Tag und Nacht

Tarratar stand am Rand des gigantischen Vulkankraters, der soeben eine ganze Stadt verschlungen und seine Einwohner in nur wenigen Sardas in den Tod gerissen hatte. Wohin er auch blickte, überall erhoben sich weitere Vulkane aus dem Meer und aus der Erde und spuckten ihre feurige Lava, glühende Steine, Rauch und Asche über das Land. Es gab keine Überlebenden.

Tarratar schüttelte traurig den Kopf und starrte fassungslos in den brodelnden Krater. Die Hitze am Kraterrand war selbst für einen Unsterblichen unter einem Schutzmantel kaum zu ertragen. Die heiße, schwefelhaltige Luft schnitt mit jedem Atemzug schmerzhaft in Rachen und Lungen.

Tarratar hustete und spuckte einen schwarzen Klumpen Schleim aus. Dunkle, dicke Rauch- und Aschewolken verdunkelten den Himmel und verdeckten die Sonnen. Tarratar wusste, dass die Katastrophe ihren Höhepunkt noch nicht einmal annähernd erreicht hatte. Die sterbende Sonne war durch die Rauchschwaden nicht zu sehen. Aber er wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis die Feuersbrunst der Sonnenstürme Ell erreichen würde. Die Folgen würden noch verheerender sein als die Vulkane und die Riesenwelle. Der Tod einer Sonne würde nicht nur für das Leben auf Ell, sondern auch für den magischen Kontinent eine einschneidende Veränderung mit sich bringen. Eine der beiden Sonnen Krysons war für immer untergegangen.

Nichts war mehr übrig geblieben von der einst prunkvollen und lebhaften Stadt der Nno-bei-Klan. Nicht einmal Ruinen zeugten von der ehemals stolzen Existenz Tut-El-Bayas. Der Kristallpalast verschwunden, die Türme verglüht, verbrannt und zu einem feurigen, flüssigen Brei verschmolzen, der sich nun zähfließend über die Hänge des Vulkans ergoss und in die noch immer tosenden Wogen des Ostmeeres stürzte.

Und das war erst der Anfang vom Ende. Tarratar hatte Schreckliches geahnt und versucht, das Schlimmste zu verhindern. Es war ihm nicht gelungen.

Die Mächte des Gleichgewichts hatten sich verselbständigt. All seine Spiele, die Einflussnahme und die Prüfungen waren am Ende vergebens. Tarratar stand vor einem riesigen Scheiterhaufen aus Feuer und Asche. Die mühsam gezogenen Pflanzen waren verdorrt, die Fäden seiner manchmal allzu willigen Marionetten zerschnitten.

Dem Narren zu Füßen lag der Lesvaraq. Tomal lag auf dem Rücken und atmete schwer. Große Teile seiner Haut waren verbrannt, der Körper zerschmettert vom Sturz aus großer Höhe.

Tarratar hatte ein Bein auf die Brust des Schwerverletzten gestellt, um ihn am Boden zu halten, falls er sich aufrichten oder vor Schmerzen aufbäumen wollte. Nicht weit entfernt von Tomal lag das Buch der Macht.

Tarratar bückte sich, hob es auf und blätterte in den Seiten. Wieder und wieder schüttelte er den Kopf.

»Was Ihr getan habt, ist unverzeihlich«, meinte der Narr. »Ihr seid ein Lesvaraq, warum habt Ihr nicht Eure eigenen Kräfte eingesetzt, die Welt neu zu erschaffen? Ihr hättet so viel erreichen, so viel mehr zum Guten wenden können. Musstet Ihr das Buch missbrauchen und die Zerstörung rufen? Ich kann nicht mehr rückgängig machen, was Ihr getan habt. Das Ende ist unabänderlich. Wird der Name des Buches in der Gegenwart des Buches ausgesprochen, gibt es kein Zurück mehr. Die Buchstaben und Wörter brennen sich fest in die Seiten des Buches ein. Sie bilden den Schluss eines ganzen Zeitalters. Dieses Unglück liegt alleine in Eurer Verantwortung. Nie zuvor hat ein Lesvaraq die Welt an den Abgrund geführt, wie Ihr es gewagt habt. Ich wollte das Ende von Tag und Nacht verhindern, aber es ist mir nicht gelungen. Ich war wahrhaftig ein Narr, Euch das Buch zu überlassen.«

»Ich … meine Macht, meine Magie … alles dahin«, sagte der Lesvaraq mit brüchiger Stimme. »Seit … Kallyas … meine Magierin … seit … ihrem Tod habe ich vieles verloren. Geblieben ist mir nur ein kleines … winziges … Stück von der … Nacht. Der Tag starb, als ich Kallya tötete und damit einen neuen Zyklus der Lesvaraq einleitete.«

»Hoi, hoi, hoi …«, kratzte sich der Narr nachdenklich am Kinn, »Ihr meint den kleinen bösen Parasiten in Eurem Kopf. Ich kenne diese Sorte Geistwesen. Sie sind durch und durch böse. Es gibt kein echtes Heilmittel dagegen. Sie werden als Gefäße erschaffen, das Übel aufzunehmen und ihren Schöpfer vom Bösen zu befreien. Dunkle, böse Magie. Totenbeschwörung. Euer Gast ist ein klein wenig wie der dritte Wächter in der Grube und vergiftet Euren Geist. Soll ich ihn für Euch herausholen?«

»Nein!«, lehnte Tomal ab. »Ohne ihn bin ich ein … ein … Nichts.«

»Das redet er Euch doch nur ein. Wirklich bedauerlich«, meinte Tarratar, »ich hätte Euch helfen können, ein normales Leben zu führen. Aber Ihr seid genauso am Ende wie die Welt, die Ihr vernichtet habt.«

»Ich … ich … will kein normales Leben wie ein gewöhnlicher Klan. Ohne Magie kann ich nicht weiterleben. Ein Lesvaraq muss gestalten und herrschen.«

»Und manchmal muss er vernichten, bevor er etwas Neues erschaffen kann. Ist es nicht so?«

»Genau … so ist es.«

»Aber das ist krank und falsch, Tomal«, belehrte der Narr den Lesvaraq, »Leben entsteht nur aus Leben und nicht aus dem Tod. Ich nehme an, Ihr kennt das Geheimnis, das alle haben wollen und doch nie verstehen werden.«

»Ja … ich kenne das Geheimnis des Lebens … aber bitte … Tarratar, Ihr müsst uns helfen. Ich sterbe sonst. Ist das nicht tragisch? Der Lesvaraq schlägt sich am Ende mit seinen Waffen selbst. Ich werde meine neue Welt nicht mehr vollenden können. Sie nicht einmal sehen. Ironie des Schicksals. Bitte … helft mir.«

»Nein, ich helfe Euch nicht. Ihr müsst Euch schon selbst helfen. Das Buch werdet Ihr nie wieder in den Händen halten. Ihr seid seiner nicht würdig.«

Tarratar blickte nach oben und sah, wie ein Drache in der Luft einen fallenden Körper auffing. Gerade noch im letzten Augenblick, sonst wäre der Körper in den mit Lava brodelnden Krater gestürzt.

»Hoi, hoi, hoi …«, applaudierte Tarratar bewundernd und wandte sich erneut an den Lesvaraq, »Sapius scheint mehr Glück zu haben als Ihr.«

»Der Magier … er ist schuld an allem. Wäre er mir treu geblieben, wäre es nicht so weit gekommen. Sapius ist schlecht. Tötet ihn für mich … ich … ich kann es nicht mehr selbst.«

»Ihr seid wirklich verrückt. Bis zum Schluss. Ihr wisst nicht einmal mehr, was richtig und was falsch ist. Schade. Aus Euch hätte ein guter und starker Lesvaraq werden können. Ihr hattet alle Voraussetzungen dazu. Aber Ihr habt Eure Gelegenheiten leichtfertig vertan und werdet nun als Zeichenträger mit dem kürzesten Zyklus und der größten Niederlage in die Geschichte Krysons eingehen. Ja, ich helfe Euch auf die Beine und lindere Eure Schmerzen, um das Gejammer nicht mehr hören zu müssen. Ich biete Euch gerade so viel Kraft an, damit Ihr Euch aufrecht auf den Beinen halten und Eurem Henker in die Augen sehen könnt. Ich hoffe, Ihr stürzt nicht sofort rückwärts in den Krater. Mehr bekommt Ihr allerdings nicht von mir.«

»Dann los, Tarratar, worauf wartet Ihr noch?«

Der Narr stand mit versteinerter Miene und verschränkten Armen über Tomal, als ob er diesen in einer Schlacht getötet hätte und nun den Einwohnern von Tut-El-Baya präsentieren musste. Aber sie waren tot, wie alle anderen, die in der Nähe der Stadt gewohnt hatten.

»Tarratar!«, verlangte der Lesvaraq stöhnend. »Was ist mit Euch, Ihr habt es mir doch angeboten?«

»Ein Wort. Mir fehlen ein Wort und eine Geste.«

»Was? Ich verstehe Euch nicht.«

»Ich diene Euch nicht«, brummte Tarratar, »wie lautet also das Wort, das ich hören will?«

»Bitte! Bitte, Tarratar. Ich habe solche Schmerzen und kann mich nicht mehr bewegen.«

»Das werdet Ihr auch nicht können, nachdem ich Euch geholfen habe. Ihr denkt wohl, lass den Narren nur machen. Ich gebe Euch Kraft und Ihr heilt Euch dann selbst. O nein, das braucht Ihr nicht zu versuchen. Euer Rückgrat ist gebrochen. Ich werde Euch aufrichten und dafür sorgen, dass Ihr stehen bleibt, und wenn ich Euch irgendwo festbinden muss. Ihr sollt Euren Feinden in die Augen sehen, wenn sie kommen, Euch zu richten.«

Der Narr packte den Lesvaraq und richtete ihn auf. Er strich ihm über die Verbrennungen, murmelte dabei unverständliche Worte und richtete einige gebrochene Knochen. Nachdem er das erledigt hatte, prüfte er, ob der Lesvaraq stehen blieb, wenn er ihn losließ. Tomal stand, schief und wankend zwar, aber er stand und blieb auch zitternd stehen, wie ihn Tarratar hingestellt hatte.

Tarratar blickte durch sich verziehende und umherwirbelnde Rauch- und Dampfschwaden die Hänge des Vulkans hinab und verzog sein Gesicht zu einer Grimasse aus Schmerz, Verzweiflung und Grinsen. Hätte der Unsterbliche sich so in einem Spiegel gesehen, er wäre sofort vor Schreck gestorben.

»Ich sehe einen sehr interessanten Mann, der soeben versucht, die Wände des Vulkans zu erklimmen«, sagte der Narr.

»Wer ist es?« Tomal konnte seinen Kopf nicht bewegen und daher dem Blick des Narren nicht folgen.

»Ich schätze, Nalkaar will Euch ein Ständchen bringen. Der Todsänger wird Euch gleich besuchen kommen. Er sieht verärgert aus«, spottete Tarratar, »geradezu wütend. Ich glaube, er hatte schon lange vor, Eure Seele zu rauben. Seid Ihr für ihn bereit?«

»Wie könnte ich? Für Nalkaar und sein Gefolge ist niemand jemals bereit.«

»Er ist ganz allein«, stellte der Narr trocken fest, »Ihr seid ein Lesvaraq. Ihr werdet Euch doch nicht vor einem einzelnen Seelenfresser fürchten.«

»Schickt ihn fort, Tarratar«, flehte der Lesvaraq, »ich bitte Euch! Ich bin nicht in der Verfassung, eine Begegnung mit einem Todsänger zu überstehen.«

»Das hättet Ihr Euch aber vorher überlegen sollen. Jetzt ist es zu spät«, sagte Tarratar. »Was für ein Ende für einen Lesvaraq. Er verliert seine Seele an die Musik.«

»Nein … bitte …!«

»Doch! Ihr werdet Euch Nalkaar stellen und es wird mir ein Vergnügen sein, zuzusehen und zuzuhören, wie der Todsänger für Euch singt. Nur für Euch. Welche Ehre! Eine solch wundervolle Vorstellung habt Ihr eigentlich nicht verdient. Im Gegensatz zu den Sterblichen darf ich Nalkaars Gesang genießen, ohne um meine Seele fürchten zu müssen. Ein nicht zu unterschätzender Vorteil. Denn ich muss Euch sagen, Nalkaar ist genial und sein Gesang ist von einer Schönheit und Melancholie, die es nicht noch einmal auf unserer Welt gibt. Es ist wirklich schade, dass er für die Sterblichen tödlich ist. Was hätte aus ihm werden können? Ein allseits beliebter und bekannter Künstler, den jeder verehrt hätte. Aber so ist es nicht. Dennoch wird die Musik des Todsängers perfekt zu unserer Stimmung und dem Untergang unserer Welt passen. Ein Feuerwerk trauriger Klänge, die so schön sind, dass sie uns das Herz zerreißen. Nichts bewegt uns mehr, niemand berührt unser Innerstes so sehr wie Nalkaar. Ich wünsche Euch viel Vergnügen, Tomal.«

»Tarratar … nein …!«

Nalkaar hatte den Kraterrand erreicht und blieb stehen. Der Todsänger blickte sich um.

»Ist er es, der für die Zerstörung verantwortlich ist?«, fragte er Tarratar und nickte abfällig zu Tomal hin.

»Der Lesvaraq hat die Zerstörung gerufen«, nickte Tarratar.

»Das ist das Ende«, meinte Nalkaar betrübt und wagte einen Blick in die brodelnde Glut des Kraters, »fast wie in den Flammen der Pein. Ich will um seine Seele singen.«

»Ich werde Euch nicht daran hindern«, antwortete Tarratar, »nicht mehr.«

»Ihr seid Tarratar, der Narr«, stellte Nalkaar fest, »ich erinnere mich an Euch. Es ist lange her.«

»Wirklich? Ihr habt ein erstaunliches Gedächtnis für einen Toten oder sollte ich lieber Untoten sagen«, wunderte sich der Narr.

»Wie könnte ich einen wie Euch jemals vergessen? Einen der alles weiß, in Rätseln spricht und jeden kennt. Einen Kojos trifft man nicht jeden Tag und Ihr seid der letzte Kojos, der über Ell und das Gleichgewicht wacht.«

»Ihr übertreibt, Nalkaar«, sagte Tarratar, »ich bin weder allwissend noch allmächtig.«

»Aber Ihr seid unsterblich.«

»Das stimmt«, sagte Tarratar, »im Gegensatz zu einem Lesvaraq und einem Todsänger bin ich unsterblich.«

»Warum sagt Ihr mir, was ich bereits weiß?«, wollte Nalkaar wissen. »Ich würde mich nicht aufmachen, um die Seele eines Lesvaraq zu singen, wenn ich nicht sicher wüsste, dass er sterblich ist.«

»Unser Freund hier dachte wohl bis vor wenigen Sardas etwas anderes«, meinte Tarratar, »er wollte ein Kojos sein und durch seine Taten unsterblich werden. Aber er hat versagt und Ell vernichtet. Euch bleibt wenig Zeit für Euren Gesang. Eine der Sonnen Krysons wird bald explodieren. Ihre Stürme werden den Kontinent mit feurigem Atem überziehen.«

»Die vollkommene Vernichtung«, stellte Nalkaar nüchtern fest, »danach wird es nichts und niemanden mehr geben, für den ich noch singen könnte. Das wird auch mein Ende sein.«

»Höchst bedauerlich, bei Eurem Talent«, lachte der Narr, »Ihr könntet für mich singen. Ich liebe Euren Gesang.«

»Ihr findet das belustigend?«, schüttelte Nalkaar verständnislos den Kopf.

»Ach kommt schon, Nalkaar. Ich war, bin und bleibe ein Narr. Tomal hat mir meine Machtlosigkeit und Narretei deutlich vor Augen geführt. Ich konnte das Ende nicht verhindern.«

»Für Euch zu singen hilft mir nicht«, knurrte Nalkaar, »das wisst Ihr genau. Ich werde verhungern, ein weiteres Mal sterben und bis in alle Ewigkeit in den Flammen der Pein brennen.«

»Die gerechte Strafe für einen Seelenfresser«, meinte Tarratar mit einem Funkeln in den Augen.

»So ist es«, gab Nalkaar zu.

»Fangt an, bevor es zu spät ist«, schlug Tarratar vor.

Nalkaar zog seine Phiole aus dem Gewand und träufelte sich einen Tropfen der öligen Flüssigkeit auf seine Stummelzunge. Er sah den Lesvaraq lange und nachdenklich an, bis er schließlich den Mund öffnete und seine Stimme erklingen ließ.

Tarratar hielt seine Tränen nicht zurück. Er beweinte das Ende von Tag und Nacht.

*

Die Landung auf dem Rücken des Drachen war hart, dennoch spürte Sapius den Aufprall kaum. Das Gift in seinem Körper lähmte nicht nur seine Glieder und Sinne, sondern betäubte auch den Schmerz.

»Nutze deine Fähigkeiten, Sapius«, sagte der Drache, »du musst das Gift aus deinem Körper bekommen, bevor es weiterwandert und als Nächstes deinen Geist, dann deine Atmung und am Ende dein Herz lähmt.«

»Wozu soll das noch gut sein?«, fragte Sapius. »Ich habe versucht, Tomal aufzuhalten. Lass mich sterben, Haffak. Ich habe versagt. Alles ist verloren.«

»Das ist nicht wahr und du weißt das«, entgegnete der Drache, »sogar der Todeshändler Jafdabh träumte bis zum Schluss von einer besseren Welt. Du darfst nicht aufgeben. Das Ende Ells ist nicht das Ende Krysons, auch wenn sich vieles für uns ändern wird. Manches zum Guten, manches zum Schlechten. Völker sterben, Städte verschwinden. Aber dein Volk, deine Gemahlin und deine Kinder warten sehnsüchtig auf dich. Enttäusche sie nicht. Sieh das alles hier doch als einen Anfang.«

»Das kann ich nicht«, seufzte Sapius, »Tomal hat alles zerstört, auch meinen Glauben an eine Zukunft.«

Der Drache grollte und spuckte Feuer. Sapius merkte wohl, dass Haffak alles versuchte, ihn umzustimmen und zu retten.

»Du bist nicht mehr bei Sinnen, das Gift trübt deinen Geist«, beschwerte sich Haffak, »du wirst jetzt auf der Stelle das Gift aus deinem Körper entfernen!«

»Wie denn, verdammt?«, regte sich Sapius auf.

»Erhitze dein Blut und erwärme deinen Körper«, sagte Haffak Gas Vadar, »das ist eine Fähigkeit, die du in deiner Drachengestalt mit Leichtigkeit vollbringen kannst. Sie wird dich nur ein wenig Kraft kosten. Bist du erst heiß, wird das Gift wie von selbst aus deinen Poren gedrückt. Dein Blut reinigt sich. Versuch es!«

Sapius versuchte, sich vorzustellen, wie sein Körper wärmer wurde. Aber das Gift in seinen Adern wanderte weiter und lähmte seinen Geist und den Willen, seine letzte Kraft zu suchen, noch einmal aufzustehen und weiter gegen das Unvermeidliche zu kämpfen. Er konnte sein eigenes Herz kaum noch spüren, das Atmen fiel ihm schwer. Nicht nur wegen des Rauchs und der Asche, die überall um ihn herum war und auf der Haut und in den Augen brannte und alles verklebte. Er fror erbärmlich trotz der großen Hitze über dem Vulkan und zitterte am ganzen Leib. Seine Lippen wurden blau.

»Kämpfe dagegen an, sonst bist du verloren!«, verlangte Haffak Gas Vadar. »Oder bist du etwa zu schwach? Lässt du den Lesvaraq gewinnen? Ich hätte mehr von dir erwartet. Du enttäuschst mich, Yasek. Ich hätte dich gleich in den Krater fallen lassen sollen, dann wäre dir schon heiß geworden.«

»Verdammt, Haffak«, ärgerte sich Sapius, »ich sterbe und du machst mir Vorwürfe. Du solltest etwas mehr Mitgefühl mit einen Schwerverletzten zeigen.«

»Du bist schwach und feige. Mit dir rede ich nicht mehr«, antwortete Haffak spitz.

Die Hitze stieg Sapius ins Gesicht. Er hätte platzen können vor Wut. Was bildete sich dieser Drache ein? Sapius war der Yasek. Ein Drache hatte ihm gegenüber Respekt zu zeigen. Der Magier fühlte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte und sich sein Brustkorb langsam erwärmte. Die Wärme breitete sich in seinem Körper aus. Ihm wurde heiß. Das Gefühl der Überhitzung seines Körpers hatte er schon einmal erlebt, als er sich geärgert und seinem Zorn freien Lauf gelassen hatte. Das war erst kürzlich im Netz des vierten Wächters gewesen. Eine höchst unangenehme Erfahrung. Insbesondere die damit verbundenen Schmerzen waren unerträglich. Sapius brüllte vor Qualen.

Die Hitze brannte wie Feuer in seinen Adern. Er glaubte, er müsse innerlich verbrennen. Sapius dampfte und der Schweiß rann ihm in Bächen von der Haut.

»So ist es gut«, sagte Haffak Gas Vadar, »endlich hast du verstanden. Schwitze und schreie es heraus.«

»Ich dachte, du redest nicht mehr mit mir«, stöhnte Sapius wütend und biss die Zähne zusammen.

»Tut mir leid, mein Freund«, meinte Haffak verlegen, »ich musste etwas sagen, das dich beleidigt und herausfordert. Ich habe es nicht so gemeint.«

»Du findest also nicht, dass ich feige und schwach bin?«

»Natürlich nicht, Yasek!«, antwortete Haffak. »Würde ich dir sonst dienen und mit dir fliegen?«

»Du bist ein … nein ich sage es nicht«, meinte Sapius, »… oder doch … ein mieses, elendes, stinkendes … Stück Drachenmist!«

Haffak Gas Vadar musste lachen und verlor dabei an Höhe.

»Ach, Sapius«, meinte der Drache grinsend, »fluchen war noch nie deine Stärke. Kannst du dich denn schon wieder bewegen?«

Sapius prüfte seine Finger, jeden einzelnen, bewegte Hände und Füße. Er drehte den Kopf von links nach rechts, atmete einige Male tief durch, hustete und setzte sich schließlich auf Haffaks Rücken auf, um seine Reiterhaltung einzunehmen.

»Es geht«, sagte Sapius wieder ruhiger, »das Gift scheint nicht mehr zu wirken. Was geschieht da unten am Vulkankrater?«

»Halte dich gut fest!«, meinte der Drache. »Wir sehen nach.«

Haffak flog einen halben Bogen um den Krater und musste dabei einigen hochgeschleuderten Gesteinsbrocken und Lava in riskanten Flugmanövern ausweichen.

»Sieht so aus, als würde ein alter Bekannter für den Lesvaraq singen«, meinte Haffak Gas Vadar.

Der Drache hasste und fürchtete die Todsänger mehr als alles andere, was ihm deutlich anzuhören war.

»Nalkaar?«, erschrak Sapius. »Dann haben ihn die Bewahrer also nicht erschlagen und er ist wieder einmal entkommen.«

»Der Todsänger, ja. Tarratar ist bei ihnen.«

»Das dürfen wir nicht zulassen«, rief Sapius, »er wird ihre Seelen fressen. Wir müssen landen und ihnen helfen.«

»Tarratar besitzt eine Seele?«, wunderte sich der Drache. »Das wusste ich gar nicht. Es ist gefährlich, auf dem Vulkan zu landen. Willst du etwa wieder deinen Fluch loswerden? Was kümmern dich Tomal und Tarratar noch? Fee wartet auf uns. Lass uns endlich dorthin gehen.«

»Sie haben das Buch der Macht. Ich muss es wieder in die Hände bekommen.«

»Sapius!«, kreischte der Drache empört.

Sapius kannte die ablehnende Einstellung des Drachen zum Buch der Macht sehr gut.

»Was denn? Das ist im Augenblick meine und damit auch deine wichtigste Aufgabe.«

Sapius blickte nach vorne. In der Ferne entdeckte er durch die Rauchschwaden die Berge des Riesengebirges. Aber er erkannte noch etwas anderes.

»Siehst du, was ich sehe?«, fragte Sapius den Drachen.

»Nein«, erwiderte der Drache, »siehst du was ich sehe, ist ein Ratespiel, das ich nicht mag.«

»Na schön«, meinte Sapius, »gerade vor uns. In einiger Entfernung bewegt sich etwas Großes. Was ist das? Ein grauer Riesenwurm? Ein Kojos?«

Haffak sah genauer hin und folgte dabei Sapius’ Zeichen.

»Nein«, sagte der Drache schließlich, »das ist kein einzelnes Wesen. Das sind sehr viele Wesen. Ich kann sie voneinander unterscheiden. Ein großes, steinernes Heer. Golems und Felsgeborene.«

»Haffak! Das bedeutet … Vargnar kommt! Er will den Lesvaraq aufhalten«, jubelte Sapius zunächst und wurde gleich darauf sehr traurig, »aber er kommt zu spät. Viel zu spät.«

»Das ist leider wahr«, sagte der Drache, »ich nehme an, er gab sein Bestes, aber es war unmöglich für ihn, in der kurzen Zeit am richtigen Ort zu sein.«

»Sie sind alle verloren. Was ist mit Jafdabh geschehen?«, wollte Sapius wissen. »Konntest du wenigstens ihn retten?«

»Ich wollte Jafdabh holen und hatte bereits ein Schiff auf hoher See ausgemacht, auf das ich ihn bringen wollte«, erzählte der Drache, »aber er lehnte ab. Jafdabh hatte mit seinem Leben abgeschlossen und starb in seinem Haus, als sich der Vulkan erhob.«

»Du hättest ihn retten können!«

»Gegen seinen Willen? Nein, Sapius. Seine Zeit war gekommen. Ich respektierte seinen Wunsch. Sieh dich doch nur um! Ich hätte ihn nicht retten können, vielleicht wäre sein Tod ein paar Horas hinausgezögert worden, aber das Ende wäre für ihn so oder so gekommen. Ich habe auch sonst niemanden aus der Stadt retten können. Es war zu spät. Also kehrte ich um und rettete lieber dich vor deinem Sturz in die kochende Lava. Du hast eine Zukunft. Sie hatten keine mehr.«

»Wir müssen Vargnar warnen«, verlangte Sapius plötzlich, »ich ertrage es nicht, wenn wir ihn auch noch verlieren. Er ist mein Freund.«

»Wovor willst du den Felsgeborenen warnen?«, zweifelte Haffak an Sapius’ Wunsch. »Er hat Augen und Ohren. Er weiß besser als wir, was mit den Steinen geschieht.«

Sapius rutschte unruhig hin und her. Auf dem Rücken seines Drachen musste er tatenlos zusehen, wie die Welt im Feuersturm unterging. Er konnte nichts machen und offenbar niemanden retten.

Der Drache wich brennenden Gesteinsbrocken immer wieder geschickt aus. Aber die Eruptionen wurden heftiger und das ein oder andere Mal entkamen sie einem Zusammenstoß nur knapp. Sie näherten sich Tarratar, Nalkaar und Tomal. Der Drache landete unterhalb des Kraters, ließ Sapius von seinem Rücken rutschen und hob dann sofort wieder ab.

»Uns bleibt nur noch wenig Zeit, unser eigenes Leben zu retten«, warnte der Drache den Magier, »die Katastrophe können wir nicht mehr aufhalten. Wir müssen fliehen! Ich werde zu Vargnar fliegen und ihn bitten, sich in Sicherheit zu bringen.«

»Ich dachte, das bringt nichts mehr?«

»Mag sein, aber es beruhigt das Gewissen und macht dich glücklich.«

»Gut. Ich hoffe, er wird auf dich hören und findet eine Möglichkeit, die Felsgeborenen und sich zu retten. Hol mich ab, wenn es so weit ist und wir Ell endgültig den Rücken kehren müssen.«

Sapius wusste, er würde sich auf den Drachen verlassen können. Nachdem er das Gift aus seinem Körper geschwitzt hatte, hatte er wieder seine ursprüngliche Gestalt angenommen. Er war über und über mit Ruß und Asche überzogen.

Nalkaars Gesang drang an Sapius’ Ohren und rührte sofort sein Herz. Er hatte Glück, dass der Todsänger um die Seele des Lesvaraq sang und nicht um eine ganze Gruppe von Seelen oder die des Magiers selbst, sonst hätte ihn die Magie der Musik wesentlich stärker getroffen. Der Magier konnte zwar die Traurigkeit und Verzweiflung der Klänge am eigenen Leib spüren, sodass es ihm fast das Herz zerdrückte und er bitterlich weinen musste. Aber seine Seele wurde von Nalkaar nicht hervorgelockt.

Sapius wunderte sich, als er Tarratar am Kraterrand erblickte. Was wollte er noch? Er war es doch, der dem Lesvaraq das Buch überlassen hatte. War die Zerstörung am Ende nicht sogar Tarratars Werk? In Sapius’ Augen trug der Narr zumindest einen gehörigen Anteil der Schuld an der Katastrophe. Sie alle, die Streiter, die Klan und die Völker der Altvorderen hatten auf die eine oder andere Weise Schuld. Entweder sie hatten versagt, nicht eingegriffen oder sogar das Ende vorangetrieben. Es würde nicht lange dauern und sie würden die Schuld verdrängen, wie schon so viele Male zuvor. Doch dieses Mal war es anders. Sie würden sterben.

Der Narr hielt das Buch der Macht aufgeschlagen in den Händen und lauschte andächtig den Gesängen des Todsängers, während er immer wieder einen Blick auf den Lesvaraq warf, der sich unter den Klängen wand und vor Schmerzen, Trauer und Verzweiflung schrie.

Doch plötzlich geschah etwas, womit niemand gerechnet hatte. Ein dunkler Schatten löste sich von Tomal. Nalkaar hörte sofort auf zu singen, schnellte wie eine Schlange auf sein Opfer zu und verschlang den Schatten, den er für Tomals Seele hielt.

Tarratar grinste breit. Der Narr winkte den Magier zu sich. Sapius folgte der Einladung und näherte sich der eigenwilligen Gruppe überaus mächtiger Männer, in der jeder von ihnen in der Lage gewesen wäre, eine Welt zu erschaffen oder sie zu zerstören. Ersteres war schwierig, während das Zweite zu seinem Bedauern viel zu leicht und schnell zu erreichen war, was Sapius und die vielen Opfer der Katastrophe soeben leidvoll erfahren mussten.

Nalkaar ließ einen schrillen Schrei ertönen und griff sich sofort an die Kehle. Es sah aus, als würde er sich selbst erwürgen.

»Was … was war das?«, krächzte Nalkaar erschrocken. »Helft mir … ich … kann nicht mehr singen … meine Stimme … mein Geist … was ist geschehen? Ihr … Ihr habt mich reingelegt.«

»Das war ein böser Geist«, meinte Tarratar, »Ihr habt Tomal durch Euren Gesang davon erlöst und ihn in Eurer Gier nach Seelen sogleich verschlungen.«

»Blyss … sein Name ist Blyss«, stöhnte Nalkaar, »er … er hat es mir gesagt. Er ist ein Gefäß des Bösen und wird mich vernichten.«

»Das wird er«, nickte Tarratar und ließ die Glöckchen an seiner Kappe leise erklingen, »er ist ein Geist und keine Seele. Seine Boshaftigkeit verträgt sich nicht mit der Euren oder der eines anderen Seelenfressers. Ihr werdet Euch gegenseitig vernichten. Das ist das Gesetz von Tag und Nacht.«

»Nein … nein … wie konntet Ihr mir das antun?« Nalkaar klang verzweifelt. »Meine Kunst … die Musik … alles vorbei. Niemand wird sich an die zauberhaften Klänge der Todsänger erinnern.«

»Hört auf zu jammern und nehmt es wie ein Mann, Nalkaar«, sagte Tarratar, »Euer Ende wäre sowieso bald gekommen. Jetzt könnt Ihr gemeinsam mit Eurem bösen Geist in den Flammen der Pein schmoren.«

»Aber ich … wollte einmal … wenigstens einmal eines meiner Ziele erreichen, bevor ich in die Flammen gehen und für immer Qualen erleiden muss«, schluchzte Nalkaar.

»Das ist allein Euer Problem, Todsänger«, meinte Tarratar, »Ihr habt genug Unheil angerichtet und dieses … dieses Gefäß hat auf Ell nichts verloren. Ihr befindet Euch also in bester Gesellschaft.«

Nalkaar schrie auf, brach zusammen, vergrub sein zerstörtes Gesicht unter seinem Gewand und bäumte sich noch ein letztes Mal auf, bevor er regungslos liegen blieb. Tarratar ging zu ihm hin und stieß den leblosen Körper mit dem Fuß an. Nalkaars Leib geriet ins Rutschen, kugelte den Abhang hinab und stürzte in einen Lavastrom, wo er sofort verglühte.

»Wir haben Tomals Seele gerettet«, sagte Tarratar erleichtert, »wenigstens etwas, das uns am Ende noch froh stimmen mag.«

»Reichlich wenig, wenn ich bedenke, wie viele Seelen verloren gehen«, erwiderte Sapius, »wir haben versagt.«

»Ja, das haben wir«, sagte Tarratar traurig, »das Gleichgewicht ist aus den Fugen geraten. Chaos regiert. Ell wird untergehen und mit ihm alles Leben.«

»Können wir denn gar nichts mehr dagegen tun?«, fragte Sapius leise.

»Nein, dagegen sind wir machtlos. Sobald die Sonne stirbt, wird die Katastrophe ihren Höhepunkt erreichen.«

»Und das Buch der Macht?«, wollte Sapius wissen. »Wäre das Buch nicht eine Lösung, das Schlimmste aufzuhalten?«

»Nicht mehr«, senkte Tarratar betroffen den Kopf, »das Buch vermag vieles, doch Tomal brachte es fertig und hat das Ende festgeschrieben. Lest selbst, wenn Ihr mir nicht glaubt!«

Der Narr hielt Sapius das aufgeschlagene Buch hin und Sapius las die Zeilen, die ihn unter der Ruß- und Ascheschicht in seinem Gesicht erbleichen ließen. Die Bilder des Grauens erschienen vor seinem inneren Auge, als würde er den Schrecken des Endes unmittelbar erleben. Er wollte das Buch zuschlagen und fliehen, konnte es jedoch nicht. Zu sehr hatten ihn die Worte in seinen Bann gezogen.

Das Unvorstellbare war eingetreten. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis Rucknawzor vollendet war.

*

Vargnar führte das Heer der Felsgeborenen an. König Saragar hatte ihm die Führung anvertraut, obwohl er es sich nicht hatte nehmen lassen, gemeinsam mit seinem Sohn in die letzte Schlacht zu ziehen. Eine Schlacht, die anders sein würde als alles, was sie erlebt hatten. Sie waren alle mitgekommen. Felsgeborene, Felsenfreunde und Eisprinzessinnen. Niemanden hatte es noch in der Burg der Felsgeborenen im Riesengebirge gehalten. Sie wussten, was ihnen bevorstand, und keiner wollte zurückstehen. Aber Vargnar wusste auch, sie würden jeden einzelnen – mit Ausnahme der Felsenfreunde und deren Appellen an ihre Vernunft – brauchen, bei dem was sie vorhatten.

Der Felsenprinz ritt an der Spitze einer langen Reihe von Golems und Kriegern. Auf sein Zeichen kam das Heer zum Stehen. Vargnar hatte den Drachen zuerst erblickt, als er sich den Felsgeborenen mit hoher Geschwindigkeit näherte und schließlich landete.

»Sapius schickt mich«, sagte der Drache, ohne Zeit mit langen Begrüßungen zu verschwenden, »Ihr kommt zu spät. Der Lesvaraq hat die Katastrophe bereits ins Rollen gebracht. Es gibt nichts mehr, wogegen Ihr kämpfen könntet. Das Ende steht unmittelbar bevor. Ihr sollt umkehren und Euch in Sicherheit bringen.«

»Nein«, lehnte Vargnar ab, der mit dem Drachen wie auch mit Sapius und den Felsenfreunden nur in Gedanken sprach, »wir werden zu Ende bringen, was wir angefangen haben.«

»Aber was wollt Ihr noch bewirken? Der Lesvaraq ist geschlagen und die Katastrophe steuert auf ihren unabänderlichen Höhepunkt zu.«

»Wir sind Felsgeborene, Drache«, erklärte der Felsenprinz, »geboren aus Stein und mit Fähigkeiten, die anderen Völkern fremd bleiben. Selbst ein Drache wird nicht erreichen, wozu wir imstande sind. Dieser letzte Kampf um das Überleben gehört uns. Der Stein befindet sich bis in die tiefsten Tiefen Krysons in Aufruhr und verbindet sich in seinem Zorn zu einer heißen Masse geschmolzenen Gesteins. Wütend bricht sie aus dem Inneren Krysons hervor, lässt Vulkane entstehen und ergießt sich mit ihrem Feuer über Land und Meer. Tomal und das Buch haben den Stein aufgestachelt und die alles vernichtende Gewalt der glühenden Felsen gerufen. Rucknawzor ist das Ende allen uns bekannten Lebens. Alles verändert sich. Wir Felsgeborenen sind die Einzigen, die den Stein noch besänftigen und die Katastrophe, wenn auch nicht mehr verhindern, so vielleicht doch eindämmen können.«

»Gegen das Sterben der Sonne werdet auch Ihr machtlos sein«, meinte Haffak Gas Vadar.

»Bedauerlicherweise stimmt das«, antwortete Vargnar, »aber sollte es uns gelingen, den Stein zu beruhigen, würde am Ende wenigstens die Hoffnung bleiben, dass sich Kryson eines Tages wieder erholt.«

»Was ist dafür notwendig?«, wollte der Drache wissen. »Können wir Euch helfen?«

»Die Felsgeborenen werden in den Stein gehen und sich mit ihm verbinden. Wir werden mit dem Stein reden und ihn beschwichtigen. Unser Bewusstsein wird das Denken und Handeln der Felsen bestimmen. Dafür werden wir jeden Geist unserer Felsgeborenen brauchen. Die Golems und Eisprinzessinnen bewachen uns und werden darauf achten, dass wir dabei nicht gestört werden. Der Stein wird nicht einfach zu besänftigen sein. Wir müssen bis tief in seinen Kern vorstoßen und ihm dort den zerstörerischen Gedanken entreißen, den ihm der Lesvaraq und das Buch eingegeben haben. Viele von uns werden bei dem Versuch sterben und einfach im Stein verglühen. Diejenigen, die es bis zum Kern schaffen, werden sich anschließend im Stein verlieren und ein fester Teil von ihm werden. Das ist das Schicksal unseres Volkes, Drache. Das Ende der Felsgeborenen. Wir wissen, was uns erwartet, und sind bereit dazu. Wir gehen zurück in den Stein. Wir kehren nach langer Zeit heim. Ihr und Sapius würdet uns einen großen Gefallen tun, wenn Ihr das Leben unserer Felsenfreunde rettet. Nehmt sie mit, wohin immer Ihr auch gehen werdet. Sie tragen unser Wissen und die Erinnerung an unser Volk mit sich.«

Der Drache war gerührt. Vargnar blickte ihn eindringlich an und wusste, der Drache konnte seine Bitte nicht ablehnen. Die Felsenfreunde protestierten jedoch lautstark. »Ihr braucht uns«, »Wir bleiben bei Euch bis zum Ende«, »Wer wird Euch zur Vernunft rufen?«, riefen die vielen Stimmen. Aber sie hatten keine Wahl. Vargnar ließ sich nicht mehr umstimmen. Bei diesem Vorhaben brauchten die Burnter keine Vernunft und niemanden, der sie vor Gefahren warnte. Ihre Aufgabe war eindeutig und schwierig. Sie würden dabei alle sterben und konnten nur hoffen, dass es wenigstens einigen von ihnen gelänge, bis in den Kern des Steins vorzudringen, um den Stein umzustimmen und zum Guten zu beeinflussen. Nur die Stärksten und Erfahrensten unter den Felsgeborenen würden überhaupt so weit kommen. Die Übrigen mussten den Weg frei machen und den Zorn des Steins so lange wie möglich auf sich lenken. Aber Vargnar war sich sicher, sie würden es schaffen.

»Ich nehme die Felsenfreunde gerne mit«, antwortete der Drache, »auf meinem Rücken ist Platz genug. Sie müssen sich nur an meinen Schuppen festhalten.«

Vargnar nickte zufrieden. Die Felsenfreunde in Sicherheit zu wissen, würde ihm sein Vorhaben erleichtern und er würde mit Freuden in den Stein gehen.

»Es wird Zeit. Wir müssen Abschied voneinander nehmen«, sagte Vargnar zu seinem Felsenfreund.

»Ich werde Euch vermissen, mein Prinz«, schniefte Rodso traurig.

»Sei nicht traurig, Rodso. Du warst mir stets ein großartiger Ratgeber und Freund. Einen Besseren hätte ich mir nicht wünschen können.«

»Wirklich? Ihr ehrt und rührt mich. Was ist mit Goncha? Vermisst Ihr ihn denn nicht mehr?«

»Nein«, antwortete Vargnar, »er war mein bester Freund, aber ich hatte doch dich. Ihr beide wart für mich unersetzlich. Freunde und engste Vertraute, die ich niemals vergessen werde. Leb wohl, Rodso. Sapius und der Drache werden sich um dich und die anderen kümmern. Hilf ihnen mit deinem Rat und deinem Wissen. Vielleicht sehen wir uns eines Tages wieder.«

Die Felsgeborenen verabschiedeten sich von ihren Freunden. Rodso kletterte als einer der ersten Felsenfreunde auf eine Schuppe des Drachen. Die anderen folgten seinem Beispiel, kletterten an Haffak Gas Vadar hoch und suchten sich einen halbwegs sicheren Platz.

Vargnar gab das Zeichen zum Abmarsch. Die Zeit war knapp und sie mussten sich beeilen.

»Sagt Sapius von mir, dass er ein wahrer Freund für mich war. Es war mir eine Ehre, für eine Weile an seiner Seite über Ell zu ziehen. Ich werde ihn vermissen. Ohne Sapius wäre das Leben viel langweiliger gewesen«, rief Vargnar dem Drachen noch zu, während dieser bereits die Schwingen ausgebreitet hatte und einige Fuß über dem Boden schwebte. »Passt gut auf unsere Felsenfreunde auf. Sie sind unser Bewusstsein. Sollten wir eines Tages doch aus dem Stein zurückkehren, werden wir sie brauchen.«

»Macht Euch keine Sorgen«, antwortete der Drache, »ich werde sie wie die Eier unserer Drachenmutter hüten. Ich bewundere Euren Mut und Eure selbstlose Tat, Vargnar. Ihr seid die wahren Helden Krysons. Sapius und ich werden Euer Andenken bewahren. Das verspreche ich Euch.«

Vargnar sah dem Drachen und seinen Felsenfreunden so lange nach, bis diese hinter dichten Rauchschwaden in eine ungewisse Zukunft verschwanden. Niemand konnte vorhersagen, ob der Drache und Sapius der Katastrophe entkommen würden. Aber die Hoffnung wollte Vargnar nicht aufgeben.

Die Felsgeborenen marschierten weiter. Bald würden sie ihr Ziel erreicht haben und am Fuße der neuen Vulkane ihren letzten Kampf beginnen.

*

»Es ist alles verloren«, flüsterte Sapius atemlos, »grauenhaft. Nichts wird übrig bleiben von dem, was wir kannten und liebten. Das Eis im Norden schmilzt. Das ewige Eis ist dahin. Eisbergen verloren. Das Wasser wird steigen und große Teile des Kontinents überfluten. Die Berge werden verglühen, die Wälder verbrennen … an Faraghad wird nichts mehr erinnern, außer einem Haufen Asche. Der Rayhin wird austrocknen, die Grenzlande werden vergehen. Kryson gerät aus seiner Bahn. Zurück bleiben wird nur ein schwarzer, verbrannter Fleck. Der Baum des Lebens verliert seine Wurzeln.«

Sapius blickte vom Buch auf, klappte es zu und hielt es dem Narren in einer eindeutigen Geste hin. Tarratar lehnte ab und trat einen Schritt zurück. »Er wird das Buch nicht mehr zurücknehmen«, dachte Sapius sofort.

»Das Buch gehört jetzt Euch«, sagte der Narr, »ich darf es nicht mehr annehmen. Behaltet es und verwahrt es gut.«

»Ich will es nicht«, antwortete Sapius mit fester Stimme.

»Das Buch hat sich für Euch entschieden. Schon im Netz des vierten Wächters hätte es Euch gehören sollen. Ihr müsst es nehmen«, klärte ihn der Narr auf.

»Was soll ich damit anfangen?«, entgegnete Sapius. »Es lässt sich ohnehin nichts mehr ändern.«

»Das stimmt«, seufzte Tarratar, »aber Kryson wird trotz der Katastrophe weiterleben. Verbrannt, tote Erde. Irgendwie wird es überleben und damit wird auch das Buch fortgeschrieben werden.«

»Lieber werfe ich dieses verdammte Buch gleich hier in das Feuer des Vulkans«, meinte Sapius wütend.

»Das dürft Ihr nicht«, sagte Tarratar entsetzt, »Ihr würdet alles nur noch schlimmer machen. Das Buch der Macht ist unzerstörbar. Jeder Versuch löst eine weitere Katastrophe aus, bis am Ende ganz Kryson in Trümmern liegt.«

»Schlimmer als das Ende, das wir gerade erleben, kann es nicht werden«, erwiderte Sapius.

»Doch …«, sagte Tarratar mit einem Blick, der weit in die Vergangenheit gerichtet schien, »glaubt einem Narren, der in seinem langen Leben schon vieles gesehen und erlebt hat. Kryson sah nicht immer so aus, wie es heute aussieht und schon bald nicht mehr aussehen wird. Denkt Ihr wirklich, dass es schon immer zwei Sonnen auf Kryson gab? Ich weiß, dass Ihr das annehmt, weil Ihr nichts anderes kennt und Euch deshalb nicht vorstellen könnt, wie es anders war. Aber die Welt, in der wir leben, erfährt einen steten Wandel. Wir müssen nur in der Lage sein, in längeren Zeitabschnitten zu denken. Milliarden und Millionen von Sonnenwenden. Stellt Euch die Ewigkeit vor, Sapius. Sie kennt kein Ende.«

»Das ist wahr. Die Zeit schreitet unaufhaltsam voran. Aber wir leben im Hier und Jetzt.«

»Seid Ihr Euch dessen so sicher? Nach allem, was Ihr erfahren durftet und über das Gleichgewicht wisst?«, fragte der Narr.

Sapius winkte bloß ab. Er hatte kein Interesse an weiteren Rätseln.

»Was ist mit Tomal?«, wollte Sapius wissen. »Was machen wir mit ihm?

Der Lesvaraq stand noch immer am Rand des Kraters, so wie ihn Tarratar aufgerichtet hatte. Tomal starrte sinnentleert auf die feuerspuckenden Vulkane.

»Nichts«, antwortete Tarratar, »wir lassen ihn hier, damit er sich das Ende aus nächster Nähe ansehen kann. Immerhin ist dies sein Werk.«

»Oder Eures?«, merkte Sapius verbittert an.

»O nein, Sapius«, entgegnete Tarratar ernst, »ich habe wirklich versucht, dieses Unglück zu verhindern. Es lief gut bis zu jenem Tag, an dem Tomal seinem leiblichen Vater begegnete und ihn tötete. Seither verfiel er dem Wahnsinn und glaubte, er müsse die Welt und alles Leben darin vernichten, um sie anschließend in seinem Sinne neu zu erschaffen.«

»Seht ihn Euch an«, meinte Sapius, »er ist nicht mehr bei klarem Verstand. Eine leere, kraftlose Hülle seiner selbst. Er besitzt keine Macht mehr. Wir sollten ihn von seinem Leid erlösen.«

»Bitte … ich lasse Euch dabei gerne den Vortritt«, sagte der Narr.

»Seid Ihr zu feige dafür, Tarratar? Der Lesvaraq ist am Ende.«

»Feige? Nein. Aber Ihr habt ihn aufgezogen und seid sein Lehrer gewesen. Tomal ist Euer Werk, Sapius.«

Der Magier schüttelte den Kopf, aber er wusste, worauf Tarratar hinauswollte. Er ging auf den Lesvaraq zu und sah ihm in die Augen. Dort fand er nichts mehr, was den Tomal einst ausgemacht hatte. Die Dunkelheit war verschwunden und das Licht nur noch schwach vorhanden. Zu schwach, um wieder zu erstarken. Sein Körper war zerstört. Nur die Magie des Narren hielt ihn noch am Leben.

»Es tut mir leid, Tomal«, sagte Sapius leise, »vielleicht kannst du meine Worte tief in deinem Inneren noch verstehen. Einst dachte ich, dass du meinen Schutz und mein Wissen brauchst, um groß, stark und mächtig zu werden. Ich glaubte an den Zeichenträger und seine Macht, das Schicksal zum Guten zu verändern und eine neue Welt zu erschaffen. Du hattest es in der Hand und die besten Voraussetzungen. Zwei Zeichen, Tag und Nacht waren in dir vereint. Das hat es noch nie zuvor gegeben. Ich vertraute darauf, dass es richtig wäre, mich dir anzuschließen. Aber du hast deine Macht vergeudet und sie missbraucht. Leb wohl. Es wird Zeit, dass wir für immer Abschied nehmen.«

Der Lesvaraq sah den Magier verständnislos an und bewegte die Lippen.

»Sapius, warum hast du mich verlassen? Lass mich nicht allein«, stammelte Tomal mit bebenden Lippen.

»Fürchte dich nicht, Tomal. Du wirst deinen Frieden finden.«

Sapius gab dem Lesvaraq einen festen Stoß. Tomal kippte nach hinten, verlor das Gleichgewicht und stürzte in den Krater. Er ruderte weder mit den Armen noch schrie er. Der Magier blickte dem Fallenden nach und sah, wie sein Körper Feuer fing, noch bevor er in die heiß brodelnde Lava fiel und brennend unterging.

Tarratar war neben den Magier getreten und legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter.

»Ihr solltet jetzt besser gehen«, sagte Tarratar, »für Euch gibt es hier nichts mehr zu tun.«

»Und wohin werdet Ihr gehen?«

»Macht Euch um einen Narren keine Gedanken«, lächelte Tarratar, »ich werde schon einen sicheren Ort finden, an dem ich mich verkriechen und meine Späße treiben kann. Denkt immer daran, Sapius. Das Leben und die Liebe finden immer einen Weg. Sie sind stärker als der Tod.«

»Wenn ich Euch das nur glauben könnte«, schüttelte Sapius den Kopf.

»Einen Rat noch, bevor Ihr nach Fee geht«, sagte Tarratar, »haltet Ausschau nach einem Sturmschiff der Nno-bei-Maya. Es darf Fee niemals erreichen.«

»Und weshalb nicht?«

»Weil es die Frucht des Lesvaraq zum magischen Kontinent befördert.«

»Saykara? Sie trägt ein Kind unter ihrem Herzen?«

»Nicht ein Kind, Sapius. Sein Kind!«

»Was, wenn sich Tarratar täuscht und es mein Kind wäre?«, fragte sich Sapius erschrocken.

»Ihr fürchtet, es könnte ein Lesvaraq werden, nicht wahr?«

»Wer weiß das schon? Tomal ist tot, der Zyklus beendet. Es wäre also möglich. Aber Fee ist nicht das Land der Lesvaraq. Das Gleichgewicht würde empfindlich gestört. Wir dürfen keinerlei Risiko eingehen. Nicht nach dieser Katastrophe! Kryson braucht Zeit, sich zu erholen. Die Königin und das Kind müssen sterben.«

»Ihr wollt, dass ich sie und das Kind umbringe«, sagte Sapius.

»Das ist Eure Entscheidung«, antwortete der Narr, »ich sagte nur, dass das Schiff Fee nicht erreichen darf.«

Haffak Gas Vadar war im Anflug und landete in einiger Entfernung von Sapius und dem Narren.

»Ich habe die Sonne gesehen«, rief Haffak Gas Vadar dem Magier zu, »uns bleibt keine Zeit mehr. Wir müssen gehen. Sofort!«

»Ich komme«, antwortete Sapius und eilte los.

»Denkt an meine Worte!«, rief ihm Tarratar hinterher. »Lebt wohl, Sapius. Wir sehen uns bestimmt wieder!«

Sapius kletterte auf den Rücken des Drachen und entdeckte erst jetzt die Felsenfreunde, die sich auf Haffak Gas Vadar verteilt hatten und sich an den Schuppen festgeklammert hatten. Der Drache musste Sapius nichts erklären. Der Magier schwieg und trauerte schweigend um seinen Freund.

Der Drache breitete die Schwingen aus und schwang sich durch den dichten Rauch in die Lüfte. Kaum hatte er an Höhe gewonnen, drehte er Richtung Ostmeer ab und beeilte sich, Ell hinter sich zu lassen.

Sapius blickte noch einmal wehmütig zurück, aber Tarratar war bereits verschwunden, wie so vieles, was der Magier nicht wiedererkannte. Ell war verloren.