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Nick stand in seiner Bibliothek. Sein Atem ging schwer, und er fuhr sich mit der Zunge durch den Mund, um den scheußlichen metallischen Geschmack zu vertreiben. Er war am ganzen Körper schweißnass und spürte die Kälte deshalb umso stärker. Seine Hose und sein Hemd waren vom Herumkriechen an der Unfallstelle schmutzig und zerrissen. Das Adrenalin, das noch immer in seinen Adern brodelte, ließ seine Hände zittern. Mit so festem Griff, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten, umkrampfte er noch immer die Pistole.

In der anderen Hand hielt er den Christopherus-Anhänger, der mit ihm in der Zeit zurückgesprungen war. Nick hob ihn hoch, musterte die zerkratzte Oberfläche und las den Sinnspruch auf der Rückseite, der ihm seine Ironie geradezu ins Gesicht schrie:


 
Wunder gibt es wirklich


 
Flüchtig überlegte er, was aus Dance’ Pistole geworden war, die er bei seinem ersten Sprung in der Hand gehalten hatte. Er musste die Waffe mit in die Vergangenheit genommen haben, in Marcus’ Haus.

Doch als er zu sich gekommen war, hielt er die Waffe nicht mehr in der Hand und hatte auch nicht mehr daran gedacht. Vielleicht hatte er sie in seiner Verwirrung nach dem Zeitsprung irgendwo abgelegt und vergessen.

Ein Gefühl des Versagens überfiel Nick, als ihm klar wurde, wie nahe er der Lösung gekommen war. Er hatte Julias Mörder im wahrsten Sinne des Wortes in der Hand gehabt, doch durch sein Zögern war der Mann entkommen. Nick hatte sein Gesicht nicht gesehen und deshalb nicht erfahren, wer der Killer war.

Immerhin, überlegte Nick, als er wieder das silberne Medaillon betrachtete, war ihm dieser Anhänger vom Mörder geblieben. Vor allem erinnerte er sich an das Nummernschild des Impala: Z8JP9.

Nick blickte an sich hinunter, betrachtete seine Kleidung; dann betastete er sein Gesicht, das voller Prellungen und Schürfwunden war. Er verließ die Bibliothek und eilte durch Wohnzimmer und Foyer die Treppe hinauf. Julia durfte ihn so nicht sehen.

»Nick?«, rief sie aus der Küche. »Bist du mit der Arbeit schon fertig?«

»Nein, ich … äh, ich muss nur schnell duschen«, rief er, während er seine Flucht fortsetzte, glücklich, Julias Stimme noch einmal hören zu dürfen.

»Warte! Ich habe dich den ganzen Tag noch nicht gesehen!«

Ohne ihr eine Antwort zu geben, verschwand Nick im Bad und schloss die Tür hinter sich. Rasch streifte er die Kleidung ab und drehte das Wasser auf; zum Glück war heißes Wasser im Tank gewesen, ehe der Strom ausfiel. Er öffnete die Jalousien, damit mehr Licht ins Bad fiel, und schaute aus dem Fenster. Aller Logik zum Trotz entdeckte er Julias Lexus, mit dem er den blauen Chevy verfolgt und gerammt hatte, wobei die Fahrzeugfront zerstört worden war. Doch hier stand der Wagen auf der Auffahrt, und der glänzende schwarze Lack zeigte nicht den geringsten Kratzer.

Leider galt das nicht für ihn, erkannte Nick, als er sich umdrehte und in den Spiegel blickte. Über der linken Augenbraue hatte er zwei kleine Abschürfungen, verursacht vom Airbag, sowie einen Schnitt auf der rechten Wange. Kratzer und blaue Flecken, Erde und Schmutz verliehen ihm ein Aussehen, als wäre er gerade von einem Schlachtfeld entkommen, und genau so fühlte er sich auch.

Er versteckte die Pistole unter einem Stapel dunkelblauer Handtücher und stellte sich unter die Dusche. Als das heiße Wasser ihm auf die Haut prasselte, bemerkte er mit einem Mal, wie viele kleine Wunden er davongetragen hatte. Bei keinem seiner Eishockeymatches war er trotz der Bodychecks und der harten Zweikämpfe so übel zugerichtet worden.

Nick seifte sich ein, spülte sich rasch ab und kam wieder aus der Dusche, ehe zwei Minuten vergangen waren. Ihm war klar, dass er im wahrsten Sinne des Wortes keine Zeit zu verschwenden hatte; ihm blieben nur noch acht Stunden, um eine Möglichkeit zu finden, Julias Mörder aufzuhalten, und da gab es nur einen Weg: Er musste herausfinden, warum der Killer es überhaupt auf sie abgesehen hatte.

»Was ist denn das?« Julia stand in der offenen Tür und zeigte auf die blutbefleckten, verschmutzten Kleidungsstücke am Boden.

Nick schlang sich ein weißes Badetuch um die Hüften.

»Meine Güte, was ist denn mit dir passiert?«, fragte sie, als sie die Schürfwunden und den Schnitt auf seiner Wange sah.

»Nicht der Rede wert«, versuchte Nick abzuwiegeln.

»Nicht der Rede wert? Dein Gesicht erzählt aber eine ganz andere Geschichte.«

»Na ja … ich hatte einen kleinen Unfall.«

»Einen Unfall? Mit dem Wagen?«

Nick wusste nicht, was er antworten sollte, als Julia aus dem Fenster auf ihren Lexus schaute. Das Leben lief rückwärts, und alles kehrte zeitlich in den Ausgangszustand zurück, doch der Schmerz, den er bei jeder Bewegung spürte, erinnerte Nick daran, dass er die große Ausnahme bildete.

»Ich habe angehalten, um jemandem zu helfen, der seinen Wagen in einen Graben gefahren hatte. Dabei bin ich ausgerutscht.«

Julia blickte ihn durchdringend an. Nick wusste, sie glaubte ihm kein Wort.

Rasch ging er an ihr vorbei zu seinem Kleiderschrank. »Wieso warst du nicht in dem Flugzeug?«, fragte er. »Erzähl es mir noch mal.«

»Lenk nicht vom Thema ab.«

Nick warf sein Handtuch ab und zog eine Unterhose und eine Jeans über. Zu seinem Erstaunen fand er seine Brieftasche auf dem Toilettentisch. Um neun Uhr abends hatte die Polizei sie ihm abgenommen, doch jetzt, vier Stunden früher, lag sie hier, wo sie den größten Teil des Tages gelegen hatte, bis er sie sich gegen halb sechs nahm, als er eine Kreditkartennummer benötigte. Er schüttelte das eigentümliche Gefühl des Déjà-vu ab und schaute Julia mit seiner auf richtigsten Miene an. »Julia, ich muss wissen, wieso du aus der Maschine gestiegen bist.«

Julia blickte ihn seltsam an. Als sie schließlich antwortete, war ihre Stimme leise und bedrückt. »Ich sollte zu einem Meeting nach Boston. Ich saß schon auf meinem Platz und habe mich mit einer netten alten Dame unterhalten …« Julia stockte, als ihre Stimme schwankte. »Sie hieß Katherine und wollte ihren kranken Mann besuchen. Sie hat es zwar nicht gesagt, aber ich glaube, er lag im Sterben. Trotz dieser Belastung, trotz ihrer Trauer hat sie sich mit ehrlichem Interesse erkundigt, wie es mir geht …«

Julia verstummte. Tränen liefen ihr über die Wangen. Nick berührte sie sanft im Gesicht, strich ihr über den Scheitel und zog sie in seine Arme.

 »Die vielen Leute im Flugzeug …«, sagte Julia schluchzend. »Sie hatten niemandem etwas getan. Sie wollten zu Freunden, Familienangehörigen, Geschäftspartnern … keiner von ihnen hat sich vorgestellt, dass sie alle ein paar Minuten später …« Sie verstummte.

»Julia«, sagte Nick sanft, um sie in die Gegenwart zurückzuholen. »Warum bist du aus dem Flugzeug gestiegen?«

»Es gab einen Einbruch.« Sie hob den Blick, schaute ihn an.

»Einen Einbruch? Was für einen Einbruch?«

Sie löste sich von Nick, ging ins Bad und kam mit einem Papiertaschentuch wieder, mit dem sie sich die Augen abtupfte.

»Du kennst doch das Anwesen an der Maple Avenue, das Washington House. Es gehört Shamus Hennicot, einem unserer Mandanten. Es ist seit drei Generationen im Besitz der Familie. Shamus ist mindestens neunzig; du kannst dir also vorstellen, dass das Haus ziemlich alt ist …«

»Ich kenne das Haus«, sagte Nick ungeduldig.

»Es ist mehr als nur ein Überbleibsel aus einem anderen Zeitalter. Das Innere der Villa wurde modernisiert und mit Beton und Stahl verstärkt. Shamus wohnt zwar dort und hat dort auch sein Büro, aber es gibt außerdem große Lager- und Ausstellungsräume im Erdgeschoss.«

»Und was wird dort gelagert?«

»Die Hennicots sind seit 1886 Mandanten von Aitkens, Lerner und Isles. Shamus’ Großvater, Ian Hennicot, war ein reicher irischer Landbaron und Whiskeyfabrikant. Außerdem handelte er mit Antiquitäten. Er besaß eine Sammlung exotischer Waffen aus der ganzen Welt … juwelenbesetzte Dolche von Sri Lanka, mit Brillanten verzierte Krummsäbel aus der Türkei, Katanas aus der japanischen Feudalzeit, chinesische Lanzen, englische und spanische Schwerter aus der Ritterzeit. Außerdem hatte er eine Sammlung von Pistolen und Gewehren mit wundervollen Gravuren. Shamus’ Vater, Stephan Francis Hennicot, hatte einen etwas traditionelleren Sammlergeschmack: Malerei und Bildhauerkunst, Schmuck und Skulpturen …«

»Und Shamus?«, fragte Nick.

»Nun, er legt eine gewisse Großzügigkeit an den Tag. Er verleiht einzelne Exponate aus seinen Sammlungen an Museen auf der ganzen Welt, aber er hat sich stets geweigert, auch nur ein einziges Stück zu verkaufen. Du weißt ja, dass ich vor ein paar Jahren mit Shamus Hennicots Geschäftsangelegenheiten betraut wurde. Außerdem bin ich seine Ansprechpartnerin in Notfällen, und dazu gehört, dass ich jederzeit kontaktiert werden kann, wenn im Haus auf der Maple Avenue die Alarmanlage anspricht.«

»Also wurdest du angepiept, während du auf den Abflug gewartet hast?«, fragte Nick.

»Es ist schon ein bisschen mehr als bloß ein Anpiepen«, entgegnete Julia lächelnd. »Aber genau so war es. Ich bekam eine SMS.«

»Was wurde gestohlen?«

»Ein Samtbeutel mit mehr als zweihundert Brillanten, vier goldene Schwerter, zwei silberne Degen, drei Säbel, fünf juwelenbesetzte Dolche, drei mit Gold eingelegte Pistolen mitsamt Munition aus Silber. Alles in allem mehr als fünfundzwanzig Millionen Dollar wert.«

Nick horchte auf. Er war überzeugt, dass Julias bevorstehender Tod mit dem zusammenhing, was sie ihm nun berichten würde.

»Was hast du getan, nachdem du aus dem Flugzeug gestiegen bist?«, fragte er.

»Ich bin direkt zu Hennicot gefahren. Ich war mir noch nicht sicher, ob es ein Einbruch gewesen war. Es hätte ja auch ein Fehlalarm sein können.«

»Und die Polizei?«

»Die Hennicots haben der Polizei nie besonders getraut. Der geplante Ablauf sieht vor, dass zuerst ich benachrichtigt werde. Bei jedem unangemeldeten Zugangsversuch zum Tresor werden automatisch eine E-Mail und eine SMS abgeschickt. Die Polizei rufen wir, wenn wir es für erforderlich halten. Hennicot war immer misstrauisch und sagte, niemand könne wissen, ob die Detectives bei den Ermittlungen etwas mitgehen ließen, um es dann den Dieben anzulasten.«

»Ganz schön zynisch«, sagte Nick.

»Hättest du Shamus Hennicot je kennengelernt, würdest du es anders sehen. Er ist einer der nettesten Männer, die ich kenne. Als ich ihm zugeteilt wurde, hat er mir einen freundlichen Brief geschickt. Seitdem hat er mich öfters zum Mittagessen eingeladen. Er ist charmant und klug und hat mir schon manchen Ratschlag für meine Laufbahn und für das Leben gegeben …«

»Sollte ich mir Gedanken machen?«, witzelte Nick.

»Nun, er ist vier Milliarden Dollar schwer. Und für einen Gentleman von neunzig Jahren könnte er nicht besser aussehen. Er reist nicht mehr viel und hat sein Sommerhaus in Neuengland schon über einen Monat nicht mehr verlassen. Jeder glaubt, dass er einer von diesen geheimnisvollen alten Milliardären ist, die riesige Summen an Wohltätigkeitsorganisationen spenden. Wenn eine große Spende gemacht wird, ohne dass jemand weiß, wer der Wohltäter gewesen ist, heißt es oft, dass Shamus Hennicot wieder mal einen Teil seines Vermögens losgeworden ist.«

»Und? Haben die Leute recht?«

»Wenn ich das wüsste, wäre es keine anonyme Spende mehr, oder?«, entgegnete Julia lächelnd.

»Weiß er, dass er bestohlen wurde?«

»Nachdem ich gesehen hatte, was gestohlen worden ist, habe ich ihn als Ersten angerufen. Ich habe mit seinem Privatsekretär gesprochen, der mir versprach, Hennicot zu benachrichtigen, der zurzeit mit sehr wichtigen Dingen beschäftigt sei.«

 »Du bist in der Villa gewesen?«, fragte Nick verwirrt. »Woher hast du gewusst, dass die Einbrecher schon fort waren?«

»Nun, ich …« Sie verstummte verlegen.

»Das gehört nicht zu den Aufgaben einer Anwältin, Julia«, sagte Nick mit einem Anflug von Zorn. »Du hast mir nie davon erzählt.«

»Er zahlt unserer Kanzlei fünfundzwanzigtausend Dollar im Monat zusätzlich zu unseren Rechnungen, und das nur dafür, dass wir auf Abruf bereitstehen. Außerdem ist mir ja nichts passiert.«

Nick schwieg. Er wusste nicht, was er erwidern sollte.

»Mir geht es gut«, fuhr Julia fort. »Davon abgesehen ist dir ja der seltsame achteckige Schlüssel in meiner Handtasche aufgefallen. Und du hast die Magnetkarte gesehen. Ich habe dir gesagt, wozu diese Dinge da sind.«

»Du hast gesagt, du kommst damit ins Haus eines Mandanten. Dass du die Nachtwächterin spielst, davon war nie die Rede.«

»Anwaltsgeheimnis«, erwiderte Julia.

Nick schüttelte den Kopf. »Wenn man nur diesen Schlüssel und die Karte braucht, um eine solche Schatzkammer zu betreten, warum trägst du sie dann so lässig mit dir herum?«

»Der Schlüssel ist mit acht Buchstaben markiert, von denen jeder zu einem bestimmten Datum gehört. Heute ist zufällig so ein Tag X. Und wenn du nicht weißt, wie der Schlüssel benutzt werden muss, hast du selbst an einem solchen Tag nur eine Chance von eins zu sieben. Außerdem brauchst du die Magnetkarte, die dreimal durch das Lesegerät gezogen werden muss. Und dann musst du noch deine Sozialversicherungsnummer eingeben. Für sich genommen ist der Schlüssel kaum etwas wert.«

»Aber du hast gesagt, es ist ein Reserveschlüssel für ein Wohnhaus, nicht für einen Lagerraum voller Waffen.«

»Es sind keine Waffen, es sind kostbare Sammlerstücke. Niemand würde mit einer solchen Waffe töten. Das könnte ein Mörder einfacher haben.«

Nick wagte nicht, ihr zu widersprechen. »Bei all diesen Sicherheitsmaßnahmen – wie sind die Einbrecher ins Haus gekommen?«

»Das steht noch nicht fest, aber sie wussten genau Bescheid und kannten sich mit der Alarmanlage aus. Sie haben den Server zerstört, und zwar gründlich. Aber eines haben sie vergessen: Wir haben eine zweite Firma mit einem Remote-Backup beauftragt.«

»Und was genau bedeutet das?«

»Wenn es um Sicherheitsfragen geht, sollte man sich mehrfach absichern, sonst hängt man von der Integrität eines einzigen Beschützers ab. Zwei verschiedene Firmen für zwei verschiedene Aspekte. Der Überwachungsserver in Hennicots Anwesen speichert eine Sicherheitskopie auf den Computer in meinem Büro. Jedes Mal, wenn das Überwachungssystem anspricht, schickt er aus genau diesem Grund sämtliche Dateien an meinen Computer.«

»Dann sind Bilder von den Einbrechern auf dem Computer in deinem Büro?«

»Ja. Und auch hier.« Julia hielt ihren Palm Pilot hoch, den sie stets in der Handtasche bei sich trug. Der PDA speicherte weit mehr als nur ihre Adressen, Termine und E-Mails; seine Speicherkapazität übertraf Blackberry und Smartphone bei Weitem. »Bei einem Stromausfall springen Notversorgungen ein, sodass unsere Computer sämtliche Daten abspeichern, ehe sie herunterfahren. Auf diese Weise geht nichts verloren. Als das Flugzeug abstürzte und die Lichter erloschen, wurde eine Sicherheitskopie angefertigt und das System heruntergefahren.«

»Und?«

»Als Vorsichtsmaßnahme werden mir sensible Dateien auf den PDA gemailt, damit ich nicht an wichtiger Arbeit gehindert werde. Sämtliche Überwachungsdaten aus den zwei Stunden vor der Notabschaltung habe ich hier.«

»Kann ich sie sehen?«

»Wieso?«, fragte Julia verwirrt. »Die Polizei wird sich damit befassen, wenn sie mit dem Flugzeugabsturz fertig ist.«

»Ich möchte nur mal einen Blick darauf werfen.«

»Tja, dazu bräuchte ich einen Computer, und wir haben keinen Strom. Es sei denn, dein Notebook-Akku ist noch geladen.«

Nick schüttelte den Kopf.

»Auf dem Palm lässt die Datei sich nicht anschauen. Es ist ein Wust von Video- und verschlüsselten Datendateien.«

»Ich kann es nicht fassen, dass du dich einem solchen Risiko aussetzt.« Wieder schüttelte Nick den Kopf.

»Aber wenn du es recht bedenkst«, erwiderte Julia, »hat der Einbruch mir das Leben gerettet.«

Sie hatte recht. Doch es war nur eine zeitweilige Rettung gewesen, die sie letztendlich doch mit dem Leben bezahlen musste. Nick kam der beängstigende Gedanke, dass das Schicksal ihm Julia auf jeden Fall nehmen würde – ganz gleich, was er tat.

Er zog ein hellblaues Oberhemd über. Dann ergriff er Julias Hand. »Julia, hör genau zu, was ich jetzt sage. Hör mir zu, ohne mich zu unterbrechen.«

»Du machst mir Angst«, sagte Julia.

»Das ist nicht meine Absicht.«

»Dann mach es nicht so dramatisch«, sagte sie mit einem Lächeln.

Nick atmete tief durch. »Es ist keine Polizei in der Nähe. Die gesamte Polizeitruppe ist an der Absturzstelle.«

»Ja, aber …« Julia verstummte, als Nick die Hand hob.

»Wer immer die Einbrecher waren – sie versuchen, ihre Spuren zu verwischen.«

 Julia blickte ihm in die Augen, in denen sich Besorgnis spiegelte, und schaute auf den Palm Pilot in ihrer Hand.

Und dann, mit einem Mal, begriff sie.


 
Noch immer stiegen weiße Rauchfahnen von der Absturzstelle auf. Den ganzen Tag war eine Schlacht ohne Sieger geführt worden, aber mit zahllosen Opfern. Zwar näherte der Kampf um die Eindämmung des Feuers sich seinem Ende, doch das emotionale Gefecht würde noch tagelang, wochenlang, jahrelang weitergehen. Die Wunde im Erdboden würde heilen, und die Natur würde die verbrannte Erde binnen weniger Wochen mit einer neuen grünen Decke überziehen, doch die Stadt würde nie wieder dieselbe sein.

Als Nick seinen Audi A8 auf das Städtchen Byram Hills zusteuerte, warf er einen kurzen Blick auf das Valhalla, ihr Lieblingsrestaurant, und überlegte kurz, wie sehr die Gegend sich verändert hatte.

Byram Hills war einst ein Städtchen gewesen wie Mayberry im Fernsehen: Fahrbahnen aus gestampfter Erde und eine einzige Straßenlaterne, ein Polizeirevier mit drei Gefängniszellen, ein Obst- und Gemüsestand, der am Wochenende frische Donuts und Apfelmost verkaufte. Die Häuser waren bescheiden, egal wie hoch das Einkommen ihrer Bewohner lag, und niemand beurteilte seinen Nachbarn nach der Quadratmeterzahl seines Grundstücks. Die Kinder von Feuerwehrleuten und Hausmeistern verbrachten ihre Freizeit mit den Sprösslingen von Vorstandsvorsitzenden und Immobilienhaien; sie spielten und stritten sich wie ganz normale Kinder, ohne dass auch nur einmal das Wort »Rechtsstreit« fiel. Trainer an der Highschool blieben die ganze Saison im Amt, und Eltern gaben sich keinen Illusionen hin, ihr Sohn könne der nächste Michael Jordan sein. Ehen hielten länger, Paare arbeiteten trotz aller Härten, denen sie sich stellen mussten, gemeinsam an ihrer Beziehung.

Doch im Laufe der Zeit war – wie überall in den USA – einiges vom Charakter, von der Seele der Stadt für höhere Renditen verkauft worden. Alte Bindungen zerrissen, Neid und Konkurrenzdenken entstand, und viele Leute versuchten, den Nachbarn in allen Dingen stets eine Nasenspitze voraus zu sein.

Leider ist die Tragödie der große Gleichmacher, dachte Nick. Sie kennt keine Postleitzahl, ist nicht Mitglied im Country Club und hat kein Wohnklo ohne Warmwasser. Sie schlägt unvoreingenommen zu und gemahnt uns, wie zerbrechlich das Leben ist und was wirklich wichtig bleibt, wenn man uns allen Besitz nimmt. Und wenn die Katastrophe das Ausmaß eines Flugzeugabsturzes erreicht, bei dem über 200 Menschen sterben, rücken sämtliche Werte wieder an die ihnen zustehende Stelle.

Nur wenige Minuten nach dem Absturz der Maschine schlossen Läden und Büros. Kinder wurden aus dem Ferienlager nach Hause geschickt. Familien kamen zusammen. Kirchen und Synagogen öffneten die Türen für Menschen, die beten wollten. Ganze Busladungen von Freiwilligen erreichten das Sportfeld knapp eine Meile vor der Stadt, wo Freunde und Fremde gleichermaßen die Erde aufgerissen hatten.

Julia saß auf dem Beifahrersitz neben Nick, den Blick auf den Rauch am Horizont gerichtet, unfähig, den Gedanken an ihren Tod abzuschütteln und daran, wie sie ihm heute durch Zufall entgangen war.

»Bist du sicher, dass der Computer in deinem Büro funktioniert?«, fragte Nick.

»Ja. Aber warum musst du diese Überwachungsdateien sehen? Übergeben wir doch einfach meinen PDA der Polizei. Das alles geht uns nichts an. Ganz besonders dich nicht, Nick.«

 »Wenn es dich betrifft, geht es mich sehr wohl etwas an.«

»Niemand hat es auf mich abgesehen, Nick. Du steigerst dich in etwas hinein, das es nicht gibt.«

»Nein, glaub mir, ich bilde mir nichts ein.«

»Verschweigst du mir etwas?« Julias Stimme bekam einen ängstlichen Beiklang.

Nick antwortete nicht.

»Warum sagst du es mir nicht?«

»Julia«, erwiderte Nick. Er verlor die Geduld. »Beantworte einfach meine Frage.«

»Wir haben keinen Generator«, gab sie kurz angebunden zurück. »Aber wir haben USVs für die Computer. Die Akkus reichen für eine halbe Stunde.«

»Dann könnten wir uns die Dateien auf deinem PDA ansehen?«

Julia nickte bloß, denn sie fuhren nun die Main Street entlang, und der Anblick der Stadt lenkte sie ab.

Der Ort war gespenstisch leer. Läden und Tankstellen hatten geschlossen – geradezu eine Geisterstadt. Kein Mensch war auf den Gehwegen zu sehen, kein Auto fuhr auf den Straßen. Alle Schaufenster waren dunkel, weil es noch immer keinen Strom gab. Die Pizzeria, der Friseursalon, selbst die Banken und das Postamt hatten zum ersten Mal, seit es sie gab, an einem Freitagnachmittag geschlossen.

Wieder heftete Julias Blick sich auf die Rauchwolke, die über dem Hügel am anderen Ende der Stadt stand. Nick vermochte sich nicht auszumalen, was in ihr vorging, als sie auf den Scheiterhaufen blickte, dem sie durch eine glückliche Fügung des Schicksals entgangen war.

Doch Nick hatte seine eigenen Ängste Wirklichkeit werden sehen. Er war Zeuge geworden, wie Julia starb, und hatte um sie getrauert. Das wollte er auf keinen Fall ein zweites Mal erleiden müssen. Er musste den Mann finden, der den verzierten Colt auf sie abgefeuert hatte, und ihn aufhalten! Nick spürte das Gewicht der SIG Sauer und war sich bewusst, dass er die Waffe aller Wahrscheinlichkeit nach benutzen müsste. Doch ganz gleich, welche Folgen sein Tun hatte – und wenn er dabei selbst den Tod fand –, er würde seiner Frau das Leben retten.

Er hatte Julia verschwiegen, dass er eine Waffe trug, und darauf geachtet, dass ihr Blick nicht auf die Wölbung unter seiner Jacke fiel. Julia verabscheute Waffen aus tiefster Seele. Auch Nick nahm die Pistole kaum je aus dem Safe und hatte sie noch nie bei sich getragen so wie jetzt, da er sie unter dem hastig übergestreiften Sportsakko trug.


 
Aitkens, Lerner & Isles galt als eine der besten Anwaltskanzleien nicht nur des Staates New York, sondern des ganzen Landes. Die Kanzlei, spezialisiert auf Finanz- und Steuerrecht, hatte sechzig Partner und konnte sich den Luxus leisten, sich überall dort niederzulassen, wo es ihr gefiel. Ihr gehörte ein Grundstück mit drei Gebäuden auf North Castle Hill, und die dreihundert Angestellten überfluteten unter der Woche den Ortskern von Byram Hills.

Doch an diesem Tag war alles anders.

Die Parkplätze waren leer, als Nick seinen Audi die kreisförmige Auffahrt vor dem Zentralgebäude hinauflenkte.

Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, eilten Julia und er die Feuertreppe zum zweiten Stock hoch, der im Dunkeln lag, denn die Batterien der Notlichter waren bereits erschöpft. Sie eilten zu Julias Büro im hinteren Gebäudeteil. Es war eine typische Bürosuite für dienstältere Partner mit einem großen Schreibtisch und einer Sitzecke.

Julia prallte zurück, kaum dass sie ihr Büro betreten hatte: Ihr Schreibtisch war umgeworfen worden, der Computer fehlte, Kabel waren aus der Wand gerissen, der Monitor lag zerschmettert auf dem Boden.

»Verdammt!«, fluchte sie. »Wenn ich den Hurensohn kriege …«

»Wo ist euer Server?«, erkundigte sich Nick, ohne sich von ihrem Zornesausbruch beeindrucken zu lassen.

»Du hast von Anfang an gewusst, dass es so kommt, nicht wahr?«, fragte Julia mit einer Mischung aus Zorn und Verwirrung.

»Nun sag schon, Julia, wo steht der Server?«

»Komm mit.« Julia ging voran. »Das alles wegen des Einbruchs? Was zum Teufel soll das?«

Sie erreichten eine unscheinbare Tür zwischen der Teeküche und dem Büro eines Mitarbeiters namens Sherman Peabody. Julia tippte den Code ins Tastenfeld, riss die Tür auf und sah augenblicklich, was beide befürchtet hatten: Aus den Serverschränken im Computerraum hatte man die Festplatten herausgerissen. Kabel hingen aus den Racks wie tote Schlangen.

»Habt ihr Mitternachtsbackups?«, fragte Nick.

»Einmal täglich, um zwei Uhr morgens, machen sämtliche Computer und alle Server eine Datensicherung auf drei getrennten Systemen.«

Sie blickten sich in dem großen Computerraum um, der nutzlos geworden war. Ein Schaden in Höhe von mehreren hunderttausend Dollar war angerichtet worden, um auszulöschen, was sich früher am gleichen Tag in Shamus Hennicots Herrenhaus an der Maple Avenue zugetragen hatte.

»Glaubst du mir jetzt?« Nick blickte auf den Palm Pilot in Julias Hand. »Das ist die einzige Spur, die zu den Einbrechern führt.«

»Wir müssen ihn der Polizei …«

»Es gibt keine Polizei, der wir das Ding geben könnten.«

 »Wir könnten ihn zur Absturzstelle bringen und es dort übergeben.«

Nick wusste, dass er dadurch bei seiner Suche nach Julias Mörder nur aufgehalten würde. Und die einzige Möglichkeit, den Killer zu finden, bestand darin, das Gesicht zu sehen, das auf Julias PDA gespeichert war.

»Woher hast du gewusst, dass das hier passiert, Nick?«

Schweigend nahm er ihr den Palm Pilot aus der Hand.

»Verdammt, Nick, antworte! Was ist hier los?«

Nick zog die Taschenuhr hervor und las die Zeit ab: zwanzig Minuten vor sechs.

»Du musst mir vertrauen. Ich erkläre es dir später, im Augenblick fehlt mir die Zeit«, sagte er, als sie sich auf den Weg zum Großraumbüro machten. »Habe ich dich vorhin richtig verstanden? Jeder eurer Computer hat eine unterbrechungsfreie Stromversorgung?«

»Ja.« Julia zeigte auf die USVs unter den Schreibtischen der Sekretärinnen. Die Notbatterien waren etwas größer als ein Brotkasten und mit dicken Stromkabeln versehen.

»Wie lange halten sie?«

»Ungefähr eine halbe Stunde.«

Nick ging zum Schreibtisch von Julias Sekretärin. »Glaubst du, Jo hat die Ladung aufgebraucht?«

»Sie ist gleich nach dem Absturz gegangen. Ich habe ihr gesagt, sie soll nach Hause fahren.«

Nick setzte sich an Jo Whalens Schreibtisch. Jo war seit drei Jahren Julias Sekretärin. Wo Julia zum minutiösen Durchorganisieren neigte, war Jo hochgradig pedantisch: Bleistifte und Büroklammern lagen in ihren Behältern, peinlich genau in Nord-Süd-Richtung ausgerichtet, und auf der Schreibtischplatte war keine Staubflocke zu sehen. Nick fuhr Jos Computer hoch. Das Leuchten des Monitors tauchte das dunkle Büro in einen gespenstischen Schein. Nick drehte sich zu Julia um, als auf dem Bildschirm die Passwortabfrage erschien.

Julia beugte sich über ihn und gab das Passwort ein. Der Computer erwachte zum Leben. Die USV begann zu piepen und erinnerte daran, dass sie nur begrenzte Zeit zur Verfügung stehen würde.

»Auf geht’s«, sagte Nick und gab Julia den PDA zurück.

Julia schaltete den Palm Pilot ein und koppelte ihn per Bluetooth mit dem Computer. Auf dem PDA markierte sie die Dateien und drückte auf »Senden«.

Jos Computer begann zu summen. Auf dem Monitor öffnete sich ein Videofenster, als die Dateien auf ihr System übertragen wurden. Sie beobachteten, wie sechs Dateien am unteren Rand des Bildschirms erschienen, gleich unter dem Fenster des Videobetrachters.

Julia klickte auf die erste Datei. In einer Excel-Tabelle öffnete sich eine lange Verzeichnisliste.

»Das wollen wir nicht«, sagte sie.

»Was ist das?«

»Der Bestand von Hennicots Sammlungen.« Julia zeigte auf den Schirm. »Man kann die Stücke nach Alter, Typ, Wert oder Zugangsjahr sortieren. Und jetzt«, sie klickte in das Fenster, und die Spalten ordneten sich neu, »auch nach gestohlen und nicht gestohlen.«

»Wir müssen uns das Video anschauen«, drängte Nick.

Wortlos schloss Julia die Datei und klickte auf die nächste.

Der Bildschirm füllte sich mit einem Video aus unterschiedlichen Bildern von mehreren Überwachungskameras; in der rechten unteren Ecke lief eine Zeitanzeige. Regelmäßig wurde zwischen den einzelnen Kameras hin- und hergeschaltet: Sie sahen Bilder vom Parkplatz, von der Front des Gebäudes, ein geschmackvoll eingerichtetes Büro im englischen Stil, Schaukästen mit Schwertern und Dolchen, Versandkisten, Türen und Flure, Treppen und Konferenzsäle sowie das Bild eines Tresors, dessen Größe ohne Maßstabsvergleich schwer abzuschätzen war.

Mit der Maus klickte Julia auf den Schnellvorlaufknopf. Die Bilder wechselten mit rasender Geschwindigkeit, bis ihre Monotonie plötzlich unterbrochen wurde. Die Außenansichten auf den Parkplatz und die Front des Gebäudes zeigten nur noch weißen Schnee.

Nick nahm die Maus und verlangsamte das Video.

Die Bilder aus dem Innern des Gebäudes wurden weiterhin gezeigt und veränderten sich nicht – bis sich auf einem der Bilder plötzlich eine große Tür aus gebürstetem Stahl öffnete und helles Licht in den Raum fiel.

»Was soll das denn?«, rief Julia unvermittelt und zeigte auf den Pistolengriff, der durch den Schlitz in Nicks Jacke hervorschaute.

»Sieh auf den Bildschirm«, sagte Nick, der ganz auf die aufgebrochene Tür konzentriert war.

»Ich habe dir doch gesagt, wie ich das Ding hasse!« Julia steigerte sich in Wut. »Du hast gesagt, du benutzt es nur auf dem Schießstand!«

»Julia, bitte, sieh auf den Monitor.«

»Ich hasse Schusswaffen, das weißt du.«

Unbeirrt konzentrierte Nick sich auf den Monitor. Jetzt war nicht die Zeit und der Ort, Julia zu erklären, dass die Pistole ihm schon einmal das Leben gerettet hatte.

Auf dem Monitor erschien nun das Gesicht eines Mannes, das den gesamten Schirm ausfüllte. Nick hatte den Mann noch nie gesehen. Er war Anfang fünfzig, mit dunklem Haar, das bereits aus der Stirn wich. Sein Gesicht war schmal und eingefallen, mit auffallend hohen Jochbeinen und dichten Augenbrauen. Die Augen wurden von einer Sonnenbrille verdeckt.

 »Versprich mir eins«, verlangte Julia. »Wenn das alles vorüber ist, schaffst du die Waffe ab.«

»Wer ist der Kerl?« Nick wies auf den Bildschirm. Gerade als Julia hinschaute, verschwand das Bild und wich flimmerndem weißem Schnee; dann fielen auch die anderen Kameras aus. Das Überwachungssystem schien komplett auszufallen.

»Was ist das denn jetzt?«, fragte Julia.

»Hast du den Mann gesehen? Anfang fünfzig, mit Brille?«

»Nein.« Julia schüttelte den Kopf. »Wenn ich …«

Sie kam nicht mehr dazu, den Satz zu vollenden.

Schüsse zerfetzten die Trennwand.

Im Kugelhagel riss Nick seine Frau zu Boden, griff nach oben und zog den PDA vom Schreibtisch. Begleitet von einem Funkenschauer, zerbarst der Monitor mit dem nutzlosen Schneegeflimmer.

Nick riss die Pistole aus dem Hosenbund und feuerte drei Schüsse in Richtung des unsichtbaren Angreifers. Dann packte er Julias Hand und zog sie mit sich durch das Labyrinth des Großraumbüros, stets darauf bedacht, ihre Köpfe unterhalb der Sichtlinie des Schützen zu halten. Die Pistole behielt er im Anschlag, um sie sofort auf jeden richten zu können, der sich zeigte.

Nick riss die Tür zur Feuertreppe auf, schaute hindurch, schob Julia ins Treppenhaus, wandte sich um und ließ den Blick durchs Großraumbüro schweifen. Seine Neugier wurde mit weiteren Schüssen beantwortet. Hastig zog Nick sich zurück. Er musste Julia aus der Gefahrenzone bringen.

Wieder packte er ihre Hand und eilte mit ihr die Treppe hinunter. Vorsichtig öffnete er die Tür zum Foyer einen Spalt weit und blickte in die leere, marmorne Empfangshalle. Auf leisen Sohlen durchquerten sie die Lobby und blickten zur Vordertür hinaus. Weit und breit war niemand zu sehen. Sie eilten ins Freie und rannten zum Audi, der direkt vor dem Gebäude geparkt war.

Nick ließ den Motor an und gab Gas. Die Räder drehten durch, und die Beschleunigung drückte beide in die Sitze. Mit kreischenden Reifen riss Nick den Wagen herum und verließ mit Vollgas North Castle Hill.

Als er auf die Hauptstraße gelangte, entdeckte er aus dem Augenwinkel den blauen Chevy Impala, der hinter dem Kanzleigebäude parkte.

Julia stand die Furcht ins Gesicht geschrieben, als sie den Sicherheitsgurt anlegte. Mit zitternden Händen nestelte sie an dem Schloss.

Nick beschleunigte den Audi auf über zweihundert Stundenkilometer. Als er über die Route 22 jagte, war kein anderes Auto in Sicht. Es war, als gehörte ihm allein die Straße, als wären er und Julia die letzten lebenden Menschen. Nick blickte in den Innenspiegel. Hinter ihnen war nichts als eine freie Fahrbahn – keine Autos, keine Verfolger, keine Kugeln.

Er ging ein wenig mit der Geschwindigkeit herunter.

»Meine Güte …«, sagte Julia auf dem Beifahrersitz. Mit der rechten Hand hielt sie den Griff über der Tür umklammert. »Woher hast du gewusst, dass du eine Waffe brauchst?«

Nick bog nach links auf die Route 128 ab, ohne auf die ausgefallene Ampel zu achten, und raste durch die Stadt.

»Hör mir gut zu«, sagte er beschwörend. »Wenn wir zu Hause sind, steigst du in deinen Wagen. Fahr so weit weg, wie du kannst. Geh nicht zu deinen Verwandten oder irgendwelchen Freunden … zu niemandem, den du kennst. Nimm dir ein Hotelzimmer und zahle bar.«

»Mein Gott, was ist denn los?«, rief Julia verzweifelt.

»Wer immer in das Gebäude eingebrochen ist, wer immer die Waffen und Brillanten gestohlen hat – er beseitigt sämtliche Spuren, die zu ihm führen könnten.« Nick warf einen raschen Blick in Julias Augen. »Einschließlich aller Zeugen.«

Nick folgte der Wago Avenue zur Elizabeth Place, fuhr den Sunrise Drive hinunter und über den Townsend Court zur Auffahrt ihres Hauses und setzte den Wagen in die Garage.

»Hast du dein Portemonnaie? Und dein Handy?«

Julia nickte. »Ja.«

»Dann fahr sofort los.« Nick sprang aus dem Wagen. Julia stieg ebenfalls aus und kam zu ihm hinüber.

»Was machst du jetzt?« Sie schaute zu ihm hoch. »Ohne dich fahre ich nicht weg.«

Nick erwiderte ihren Blick lange und intensiv, prägte sich ihr Gesicht ein, als würde er sie mit neuen Augen sehen. »Tu bitte, was ich sage, Julia.«

Er führte sie zu ihrem Lexus und öffnete die Fahrertür.

»Bitte, lass mich nicht allein!«, flehte sie.

Nick zog die Taschenuhr hervor und sah rasch nach der Zeit.

»Ich finde dich, wo immer du sein magst«, sagte er und umarmte sie kurz. »Und jetzt fahr. Du hast sechzig Sekunden, von hier zu verschwinden.«

Er wandte sich ab und ging zum Haus.

Julia setzte sich hinters Steuer, ließ das Seitenfenster herunter und fragte ängstlich: »Und was machst du?«

Nick blickte sie über die Schulter an, während er zur Garage ging. »Ich glaube, ich weiß jetzt, wie ich diesen Wahnsinn stoppen kann.«

Er fügte nicht hinzu, dass er den Mistkerl töten wollte, der sie ermordet hatte.

Nick packte den Türgriff zum hinteren Flur, zog die Tür auf …

… und fand sich in seiner Bibliothek wieder. Mühelos schüttelte er die Kälte ab. Sein Körper schien sich immer besser an den Zeitsprung zu gewöhnen. Um zu wissen, was geschehen war, brauchte er nicht auf die Taschenuhr zu sehen. Er tastete nach der Pistole und vergewisserte sich, dass sie noch da war.

den Zeitsprung zu gewöhnen. Um zu wissen, was geschehen war, brauchte er nicht auf die Taschenuhr zu sehen. Er tastete nach der Pistole und vergewisserte sich, dass sie noch da war.

Dann verließ er das Zimmer, durchquerte den Flur und ging in die Küche.

»Kann ich dir etwas zu essen machen?«, fragte Julia. Ihr Lächeln und das Funkeln ihrer Augen schmerzten Nick. Sie wusste noch nicht, was ihr bevorstand.

»Später. Ich muss kurz weg«, sagte Nick, überrascht, sie zu Hause anzutreffen.

»Vergiss nicht die Verabredung zum Abendessen.«

So ungern er mit den Millers ausging – Nick hätte mit dem nervtötenden Paar freudig den ganzen nächsten Monat zu Abend gegessen, wenn er nur diesen fürchterlichen Tag überstand. Er wusste, alles drehte sich um den Einbruch, der an diesem Morgen verübt worden war. Dieser Einbruch stand im Zentrum des ganzen Geschehens. Dort lagen die Antworten verborgen, und dort würde er Julias Mörder finden und aufhalten.

Nick ging leise durch den hinteren Flur. Julias Handtasche hing an ihrem Platz an der Wand. Nick entdeckte ihre Codekarte und einen Schlüsselbund, ließ beides in seine Tasche gleiten und ging zur Garagentür hinaus.