Nebel des Vergessens

Er wusste nicht wer, was oder wo er war. Madhrab hatte alles vergessen und sich selbst verloren. Jedes Gefühl für Zeit und Raum war in den Qualen untergegangen. Wie lange war er schon hier? Es gab nur die Flammen und den Schmerz. Eine ewig dauernde Tortur. Seine eigenen Schreie hörte er schon lange nicht mehr. Wie oft war er zu Asche verbrannt und gleich darauf im Feuer wieder auferstanden? Hatte es je etwas anderes gegeben als den Schmerz? Er konnte sich nicht daran erinnern. Er war ein Verlorener. Sein Bewusstsein war leer. Die Flammen der Pein waren alles, was ihm geblieben war. Sie füllten ihn aus und verbrannten ihn. Sie zehrten von seiner Seele, verhöhnten ihn und raubten ihm den Verstand. War er nicht tot? Hätte ihm der Gang zu den Schatten nicht Ruhe und Frieden bringen müssen. Was hatte er hier verloren? Er sollte im Land der Tränen sein.

Es fühlte sich ganz und gar nicht danach an. Auf einem Scheiterhaufen zu verbrennen musste eine Erlösung sein gegen dieses nicht enden wollende Schicksal in den Flammen der Pein. Er schrie. Er stöhnte. Aber das half ihm nicht. Gleichgültig was er tat, er konnte den Flammen nicht entgehen und den Schmerz nicht lindern. Das Feuer fraß ihn auf. Und wenn er glaubte, er habe die Qual überstanden, begann das Leiden von vorne. Wieder und wieder und wieder.

Doch plötzlich war alles vorbei. Arme umschlangen seinen Leib und zogen ihn heraus. Er hörte eine Stimme.

»Komm zu dir, Madhrab!«

Madhrab? War das sein Name? Die Stimme kam ihm bekannt vor. Wo hatte er sie zuletzt gehört? Es musste Ewigkeiten her sein.

»Öffne deine Augen. Du hast es überstanden.«

Madhrab gehorchte und öffnete seine Augen. Ein Gesicht hatte sich dicht über das seine gebeugt. Die Züge kamen ihm bekannt vor. Aber sie waren furchtbar blass, beinahe durchsichtig. Ein Schatten! Die Lippen wirkten grau. Die Augen lagen in dunklen Höhlen verborgen. Madhrab versuchte, sich zu erinnern.

»Lass ihm Zeit«, hörte er eine andere Stimme sagen, »er muss zu sich selbst finden. Die Flammen haben ihm schwer zugesetzt.«

Madhrab drehte seinen Kopf und erkannte neben dem Schatten, der sich über ihn gebeugt hatte, drei weitere Schatten, die sich in seiner unmittelbaren Nähe aufhielten. Sie waren ihrerseits damit beschäftigt, sich um weitere Schatten zu kümmern, die wie er selbst am Boden lagen und sich verwirrt umsahen. Madhrab richtete sich auf, um besser sehen zu können. Der Schatten über ihm wich zurück.

»Er kommt zu sich«, sagte die Stimme, die Madhrab zuerst vernommen hatte.

»Wo bin ich?«, fragte Madhrab tonlos.

»Willkommen im Reich der Schatten, mein Freund«, antwortete der Schatten bei ihm.

»Wer bin ich?«

»Du bist Madhrab, der Bewahrer des Nordens. Und du bist tot, wie wir alle hier.«

»Tot?«

»Mausetot. Du könntest nirgendwo lebloser sein, als an diesem Ort.«

»Aber …«, stammelte Madhrab, »… das Feuer. Ich brannte lichterloh in den Flammen. Wie kam ich hierher?«

»Wir haben dich aus den Flammen der Pein befreit. Aber lass das bloß keinen wissen. Du hättest dort ewig schmoren müssen. Die Flammen werden zornig sein. Wir haben unsere Seelen dafür riskiert, dich ihrem Feuer zu entreißen.«

Madhrab kam plötzlich ein Name in den Sinn.

»Du … du bist Corusal«, stammelte Madhrab.

»Wie schön, deine Erinnerung kehrt zurück. Ich hatte schon befürchtet, die Flammen hätten dir den letzten Funken deines Verstandes geraubt und wir hätten nur noch eine leere Hülle aus dem Feuer gezogen.«

»Wie ist das möglich? Es ist eine Ewigkeit her, seit wir uns gesehen haben«, wunderte sich Madhrab.

»Das stimmt. Ich bin schon viel länger im Reich der Schatten und sollte längst im Nebel des Vergessens sein. Aber die Umstände hier haben mir das unmöglich gemacht. Wer weiß, wozu es gut war. So konnten wir dich, Hardrab und Foljatin retten.«

Madhrab sah sich erneut um und erkannte nun auch die übrigen Schatten. Warrhard, der Eiskrieger, Gwantharab und sogar Brairac, seine beiden Freunde, hatten sich um ihn versammelt. Die anderen beiden Schatten waren die Zwillingsbrüder, die ihm bis zu ihrem Ende und darüber hinaus treu gedient hatten: Gwantharabs Söhne, die sich von den erlittenen Qualen allmählich erholten und ebenfalls aufgerichtet hatten.

Madhrab stand auf.

»Ich bin überglücklich, Euch an diesem Ort zu treffen«, sagte Madhrab in die Runde, »dann ist es also wahr, was wir zu Lebzeiten erhofften. Nach dem Tod sehen wir alle uns im Reich der Schatten wieder.«

»Und bitten die um Vergebung, die wir betrogen haben«, warf Gwantharab ein, »wir hätten uns gewiss nicht getroffen, wenn wir bereits im Nebel des Vergessens wären. Ihr könnt Euch sicherlich denken, dass ich über ein Wiedersehen mit Euch weit weniger erfreut bin als die übrigen Schatten!«

»Aber Gwantharab, Ihr seid einer meiner besten Freunde!«, erwiderte Madhrab. »Euch zu sehen, ist mir eine besonders große Freude.«

»Wir waren beste Freunde! Aber Ihr habt keines Eurer Versprechen gehalten, Madhrab«, antwortete Gwantharab verbittert, »Ihr habt meine Familie vernichtet, abgeschlachtet und geradewegs in die Flammen der Pein geschickt. Im Gegensatz zu Euch konnte ich weder meine Gemahlin noch eines meiner Kinder retten. Nur die Zwillinge zogen wir mit Euch aus den Flammen. Aber sie sollten nicht hier sein und noch viel weniger sollten sie mit Euch leiden müssen. Ihr wolltet sie vor Übel beschützen. Das habt Ihr mir an meinem Totenbett versprochen.«

»Ich weiß und habe es all die Zeit versucht«, sagte Madhrab mit gesenktem Kopf, »ich habe versagt und kann Euch nur um Verzeihung für meine Unfähigkeit bitten, auch wenn meine Fehler unverzeihlich sind. Eure Familie fiel den Bluttrinkern zum Opfer. Ich kam zu spät und schickte sie in einem Kampf zu den Schatten und ja, zu meinem großen Bedauern in die Flammen der Pein. Das kann ich nicht wiedergutmachen. Es gibt keine Vergebung für das, was ich ihnen angetan habe. Dafür habe ich das Leid in den Flammen gewiss mehr als verdient. Wenn Ihr wollt, kehre ich aus freien Stücken dorthin zurück und büße für mein Vergehen bis in alle Ewigkeit. Für Euch und Eure Familie, Gwantharab. Das schulde ich Euch als Freund.«

»Nein, das kommt nicht infrage«, entgegnete Gwantharab, »dann wäre alles umsonst gewesen. Aber in der Tat schuldet Ihr mir und vielen anderen einen Gefallen und ich will für Euch hoffen, dass Ihr nicht noch einmal versagt. Sonst werfe ich Euch eigenhändig und mit Vergnügen in die Flammen zurück.«

»Das wäre nur gerecht«, antwortete Madhrab und nickte Gwantharab wohlwollend zu.

»Hört auf mit dem Gerede«, mischte sich Corusal vehement ein, »niemand wird in die Flammen der Pein zurückgehen. Das hilft keinem von uns. Schuld, Versagen. Was spielt das im Reich der Schatten noch für eine Rolle? Wir sind alle tot und haben fast nichts mehr zu verlieren. Also sollten wir uns auch wie Tote verhalten, den Frieden wahren und uns gegenseitig verzeihen, so es denn überhaupt etwas zu verzeihen gibt. Das Leben läuft nicht immer so, wie wir es uns wünschen. Madhrabs Versagen sehe ich in einem ganz anderen Licht. Die Verantwortung, die er zu Lebzeiten trug, war zu groß für einen einzelnen Mann. Und das wisst Ihr auch, Gwantharab.«

»Schon gut, schon gut«, knurrte Gwantharab, »ich habe schließlich eingewilligt und dabei geholfen, Madhrab aus dem Feuer zu ziehen. Ich bin froh, dass wir es geschafft haben und er bei uns ist. Ihr könnt Euch also alle wieder beruhigen.«

»Wenn Ihr Eure Nettigkeiten zur Begrüßung ausgetauscht habt, darf ich Euch vielleicht daran erinnern, dass wir einen Grund hatten, Madhrab und die Zwillinge aus den Flammen zu befreien?«, meldete sich Warrhard zu Wort. »Wir haben die Gefahren nicht auf uns genommen, um mit ihnen bis in alle Ewigkeit im Reich der Schatten Menotai zu spielen. Obwohl dies durchaus seinen Reiz hätte, nach so langer Zeit endlich gegen einen neuen Spieler anzutreten und nicht ständig gegen Euch zu verlieren, Corusal.«

»Was ist nun?«, ignorierte Warrhard die Bemerkung des Fürsten. »Wollen wir Madhrab einweihen oder nicht?«

Madhrab war gespannt darauf, was ihm seine Freunde zu berichten hatten. Eigentlich hatte er sich sein Ende im Reich der Schatten anders vorgestellt. Seine Freunde unterhielten sich und handelten, als weilten sie noch unter den Lebenden.

»Nun gut«, begann Corusal, »ich will es dir erklären. So gut ich es vermag – du bist noch nicht lange genug im Reich der Schatten, um all die Zusammenhänge deines Todes zu begreifen. Die Endgültigkeit ist schwer zu begreifen, denn du siehst uns und kannst mit uns sprechen. In den Flammen der Pein hast du zu sehr gelitten, um einen klaren Gedanken zu fassen und darüber nachzudenken, was mit dir geschehen ist. Du musst verstehen: Das Reich der Schatten ist nur ein Übergang. Wir alle werden nach unserem Tod zu Schatten. Während unsere Körper auf Ell verrotten, verweilen unsere Seelen für eine begrenzte Zeit an diesem kalten und grauen Ort. Wir erhalten Gelegenheit, über unser Leben und unsere Taten nachzudenken. Wir lernen, zu bereuen und zu verzeihen. Wir sind alle gleich, gute wie schlechte Seelen. Nur die Übelsten unter uns schmoren für immer in den Flammen der Pein und kommen niemals in den Genuss der ewigen Ruhe und des Vergessens. Dieses Schicksal hätte dich beinahe auch ereilt. Aber wir konnten dich davor bewahren.

Nur eine seltsame Fügung hat uns diesen Schritt ermöglicht, den die meisten Schatten dank unserer Überredungskünste nun dulden. Sie hätten uns daran gehindert, dich und die Zwillinge aus den Flammen zu ziehen. Wir wissen nicht genau, was es ist. Aber wir alle können fühlen, dass etwas Großes und Mächtiges im Gange ist. Eine Veränderung, die selbst an den Schatten nicht spurlos vorübergeht. Das Gleichgewicht ist gestört. Die Angst geht unter den Schatten um. Das ist ungewöhnlich, denn Schatten fürchten sich eigentlich nicht. Sie sind tot. An diesen Gedanken wirst du dich gewöhnen müssen, Madhrab. Von Zeit zu Zeit werden wir nach Ell gerufen, um Sterbende in unser Reich zu begleiten. Wir holen sie zu uns, sobald ihre Zeit gekommen ist. Du wirst sehen, das ist eine willkommene Abwechslung, denn im Grunde warten wir hier alle nur auf das Vergessen und die endgültige Erlösung unserer Seelen. Warrhard, Brairac, Gwantharab und ich warten schon viel zu lange auf diesen letzten, entscheidenden Schritt unserer Erlösung. Wie viele andere Schatten auch, sollten wir längst im Nebel des Vergessens sein. Aber der Weg dorthin ist versperrt. Wir fürchten uns davor, den wahren Grund zu erfahren. Wir glauben, jemand sehr Mächtiges hindert die Schatten daran, in den Nebel des Vergessens zu gehen. Wir wissen nicht, wer es ist, aber wir vermuten, es muss ein Totenbeschwörer oder Magier sein, der die Schatten für seine Zwecke einsetzen will. Er könnte uns benutzen, um das Gleichgewicht zu seinen Gunsten zu verschieben. Er könnte ganz Ell oder gar Kryson in ein Reich der Schatten verwandeln. Er hat Macht über uns und wird uns rufen, sobald er uns für seinen Krieg braucht. Wir müssen und werden ihm gehorchen. Das spüren wir.«

»Nalkaar, der Todsänger, und Thezael, der oberste Praister, haben Macht über die Schatten«, sagte Madhrab.

»O ja, die Namen sind uns wohlbekannt, mein Freund«, antwortete Corusal, »aber sie sind nicht die Einzigen, die diese Kunst beherrschen. In den Schatten erfahren, sehen und hören wir viel. Weit mehr als uns lieb ist oder du dir zu Lebzeiten vorstellen kannst. Ich weiß nicht, warum das so ist – vielleicht weil wir am Ende im Nebel wieder alles vergessen. Du erinnerst dich an den Jungen, der im Verlies des hohen Vaters aufwuchs. Madsick ist sein Name. Sein Flötenspiel verzaubert uns und zwingt uns, für ihn zu tanzen. Er und der Herr der Grube haben ebenfalls Macht über die Schatten. Aber es gibt noch andere. Die heilige Mutter der Orna kann die Schatten für sich einsetzen, obwohl sie womöglich selbst noch nicht von dieser Fähigkeit weiß. Ihre engste Vertraute, Ayale, eine alte Saijkalsan-Hexe könnte sie auf die richtige Fährte bringen. Saykara, die Königen der Nno-bei-Maya ist eine mächtige Totenbeschwörerin. Die magischen Brüder, die Saijkalrae und einige Saijkalsan beherrschen die Kunst, die Schatten für sich zu benutzen. Der Lesvaraq kann es lernen. Lernt er die Totenbeschwörung, dann könnte er der Stärkste und Gefährlichste unter den Genannten werden. Und einen dürfen wir niemals vergessen. Tarratar, der kleine Mann mit der Narrenkappe. Er ist unsterblich und einem Kojos gleich. Tarratar treibt sein höchst eigenes Spiel. Sein Antrieb ist es, sich nicht mehr zu langweilen und für seine Spieler immer neue Herausforderungen zu suchen, deren Lösung ihn dann überraschen soll. Die Macht kann ihm schon lange nichts mehr bieten. Er wird sich das Spiel und dessen Ausgang eher mit Freude aus der Distanz ansehen. Aber was nutzt uns all das Spekulieren. Es könnte – aus unterschiedlichen Motiven heraus handelnd – jeder der Genannten sein oder eben einer von zahlreichen anderen, der die Schatten auf dieser Ebene festhält.«

»Und Ihr könnt nichts dagegen unternehmen?«, fragte Madhrab.

»Wir sind nicht stark genug. Vielleicht sind wir einfach schon zu lange im Reich der Schatten, um uns aufzulehnen«, gab Corusal zu. »All unsere Hoffnungen liegen auf dir.«

»Auf mir?« Madhrab verdrehte die Augen. »Ich wüsste nicht, was ich tun kann. Ich bin so tot wie alle hier und habe noch nicht verstanden, wovon du eigentlich redest. Wer weiß, ob ich meine Fähigkeiten mit meinem Tod oder womöglich nicht schon davor verloren habe?«

»Wenn wir es nicht einmal versuchen, werden wir niemals erfahren, ob du auch im Reich der Schatten der Krieger bist, den wir zu Lebzeiten so sehr bewundert haben«, meinte Warrhard.

»Aber was soll ich machen?«, fragte Madhrab noch einmal.

»Du wirst dich wundern«, sagte Corusal, »ein alter Bekannter versperrt den Schatten den Weg in den Nebel des Vergessens. Du hast ihn vor nicht allzu langer Zeit getötet. Nachdem er im Reich der Schatten angekommen war, schwang er sich schnell zum Wächter über den einzigen Zugang zum Nebel des Vergessens auf. Anfangs war das keine große Schwierigkeit«, erklärte Corusal, »er ließ viele Schatten durch, sobald ihre Zeit gekommen war. Nur wenige forderte er zum Kampf in der Arena heraus. Wir vermuten, dass er nur zum Zeitvertreib und aus Spaß gegen andere Schatten kämpfte. Aber inzwischen besitzt er ein Schattenschwert und sein Antrieb scheint ein anderer zu sein. Trifft er einen Schatten mit der Waffe, verliert der Schatten seine Seele an den Schwertträger und wird niemals in den Nebel des Vergessens gehen. Der Schwertträger hingegen verleibt sich Wissen, Seele und Geist des Schattens ein und wird dadurch immer stärker. Niemand kam seither an dem Wächter vorbei. Er behandelt uns wie Gefangene. Solange er über den einzigen Zugang wacht, bleibt uns der Weg dorthin verschlossen.«

»Wer ist dieser Wächter, den die Schatten so fürchten?«, wollte Madhrab wissen.

»Chromlion«, antwortete Corusal leise und mit gesenktem Kopf.

»Chromlion?« Madhrab riss die Augen auf.

Der Schreck stand Madhrab ins Gesicht geschrieben. Warum wurde dieser Bewahrer nicht in den Flammen der Pein für seine Taten bestraft? Chromlion hatte Madhrabs Familie auf dem Gewissen. Er hatte ihm Elischa und einen Teil ihres Lebens und ihr gemeinsames Glück geraubt. Chromlion war verschlagen und falsch. Er hatte es in Madhrabs Augen nicht verdient, sich im Reich der Schatten zu einem Richter über andere Schatten aufzuschwingen.

»Chromlion also …«, wiederholte Madhrab fassungslos den Namen seines Widersachers. »Ich wähnte ihn in den Flammen der Pein. Aber ich habe mich wohl getäuscht.«

»Das hast du«, meinte Corusal, »er mag Übles vollbracht haben, als er noch auf Ell wandelte. Aber es war nicht schrecklich genug, um dafür in den Flammen wieder und wieder zu verbrennen. Ich habe dir gesagt, dass nur die Übelsten unter den Üblen und die seelenlosen Kreaturen in den Flammen der Pein schmoren müssen. Im Vergleich zu dir war Chromlion ein Waisenknabe.«

»Vielen Dank, mein Freund«, nickte Madhrab, »aber ich verstehe. Und was wollt Ihr von mir? Ich brenne nicht darauf, meinem ärgsten Feind noch einmal zu begegnen. Ich habe mit ihm abgerechnet. Mein Rachedurst ist gestillt. Ich will ihn nicht noch einmal sehen.«

»Du wirst gegen ihn antreten müssen«, drängte Corusal, »du darfst uns diesen Gefallen nicht abschlagen, Madhrab. Hilf uns, den Weg in den Nebel des Vergessens freizumachen. Das schuldest du uns.«

»Ich bin tot, verdammt noch mal«, ärgerte sich Madhrab, »ich schulde niemandem etwas. Außerdem sollte ich gar nicht hier sein. Ich stamme von den Nno-bei-Maya ab. Die Altvorderen und Magiebegabten wandern nach ihrem Tod ins Land der Tränen und nicht in das Reich der Schatten. Das wurde mir jedenfalls gesagt.«

»Weißt du sicher, ob wir nicht über ein- und denselben Tod reden? Vielleicht gibt es nur diesen Ort hier, den wir Reich der Schatten nennen und alle anderen das Land der Tränen.«

»Nein« antwortete Madhrab betrübt, »das Land der Tränen ist anders. Glaube ich … ich habe es noch nicht mit eigenen Augen gesehen, aber … ich sollte nicht hier sein, das spüre ich.«

»Aber du bist es nun einmal, also wirst du uns auch helfen«, verlangte Corusal. »Womöglich kennen wir einen Weg, der dich ins Land der Tränen bringt, sobald der Weg in den Nebel des Vergessens frei ist.«

»Welchen?«, fragte Madhrab.

»Du musst noch einmal sterben. Endgültig … so wie wir den Nebel des Vergessens suchen. Hilf uns, Madhrab, und wir helfen dir«, bat Corusal seinen alten Freund.

Madhrab musste nachdenken. Er konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Er musste zur Ruhe kommen. Wenn sie ihn nur ließen. Die Flammen der Pein hatten Madhrab erschöpft und kaum hatten ihn seine Freunde von den Qualen befreit, drängten sie ihn zu einem Kampf, den er nicht wollte. Er schuldete ihnen Dank. Aber war es nicht schon immer so gewesen? Madhrab war ein Getriebener, ob im Leben oder jetzt im Tod. Nichts hatte sich verändert.

Vielleicht war das sein ewiges Schicksal. Er trug die Last der anderen, oft alleine und gegen viele Widerstände. Und er war derjenige, der handelte und am Ende für die anderen und eine bessere Welt scheiterte. Wieder und wieder. Madhrab versuchte vergeblich zu seufzen. Was würde geschehen, wenn er versagte und Chromlion ihm ein Ende in den Schatten bereitete? Er würde niemals in das Land der Tränen kommen und, das war das Schlimmste an diesem Gedanken, er würde Elischa niemals wiedersehen. Elischa – sie war die Einzige, die ihm Hoffnung gab. Ein Wiedersehen im Land der Tränen mit der Liebe seines Lebens wäre der größte Trost, den er sich erhoffen durfte.

War Madhrab einer solchen Auseinandersetzung gewachsen? Nach seiner Wandlung zum Todsänger waren seine Kräfte geschwunden. Er hatte die Gabe des Kriegers verloren. Womöglich hatten ihn die Flammen der Pein weiter geschwächt. Chromlion mochte ihm deutlich überlegen sein. Mit jeder Seele, die er besiegt hatte, war Chromlion starker geworden. Madhrab hatte Zweifel, ob sich seine Freunde nicht in ihm täuschten.

»Was wird geschehen, wenn ich gegen Chromlion verliere?«, fragte Madhrab. »Ich bin nicht mehr derselbe Madhrab, der ich einmal war. Meine Kräfte schwinden. Ich war ein Todsänger, bevor ich starb.«

»Das wissen wir«, antwortete Corusal, »und dennoch ruhen all unsere Hoffnungen auf dir. Du hast nicht vergessen, was du einst gelernt hast und wofür du dich eingesetzt hast. Du kannst Chromlion besiegen und den Weg in den Nebel des Vergessens öffnen. Es wird nicht leicht werden, dessen sind wir uns bewusst. Verlierst du, sind wir verloren und du mit uns.«

Madhrab sah Corusal in die Augen. Er sah, dass sein Freund sich auf ihn verließ. Er durfte ihn nicht enttäuschen.

»Ich werde gegen Chromlion antreten. Ein letztes Mal«, sagte Madhrab leise.

»Mehr verlangen wir nicht von dir«, nickte Corusal und klopfte seinem Freund auf die Schulter.

Sie zogen durch schmale, dunkle Flure. Schatten huschten an ihnen vorbei, flüsterten und zischten wütend, wenn sie ihnen nicht genug Platz machten. Madhrab kam sich wie in einem Traum vor. Links und rechts des Weges befanden sich zahlreiche Kammern, die von Schatten besetzt waren. Sie unterhielten sich, spielten miteinander oder gingen irgendwelchen Beschäftigungen nach, als wären sie nicht schon längst gestorben. Was sie taten, hatte keine Bedeutung. Das war Madhrab bewusst. Es war ein letztes Aufbäumen gegen das Vergessen. Wozu diese Zwischenwelt des Todes gut war, konnte sich Madhrab nicht erklären. Vielleicht diente sie dazu, den Toten die Gelegenheit zu geben, über ihr Leben nachzudenken und zu bereuen, wenn es etwas zu bereuen gab. So etwas hatte Corusal in ihrem Gespräch angedeutet.

»Wir gehen in die Arena«, sagte Corusal, »dahinter liegt das einzige Tor in den Nebel des Vergessens. Die Schatten wissen bereits, dass es einen Kampf geben wird. Sie warten ungeduldig auf eine Entscheidung.«

Madhrab nickte. Was blieb ihm anderes übrig? Je früher er die Entscheidung gegen Chromlion suchte, umso besser waren seine Chancen. Er wollte den Kampf, um das Reich der Schatten möglichst schnell hinter sich zu lassen.

Sie kamen nicht bis in die Arena. Madhrab spürte einen Sog, der ihn aus dem Reich der Schatten ziehen wollte. Eine Stimme rief ihn zu sich. Sie war durchdringend, verlockend und befehlend. Er schuldete ihr unbedingten Gehorsam. Die Stimme übte einen Zwang aus, dem er sich nicht entziehen konnte Sie war ein Flüstern, das immer drängender wurde. Je länger er wartete, desto stärker wurde der Drang, der Stimme zu folgen. Was würde geschehen, wenn er sich ihr widersetzte? Durfte er das? Alleine der Gedanke schmerzte ihn und verursachte ihm Qualen, wie die in den Flammen der Pein.

Madhrab sah die anderen Schatten, die kreischend und zischend an ihm vorbeizogen. Ihnen schien es ähnlich zu ergehen. Hastig folgten die Schatten den Befehlen der Stimme und suchten das Portal, das sie aus dem Reich der Schatten an einen anderen Ort bringen würde.

»Was ist los?«, wollte Madhrab von den ihn begleitenden Schatten wissen.

»Jemand ruft uns!«, zischte Corusal.

»Wer?«, fragte Madhrab.

»Ein Meister der Schatten, ein Totenbeschwörer«, erklärte Corusal, der sich bereits hektisch nach den anderen Schatten umsah und ihnen folgen wollte.

»Wer ist es und was will er von uns?«, hakte Madhrab nach.

»Wissen wir nicht«, Corusals Zischen klang beinahe panisch, »wir müssen ihm folgen. Rasch. Wir dürfen nicht zu spät kommen, sonst bestraft er uns. Das Portal wird sich schließen, dann sind wir verloren. Er wird uns schon sagen, was er von uns will.«

»Und wenn wir uns weigern?«, ließ Madhrab nicht locker.

»Keine Zeit … der Schmerz … unsere Seelen. Wir müssen gehen. Los! Komm!«, rief Corusal.

Madhrab begriff zwar noch nicht, was ihn erwartete, aber der Schmerz war zu stark und die Panik seiner Freunde ansteckend. Selbst der standhafte Warrhard, den er als höchst eigensinnig und widerstrebend kennengelernt hatte, der aufrichtige Gwantharab und dessen Söhne folgten der Stimme ohne Murren. Madhrab schloss sich seinen Gefährten an. Der Schmerz ließ augenblicklich nach, als er sich dazu entschlossen hatte, den Gedanken an Widerstand aufzugeben und mit den anderen zum Portal zu stürmen: ein Schattenportal, das sich wie aus dem Nichts aufgetan hatte und die Schatten in einem wabernden Nebel verschlang. Kaum hatten sie das Portal erreicht, lösten sie sich im Nebel auf und setzten sich an einem anderen Ort wieder zusammen, der ihm auf eigenartige Weise bekannt vorkam.

Sie tanzten in einem Wirbel gemeinsam um einen Mann in einem langen, blutroten Mantel, der die Arme hoch erhoben hatte und rief:

»Schatten, ich rufe Euch!«

Der Mann wiederholte die Worte wieder und wieder. Die Schatten tanzten und tanzten ohne Unterlass. Sie flüsterten, zischten und schrien. Aber sie konnten sich nicht von der Macht befreien, die der Schattenmann auf sie ausübte. Sie mussten gehorchen, bis sie schließlich alle um ihn versammelt waren. Madhrab kannte das Gesicht. Er hatte es schon einmal gesehen, als er Regent in Tut-El-Baya war und vor den Rachuren kapituliert hatte. Madhrab kannte das Gewand und er erinnerte sich an den Schattenbeschwörer.

»Thezael!«, die Erkenntnis fiel Madhrab wie Schuppen von den Augen, »der oberste Praister.«

»Geht und sucht Jafdabh, den Todeshändler«, befahl Thezael den Schatten.

Die Stimme des Praisters klang belegt und sie überschlug sich, während er den Schatten Befehle gab. Er war aufgebracht. Madhrab konnte fühlen, dass der Totenbeschwörer Angst hatte und zugleich wütend war.

»Bringt mir diesen Frevler. Findet ihn und schleppt ihn zu mir. Ich will ihn lebend. Hört ihr? Lebend. Ihr werdet ihn nicht in das Reich der Schatten bringen und wehe euch, ihr fügt ihm Schaden zu. Ich und nur ich alleine will ihn in Stücke schneiden. Er soll meinen Zorn und meinen Hass bis zu seinem Ende spüren. Ich will, dass er leidet. Lange und ausgiebig. Sein Leben und seine Seele gehören mir. Ich befehle euch, bringt mir Jafdabh! Unversehrt!«

Madhrab spürte, dass die Worte des Praisters falsch waren. Thezael missbrauchte seine Macht über die Schatten.

»Das dürfen wir nicht!«, fauchte Madhrab.

»Das dürfen wir nicht«, stimmten die anderen Schatten sofort mit ein, während sie wie ein Sturm um den Schattenbeschwörer wirbelten.

»Was?«, schrie Thezael entsetzt. »Ihr wollt mir nicht gehorchen? Bringt mir den Todeshändler oder ich werde Euch zeigen, was geschieht, solltet Ihr Euch meinen Befehlen widersetzen.«

»Wir müssen tun, was er sagt«, zischte Gwantharabs Stimme neben Madhrab.

»Warum?«, wollte Madhrab wissen.

»Er beherrscht uns, solange wir noch nicht in den Nebel des Vergessens gegangen sind«, flüsterte Warrhard.

»Nur im Nebel des Vergessens können wir uns den Totenbeschwörern endgültig entziehen«, bestätigte Corusal.

»Und wenn er es ist, der den Weg in den Nebel versperrt, um die Schatten für seine Zwecke gefügig zu halten?«, fragte Madhrab.

»Das könnte durchaus sein«, räumte Corusal ein, »aber das ändert nichts. Er gebietet, wir folgen.«

»Aber ich kann fühlen, dass seine Befehle nicht richtig sind. Jafdabhs Zeit ist noch nicht gekommen«, flüsterte Madhrab, »spürt Ihr das denn nicht?«

»Doch!«, antwortete Warrhard. »Trotzdem müssen wir gehorchen und ihm Jafdabh bringen.«

Thezael starrte die um ihn herum tanzenden Schatten an, als wolle er einzelne von ihnen erkennen. Der Praister kniff die Augen zusammen. Ein Schrei löste sich von seinen Lippen, der die Schatten in ihrer Bewegung innehalten ließ. Der Praister stieß einen entsetzlichen Schrei aus, als ob er plötzlich fürchterliche Qualen erleiden müsste.

»Rasch«, keuchte Thezael, »sucht das widerliche Schwein! O nein … halt … es ist schon wieder zu spät. Er beraubt mich meiner Macht. Die Vision … bei den Kojos, wie furchtbar. Ich … ich kann euch nicht … nicht mehr halten. Geht … geht zurück in das Reich der Schatten und vergesst meine Befehle nicht. Ich rufe euch wieder … eilt euch … es bleibt mir nur wenig Zeit.«

Die Schatten nahmen ihren Tanz wieder auf. Doch sie befanden sich an einem ganz anderen Ort. Thezael stand nackt und bis aufs Blut gepeinigt an einen Pfahl gekettet im Wasser. Es war schmutzig. Eine Kloake. Das Wasser reichte ihm bis zum Bauch. Es stank erbärmlich und war kalt. Die aufgeplatzten Lippen des Praisters waren bereits blau angelaufen. Madhrab sah sich um. Sie umkreisten den Schattenbeschwörer in einem Fluss. Ein Nebenarm des Rayhin, der in einem künstlich befestigten Kanal mitten durch Tut-El-Baya ins Ostmeer floss. Eine Kloake, bestehend aus Abwasser, angefüllt mit allerlei Abfall, Lebensmittelresten und Fäkalien aus der von Klan überfüllten Stadt.

So etwas hatte Madhrab nie zuvor gesehen. Der Kanal musste neu sein. Viele Klan standen am oberen Rand der Kloake, johlten vor Schadenfreude, zeigten mit den Fingern auf den Angeketteten, verspotteten ihn und bewarfen ihn mit faulem Gemüse.

Die Schatten spürten, wie die Macht des Schattenbeschwörers mit jeder Sardas schwand. Sie konnten sehen, wie die Fische und Krebse an ihm nagten. Thezael schrie erneut.

»Aaaah … die Schmerzen! Verschwindet!«, krächzte der Praister mit letzter Kraft. »Ihr werdet kommen, sobald ich euch rufe!«

Die Worte des Praisters klangen wie eine Drohung. Aber sie verhallten im aufziehenden Nebel, der sich über das Ufer legte und Thezael den Augen Madhrabs entzog. Das Portal zog die Schatten zu sich. Sie lösten sich erneut auf und fanden sich alsbald im Reich der Schatten wieder.