Verlorene Seelen

Murhab hatte dem Kampf in der Arena auf den Zuschauerrängen zugesehen. Er hatte Glück – das Gesicht unter der Kapuze verborgen und zwischen den Schatten versteckt, hatte ihn niemand entdeckt oder Verdacht geschöpft. Die Tarnung unter dem Mantel der Todsänger war nahezu perfekt. Er war kein Schatten, und doch war er auf eigenartige Weise tot oder besser gesagt untot. Die Schatten konnten ihn weder riechen noch erkennen.

Durch Murhabs Augen hatte Nalkaar alles mitbekommen, was im Reich der Schatten vorging. Aber Nalkaar konnte nur sehen, was Murhab sah. Nicht mehr. Der erste Todsänger war nicht in der Lage, selbst in die Geschicke einzugreifen oder Murhab zu steuern. Der ehemalige Kapitän war auf sich allein gestellt.

»Das also war die Ursache für den Zorn der Schatten«, dachte Murhab bei sich, »aber warum hat Chromlion das getan? Es muss mehr dahinterstecken. Es gibt einen Grund, weshalb der Weg in den Nebel des Vergessens versperrt wurde. Ich glaube nicht, dass es bereits vorbei ist.«

Murhab spürte, wann er von Nalkaar beobachtet wurde und in welchen Momenten der erste Todsänger abgelenkt oder abwesend war. Sie hatten eine lose, gedankliche Verbindung aufgebaut, in die sich Nalkaar nach Belieben einbringen konnte.

Im Augenblick schien Nalkaar mit anderen Dingen beschäftigt. Murhab nahm an, dass sich Nalkaar mit dem Heer der Rachuren auf dem Marsch zu den beiden Ordenshäusern befand und die Eroberung plante.

Im Reich der Schatten war die Freude über Madhrabs Sieg groß. Murhab konnte die Erleichterung der Schatten geradezu spüren. Der Weg in den Nebel des Vergessens war endlich wieder frei. Murhab fragte sich nur, wie lange dieser Zustand wohl anhalten würde. In seiner Neugier hätte er zu gerne gewusst, wie es hinter dem Tor aussah. Was geschah mit den Seelen, die das Tor durchschritten – lösten sie sich einfach auf und wurden zu einem Teil des Nebels?

Murhab würde es nie erfahren. Todsänger waren unsterblich, hatte ihm Nalkaar erklärt. Doch das stimmte nur zum Teil. Es gab Wege, sie endgültig zu töten. Sie waren meist nur den Todsängern selbst und einigen wenigen Totenbeschwörern bekannt. Rajuru hatte gewusst, wie sie die Todsänger beherrschen und beseitigen konnte, wenn sie ihr nicht gehorchten. Sie hatte schon einige Todsänger zur Strafe in das Reich der Schatten und in die Flammen der Pein geschickt.

Der Tod eines Todsängers war mit dem schrecklichen Schicksal der Flammen der Pein verbunden. Einige Unvorsichtige und die vom Glück Verlassenen erlitten dieses Ende.

Murhab hingegen hatte nicht vor, mit den Flammen Bekanntschaft zu schließen. Der ewige Schmerz und das unendliche Leiden waren nicht das, was er sich für sein Ableben erhoffte. Er hatte Besseres verdient. Also musste er sich vorsehen. Jeder Schritt in dieser anderen Welt der Schatten war gefährlich.

Er blieb noch für eine Weile in der Arena auf den Zuschauerrängen sitzen und beobachtete die Schatten, die sich nach ihren Freudenausbrüchen in einer langen Schlange vor dem Tor zum Nebel des Vergessens anstellten. Sie schienen zufrieden und warteten, bis sie an der Reihe waren. Einer nach dem anderen verschwand durch das Tor. Andere verließen die Arena in alle möglichen Richtungen, nur nicht durch das Tor. Es gab auch Schatten, die unzufrieden mit dem Ausgang des Kampfes waren. Sie hatten gehofft, Chromlion würde den ehemaligen Bewahrer besiegen.

Er hatte ihre Gespräche belauscht. Sie unterhielten sich meist in stimmlosen Zischlauten oder einem eigenartigen Kreischen, was sich für seine Ohren bedrohlich anhörte. Fauchend flüsterten sie sich Worte zu. Murhab musste sich sehr konzentrieren, sie zu verstehen.

Der Nebel des Vergessens war der endgültige Tod. Das schien allgemein bekannt im Reich der Schatten. Der Nebel brachte den Seelen die Ruhe und den Frieden, den sich die meisten unter ihnen erhofften. Er war die Erlösung von einem guten oder auch schlechten Leben. Manche Schatten – sie schienen nach Murhabs Einschätzung deutlich in der Unterzahl zu sein – waren noch nicht so weit. Die Vorstellung, alles zu vergessen, quälte sie. Sie konnten nicht loslassen. Vielleicht fürchteten sie sich vor der Ungewissheit und vor dem Ende.

Murhab vermutete, dass ihr Leben nicht erfüllt war. Ihm fiel beim Belauschen einiger Gespräche auf, dass die mit dem Ausgang des Kampfes Unzufriedenen irgendetwas in ihrem Leben offen oder unerledigt gelassen hatten. Was auch immer es war, es brachte sie im Reich der Schatten dazu, an ihrem Leben und den Erinnerungen daran festzuhalten. Murhab konnte sie sogar verstehen, wenngleich er – hätte er die Wahl gehabt – den Nebel des Vergessens vorgezogen hätte. Er hätte den Bewahrer Madhrab angefeuert, was er sich allerdings nicht getraut hatte. Seine Tarnung durfte nicht aufgedeckt werden.

Plötzlich kam Unruhe unter den Schatten auf. Murhab sah sich von der plötzlichen Nervosität angesteckt hektisch um. Was war geschehen? Hatte sich irgendetwas verändert? Wohin eilten die Schatten? Rasch verließen die Schatten die Arena, selbst diejenigen, die sich vor dem Tor zum Nebel des Vergessens angestellt hatten, folgten den anderen Schatten. Sie zischten und fauchten böse. Offensichtlich waren sie verärgert über die Störung.

Murhab hatte Mühe, Schritt zu halten. Die Schatten flitzten in hoher Geschwindigkeit durch die Gänge ihres Reiches. Dabei wurden Wände, Decken und Boden gleichermaßen genutzt. Ein Gedränge gab es dabei nicht, auch wenn die Schatten noch so zahlreich waren.

Murhab war nicht in der Lage zu tun, was die Schatten vermochten. Er konnte zwar wenige Zoll über dem Boden schweben, ohne seine Füße zu bewegen; an Wänden und Decken entlanglaufen konnte er hingegen nicht. Er musste sich daher auf den Boden und seine Füße verlassen.

Der Kapitän blieb abrupt stehen, als er nur wenige Fuß vor sich ein magisches Licht entdeckte. Es war groß und rund, größer als das Tor zum Nebel des Vergessens. Der äußere Rahmen leuchtete in einem hellen Rot, während der innere Teil aus einer Art Gallertmasse zu bestehen schien, die in allen Farben glitzerte und in einem gleichmäßigen Rhythmus pulsierte. Die Schatten stürzten sich in die Masse und verschwanden darin.

Murhab nahm an, dass es sich um Tor oder Portal in eine andere Welt handeln musste. Er war neugierig, wo es hinführte, und näherte sich vorsichtig dem leuchtenden Ring. Indem er einen Finger vorstreckte, berührte er die Masse in der Mitte des Rings. Kaum hatte er sie berührt, spürte er einen starken Sog, der ihn unweigerlich hineinzog. Murhab versuchte noch, sich dagegenzustemmen, aber er wurde von der pulsierenden Masse verschluckt.

Der Ring war tatsächlich ein Portal, wie Murhab erstaunt feststellte. Er befand sich an einem Ort, an dem er noch nie zuvor gewesen war. Es musste eine Höhle sein, die jedoch an Wänden und Decken von zahlreichen Kristallen beleuchtet war.

Murhab bemerkte in der Nähe eine Frau, die auf einem großen, reich verzierten Stuhl saß und von Wachen umgeben war. Sie war wunderschön und sie strahlte aus ihrem Inneren heraus. Ihr Licht blendete ihn. Der Kapitän wusste sofort, dass nur eine Königin oder eine Hexe eine solche Ausstrahlung hatte. Vielleicht war sie beides zugleich. Er würde es herausfinden.

Die Schatten sammelten sich um die Frau, umringten und umtanzten sie. Sie sang leise vor sich hin. Ihre Stimme war lieblich und betörend zugleich. Murhab wagte sich näher heran, vermied es jedoch aus Vorsicht, ihr oder den Schatten zu nahe zu kommen, um nicht an dem Reigen mitmachen zu müssen und aufzufallen.

Ihr Blick streifte ihn nur kurz. Dieser Moment genügte, um ihn beinahe in Ehrfucht erstarren zu lassen. Murhab versuchte, sich so klein wie möglich zu machen. Aber es war zu spät. Sie hatte ihn bemerkt.

Die Frau musste unglaubliche Sinne besitzen, wenn sie ihn so zielsicher zwischen den Schatten erkannt hatte. Schon im nächsten Moment kehrte ihr Blick wieder zu ihm zurück und blieb dieses Mal länger auf ihm haften. In einer anmutigen Bewegung hob sie ihre Hand und zeigte mit dem Finger auf ihn.

»Du! Komm zu mir und zeig dich. Du kamst mit den Schatten, bist aber kein Schatten«, rief sie ihm zu. »Wer oder was bist du?«

Die Schatten in ihrer Nähe fauchten und kreischten entsetzt. Sie sprach ihn offen vor den anderen Schatten an. Bevorzugte sie ihn? Sah sie in ihm einen Gegner oder gar einen Attentäter? Was wollte sie von ihm? Murhab hatte plötzlich ein mulmiges Gefühl. Er konnte die Wut der Schatten am eigenen Leib spüren. Sie fühlten sich durch seine Anwesenheit betrogen. Hätte es die Frau auf dem Stuhl zugelassen, die Schatten hätten ihn in Stücke gerissen.

Murhab näherte sich ein paar Schritte. Gerade so weit, dass sie ihn besser sehen konnte und er sie umgekehrt auch. Allerdings vermied er den Kontakt zu den Schatten.

»Wie sie angezogen ist und sich gibt«, dachte Murhab, »sie muss eine Königin sein, die es gewohnt ist, Befehle zu erteilen und bedient zu werden.«

»Sieh an, sieh an«, sagte die Frau, »jetzt überraschst du mich doch. Zieh deine Kapuze ab!«

Ihre Befehle mussten ausgeführt werden. Daran gab es keinen Zweifel. Sie war sehr stark und mächtig. Es war unmöglich, ihren Wünschen und Befehlen zu widerstehen. Murhab kannte jedenfalls niemanden, dem dies gelingen könnte.

»Ein Todsänger, nicht wahr?«, grübelte die Frau.

»Das bin ich«, antwortete Murhab, »wollt Ihr, dass ich für Euch singe?«

Die Königin sah ihn im ersten Augenblick verblüfft an, begann dann allerdings, lauthals zu lachen.

»Du hältst deine Zunge schön still und den Mund fest verschlossen. Ich will keinen gesungenen Ton von dir hören! Nicht in meiner Stadt. Versuch es nur und es wird dir schlecht ergehen.«

»Verzeiht … aber wer seid Ihr?«, fragte Murhab.

»Du wirst mich mit ›meine Königin‹ ansprechen. Hast du das verstanden?«

»Sehr wohl, meine Königin.« Murhab verbeugte sich tief.

»So ist es gut«, zwinkerte ihm die Königin zu. »Du kennst mich nicht? Das ist interessant. Ich bin Saykara, die Königin der Nno-bei-Maya. Du befindest dich in meinem Palast, der viel mehr einem Tempel als einem Palast gleicht, mitten in der schönen Stadt Zehyr, dem ersten und einzigen Sitz der Nno-bei-Maya auf der Insel Kartak im Südosten Ells.«

»Ich danke Euch für die ausführliche Information, meine Königin. Das ist sehr großzügig von Euch.«

»Du musst mir nicht schönreden, Todsänger«, meinte Saykara, »erzähl mir, warum und wie du mit den Schatten aus ihrem Reich gekommen bist. Ich habe die Schatten zu mir gerufen und das Portal geöffnet. Einen Todsänger hatte ich dabei allerdings nicht erwartet.«

Murhab verbeugte sich, ließ die Königin aber keinen Moment aus den Augen.

»Ich suche eine verlorene Seele in den Schatten«, begann Murhab. »Nalkaar, der erste Todsänger, schickt mich. Er öffnete das Portal, durch das ich in das Reich der Toten gelangte.«

»Ein Todsänger auf der Suche nach einer Seele«, unterbrach ihn die Königin, »und das soll ich dir glauben? Was willst du mit der Seele anfangen? Wirst du sie fressen, sobald du sie gefunden hast? Es gibt viele verlorene Seelen in den Schatten. Du könntest ein Festmahl abhalten.«

»Nicht in den Schatten, meine Königin«, fuhr Madhrab fort, »wir entreißen den Lebenden die Seelen und nähren uns davon, das ist wahr. Aber im Reich der Schatten geht das nicht. Nalkaar ist allerdings in der Lage, die Schatten zu befehligen. Er beherrscht die Kunst der Schattenbeschwörung.«

»Genau wie ich«, meinte Saykara. »Über fünftausend Sonnenwenden war ich mit meinem Volk ins Reich der Schatten verbannt. Wir mussten uns vor dem Nebel des Vergessens verbergen, sonst wären wir nie wieder zurückgekehrt. Aber ich habe in den Schatten viel gelernt. Nicht nur, wie ich über sie gebieten kann. Erzähl mir, wen du suchst.«

»Einen Flötenspieler. Sein Name ist Madsick. Er ist nicht tot. Sein Körper lebt noch auf Ell. Die Schatten haben den Geist des Musikanten entführt.«

»Interessant. Weißt du, weshalb sie ihn entführt haben?«

»Nein«, gab Murhab zu, »aber ich glaube, dass sie es wegen seiner einzigartigen Fähigkeit taten. Die Schatten tanzen nach seiner Musik. Sie wollten seiner schon lange habhaft werden. Wieder und wieder hatten sie versucht, ihn zu sich in ihr Reich zu holen. Aber Nalkaar beschützte ihn. Doch zuletzt war alles anders. Die Schatten waren zornig. Sie widersetzten sich Nalkaars Befehlen und nahmen den Geist Madsicks mit sich.«

»Möchtest du wissen, warum sie zornig waren?«

»Ich glaube, ich weiß es bereits«, meinte Murhab. »Der Weg in den Nebel des Vergessens war versperrt. Es gab einen Kampf, den der Torwächter allerdings verlor. Im Augenblick dürften die Schatten wieder besänftigt sein.«

Die Königin lehnte sich kalt lächelnd auf ihrem Thron zurück und schlug die Beine aufreizend übereinander.

»Chromlion hat versagt«, sagte sie leise, »das dachte ich mir schon. Er war nicht stark genug, obwohl ich ihm viel Macht verliehen habe. Ich habe ihn geschickt, das Tor zu bewachen.«

»Aber wozu?«, wollte Murhab wissen.

»Einer meiner Krieger musste zurückbleiben, als wir befreit wurden«, erklärte Saykara, »sein Name ist Gahaad. Er ist der erste Krieger meines Volkes. Ihm gehört die Gabe des Kriegers. Ein Geschenk der Kojos für einen außergewöhnlichen und mächtigen Mann. Die Orden der Sonnenreiter und Orna beziehen ihre Macht von jeher aus seinem Herzen und seinem Gehirn. Aber sie werden dafür bezahlen. Gahaad wird zurückkehren, sobald ich die steinernen Artefakte wieder in seine Statue setze. In den Schatten ist es gefährlich und Gahaad ist, wie wir alle, durch das Tor zum Nebel des Vergessens gegangen. Dort verbirgt er sich in den tiefer gelegenen Ebenen. Alleine wird er dem Nebel auf Dauer nicht widerstehen und irgendwann verloren gehen. Je mehr Schatten durch das Tor gehen, desto stärker und mächtiger wird der Nebel. Schneiden wir ihm hingegen den Nachschub an Seelen ab, wird er schwächer und schwächer. Der Nebel ist dann mit sich selbst beschäftigt und achtet darauf, nicht zu viel von seiner Dichte zu verlieren. Er zieht sich so lange zurück, bis er wieder mit frischen Seelen genährt wird. Indem ich das Tor bewachen und schließlich versperren ließ, habe ich Gahaad geholfen, seinen Verstand und seine Erinnerungen zu behalten. Er kann und wird zu uns zurückkommen.«

»Ich verstehe«, nickte Murhab.

»Wirklich? Dann hast du bestimmt erraten, was ich von dir erwarte?«

Murhab sah die Königin verständnislos an und schüttelte den Kopf. Er hatte überhaupt nichts verstanden.

»Du siehst wie ein tapferer Mann aus«, schmeichelte Saykara dem Todsänger, »du fürchtest dich nicht vor den Schatten.«

»Ich bin ein Todsänger«, bemerkte Murhab.

»Was warst du vor deinen Studien des Totengesangs?«

»Ein Seemann, meine Königin. Und ich darf mit Recht behaupten, dass ich ein sehr guter Kapitän war.«

»Ich könnte einen wie dich in meinen Reihen gebrauchen«, lächelte Saykara.

»Ich diene Nalkaar. Er besitzt meine Seele.«

»Ich weiß, aber vielleicht kann ich dir helfen.«

»Wobei?«

»Mithilfe der Kristalle, meiner Zauberkraft und meiner Herrschaft über die Schatten bin ich in der Lage, den Fluch des Todsängers von dir zu nehmen. Du könntest eine Seele zurückerhalten und wieder ein normales Leben führen. Das ist mein Angebot.«

»Was verlangt Ihr dafür?«

»Du gehst zurück in das Reich der Schatten und verriegelst das Tor zum Nebel des Vergessens, nachdem du selbst hindurchgegangen bist. Kein Schatten darf dir dorthin folgen, solange du Gahaad noch nicht gefunden und zurückgebracht hast. Du wirst ihn suchen und vor dem Nebel beschützen. Bringst du ihn unversehrt zurück – du wirst wissen, wann der Augenblick gekommen ist –, nehme ich den Fluch von dir und unterstelle dir eines meiner Sturmschiffe mit einer hervorragenden und erfahrenen Besatzung. Du wirst der erste Kapitän der Nno-bei-Maya sein.«

»Das ist sehr verlockend, meine Königin. Aber was wird aus Madsick und Nalkaar? Der Todsänger steht mit mir in einer gedanklichen Verbindung. Er würde bald merken, dass ich ihn hintergehe.«

»Der erste Todsänger kommt auch ohne dich gut zurecht. Du machst dir zu viele Gedanken um ihn. Wie soll er sehen, was du siehst, während du deine Gedanken verdrängst, einen Schutzwall gegen ihn aufbaust und ihn aus deinem Gehirn wirfst? Hast du deine Aufgabe abgeschlossen, wirst du ihn nicht mehr brauchen. Wenn ich dir jedoch einen Rat geben darf, dann achtest du im Reich der Schatten auf die Klänge einer Flöte. Sie werden dich zu deinem Musikanten führen. Die Schatten tanzen im Takt seiner Musik. Das haben sie mir gerade erzählt. Daran kannst du erkennen, dass dein Freund nah ist.«

»Und wenn ich mich weigere, Euren Krieger zu beschützen? Nalkaar hat Macht über mich. Er besitzt meine Seele.«

»Dann bleibst du Nalkaars Diener und kannst meinetwegen im Reich der Schatten vergehen. Niemand wird sich mehr an dich und den Flötenspieler erinnern, sollte ich Gahaad befehlen, den Geist des Musikanten und dich zu vernichten.«

Murhab musste nachdenken. Der Verrat an Nalkaar konnte ihn in die Flammen der Pein bringen. Hätte Saykara Murhab irgendetwas anderes versprochen, er hätte abgelehnt. Weder zu seinen Zeiten als Kapitän noch als Todsänger war er bestechlich. Aber dieses Angebot war zu verlockend – Saykara hatte ihn offenbar durchschaut. Die Aussicht darauf, wieder ein Schiff zu führen, machte Murhab die Entscheidung leicht. Was hatte er schon zu verlieren? Ein untotes Dasein an der Seite eines Todsängers? Das war nichts, woran dem Kapitän gelegen war. Er hatte nie aufgehört, von der Seefahrt zu träumen. Nicht einmal, als ihn Nalkaar in einen Todsänger verwandelt und seine Seele gefressen hatte.

»Ich nehme Euer Angebot an«, sagte Murhab.

»Du bist ein guter Mann«, lächelte ihm Saykara wohlwollend zu. »Ich lasse das Portal in das Reich der Schatten für dich offen. Aber bevor du gehst, sollst du noch ein Geschenk bekommen.«

Saykara schnippte mit den Fingern. Ein Maya-Krieger trat hinter dem Thron vor und beugte sich zu seiner Königin herab. Sie umfasste seinen Kopf beinahe zärtlich mit dem Arm, drehte ihn zu sich, küsste ihn auf die Wange und flüsterte dem Krieger einige Worte ins Ohr, woraufhin dieser lächelnd nickte und sich entfernte. Wenig später kam er zurück und hielt einen blau schimmernden, halb sichtdurchlässigen Helm in der Hand. Der Krieger kam auf Murhab zu und hielt ihm den Helm entgegen.

»Nimm den Helm und trage ihn«, riet die Königin, »das ist ein Kristallhelm. Er ist magisch. Solange du ihn trägst, ist niemand in der Lage, mit dir Verbindung aufzunehmen, in deine Gedanken einzudringen, durch deine Augen zu sehen oder dich gar zu steuern. Nalkaar wird denken, er hätte dich in den Schatten verloren. Ich rate dir, den Helm zu tragen, bis du wieder mit dem ersten Krieger der Maya vor mir stehst und deine Aufgabe zu meiner Zufriedenheit erledigt hast.«

»Ein nützliches Geschenk«, sagte Murhab, »ich danke Euch.«

»Widme dich nun der Aufgabe. Geh zurück in das Reich der Schatten.«

Murhab setzte den Helm auf, verbeugte sich und drehte sich um. Das Portal stand noch immer offen. Er ging hindurch und befand sich wieder im Reich der Schatten.

Jetzt kannte Murhab den wahren Grund für den Zorn der Schatten. Er hörte das wütende Kreischen der Schatten hinter ihm, die von Saykara festgehalten wurden. Offensichtlich wollte ihm die Königin einen Vorsprung vor den Schatten verschaffen, die das Gespräch mitgehört hatten und alles andere als einverstanden waren.

»Die Schatten hassen mich für das, was ich vorhabe«, dachte Murhab, »sie sind noch lange nicht alle durch das Tor ins Vergessen gegangen. Die meisten von ihnen wurden zu Saykara gerufen. Der Sieg des Bewahrers war vergebens. Sie haben sich zu früh gefreut.«

Murhab wanderte durch das verlassene Reich der Schatten. Es war ein eigenartiges Gefühl, allein durch die grauen und kahlen Gänge zu laufen. Die Kammern entlang des Weges standen leer. Kein Flüstern, kein Fauchen und kein Zischen. Nichts außer ihm selbst bewegte sich. Ihm fiel auf, dass er keinen Schatten warf. Weder auf den Boden noch an die Wand, obwohl eine schummrige Beleuchtung vorherrschte. Ein eigenartiges, graues und fahles Licht, das sich nur wenig von der restlichen Umgebung abhob. Aber das Licht mochte täuschen. Im Grunde war in diesem Reich der Toten alles nur grau in grau.

Plötzlich kam ihm ein merkwürdiger Gedanke, was wäre, wenn es eines Tages kein Reich der Schatten mehr gäbe? Keine Seelen mehr, die sich von ihrem Leben erholten und auf Erlösung hofften. Was wäre, wenn er der Einzige wäre, der nach seinem Tod durch das graue, trostlose Reich der Schatten wandeln müsste? Die Vorstellung ängstigte ihn. Murhab kam sich verloren und einsam vor. Aber er wusste, dass dies nur von kurzer Dauer war. Die Schatten würden zurückkommen und sich erneut vor das Tor stellen, bis sie merkten, dass er es verschlossen hatte und ein Durchkommen unmöglich war. Sie würden toben.

Murhab lauschte. Da war ein Geräusch. Ein Klang, der ihm seltsam vertraut vorkam.

»War das nicht …?«, ging es ihm durch den Kopf, als er leise Töne vernahm. »Natürlich … ich höre Flötenspiel. Madsick.«

Murhab änderte die Richtung und ging der Musik nach, die durch die Gänge huschte und sich wie ein feines Gespinst über das Reich der Schatten ausbreitete. Es war das einzige Geräusch, das zu hören war. Es wurde lauter, je weiter Murhab dem Gang folgte, aus dem er das Flötenspiel hörte. Der Kapitän kam an eine Zelle, die mit fein gearbeiteten, dicht nebeneinander angebrachten Gitterstäben verschlossen war. Die Gitterstäbe sahen aus wie die Saiten einer Leier. Als er eine davon berührte, begann sie leicht zu vibrieren und gab einen hellen Ton von sich. Er zog daran und erzeugte damit erneut einen Ton. Mehr erreichte er nicht, gleichgültig an welcher Saite und wie stark er auch zog. Sie unterschieden sich zwar in der Tonhöhe und Klangfarbe, ließen sich jedoch nicht weiter bewegen oder ausreißen. In der Zelle saß Madsicks Geist im Schneidersitz auf einem Tisch und spielte auf seiner Flöte.

»Madsick! Ich bin es«, machte Murhab auf sich aufmerksam.

Madsick setzte die Flöte ab, hob den Kopf und blickte Murhab aus toten Augen an.

»Murhab?«, sagte der Geist leise. »Was habt Ihr hier zu suchen?«

»Nalkaar schickt mich, Euch zu befreien«, antwortete Madsick.

»Ihr tragt einen komischen Helm«, meinte Madsick und kicherte hinter vorgehaltener Hand, »er leuchtet und sieht albern aus.«

»Ich bin nicht zu Späßen aufgelegt«, erwiderte Murhab. »Wie bekommen wir dieses Gitter auf?«

»Gar nicht«, sagte Madsick ruhig. »Ihr könnt ein Lied darauf spielen, das die Schatten erfreut. Aber es lässt sich nicht öffnen.«

»Madsick! Ihr müsst mit mir kommen. Ihr seid kein Schatten und gehört nicht hierher. Nalkaar hält Euren Körper am Leben. Uns bleibt nur wenig Zeit, bis die Schatten zurückkehren. Was soll ich tun?«

»Ich bleibe hier«, antwortete Madsick, »mein Geist wurde gefangen. Ich kann erst dann wieder frei sein, wenn auch die Schatten befreit werden.«

»Was redet Ihr da?«

»Ihr müsst wieder gehen, Murhab!«, meinte Madsick. »Müht Euch nicht damit ab, das Gitter zu öffnen. Es wird Euch nicht gelingen.«

»Aber wieso? Ich verstehe nicht.«

»Es geht mir gut, Murhab. Ich habe alles, was ich brauche: meine Flöte und meine Musik. Die Schatten nahmen mich gefangen, weil ich gefährlich bin. Ich wurde in der Dunkelheit eines Verlieses geboren. Mein Geist ist die Ausgeburt böser Gedanken. Ihr könnt Euch das nicht vorstellen, aber der Herr der Grube verdarb mich einst. Er schuf ein Werkzeug des Bösen, als er mich berührte und Madsick auslöschte. Mit meiner Musik kann ich die Schatten aus ihrem Reich befreien und die Flammen der Pein unter die Lebenden tragen. Das darf nicht geschehen. Das Gefängnis und die Saiten schützen mich und Kryson vor der schlimmsten Verderbnis. Selbst wenn Ihr einen Weg wüsstet, das Gitter zu öffnen, Ihr dürftet mich nicht befreien. Ich spiele hier nur für mich und die Schatten, nicht für das Böse und die Befreiung der Flammen.«

»Was ist mit Nalkaar? Er braucht Euch und Eure Kunstfertigkeit für seine Musik.«

»Der Todsänger ist besessen von Perfektion. Er muss lernen, ohne mich zu singen. Er hat mich nur benutzt, wie zuvor der Herr der Grube. Das ist nun vorbei. Nalkaar braucht mich nicht. Mein Geist bleibt auf ewig in dieser Zelle gefangen. Lebt wohl, Murhab. Ich weiß zu schätzen, was Ihr für mich tun wolltet. Sagt Nalkaar, ich sei verloren. Tötet meinen Körper, dann werde ich mit etwas Glück zu einem Schatten und finde vielleicht eines Tages Ruhe im Nebel des Vergessens. Das wäre schön. Ich müsste mich nicht mehr vor mir selbst fürchten.«

Murhab schüttelte den Kopf. Dem Flötenspieler war nicht mehr zu helfen und der Todsänger hatte nicht die Zeit und die Fähigkeiten, ihn aus seinem Schattengefängnis zu holen. Sollte Nalkaar doch ohne Madsick auskommen. Wenn alles gut ging, würde er den Todsänger und seinen Fluch ohnehin los sein und ihm hoffentlich nie wieder begegnen.

Er verabschiedete sich und ließ Madsick in der Zelle. Als er durch den Gang zurücklief, begleitete ihn das virtuose Flötenspiel des Musikanten durch das Reich der Schatten. Seine Füße trugen den Todsänger leicht und tänzelnd beinahe wie von selbst in die Arena und vor das Tor zum Nebel des Vergessens. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, als er noch einige Drehungen vollführte, bevor er schließlich – den Takt und die Musik widerstrebend ignorierend – stehen blieb und sich das Tor näher ansah. Es war nichts Besonderes zu erkennen. Das schwere Eisentor war zwar von oben bis unten mit fremdartigen Runen und Totenköpfen verziert, unterschied sich aber ansonsten nicht von anderen Toren, die er schon auf Ell in Palästen oder auf Burgen gesehen hatte.

Murhab öffnete die Flügeltüren und schritt erhobenen Hauptes hindurch. Er hatte keine Vorstellung von dem, was ihn dahinter erwartete.

Er war überrascht, als er auf der anderen Seite einen gewaltigen Balken, Ketten und zahlreiche Schlösser entdeckte. Den Balken konnte er mit erstaunlicher Leichtigkeit in die dafür vorgesehene Vorrichtung schieben, die Ketten einhängen und das Tor damit verriegeln.

In den Schlössern steckten Schlüssel, als hätte sie jemand für ihn bereitgehalten. Er brauchte sie nur umzudrehen und abzuschließen. Wer auch immer für dieses Tor zuständig war, hatte daran gedacht, es zu sichern und dauerhaft zu schließen. Hier kam kein Schatten durch, solange das Tor verschlossen blieb.

»Anscheinend wurde den Schatten schon häufiger der Weg in den Nebel des Vergessens verweigert«, dachte Murhab, »aber wer entscheidet, wann die Schatten in ihrem Reich bleiben und wann sie vergessen dürfen?«

Gerade als Murhab das Tor hinter sich zuzog, von innen verriegelte und verkeilte, kamen die ersten Schatten zurück und rüttelten wütend an der anderen Seite. Er konnte sie kreischen und zischen hören.

»Zu spät«, dachte Murhab bei sich, »ich war schneller.«

Murhab lauschte den zornigen Stimmen auf der anderen Seite des Tores.

»Es war alles vergebens, Warrhard«, fauchte die Stimme eines Schattens.

»So dürft Ihr das nicht sehen, Corusal«, antwortete der Angesprochene, »Madhrab hat getan, was er konnte und den Torwächter ins Nichts geschickt. Er hat es für uns und alle anderen Schatten getan. Wir sind stark genug und können es wieder schaffen, auch ohne Madhrabs Hilfe. Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben, auch wenn unser Freund inzwischen ins Land der Tränen gegangen ist. Hoffen wir, dass ihm das auch gelungen ist und er seine Liebe dort findet.«

»Ja, du hast recht«, antwortete Corusal, »sein Handeln und der Sieg waren anspornend für uns alle. Gwantharab! Foljatin! Hardhrab! Kommt! Wir wollen nicht verzagen und gemeinsam mit Warrhard neue Pläne schmieden, wie wir das Tor öffnen können.«

»Gut«, antworteten die Schatten im Chor, »lasst uns keine Zeit verlieren.«

Es dauerte eine Weile bis sich die Schatten wieder beruhigten und ihre Versuche, das Tor mit Gewalt zu öffnen, allmählich nachließen. Murhab atmete durch und sah sich um. Die Welt des Nebels war unwirklich, wie der Todsänger feststellen musste. Murhab stand auf der obersten Ebene einer weitläufigen, grauen und kargen Landschaft, die Höhen und unermesslich tiefe Schluchten aufwies. Hier gab es kein Leben. Alles war tot. Nichts wuchs auf den zerklüfteten Felsen. Zurückgezogen zwischen Hügeln und in Schluchten waberte der Nebel des Vergessens.

Der Nebel pulsierte langsam und gleichmäßig von innen, als ob ein lebendiges Herz in ihm schlüge. Er machte keine Anstalten, sich bis zum Tor auszubreiten. Im Gegenteil, Murhab hatte das Gefühl, als schliefe der Nebel, um sich zu schützen und nicht an Substanz zu verlieren, genau wie Saykara gesagt hatte. Immerhin ernährte sich der Nebel von den Seelen. Je mehr Seelen zu ihm kamen, desto stärker und dichter wurde er. So stellte sich Murhab den Nebel des Vergessens vor. Bei den Todsängern war es nicht viel anders. Vielleicht waren sie auf eine merkwürdige Weise miteinander verwandt – Seelenfresser unter sich. Murhab musste bei diesem Gedanken schmunzeln.

»Wo soll ich mit der Suche anfangen?«, fragte er sich. »Der erste Krieger der Maya könnte sich überall verstecken. Wie gelange ich in die unteren Ebenen? Das Land des Nebels ist riesig. Ich werde ihn niemals finden. Aber nun bin ich hier und darf nicht aufgeben. Vielleicht begegne ich einer verlorenen Seele, die mir sagen kann, wo ich diesen Gahaad finde.«

Murhab entfernte sich vom Tor, in der Hoffnung, es später wiederzufinden. Auf seinem Weg streifte er an Nebelfetzen vorbei, in denen er schemenhaft Gesichter, manchmal ein Bein oder eine aus dem Nebel ragende Hand erkennen konnte. Aber wenn er genauer hinsah, lösten sie sich wieder auf und verschwanden im grauen Dunst. Es hatte keinen Zweck, sich länger mit diesen Erscheinungen aufzuhalten. Sie halfen ihm nicht weiter, den Krieger zu finden.

Seine Stimmung hatte sich nicht gerade verbessert, nachdem er den zehnten Hügel umrundet, in drei tiefe Schluchten geblickt und noch immer nichts gefunden hatte. Doch plötzlich, während er den elften Hügel in Angriff genommen hatte, stand – wie aus dem Nichts – ein Schatten unmittelbar vor ihm.

»Wer bist du? Was hast du hier zu suchen?«, zischte der Schatten.

»Ich suche einen Krieger. Sein Name ist Gahaad«, antwortete Murhab, »kennst du ihn?«

»Du hast meine Frage nur zum Teil beantwortet«, beharrte der Schatten auf einer Antwort, »wer bist du?«

»Ich bin Murhab«, sagte Murhab.

»Schön für dich. Aber das wollte ich nicht hören«, erwiderte der Schatten, »du bist kein Schatten und hast kein Recht darauf, durch das Tor zu gehen und im Land des Nebels umherzustreifen. Also noch einmal … wer bist du?«

»Ich bin ein Todsänger«, antwortete Murhab, »und kein Schatten. Das ist wahr. Ich wurde geschickt, einen Geist zu suchen und einen Krieger – den ersten Krieger der Nno-bei-Maya. Den Geist habe ich bereits gefunden. Er will nicht mit mir zurück nach Ell kommen.«

»Wer will das schon? Gibt es etwas Schöneres, als einfach nur im Reich der Schatten umherzuwandern? Es gibt keinerlei Pflichten. Nichts. Nur die Erinnerungen, und selbst die gehen verloren, sobald die Schatten in den Nebel des Vergessens gehen.«

»Und wer bist du?«, wollte Murhab wissen.

»Ich … nun ich bin ein Schatten, den der Nebel wieder ausgespuckt hat. Schon vor langer Zeit. Er wollte mich nicht aufnehmen, obwohl ich lange genug im Reich der Schatten gewartet hatte. Ich darf nicht vergessen. Das ist meine Strafe für die Taten, die ich zu Lebzeiten beging. Eine sehr harte Bestrafung für jemanden wie mich, der längst alles bereut hat und dem von vielen verziehen wurde. Ich habe es noch im Reich der Schatten erfahren, meine Opfer haben es mir selbst gesagt. Weißt du, wie lange die Ewigkeit dauert?«

»Kennst du Gahaad?«

»Lass mich nachdenken. Hm … ich weiß nicht … warte … hm … nein.«

»Nein?«

»Nein. Aber wie lange ist er denn schon hier im Land des Nebels?«

»Er ist schon mehr als fünftausend Sonnenwenden hier gefangen. Die Nno-bei-Maya wurden befreit. Gahaad hingegen musste hierbleiben.«

»Davon habe ich gehört«, sagte der Schatten, »aber nach einer so langen Zeit solltest du die tieferen Wege beschreiten, um nach diesem Krieger zu suchen. Dort in den tiefen Schluchten halten sich die verlorenen und vergessenen Seelen auf. Sie wissen nicht mehr, wer sie waren. Aber sei gewarnt, der Weg dorthin ist gefährlich. Du könntest dich selbst verlieren, auch wenn du kein Schatten bist.«

»Die Königin der Maya sorgte dafür, dass er dem Vergessen widerstehen konnte. Jedenfalls behauptete sie es«, meinte Murhab. »Wie komme ich in die unteren Ebenen?«

»Hm … ich könnte dich dorthin führen«, sagte der Schatten, »aber dafür schuldest du mir einen Gefallen.«

»Du kennst den Weg? Weshalb bist du nicht dort unten bei den anderen verlorenen Seelen? Sagtest du nicht eben, dass du schon vor langer Zeit hierherkamst? Wer bist du und was hast du getan?«

»Das willst du nicht wissen«, antwortete der Schatten, »aber es hat einen Grund, warum ich mich nicht dort unten aufhalte. Dort ist es kalt und finster. Außerdem mögen mich die verlorenen Seelen nicht. Sie dulden mich nicht und quälen mich, sobald sie mich entdecken.«

»Dann musst du wirklich Schreckliches angerichtet haben. Ich wundere mich nur, dass du nicht in den Flammen der Pein schmorst, wenn deine Taten so furchtbar waren.«

»Glück braucht der Tote«, lachte der Schatten schrill. »Ich würde sagen, dass ich den Flammen nur knapp entging. Aber ich bin hier und kann dir bei deiner Suche helfen, wenn du mir diesen Gefallen nicht abschlägst.«

»Was verlangst du?«, wollte Murhab wissen.

»Du wirst für mich ein gutes Wort beim Nebel des Vergessens einlegen. Ich will, dass meine Bestrafung ein Ende findet.«

»Und wie soll ich das anstellen?« Murhab blickte den Schatten verwundert an.

»Ganz einfach«, zischte der Schatten, »rede mit ihm. Er wird dir zuhören und dich verstehen.«

»Na dann, wenn es weiter nichts ist, werde ich mit dem Nebel reden.«

»Dann sind wir uns einig. Aber du musst dich mit dem Nebel des Vergessens verbinden, um mit ihm zu reden. Er verschlingt dich und du gehst in ihm auf. Danach wird alles viel einfacher und besser sein.«

»Aber ich bin nicht tot«, erwiderte Murhab.

»Oh, stimmt, ich vergaß. Das ist schlecht … für dich. Der Nebel wird den Unterschied nicht merken und du wirst ohnehin alles vergessen. Also beeile dich damit, ihn zu bitten, mich aufzunehmen.«

»Ich hatte nicht vor, hierzubleiben und zu vergessen. Ich kehre zurück aus dem Reich der Schatten und werde wieder leben.«

»Das wollen und werden wir doch alle irgendwann mal«, meinte der Schatten.

»Du erwartest von mir, dass ich mich für dich opfere. Der Preis ist mir zu hoch«, empörte sich Murhab, »ich werde Gahaad auch ohne deine Hilfe finden.«

»Du wirst dich verirren.«

»Nein, ich besitze ein besonderes Talent zur Orientierung, das mich selbst im dichtesten Nebel noch nie im Stich gelassen hat«, entgegnete Murhab. »Vergiss es. Ich will deine Hilfe nicht.«

Der Schatten fauchte bösartig, entfernte sich und ließ Murhab einfach stehen. Der Kapitän starrte ihm nach. Gerade als er sich kopfschüttelnd auf den Weg machen wollte, kehrte der Schatten zu ihm zurück.

»Das wirst du noch schwer bereuen«, zischte der Schatten, »du weißt nicht, mit wem du es zu tun hast: Ich bin der größte und scheußlichste Schlächter, den Kryson je gesehen hat. Kinder, Frauen, Alte und Kranke. Niemand war vor mir sicher. Ich habe gemordet, wieder und wieder, bis mich die Eiskrieger eines Tages fassten und in einen Harrak in der Eiswüste steckten. Ein Arbeitslager für Verbrecher. Dort mordete ich weiter nach Lust und Laune, starb aber leider schon nach einigen Jahren an Entkräftung, obwohl ich eigentlich noch viel zu jung war. Die Eistiger fraßen mich auf. Ich habe nicht in Kriegen oder Schlachten getötet, nein, das wäre zu einfach gewesen. Ich tat es immer heimlich und feige und war dabei unsagbar grausam.«

»Du willst mir drohen? Du bist nur eine kranke Seele«, antwortete Murhab, »nichts weiter. O ja, ich habe von dir gehört. Wer nicht? Du bist Kelamon, der Schlächter. Ein Mann, der sein Unwesen vor fünfhundert Sonnenwenden trieb. Du hast dich mit deinen Taten tatsächlich in den Schriften der Klan verewigt. Dazu gratuliere ich dir. Aber glaub mir, den Atramentoren zitterten die Hände, als sie deine Geschichte aufschrieben und niemand, wirklich niemand will sie heute noch lesen. Du kannst mich nicht einschüchtern. Du bist ein Schatten und ich bin ein Todsänger, der dich beherrschen kann. Du würdest mir gehorchen müssen und könntest mir nichts anhaben. Aber ich will gar nichts mit dir zu tun haben. Also geh deiner Wege.«

»Gut, ich gehe«, antwortete der Schatten Kelamons, »aber denk bei Gelegenheit darüber nach, ob Vergebung nicht eine Tugend ist, die dir besser zu Gesicht stünde, als mich zu einer ewigen Bestrafung zu verdammen. Du bist auch nicht besser als ich.«

»Das weiß ich«, antwortete Murhab, »und deshalb warten die Flammen der Pein nach meinem endgültigen Tod auf mich. Aber ich werde mich dem stellen, wenn es so weit sein sollte. Bis dahin kann ich nur versuchen, einiges wiedergutzumachen und meine Seele zu retten. Verschwinde!«

Der Geist Kelamons verschwand und Murhab stand vor der undankbaren Aufgabe, in die tieferen Ebenen zu steigen. Nach längerer Suche, bei der sich der Kapitän tatsächlich mehrfach verirrte, fand er schließlich einen Pfad, der steil abfiel und geradewegs in eine tiefe Schlucht führte. Murhab war nicht wohl während des Abstiegs. Er wusste nicht, was ihn dort unten in der Finsternis der Schatten erwartete.

Unten angekommen, konnte er nicht einmal mehr die Hand vor Augen sehen. Es war stockdunkel. Nur selten blitzte ein schwaches, fahles Licht auf.

»Schatten ohne Licht?«, fragte sich Murhab. »Wie ist das möglich? Hier unten herrscht die finsterste Nacht. Oder sind die Schatten in den tieferen Ebenen etwa gar keine Schatten mehr, sondern Lichtgestalten?«

Dieser eigenartige Gedanke ließ den ehemaligen Seemann und Todsänger nicht mehr los. Vielleicht veränderten sich die alten Seelen, die bereits vor langer Zeit gestorben waren und alles vergessen hatten. Machten sie sich hier unten für ein neues Leben bereit und wurden zu Lichtern? Geläutert und erleuchtet? Oder waren sie wirklich nur verlorene Seelen, die langsam vergingen und irgendwann im Nichts verschwanden?

Schatten ohne Licht waren in Murhabs Vorstellung nicht denkbar. Das war genauso absurd, wie es keinen Tag ohne eine Nacht gab: das einfachste Gedankenspiel der Gegensätze des Gleichgewichts.

Vorsichtig tastete sich Murhab in der absoluten Finsternis voran. Immer wieder blitzten vereinzelt Lichter auf und erloschen nach kurzer Zeit wieder. Er ging für eine Weile darauf zu, bis er wieder die Orientierung verloren hatte.

»Pssst!«

Das Geräusch ließ Murhab zusammenzucken. War da etwas oder jemand, der auf sich aufmerksam machen wollte?

»Pssst!«

Da war es wieder. Das leise Zischen war hinter ihm und es war ganz nah.

»Pssst! Ihr geht im Kreis«, flüsterte eine Stimme, »dreht Euch um und kommt zu mir.«

Murhab drehte sich um und ging ein paar Schritte auf die Stimme zu.

»Bleibt stehen«, sagte die Stimme, »ich bin direkt vor Eurer Nase.«

Der Kapitän konnte nichts erkennen. Seine Knie zitterten.

»Wer seid Ihr? Zeigt Euch!«, verlangte Murhab.

»Das geht leider nicht«, antwortete die Stimme, »das würde mich verraten. Ihr müsst mit meiner Stimme vorlieb nehmen. Ich bin Gahaad. Der erste Krieger der Nno-bei-Maya.«

»Was für ein Glück!«, jauchzte Murhab erleichtert. »Ich habe Euch gesucht.«

»Pssst! Nicht so laut«, mahnte die Stimme, »der Nebel könnte uns finden. Oder noch schlimmer, wir wecken die anderen Seelen auf und stören sie in ihrer Ruhe. Das würde ihnen nicht gefallen. Erwischen sie uns, ergeht es uns schlecht und wir werden im Nichts vergehen.«

»Ich habe verstanden«, flüsterte Murhab. »Saykara schickt mich, Euch beizustehen und zu beschützen. Ich werde Euch aus den Schatten führen, sobald die Zeit gekommen ist.«

»Wie schön«, sagte die Stimme, »meine Königin hat mich also nicht vergessen. Ich musste alleine im Land des Nebels zurückbleiben, als Tomal mein Volk aus den Schatten ans Licht führte. Und das nur, weil Ulljan mir einst das Herz und das Gehirn geraubt hat. Mein Geist kann nicht in meinen Körper zurück, solange sich mein Herz und mein Gehirn woanders befinden. Ich brauche sie, um wieder leben zu können. Aber es fühlt sich so an, als wären sie noch in weiter Ferne. Wir müssen warten.«

»Ja, wir müssen warten. Ich bleibe bei Euch, bis es so weit ist.«

»Das ist gut. Ihr wisst gar nicht, wie sehr ich Gesellschaft schätze. Ganz besonders hier unten in den tieferen Ebenen, wo ich mich vor dem Nebel verstecke. Es ist viel Zeit vergangen, seit ich mit jemandem geredet habe.«

»Wir sollten nach oben steigen«, schlug Murhab vor, »hier unten in der Finsternis fühle ich mich nicht wohl.«

»Nein, das ist nicht gut«, sagte die Stimme, »man würde uns entdecken. Habt Ihr das Tor zum Nebel des Vergessens für die Schatten verschlossen?«

»Ja, das habe ich«, antwortete Murhab, »ich denke nicht, dass es einem Schatten gelingen wird, das Tor zu öffnen und durchzuschlüpfen.«

»Sehr gut. Ohne Seelennahrung bleibt der Nebel schwach und träge. Er zieht sich zurück, bis es wieder Nachschub gibt.«

»Das dachte ich mir«, meinte Murhab, »bitte … wir wollen die tiefen Ebenen verlassen. Suchen wir uns einen Ort, an dem wir warten können.«

»Einverstanden«, sagte die Stimme, »Ihr geht voraus.«

Murhab widersprach nicht und suchte den Pfad, der nach oben führte. Er spürte im Nacken, dass ihm jemand dicht auf den Fersen folgte, konnte jedoch nichts hören oder sehen. Als sie langsam aus der Schlucht herausgeklettert waren, wurde die Sicht besser und Murhab drehte sich zu seinem Weggefährten um. Ihm blieb der Mund mit der Stummelzunge offen stehen, als er sah, wer ihm gefolgt war.

»Kelamon!«, rief Murhab verärgert aus. »Du hast mich getäuscht. Das da unten in der Finsternis war nicht Gahaad. Das warst du!«

»Ja«, kicherte der Geist Kelamons, »das war ich. Ich bin dir schon den ganzen Abstieg in die tiefe Ebene gefolgt. Das hat Spaß gemacht. Du hast nichts gemerkt.«

»Verdammt!«, fluchte Murhab. »Wo ist Gahaad? Ich weiß, dass du ihn kennst. Du kennst seine Geschichte. Lüg mich nicht an!«

»Sonst wirst du was mit mir anstellen?«, fragte der Schatten.

»Ich weiß nicht«, sagte Murhab, »irgendwas wird mir schon einfallen, was einem Schatten wehtut. Vielleicht werfe ich dich persönlich in die Flammen der Pein.«

»Das wäre in der Tat nicht nett«, verzog der Schatten das Gesicht zu einer traurigen Fratze, »wenn du denn wüsstest, wie du dorthin gelangst. Du müsstest auf jeden Fall das Tor zum Nebel des Vergessens öffnen. Hier wirst du die Flammen nicht finden.«

»Wo ist Gahaad?«, verlangte Murhab zu wissen. »Ich verliere langsam die Geduld.«

»Jedenfalls nicht in den tiefen Ebenen«, meinte der Geist Kelamons, »ich gebe zu, dass ich ihn kennengelernt habe. Das ist nicht weiter schwierig … schließlich schwirren nur wenige Geister in der Nähe des Nebels herum, die nicht bereits vergessen haben, wer sie einst waren. Was gibst du mir, wenn ich diesen Gahaad für dich finde und zu dir bringe?«

»Ich werde mich nicht für dich opfern«, meinte Murhab. »Welche Wünsche kann ein Schatten noch haben, wenn es nicht gerade das Gespräch mit einem anderen Schatten und das Einlegen eines guten Wortes beim Nebel des Vergessens ist?«

»Ich würde gerne wieder leben und nicht auf ewig in den Schatten umherziehen müssen«, antwortete Kelamon frei heraus, »gebt mir die Gelegenheit, ein neues Leben zu beginnen und meine Fehler aus der Vergangenheit wiedergutzumachen.«

»Das steht nicht in meiner Macht«, antwortete Murhab, »ich bin kein Schattenbeschwörer und Totenerwecker.«

»Du vielleicht nicht«, sagte der Schatten, »obwohl du es als Todsänger können müsstest. Dein Meister Nalkaar vermag das Ritual durchzuführen. Die Frau, die dich hierher auf die Suche nach Gahaad schickte, kann es. Es gibt noch einige andere. Thezael, der Schattenpraister, ist ein Meister der Schatten. Die magischen Brüder wären in der Lage dazu. Tarratar, der Narr, und ein Magier der Drachenreiter. Sie alle könnten mir neues Leben schenken. Bitte sie für mich darum. Ich brauche einen neuen Körper.«

»Ich werde darüber nachdenken, sollte die Suche nach Gahaad erfolgreich sein und es mir gelingen, ihn aus den Schatten zu befreien.«

»Das ist doch zumindest ein Anfang!«, freute sich der Geist Kelamons. »Warte hier. Ich werde Gahaad aufspüren und zu dir führen.«

Murhab hatte keineswegs vor, Kelamon die Gelegenheit zu geben, ein neues Leben auf Ell zu beginnen. Wie könnte er dem Schlächter einen solchen Wunsch ernsthaft erfüllen? Das war viel zu gefährlich. Würde der Geist in einem anderen Körper wieder morden, so wie er es zu Lebzeiten getan hatte? Dann wäre Murhab mitschuldig am Tod vieler Opfer. Diese Bürde wollte sich der Todsänger nicht auch noch aufladen. Er hatte schon genug zu tragen an seinem Schicksal als Todsänger und an der Suche nach Gahaad. Kryson und das Gleichgewicht konnten keinen weiteren Schlächter gebrauchen. Aber es war eine gute Idee, den Schatten in diesem Glauben zu lassen. Vielleicht würde er sich noch als hilfreich erweisen und Gahaad tatsächlich aufspüren. Die Frage war nur, wie Murhab den Schatten wieder loswerden würde. Er hatte ihm nichts versprochen, denn er wusste, wie gefährlich es sein konnte, ein Versprechen gegenüber einem Schatten nicht einzuhalten.

Murhab wartete und während er wartete, verlor er jegliches Gefühl für die Zeit. Irgendwann – es mochte eine Ewigkeit sein oder auch nur eine sehr kurze Weile – kam der Schatten zurück und hatte jemanden mitgebracht.

»Ich habe mein Wort gehalten«, sagte Kelamon, »darf ich vorstellen, Gahaad, der erste Krieger der Nno-bei-Maya.«

»Endlich«, sagte Murhab. »Ich bin Murhab und werde Euch aus dem Reich der Schatten zu Eurem Volk führen.«

Gahaad sah den Todsänger verständnislos an.

»Ich kann nicht zurück«, sagte Gahaad, »mein Körper ist nicht bereit dazu.«

»Ich weiß, ich weiß«, meinte Murhab, »ich bleibe so lange bei Euch, bis die Zeit für Eure Rückkehr gekommen ist.«

»Wie Ihr wollt«, meinte Gahaad, »aber wir werden uns verstecken müssen.«

Der Geist des Kriegers drehte sich um und deutete auf den Nebel des Vergessens, der plötzlich in Bewegung zu geraten schien und langsam auf sie zukroch.

»Wir müssen uns beeilen, bevor er uns erreicht hat«, sagte Gahaad.

»Ich verstehe«, antwortete Murhab, »Ihr kennt Euch hier besser aus als ich. Ich folge Euch, wohin Ihr auch immer geht.«

»Dann los«, sagte der Krieger, »mir nach.«

»Ich komme mit euch«, rief Kelamon.

Gahaad legte einen strammen Schritt vor, lief Hügel hinauf und wieder hinunter, bis sie zu einer sehr schmalen Schlucht kamen, in die er ohne zu zögern hinabstieg.

»Dort unten gibt es eine Höhle«, zischte der erste Krieger leise, »der Nebel ist noch nie bis dorthin vorgedrungen. Wir verstecken uns in der Höhle und warten. Ich bin schon sehr lange hier gefangen. Ich würde es sehr zu schätzen wissen, wenn Ihr mir etwas über Euer Leben und über meine Königin erzählen könntet. Aber erst in der Höhle.«

Murhab, Gahaad und Kelamon stiegen gemeinsam zur Höhle hinab und versteckten sich. Der Nebel des Vergessens hatte ihre Spur bald verloren.