mordes und der Rettung Julias ab.

Nick schloss die Taschenuhr, steckte sie weg, löste sich aus seinen Gedanken und stand auf.

»Wo willst du hin?«, fragte Marcus.

Nick starrte auf sein Haus. »Ich muss da rein.«

»Du willst zurück?«, fragte Marcus entsetzt. »Ich glaube, das ist keine gute Idee.«

»Das glaube ich auch«, sagte Nick, »aber ich muss herausfinden, was passiert ist, bevor die Polizei überall herumschnüffelt.«

»Aber wir sollen nichts anrühren.«

»Meine Frau ist tot, Marcus. Ich brauche Antworten. Ich muss wissen, wer es getan hat. Es ist mein Haus, und ich kann hinein, wann ich will.«

Marcus nickte widerstrebend. »Also gut. Ich komme mit.«

Nick schüttelte den Kopf. »Nein. Das muss ich allein tun.«


 
Nick hatte den Großteil der letzten Stunde – oder der übernächsten Stunde, wenn er es genau bedachte – darauf verwendet, Marcus seine Lage zu verdeutlichen; dann hatte er ihn als Beweis für seine hellseherischen Fähigkeiten zu Dance geschickt. Wenn Nick von Marcus oder jemand anderem Hilfe erhalten wollte, musste er einen Weg finden, den Betreffenden innerhalb von fünf Minuten von der Realität seines Zeitsprungs zu überzeugen, sonst verlor er zu viel von den zwölf Stunden, die er hatte, um Julia zu retten.

Es war absurd, verrückt, nicht zu begreifen.

Marcus blieb auf der Verandatreppe sitzen, während Nick bereits zum Haus ging. »Tu was du willst, aber sieh dir Julia nicht an!«, rief er ihm nach. »Das ist nicht mehr sie.«

Marcus’ Stimme verhallte, als Nick über den weiten Rasen stapfte, wobei er gegen seine widerstreitenden Gefühle ankämpfte. Ihm war etwas geschenkt worden, was er nicht verstand, und er wollte keine Zeit damit vergeuden, darüber nachzudenken. Eine innerliche Debatte darüber, wie es geschah und warum, konnte ein Leben lang dauern, und er hatte nicht einmal mehr zwölf Stunden.

Doch trotz des Hochgefühls, dass er eine zweite Chance erhielt – dass Julia eine zweite Chance erhielt –, fürchtete Nick sich vor dem, was er vorfinden würde.

 Obwohl er wusste, was er zu sehen bekam, müsste er Julia jetzt willentlich anschauen, egal, wie schwer es ihm fiel, und egal, wie sehr der Anblick ihm zusetzte. Er musste es tun, wenn er eine Hoffnung haben wollte, sie zu retten und herauszufinden, wer sie ermordet hatte. Um den Täter aufzuhalten, brauchte er jede noch so winzige Information, jeden Hinweis – und dazu gehörte auch das Wissen, wie Julia gestorben war.

Nick zwang sich, ihren Tod aus seinem Verstand zu verbannen. Schmerz und Trauer würden ihn nur daran hindern, der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Er klammerte sich an den Gedanken, dass er dies alles tat, um Julia vor ihrem Schicksal zu bewahren, und dass er die Vergangenheit veränderte, um Julias Zukunft zu retten.


 
Nick überquerte die Auffahrt zur Vorderseite seines weißen Farmhauses und betrat es durch die einhundertzehn Jahre alte Vordertür.

Im Eingangsflur war es dunkel. Wegen des Stromausfalls durch den Flugzeugabsturz brannte kein Licht. Nick öffnete den Garderobenschrank, nahm die übergroße Taschenlampe heraus und schaltete sie ein. Die Sonne stand zwar noch über dem Horizont, aber das späte Tageslicht wurde rasch schwächer und spendete nicht mehr die Helligkeit, die Nick brauchte.

Er hatte erwogen, sich wie Marcus einen Generator zu kaufen, hielt es aber für Verschwendung, zwanzigtausend Dollar auszugeben, nur weil vielleicht einmal im Jahr für eine Stunde der Strom ausfiel. Doch als er nun auf der Suche nach einem Hinweis auf das Motiv für die Ermordung Julias das Haus durchstreifte, hätte er das Doppelte für einen Lichtschalter bezahlt.


 
Während ihrer Ehe hatten Nick und Julia sich auf zwei Dinge konzentriert: auf ihre Karrieren und auf den Partner. Sie waren früh übereingekommen, einen Notgroschen beiseitezulegen und auf ein eigenes Haus hinzuarbeiten, sodass keine Hypothek sie belastete, wenn sie sich für Nachwuchs entschieden. Sie hatten alles durchgeplant, hatten Zeitabläufe festgelegt und ihr Leben ganz allgemein auf Papier festgehalten wie einen Spielplan für den Super Bowl. Ihre Ausgaben für Urlaub beschränkten sie auf ein Minimum; Reisen nach Europa, Asien und den Rest der Welt mussten warten. Soweit möglich, reisten sie mit dem Auto. Camping, Museumsbesuche und Nächte am Strand waren nicht nur die einfachsten und billigsten Urlaubsvergnügen, sie bereiteten ihnen auch die größte Freude. Beide wussten, dass ein echter Urlaub nicht in einer Ortsveränderung, sondern in einem Geisteswandel bestand. Solange sie zusammen waren, hatten sie in heimischen Gefilden genauso viel Spaß wie in Paris, Monaco oder an irgendeinem exotischen Urlaubsziel.

Deshalb waren Regale, Tische und Wände mit Fotos übersät, die sie beide beim Angeln in Maine zeigten, beim Surfen an der Küste von Huntington Beach, beim Wandern im Grand Canyon, beim Erklettern von Felsspitzen in Wyoming. Sie waren gerne im Freien, genossen die kleinen Freuden, die die Natur bot, kehrten jedes Mal mit erfrischtem Geist zurück und trieben ihre vielversprechenden Karrieren weiter voran.

Obwohl sie nur acht Jahre verheiratet waren, bestand ihre Beziehung schon doppelt so lange; nachdem sie sich im Alter von fünfzehn ineinander verliebt hatten, waren sie bereits auf der Highschool miteinander gegangen. Ihre Freunde und Eltern hatten sich damals köstlich amüsiert, dass sie sich ihrer gemeinsamen Zukunft so sicher waren. Doch das Gelächter war endgültig verstummt, als sie sich an jenem Tag Ende Mai in der Kirche von St. Patrick’s das Jawort gaben.

Sie hatten einander bei einem Schwimmturnier kennengelernt. Nick war der Star der Mannschaft und hatte in der zehnten Klasse schon ein halbes Dutzend Schul- und Bezirksrekorde sowohl im Langstreckenals auch im Kurzbahnschwimmen erzielt. Julia war Ersatzschwimmerin für die Staffel über 4 x 200 Meter. Da sie ihre Schwimmkarriere auf der Kurzbahn verbracht hatte, hatte sie sich nie auf die 200-Meter-Strecke vorbereitet, für die sie nun eingeteilt war. Julia war schrecklich nervös; deshalb schickte der Trainer sie zu Nick, dem jüngsten Kapitän der Schule, der ruhige Selbstsicherheit ausstrahlte, die auf alle in seiner Nähe abfärbte.

Als Julia sich setzte, lächelte Nick und sagte ihr, sie brauche sich keine Gedanken zu machen. Er erklärte ihr, der Schlüssel zum Erfolg sei das richtige Tempo und das Aufsparen der Energiereserven, damit man auf der letzten Bahn noch einmal zulegen könne.

Doch als Julia an der Reihe war und ins Wasser sprang, schoss sie wie von Furien gehetzt davon und hätte beinahe einen Lungenflügel hervorgewürgt, als sie sich über die letzte Bahn quälte. Sie hatte weder Nick noch jemandem sonst erzählt, dass sie seinen Ratschlag nie gehört hatte und dass keines seiner Worte bei ihr angekommen war, weil sie sich ganz und gar in seinen blauen Augen verloren hatte, die sie weitaus beeindruckender fand als die ausgeklügeltsten Schwimmstrategien.

Als sie als Letzte anschlug, wobei sie Sterne sah und um Atem rang, hatte Nick dagestanden und ihr mit ausgestreckter Hand aus dem Becken geholfen. Fast ohne Anstrengung zog er sie aus dem Wasser, legte ihr ein Handtuch um und führte sie zu den Sitzbänken. Als der Abend in die Nacht überging, saßen sie während der dreistündigen Busfahrt nach Hause nebeneinander, in die angeregteste Unterhaltung vertieft, die sie beide bis dahin erlebt hatten.

Nick fragte Julia kein einziges Mal, weshalb sie seinen Rat nicht beherzigt habe; stattdessen lenkte er das Gespräch auf alle möglichen anderen Themen, nur nicht aufs Schwimmen.

 Beide schätzten Camping; beide mochten Led Zeppelin; beide waren Fans der New York Giants und der Detroit Red Wings. Außerdem teilten sie eine Vorliebe für Spareribs und Brathähnchen, Kekse und Coca Cola. Julia tanzte gerne, was Nick eher fremd war; er selbst hegte eine Leidenschaft für das Skifahren, worüber Julia unbedingt mehr erfahren wollte.

Kurz gesagt, sie passten zusammen. Sie passten perfekt zusammen. Und als die Jahre verstrichen und sie getrennte Wege gingen – Julia studierte in Princeton, Nick am Boston College –, schwand ihre Liebe nicht, sondern wuchs, zuerst während der Studienzeit, dann mit jedem Jahr ihrer Ehe.

Das soll nicht heißen, dass sie keine Meinungsverschiedenheiten gehabt hätten. Obwohl Streit nur selten und in großen zeitlichen Abständen vorkam, waren ihre Auseinandersetzungen spektakulär, denn ihre Leidenschaft, recht zu behalten, kam beinahe der Leidenschaft für den anderen gleich. Doch die Meinungsverschiedenheiten, bei denen es stets um profane Dinge gegangen war – Roggen- oder Weißbrot? Rosen oder Tulpen? –, hielten niemals lange an und endeten stets mit leidenschaftlichen Stunden im Bett.


 
Nick blickte aus dem Fenster des Wohnzimmers auf die Spuren der Gartenparty in der vergangenen Woche: Liegestühle standen in wirrer Unordnung um das Schwimmbecken herum, Tische und Grill waren noch immer ein einziges Chaos, und die drei Müllsäcke hätte er eigentlich schon am letzten Sonntag an die Straße stellen sollen. Inmitten der ganzen Unordnung lag der Swimmingpool ruhig da, das Wasser glatt und ungestört – das genaue Gegenteil zu Nicks Gemütsverfassung.

Das Wohnzimmer war im gewohnten Zustand: sauber und aufgeräumt bis auf das Gemälde, das aufzuhängen er Julia versprochen hatte und das seit einem halben Jahr an der Wand lehnte; hinzu kam der Stapel ungelesener Zeitungen und Zeitschriften auf dem Sofa. Das Esszimmer sah aus wie immer: Der Tisch war ständig für eine Dinnerparty gedeckt, falls sich in letzter Sekunde etwas ergab.

Als Nick sich im Haus umsah, konnte er sich nicht vorstellen, dass Julia zufällig zum Mordopfer geworden war. Er hielt es für denkbar, dass ein Verbrecher die Gelegenheit genutzt hatte, von dem Chaos nach dem Flugzeugabsturz zu profitieren. Da sich alles auf die Absturzstelle konzentrierte, war die ganze Stadt abgelenkt, die Polizeikräfte weit verstreut. Doch die Zufälligkeit … irgendetwas musste noch fehlen, das er unbeachtet ließ, der Schlüssel zu Julias Tod, der auch der Schlüssel zu ihrer Rettung sein musste.

Nick betrachtete sein Zuhause mit neuen Augen, suchte nach allem, was ungewöhnlich war, nach irgendetwas, das nicht am richtigen Ort lag oder fehlte, nach irgendeinem Hinweis darauf, weshalb Julia ermordet worden sein könnte.

Er öffnete die Schiebetür zu seiner Bibliothek und leuchtete mit der Taschenlampe hinein. Das Bücherzimmer war viel kleiner als sein Gegenstück in Marcus’ Haus; es sah eher wie eine Bibliothek aus und war angefüllt mit Stücken aus ihrem gemeinsamen Leben. Sollte dieser Raum irgendwann einmal einen Atomschlag überstehen und fünfhundert Jahre später ausgegraben werden, könnte ein Archäologe daraus ein beeindruckend stimmiges Bild des Lebens von Nick und Julia Quinn erstellen. Ihre gemeinsame Geschichte wurde in dem verschlossenen Schrank voller Pokale und Medaillen für hervorragende Leistungen im Schwimmen, Eishockey und Lacrosse offengelegt, die auszustellen ihnen peinlich war, von denen sie sich aber auch nicht trennen wollten, weil beide eine nostalgische Ader besaßen.

Vielsagend waren auch die Bilder und Souvenirs auf den Regalbrettern, die Fotos von ihrem Abschlussball, ihrer Studienzeit und ihrer Hochzeit, auf denen sie völlig andere Frisuren hatten, aber das gleiche Lächeln. Dann waren da noch die drei Dutzend Aufnahmen von ihren Reisen und Familienfeiern. Außerdem gab es Bilder von Schneeballschlachten, Albernheiten in der Fotokabine des Jahrmarkts und mit eiskrembedeckten Gesichtern, die sie beide am natürlichsten zeigten.

Nick wandte sich seinem Mahagonischreibtisch zu, schob Briefe und Aktenorder beiseite und fand sein persönliches Mobiltelefon noch in der Ladestation. Er nahm es auf und steckte es in die Tasche. Er hatte sich angewöhnt, zwei Handys bei sich zu haben: eines für private Gespräche, das andere für Geschäftsanrufe, denn er wollte beide Welten voneinander getrennt halten. Da er zu Hause gearbeitet hatte, hatte er das persönliche Handy in der Ladestation gelassen und war nun dankbar dafür, denn die Polizei hatte ihm das Geschäftshandy zusammen mit Brieftasche und Armbanduhr weggenommen, als sie ihn unter Mordverdacht zum Revier gebracht hatten.

Nick kauerte sich hin, öffnete den Schrank hinter seinem Schreibtisch und leuchtete mit der Taschenlampe auf den kleinen grünen Safe hinter dem Bücherstapel. Er hatte keinen Kratzer und zeigte auch sonst keinerlei Anzeichen, dass er aufgebrochen worden war.

Schließlich verließ Nick die Bibliothek und stieg, den Lichtstrahl der Taschenlampe voranschickend, die Treppe hinunter in den Keller. Das noch nicht ausgebaute Souterrain war sein Lieblingsplatz im ganzen Haus. Im behelfsmäßigen Fitnessraum mit Laufband, Ellipsentrainer, Fahrrad und Gewichten hielten Julia und er nicht nur ihre Körper in Form, sondern auch ihren Verstand. Ein Fitnessraum, in dem man Stress abbauen konnte, ob an Punchingballs oder durch Gewichtheben, war der beste Ort für eine geistige Entgiftung. Der alte Garderobenspiegel, der an der Wand lehnte, warf Nicks Taschenlampenlicht zurück; es brach sich im Raum, auf der Ballettstange an einer Wand und den Turnmatten auf dem Boden. Noch immer konnte er den leichten Duft von Julias Parfüm nach ihrem letzten Work-out riechen.

Der Rest des großen Raums mit den Betonwänden sollte eines Tages für Freizeitzwecke genutzt werden – als Heimkino vielleicht –, aber bis dahin würden noch Jahre vergehen. Im Augenblick diente er als Lager für Christbaumschmuck, vergessene Hochzeitsgeschenke und unsortierten Krempel, der in Umzugkartons lagerte, die an den grauen Wänden gestapelt waren.

Nick verließ den Keller, stieg hinauf in den ersten Stock, ging rasch an dem Raum vorbei, der einmal das Kinderzimmer hatte werden sollen, sowie an drei weiteren unbenutzten Zimmern, und erreichte schließlich ihr Schlafzimmer.

In dem Raum mit den cremeweiß angestrichenen Wänden und der vertäfelten Decke stand ein riesiges Himmelbett vor einem Kamin, der wie jeden Sommer mit Schnittblumen verschönt war. Nick durchsuchte Julias Nachttisch, fand in den kleinen Schubladen aber nichts Ungewöhnliches – nichts, was eilig hineingestopft worden war. Ihm fiel auch nicht auf, dass irgendetwas fehlte. Er schaute in ihren begehbaren Kleiderschrank und überprüfte seinen eigenen Schrank und das Geheimfach, das sich hinter seinem Krawattenhalter verbarg, doch auch dort schien nichts angerührt worden zu sein. Ihre beiden Bäder sahen noch genauso aus, wie sie am Morgen verlassen worden waren; Handtücher, Zahnbürsten und Toilettenartikel waren an Ort und Stelle. Im ungenutzten oberen Wohnzimmer lag ein dünner Schleier aus Staub und Pollen von den Blumen im Kamin, aber nichts wies auf einen Eindringling hin. Die Glastüren, die auf die kleine Terrasse führten, waren verschlossen, so wie am Morgen, als Julia Nick mit dem Frühstück überrascht hatte.

Während Nick von Zimmer zu Zimmer ging und nach einem Hinweis auf Julias Mörder suchte, wurde ihm klar, dass sie das perfekte Haus gebaut hatten – und doch fehlte das Wichtigste. Sie hatten sich ganz ihren Berufen gewidmet, dem Geldverdienen, hatten sich schöne Dinge angeschafft, doch das Wichtigste hatten sie versäumt: Obwohl sie einander liebten, gab es keine Kinder, die das Haus, das sie geschaffen hatten, mit Leben füllten. Während die überzähligen Zimmer auf Bewohner warteten, hatte es immer geheißen: Noch ein Jahr, dann haben wir’s geschafft. Nun erkannte Nick, dass sie immer darauf gehofft hatten, nur noch ein Jahr zu brauchen. Nun würden sie dieses Ziel nie mehr erreichen. All das Planen, all das Geld … Sie hatten das Wichtigste im Leben aufgeschoben, und jetzt war es zu spät.

Es sei denn, er fand irgendeinen Fingerzeig, was den Mord an Julia betraf, und verhinderte die Tat, noch ehe sie geschehen konnte.

Nick warf einen letzten Blick in das Schlafzimmer – praktisch der einzige Raum im Obergeschoss, den sie benutzten. Nichts war durchwühlt, nichts war angerührt. Wenn Julias Mörder irgendetwas gesucht hatte, war es sicher nicht hier oben.

Nick stieg wieder die Treppe hinunter, öffnete die Vordertür und ging hindurch. Er kam an der offenen Garagentür vorbei, warf einen kurzen Blick auf seinen 8-Zylinder-Audi und betrat die Zufahrt. Julias Lexus-Geländewagen stand dort, wo sie ihn zuletzt abgestellt hatte. Die Türen waren unverschlossen, der Schlüssel steckte, was eindeutig erkennen ließ, dass es keine Zufallstat gewesen war, kein Raub aus Gelegenheit. Nicht einmal der dümmste Räuber hätte ein Siebzigtausenddollar-Fahrzeug stehen lassen, in dem der Schlüssel steckte.

Nick ging ans Ende der gepflasterten Zufahrt, trat zwischen die beiden Steinpfeiler, die die Einfahrt säumten, und blickte auf die Reifenspuren, die Julias Mörder hinterlassen hatte, als er eilig weggefahren war. Die Breite der Gummispuren verriet nichts; Nick konnte ihnen nicht den Fahrzeugtyp entnehmen, erfuhr nichts über den Fahrer und erlebte keinen großen Aha-Moment wie der Held einer Fernsehserie.

Er schaute sich in der Gasse neben dem Haus und auf der Verbindungsstraße um. Sie lebten in einem der teuersten Wohngebiete von Byram Hills; hier standen viele Mini-Landhäuser, jedes im Wert von einer Million Dollar und mehr, jedes mit perfektem Rasen und Garten. Alles wurde von einer Heerschar von Gärtnern gepflegt – bis auf Nicks und Julias Haus. Nick mähte das Gras selbst, pflanzte eigenhändig Blumen und kümmerte sich um den Garten. Das war eines seiner Hobbys. Ihr Haus hatte Julia schon als Kind gefallen, wenn sie mit dem Fahrrad daran vorbeigefahren war; sie hatte sich immer gewünscht, eines Tages darin zu wohnen. Nick hatte ihr geholfen, diesen Wunsch Wirklichkeit werden zu lassen.

Er ging die Auffahrt wieder hinauf, durchquerte die Garage und betrachtete seinen schmutzigen Wagen. Vom Autowaschen hielt er nicht viel. Ihm war es lieber, wenn der Audi ein bisschen verdreckt war, weil er in der Großstadt dann neben den funkelnden BMWs und Mercedes nicht auffiel, sondern in der Menge unterging und von Autodieben übersehen wurde. Zu Julias großem Ärger hielt er sich an diese Gewohnheit, und da seine Vorsichtsmaßnahme sich bisher als wirksam erwiesen hatte, würde er sie nicht ändern, nur weil …

Abrupt blieb er stehen.

In der Schicht aus Staub und Pollen auf dem dunkelblauen Blech der Kofferraumhaube ließ sich der Handabdruck leicht erkennen. Es war offensichtlich, dass er weder von ihm noch von Julia stammte. Die Hand, die diesen Abdruck hinterlassen hatte, war größer und kräftiger und gehörte nicht hierher.

Nick zog seinen Autoschlüssel aus der Tasche und entriegelte per Knopfdruck den Kofferraum. Als der Deckel sich hob, erblickte er darunter das übliche Chaos: den schwarzen Staubmantel, den er in Wyoming gekauft hatte, Starthilfekabel, einen Verbandkasten, zwei Abschleppseile für den Notfall. Nicks Eishockeyschlittschuhe und die Knie- und Ellbogenschützer der Altherrenmannschaft, in der Marcus und er spielten, lagen neben zwei Schachteln Golfbällen, einem Regenschirm und …

Nick schnappte nach Luft. Im Verhörraum des Polizeireviers von Byram Hills hatte er den Gegenstand zum ersten Mal gesehen. Dance hatte ihn vor Nick auf den Tisch gelegt und ihn darüber vernommen.

Nick blickte auf die Mordwaffe, den exotisch verzierten, uralten Colt Peacemaker.

Jetzt konnte kein Zweifel mehr bestehen. Nick hatte es bereits vorher gewusst, doch nun besaß er Gewissheit: Man hatte ihm den Mord in die Schuhe geschoben.

Nick starrte wie gebannt auf den Revolver. Er konnte ihn verstecken, doch die Waffe würde mit Sicherheit gefunden. Am liebsten hätte Nick sie gar nicht angerührt. Die Detectives hatten zwar behauptet, seine Fingerabdrücke seien darauf, doch er hielt es für einen Trick, der ihn zu einem Geständnis bewegen sollte, denn es gab weder genug Zeit noch ausreichend Polizeibeamte, um die Abdrücke zu untersuchen. Und Nick würde ihnen nicht die Genugtuung verschaffen, dass er seine Fingerabdrücke nun selbst auf den Revolver brachte.

Er nahm einen Lappen, wickelte ihn sich um die Hand und schloss den Kofferraum. Ob die Waffe gefunden wurde oder nicht, spielte keine Rolle: Wenn er eine Möglichkeit fand, Julia zu retten, gab es keinen Verdacht und keine Mordanklage; der Revolver war unerheblich. Und wenn er Julia nicht retten konnte, war es Nick ohnehin egal, was dann aus ihm wurde.

Nick wappnete sich für die nächsten fünf Minuten. Was er jetzt vorhatte, würde ihn bis ans Ende seiner Tage verfolgen. Er wollte sich Julias Leiche anschauen. Er fürchtete sich schrecklich vor dem, was er sehen würde.


 
Marcus saß auf den Verandastufen. Es brach ihm beinahe das Herz, als er zu Nicks Haus hinüberschaute und beobachtete, wie sein Freund auf der Zufahrt auf und ab ging, nachdem er mehr als eine halbe Stunde im Haus verbracht hatte. Offenbar strich Nick ziellos umher und schaute sich in der Umgebung um, als könnte er auf Julias Mörder treffen. Er machte den Eindruck, als jage er Gespenster.

In Nicks Augen hatte ein merkwürdiger Ausdruck gelegen, als Marcus sich neben ihn gesetzt hatte, nachdem die Polizei verständigt worden war. Obwohl seine Augen noch immer voller Trauer gewesen waren, hatte nicht mehr der Schmerz und die tiefe Verzweiflung darin gelegen, die Marcus gesehen hatte, als er den Freund neben Julias Leiche vorfand. Stattdessen hatte in Nicks Augen ein Ausdruck gestanden, der beinahe wie Hoffnung erschienen war, ja, wie ein Glücksgefühl, das ganz und gar nicht zu jemandem passte, dem die Frau, die er über alles liebte, auf brutale Weise geraubt worden war.

Für Marcus gab es nur eine Erklärung, weshalb der Schmerz aus Nicks Augen verschwunden war: Nick hatte sich in eine Wirklichkeit zurückgezogen, die gar nicht existierte.

Er hatte den Verstand verloren.


 
Nick trat durch die Seitentür der Garage und gelangte in den hinteren Flur. Weiß getünchtes Täfelholz bedeckte die Wände, während der Fußboden mit erdfarbenen spanischen Terrakottafliesen ausgelegt war. Im Flur gab es genügend Nischen für Schuhe sowie Haken für Mäntel und Schränke, die allesamt auf die Familie warteten, die er und Julia hatten gründen wollen. Sie hatten oft über die Größe dieser Familie diskutiert. Nick wollte zwei Jungen und ein Mädchen, während Julia ein Brady-Bunch-Gemisch von drei Jungen und drei Mädchen vorschwebte. Vor einem Jahr hatten sie einen Arzt aufgesucht und sich vergewissert, dass einer Schwangerschaft Julias nichts im Weg stand.

Als Nick um die Ecke bog, sah er Julias Schuh, der vom unteren Ende der Hintertreppe vorragte. Langsam ging er näher und ließ dabei den Blick an ihrem langen schlanken Bein hinauf zu dem schwarzen Rock gleiten, den sie am Morgen zur Arbeit angezogen hatte. Als er näher kam, schweifte sein Blick langsam ihren Körper hinauf über die weiße Bluse, die nun nicht mehr weiß war, sondern rot von Blut … o Gott, überall war Blut, so viel, als wäre sie in ein Blutgewitter geraten. Die Schultern waren karmesinrot; der Seidenstoff hatte sich mit dem Blut der Lache vollgesaugt, in der Julia lag. Nie hätte Nick geglaubt, dass der menschliche Körper so viel Blut enthielt.

Nicks Blick machte an Julias Schultern Halt, denn die unterste Treppenstufe verstellte ihm gnädig den Blick. Er vermied es sorgsam, in ihr zerstörtes Gesicht zu sehen. Er wusste, er könnte diesen Anblick nicht ertragen … nicht bei dem Menschen, der sein Leben erst vollständig gemacht hatte. Es war eine Schändung ihres Körpers und ihrer Seele. Nick wurde den Gedanken nicht los, dass man den Menschen selbst vernichtete, wenn man sein Gesicht zerstörte; dass man ihn seiner Identität beraubte, seines wahrhaftigen Ichs.

Und so hielt Nick den Kopf gesenkt und wandte den Blick von Julia ab, während er den Boden nach etwas absuchte, das ihm vielleicht einen Fingerzeig gab, wer diese entsetzliche Tat begangen hatte. Nick kämpfte darum, die Fassung zu wahren. Julias Handtasche lag geöffnet neben ihr auf den Fliesen; der Inhalt war über den Boden verstreut. Normalerweise hängte Julia die Tasche an einen Mantelhaken, sobald sie nach Hause kam. Sie verlegte öfters Dinge; deshalb hatte Nick ihr mit sanfter Überzeugung angewöhnt, die Handtasche jeden Tag an genau der gleichen Stelle zu lassen. Und das hatte sie nun schon ein Jahr lang getan, tagein und tagaus.

Nick zückte seinen Füllhalter und benutzte ihn, um die verstreut liegenden Sachen zu durchsuchen: Er fand Julias Eyeliner und ihren Lippenstift, die Speisekarte von David Chens chinesischem Restaurant, eine Geburtstagskarte, ihren laminierten Firmenausweis, einen Schlüsselbund und eine Zugangskarte zum Gebäude eines Mandanten.

Drei Gegenstände aber fehlten offensichtlich, obwohl sie nicht fehlten sollten, denn wie die meisten Geschäftsleute brauchte auch Julia ihre Brieftasche, ihr Handy und ihr PDA, ein Speichergerät nicht nur für E-Mails, Telefonnummern und Termine, sondern auch für Text-, Daten- und Bilddateien. Im Grunde war es ein kleiner transportabler Computer, eine elektronische Rettungsleine für das berufliche und private Leben.

Und dann geschah es, sosehr Nick es auch zu vermeiden suchte: Er blickte ihr ins Gesicht – oder in das, was von der Schönheit übrig war, auf die er immer so gern geschaut hatte, wenn Julia schlief; die Augen, in die er gesehen hatte, wenn er sie in den Armen hielt, diese wunderschönen blauen Augen. Nun aber war die linke Hälfte ihres Gesichts verschwunden, weggerissen von der Revolverkugel. Nick richtete den Blick auf die weiße Rückwand, wo Splitter ihres Schädels zusammen mit der Kugel in der geborstenen Vertäfelung steckten, während ein Sturzbach aus Blut darauf gespritzt war wie ein Wasserfall.

Übelkeit stieg ihm in die Kehle; alles drehte sich um ihn herum. Er würgte, doch am schlimmsten war der Schmerz in seinem Herzen. Ihm war, als würde es ihm aus der Brust gerissen. Er konnte nicht mehr atmen, konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.

 Dann stieg aus seinem tiefsten Innern ein Schrei auf, erfüllte das Zimmer, das Haus … Die ganze Welt sollte seinen Schmerz hören. Es war ein Schrei, der zum Himmel gerichtet war, an Gott, ein Schrei der Qual und der Wut auf das Böse, das Julia aus dem Leben gerissen hatte.

Was er als Nächstes tat, kostete Nick alle Kraft und Überwindung. Kein trauernder Mensch sollte jemals gezwungen werden, so etwas zu erleiden. Er griff in die Tasche, zog sein Handy hervor, klappte es auf und drückte auf die Kamerataste. Während ihm die Tränen über die Wangen liefen, hob er das Handy, hielt es mit beiden Händen, damit es nicht so sehr zitterte, richtete es auf Julias leblosen Körper und machte ein Foto.

Von Trauer überwältigt, sank er auf die Knie und lehnte sich gegen die Wand, am ganzen Körper zitternd. Nun stürmte alles auf ihn ein: die Unlösbarkeit der Aufgabe, die vor ihm lag, und die verrückte Hoffnung, die er in das bloße Versprechen eines Fremden und in eine lächerliche Taschenuhr setzte.

Aber Julia war tot. Zerfleischt und leblos lag sie vor ihm. Es gab keine Wunder, keinen Gott, der sie mit einem Wink ins Leben zurückholte. Vor ihm lag Julias Leiche, das war eine Tatsache, und er saß vor ihr und hatte versagt, war machtlos, hilflos und rannte dem Unmöglichen hinterher.

Nick wusste nicht, wie lange er dort saß, im Schmerz verloren, während ihm der Kopf schwirrte und er sich aufzuraffen versuchte, einen Grund zum Weiterleben zu finden, als plötzlich Marcus vor ihm stand. Nick blickte mit geröteten Augen zu ihm hoch und fragte sich verwirrt, wo sein Freund hergekommen war. Der streckte die Hand aus und half Nick auf, als …

Es traf ihn härter als ein Faustschlag ins Gesicht. Die Welt wurde schwarz, und die Luft in seiner Lunge schien sich in Eiswasser zu verwandeln. Um ihn herum breitete sich völlige Stille aus.

 Und plötzlich war Nick allein in der Küche, stand vor dem Kühlschrank, in der Hand eine kalte Coladose. Er konnte sich nicht erinnern, aufgestanden oder in die Küche gegangen zu sein. Er wusste nur noch, dass Marcus sich zu ihm vorgebeugt und ihm die Hand gereicht hatte.

Nick atmete keuchend. Seine Haut prickelte, und er schauderte, als er an Julias verwüstetes Gesicht dachte, an ihren toten Körper auf dem Fußboden.

Und plötzlich, wider alle Vernunft, kam sie ins Zimmer.

Sie schaute Nick an, sichtlich erstaunt über seine Fassungslosigkeit.

»Liebling?«, fragte sie leise. »Alles in Ordnung?«