Flucht

Schweigend flogen der Drache, Sapius und die Felsenfreunde übers Ostmeer. Jeder von ihnen hing seinen eigenen Gedanken nach und trauerte auf seine Weise. Sie alle hatten Opfer gebracht, ihre Heimat und Freunde verloren. Die Zukunft war ungewiss. Sie mochten den verheerenden Sonnenstürmen auf Ell und dem alles vernichtenden Feuer im letzten Augenblick entgangen sein, aber sie wussten nicht, was sie auf Fee erwartete. Wie würde sich die fehlende Sonne auf Tag und Nacht auswirken? Erfasste das Chaos auf Ell auch den magischen Kontinent?

Sie waren geflohen, bevor Rucknawzor den Höhepunkt der Vernichtung erreicht hatte. Es war schwer, sich das Ausmaß der Zerstörung und die Explosion einer Sonne über Ell vorzustellen. Sapius stellte sich in Gedanken einen unglaublich hellen, gleißenden Ball vor, der vom Himmel auf den Kontinent stürzte und in rasender Geschwindigkeit über alles Leben wälzte.

»Feuer … es ist eine Feuersbrunst, ein Sturm, der alles verschlingt und verbrennt, was sich ihm in den Weg stellt«, dachte Sapius.

Er würde nie erfahren, wie die Sonnenstürme wirklich aussahen.

»Sind die Sonnenstürme so heiß wie Drachenfeuer?«, fragte er sich.

»Heißer, mein Freund. Viel heißer«, sagte der Drache, »die Hitze eines Sonnensturms bringt alles zum Schmelzen, sogar Stein.«

»Aber wenn die Sonnenstürme über den Kontinent fegen und alles vernichten, wie kommt es, dass sie sich auf Ell beschränken und nicht ganz Kryson in Mitleidenschaft ziehen?«

»Das hättest du den Narren fragen müssen«, antwortete Haffak Gas Vadar, »ich nehme an, dass sich die Zerstörung nur auf Ell bezieht. Die Macht des Buches und damit auch die Reichweite dieses Fluches reichen nicht darüber hinaus. Zu unser aller Glück. Dennoch zeigt die Zerstörung auf ganz Kryson Wirkung. Wir Drachen wissen, dass das Gleichgewicht weit über den einzelnen Kontinent hinausreicht. Kryson ist ein sensibles und hoch kompliziertes Gefüge. Ich bin mir sicher, dass auch Fee auf irgendeine Weise betroffen sein wird. Wir werden es bald sehen.«

Plötzlich hörten sie weit enfernt einen Knall und das schreckliche Heulen der Winde. Nach dem Knall, dem ein lang anhaltendes, donnerndes Grollen folgte, dauerte es nicht lange, bis sie von einer Druckwelle erfasst wurden, die ihnen heiße Luft um die Ohren blies und den Drachen gewaltig ins Trudeln brachte.

Sie fürchteten abzustürzen und schrien aus Leibeskräften. Aber der Drache fing sich wieder und beschrieb einen scharfen Bogen aufwärts, bevor sie auf der Wasseroberfläche aufschlugen.

Rauch verdeckte die verbliebene Sonne und den Mond. Es wurde Nacht auf Kryson. Finstere Nacht. Wie lange die Nacht andauern würde, vermochte niemand zu sagen. Nur ab und zu drang ein Lichtstrahl durch, der wie ein kleiner Hoffnungsschimmer am Horizont leuchtete.

Wenig später hörte Sapius das Meer heftig rauschen. Er hatte sich rasch an die Dunkelheit gewöhnt und benutzte den Stab des Farghlafat, um besser sehen zu können. Gewaltige Wellen rasten unter ihnen vorbei. Sapius hoffte, sie würden nicht bis an die Küste Fees heranreichen, sondern sich vorher im weiten Meer verlieren und auslaufen. Er nahm an, dass sie das Sturmschiff der Königin der Maya nicht mehr zu sehen bekämen. Es musste von den Wellen fortgerissen, gekentert und untergegangen sein. Aber er täuschte sich.

»Schiff voraus«, meldete der Drache nach einigen ereignislosen Horas des Fluges.

Die Sichtverhältnisse hatten sich gebessert. Sie hatten den von Rauch dicht verhangenen Himmel hinter sich gelassen. Von der Meldung des Drachen aufgeschreckt, starrte Sapius auf das Meer hinunter. Haffak Gas Vadar hatte hervorragende Augen. Das Schiff war noch weit entfernt und lediglich als kleiner, schimmernder Punkt am Horizont auszumachen. Doch sie näherten sich rasch. Sapius erkannte bald das Sturmschiff der Nno-bei-Maya. Zu seiner Überraschung entdeckte er in einiger Entfernung ein zweites Sturmschiff, das dem ersten zwar ähnelte, aber kleiner war. Davon hatte Tarratar nichts erwähnt. Als sie jedoch nah genug herangeflogen waren, erkannte Sapius das zweite Schiff. Es war eines der Sturmschiffe, die den Angriff vor Tut-El-Baya geführt hatten und der Katastrophe entkommen war. Murhabs Schiff.

»Murhab muss der Königin gefolgt sein und zu ihrem Schiff aufgeschlossen haben«, dachte Sapius, »er muss ein verdammt guter Kapitän sein, wenn ihm dies gelungen ist.«

»Wir müssen die Sturmschiffe aufhalten«, sagte Sapius.

»Wieso das? Hast du über all dem Grübeln und der Katastrophe von Ell völlig den Verstand verloren? Sieh dir die Schiffe an! Wie sollen wir das anstellen?«, gab der Drache zu bedenken.

»Glaub mir einfach. Es ist wichtig, Haffak. Sie dürfen nicht auf Fee ankommen.«

»Ich kann hier nicht landen. Nicht im Wasser und nicht auf den Schiffen. Sieh gerade nach unten!«

Sapius blickte nach unten und erschrak. Unter ihnen tummelten sich Moldawars, eine ungewöhnlich große Ansammlung der Raubfische. Sapius wurde das mulmige Gefühl nicht los, als würden die Schrecken der Meere dem Flug des Drachen folgen. Einige der Moldawars sprangen immer wieder aus dem Wasser, schnappten mit ihren Mäulern, als wollten sie den Drachen erwischen, und schraubten sich dabei in erschreckende Höhen.

»Haben sie es auf uns abgesehen?«, fragte Sapius zaghaft.

»Sieht fast so aus«, meinte Haffak Gas Vadar, »sie schnappen nach meinem Schatten an der Wasseroberfläche. Einige denken, sie könnten uns im Sprung erreichen und in die Tiefe zerren. Wir sollten nicht zu tief fliegen.«

»Was wollen sie?«

»Fressen«, antwortete der Drache, »Moldawars sind Raubfische.«

»Das glaube ich nicht«, entgegnete Sapius, »Moldawars sind Einzelgänger. Sie versammeln sich nicht in größeren Gruppen oder jagen gemeinsam.«

»Vielleicht wurden sie durch das Unglück aufgeschreckt und befinden sich wie wir auf der Flucht.«

»Ich weiß nicht«, grübelte Sapius. »Es sieht aus, als wollten sie uns etwas mitteilen.«

»Ihr solltet nicht einmal im Ansatz erwägen, was Ihr gerade denkt!«, mischte sich plötzlich Rodso in das Gespräch zwischen Haffak Gas Vadar und Sapius ein.

»Du liest in meinen Gedanken, ohne mich um Erlaubnis zu bitten?«, empörte sich Sapius.

»Tut mir leid«, entschuldigte sich Rodso, »ich konnte nicht anders. Ihr habt so laut gedacht.«

»An was hat Sapius gedacht?«, wollte der Drache wissen.

»Er dachte daran …«

Rodso konnte den Satz nicht mehr beenden, als Sapius seinen Gedanken bereits in die Tat umsetzte. Er erhob sich, rutschte vom Rücken des Drachen und stürzte sich in die Tiefe.

»Bist du von allen guten Geistern verlassen? Neeeeein, die Moldawars reißen dich in Stücke«, rief Haffak Gas Vadar verzweifelt.

»… mit den Raubfischen schwimmen zu gehen«, brachte Rodso seinen Satz zu Ende.

»Er ist verrückt … er hat den Verstand verloren.«

Noch im Sturz bereute Sapius seine Entscheidung. Er konnte die Blicke der hungrigen Raubfische spüren, die nur darauf warteten, dass er ihnen direkt ins Maul sprang.

»Leichte Beute«, dachte Sapius, »was ist bloß in mich gefahren … ich bin so unglaublich dumm.«

Er hatte die Höhe unterschätzt und stürzte auf die Wasseroberfläche zu, die ihm plötzlich vorkam, als wäre sie aus Stein. Sein Herz raste. Sapius schrie.

Die Moldawar lauerten unter Wasser. Sie sprangen nicht mehr. Still und ruhig zogen die Raubfische ihre Kreise, als ob sie wüssten, dass ihnen diese Beute nicht entgehen würde. Sapius würde mitten in sie hineinstürzen. Er wäre nur ein Happen für einen einzigen Moldawar. Nur ein Biss einer solchen Bestie würde sein Leben sofort beenden. Die Fische würden sich um sein Fleisch streiten müssen.

Der Aufprall war hart und schmerzte, aber nicht so schlimm, wie Sapius befürchtet hatte.

Der Magier hielt die Luft an und schloss die Augen, als er ins Wasser eintauchte. Er war kein besonders guter Schwimmer und ein noch viel schlechterer Taucher. Wasser geriet in seine Nase und brannte. Für eine Wandlung war es zu spät. Er war sich auch nicht sicher, ob dies eine gute Idee wäre. Die Moldawar waren zahlreich. Gleichgültig, was sich mitten unter sie gewagt hatte, die Fische hätten es bestimmt in wenigen Sardas zerfetzt.

Sapius tauchte viel zu tief ein. Sein Sprung aus großer Höhe brachte ihn mit hoher Geschwindigkeit unter Wasser. Der Druck auf den Ohren, der Lunge und in seinem Kopf nahm zu. Der Magier hatte plötzlich das Gefühl, er würde noch weiter in die Tiefe gezogen. Aus der Furcht vor den riesigen Fischen wurde Panik vor dem Ertrinken. Mit hektischen Schwimmbewegungen versuchte er, sofort wieder an die Oberfläche zu gelangen.

Er öffnete die Augen. Fünfzehn Fuß über ihm pflügten die mächtigen Moldawar durchs Wasser. Aber nicht nur über ihm. Sie waren einfach überall, neben, unter und über ihm. Es wimmelte vor Raubfischen.

Sapius’ Lungen brannten. Er brauchte Luft.

»Nach oben … nur nach oben«, schoss ihm der rettende Gedanke durch den Kopf.

Sapius vergaß die Sturmschiffe, die Moldawar und die Gefahr, in der er schwebte. Er musste atmen. Er hatte bereits Wasser geschluckt, strampelte mit seinem gesunden Bein und ruderte wild mit den Armen, ohne dabei seinen Stab loszulassen. Quälend langsam arbeitete er sich nach oben und durchbrach endlich die Wasseroberfläche. Prustend und japsend holte er tief Luft und versuchte verzweifelt, sich über Wasser zu halten.

Der Drache zog Kreise in der Luft, suchte ihn und rief nach ihm.

»Sapius, wo bist du?«

Sapius konnte ihm nicht antworten. Er prustete, spuckte Wasser aus und sog anschließend die rettende Luft tief in seine Lungen. Immer wieder in schneller Abfolge atmete er hektisch ein und wieder aus, als könnte er nicht genug bekommen. Aber der Drache musste ihn inzwischen entdeckt haben.

»Da bist du«, rief er besorgt, »geht es dir gut? Hast du dich beim Aufprall verletzt? Die Moldawar haben dich noch nicht gefressen. Kein einziger Fisch hat dich angegriffen. Das ist seltsam. Ich kann versuchen, dich aus dem Wasser zu ziehen.«

»Nein«, antwortete Sapius, »warte.«

»Du hast wirklich den Verstand verloren. Auf was willst du warten? Bis sie es sich anders überlegen und dich in Stücke reißen? Ich hole dich so schnell wie möglich aus dem Wasser.«

»Ich denke, hier geschieht gerade Unglaubliches. Bevor ich ins Meer sprang, habe ich in ihrem Verhalten etwas gesehen, was ich als ein Zeichen deutete. Sie wollen uns etwas sagen.«

»Du zeigst wirklich Mut, alter Freund«, meinte Haffak, »ich hoffe nur, du bezahlst nicht mit deinem Leben dafür.«

Die Moldawar umkreisten den Magier, wie in einem Reigen. Zuerst hielten sie noch Abstand, als wollten sie prüfen, ob ihre Beute gefährlich war. Doch schließlich zogen sie den Kreis immer enger und rückten gefährlich nahe an ihn heran. Einzelne Moldawar brachen immer wieder aus dem Kreis aus und stießen zu ihm vor. Sie berührten ihn kurz mit der Spitze ihres Mauls, nur um dann wieder abzudrehen und sich in den Kreis zu den anderen Raubfischen einzureihen.

Sapius fürchtete sich und fror. Er blickte in die kalten Fischaugen, bis ihm beinahe der Atem stockte. Er hatte das Gefühl, als musterten sie ihn und wollten abschätzen, wie er ihnen wohl schmecken würde.

Was hatte er gesehen, als er auf dem Rücken des Drachen saß und zu ihnen hinabgeblickt hatte? Ein sich wiederholendes Muster in ihrem Verhalten? Hatte er sich das alles nur eingebildet? Spielten die Moldawar nur mit ihm? War der Reigen ein Wettbewerb unter intelligenten Raubfischen, die gerade unter sich ausmachten, wer die Beute fressen durfte?

Der Magier hielt sich fast regungslos an der Oberfläche. Die Kälte des Wassers setzte ihm langsam zu, er konnte seine Füße kaum noch spüren. Langsam und vorsichtig bewegte er Arme und Beine, um nicht unterzugehen. Mehr traute er sich nicht.

»Verdammt«, dachte Sapius, »was wollt Ihr von mir?«

Ein mächtig großer Moldawar löste sich plötzlich aus dem Kreis und kam mit weit aufgerissenem Maul direkt auf ihn zu.

»Jetzt ist es aus«, dachte Sapius, hielt den Atem an und schloss die Augen, »ich bin Fischfutter!«

Sapius spürte eine sanfte Berührung an seiner Brust und öffnete die Augen. Der Moldawar hatte ihn leicht angestoßen, sich auf die Seite gedreht und starrte ihn mit einem Auge an.

»Die Frage ist nicht, was wir wollen, sondern, was du willst!«, hörte Sapius eine glucksende Stimme in seinem Kopf.

Sapius erschrak. Das war nicht die Stimme, die er kannte und erwartet hatte. Er starrte den Moldawar an. Der Raubfisch brauchte nur sein Maul zu öffnen und ihn zu verschlingen, Sapius hätte nichts dagegen ausrichten können. Der Magier zitterte nicht nur vor Kälte.

»Haffak? Bist du das?«, fragte der Magier ängstlich. »Hör sofort auf damit, das ist nicht lustig!«

»Nein, Sapius«, hörte er die vertraute Stimme des Drachen, »ich war das nicht! Ich glaube, der Fisch spricht zu dir.«

»Wie ist das möglich?« Sapius konnte es nicht glauben.

»Erinnerst du dich? Du warst uns schon einmal sehr nahe«, sagte der Moldawar, »du kamst zu uns in einem Traum. Wir tanzten für dich.«

Sapius erinnerte sich an seinen ersten Flug nach Fee. Er war auf dem Rücken des Drachen eingeschlafen und in seinem Traum ins Wasser gestürzt. Die Moldawar hatten ihn umkreist, ähnlich wie sie es im Augenblick taten. Ein absurder und erschreckender Traum, dem er keine Bedeutung beigemessen hatte.

»Ja«, antwortete der Magier, »jetzt fällt es mir wieder ein. Ich hatte keine Angst, konnte unter Wasser atmen und mit Euch schwimmen.«

»Genau so war es und so sollte es wieder sein. Wir werden Schrecken der Meere genannt«, erklärte der Moldawar, »doch das ist eine Beleidigung unserer wahren Natur und unserer edlen Herkunft. Wir sind die Drachen der Meere. Was deine Drachen in der Luft und auf der Erde sind, das sind wir im Meer. Wir Moldawar haben dieselben Wurzeln und sind uralt, so alt wie die Drachen selbst. Wir besitzen großes Wissen über das Leben in den Meeren und deren Bedeutung für das Gleichgewicht Krysons.«

Sapius war überrascht. Ein Moldawar, der sich und seine Art mit den Drachen verglich? Sie hatten so wenig Ähnlichkeit miteinander. Dennoch glaubte er den Worten des Moldawar.

»Du bist der Yasek der Drachen«, fuhr der Moldawar fort, »wir haben darauf gewartet, dass du uns endlich als das siehst, was wir sind, deine Furcht überwindest und zu uns kommst. Wir sind nicht nur gefräßige Ungeheuer. Oft müssen wir über viele Wochen und Monde hungern. Wir jagen und fressen, um zu überleben. Die Jagd zu Wasser allerdings verstehen wir wie kein anderes Wesen auf Kryson. Ja, wir sind gefährlich und schnell. Die Moldawar beherrschen die Meere. Sei unser Yasek, Sapius. Gebiete über die Moldawar. Wir folgen dir.«

»Wie viele seid ihr?«, wollte Sapius wissen, dessen Herzschlag sich nur langsam beruhigte.

»Dich zu begrüßen und deinen Mut zu ehren, haben sich mehr als zweitausend Moldawar an diesem Ort versammelt. Die meisten von uns sind dir bereits gefolgt, als du Ell auf dem Rücken des Drachen verlassen hast. Du hast uns nicht bemerkt, warst zu beschäftigt, deine Erinnerungen zu verarbeiten. Wir flohen mit dir vor dem großen Unglück, das Ell heimsuchte, bis hierher in ruhigere Gefilde. Aber natürlich gibt es in den Meeren Krysons noch mindestens fünfhundert Mal mehr Moldawar. Wann und wo immer du uns brauchen solltest, wir werden deinen Befehlen gehorchen. Sag mir: Was können wir für dich tun?«

»Das ist eine große Ehre für mich, die ich nie für möglich gehalten hätte«, sagte Sapius.

»Der Meister der Drachen ist auch unser Yasek. Wir warten schon lange auf einen wie dich, der uns den rechten Weg zeigt und unsere Stärken zu nutzen weiß.«

Sapius hatte eine Idee. Die Moldawar konnten ihm nützlich sein.

»Habt Ihr die Sturmschiffe bemerkt?«, fragte Sapius.

»Das haben wir«, antwortete der Moldawar, »einige von uns verfolgen sie schon seit Tagen. Große Schiffe, gefährliche Schiffe.«

»Könntet Ihr sie aufhalten?«, wollte Sapius wissen.

»Sie sind nicht wie gewöhnliche Schiffe. Sie sind auch nicht wie die Schiffe, über die wir springen können, um die Männer von Deck zu holen. Die Schiffe sind zu hoch und zu breit. Sie sind schwer bewaffnet. Selbst wenn es einem von uns gelänge, die Höhe zu überwinden, würden wir auf Deck liegen bleiben und ersticken oder von ihren Speeren durchbohrt werden.«

»Du sagtest, Ihr wärt zweitausend Moldawar«, sagte Sapius, »eine solch geballte Macht an Raubfischen …«

»Drachen der Meere«, berichtigte der Moldawar den Magier.

»… Drachen der Meere muss doch in der Lage sein, selbst solche Schiffe in Seenot zu bringen. Ihr könntet gemeinsam von unten Ihren Rumpf angreifen und Löcher hineinreißen. Das würde fette Beute geben. Ihr würdet alle satt werden.«

»Gemeinsam? Wir jagen nur selten zusammen und sind es nicht gewohnt, aufeinander zu achten. Kannst du uns in eine solche Schlacht führen und uns zeigen, was wir tun sollen? Die Aussicht auf Beute ist verlockend, Yasek. Wir sind hungrig. Aber die Schiffe sind aus harten und dicken Hölzern gebaut. Wir spüren ihre Magie.«

Sapius musste nachdenken, aber ihm war schrecklich kalt und er drohte zu erfrieren, wenn er nicht bald wieder aus dem Wasser kam.

»Ich könnte Euch zeigen, wo Ihr ansetzen müsst. Aber ich friere und kann nicht mehr lange bei Euch bleiben.«

»Du willst uns schon wieder verlassen?«, der Moldawar klang enttäuscht und verärgert. »Wir haben so lange auf dich gewartet und du bist kaum ins Meer gesprungen und willst schon wieder auf den Rücken deines Drachen kriechen. Wir haben gehofft, du schwimmst mit uns bis nach Fee und lässt uns an deiner Weisheit teilhaben.«

Sapius musste auf seine Worte achten. Der Moldawar schien empfindlich und er war sich nicht sicher, wie der Raubfisch reagieren würde, wenn er nicht seinen Erwartungen entsprach.

»Ich muss meinen Körper aufwärmen«, sagte Sapius, »das kann ich aber nur in der Gestalt eines Drachen.«

»Dann verwandle dich, Yasek«, verlangte der Moldawar, »dich werden wir auch in der Gestalt eines Drachen erkennen und respektieren, obwohl wir unsere Brüder und Schwestern der Lüfte und der Erde für gewöhnlich angreifen, wenn sie ins Wasser fallen.«

»Aber weshalb?«, wollte Sapius wissen.

»Ein uralter Zwist zwischen ungleichen Brüdern und ein Krieg, den wir nicht vergessen können«, sagte der Moldawar, »ich erzähle es dir, wenn du mit uns nach Fee schwimmst. Aber du kannst auch deinen Drachen danach fragen.«

Haffak Gas Vadar hatte ihm verschwiegen, was er über die Moldawar wusste. Sapius würde ihn unbedingt danach fragen müssen.

»Achmak asstar chalem so vai eldrago«, murmelte Sapius und verwandelte sich vor den Augen der Moldawar in einen Drachendämon.

Seine Schwingen störten ihn beim Schwimmen und er hatte Mühe, sich an der Oberfläche zu halten. Darüber ärgerte sich der Magier, was ihm half, sein Blut zu erwärmen und die Kälte aus seinen Gliedern zu vertreiben. Sapius merkte, dass er die Erhitzung – indem er seine Gefühle kontrollierte – steuern und die schmerzhafte Überhitzung seines Körpers damit rechtzeitig verhindern konnte. Die Moldawar wurden plötzlich unruhig. Ihr Verhalten wurde aggressiver und Sapius hatte den Eindruck, dass sie bereit waren, ihn sofort anzugreifen. Aber der Moldawar an seiner Seite schützte ihn und hielt die anderen zurück.

»Keine Angst, Freunde«, rief der Moldawar, »das ist immer noch der Yasek, dem wir die Treue halten wollen. Er sieht nur aus wie ein Flugdrache. Zugegeben für uns nur ein kleiner und harmloser Drache. Keine Gefahr für einen Moldawar. Er wird uns zeigen, wie wir reiche Beute machen können.«

»Bringt mich zu den Sturmschiffen«, verlangte Sapius, dem nun wieder angenehm warm war.

»Wie du willst, Yasek. Halte dich an meiner Rückenflosse fest. Das geht schneller. Wie ich sehe, bist du weder in deiner Gestalt des Drachenreiters noch in der eines Drachen ein guter Schwimmer. Wir sollten das bald ändern, wenn wir gemeinsam durch die Meere ziehen.«

Sapius hatte nicht vor, für längere Zeit mit den Moldawar zu schwimmen. Wasser brauchte er zwar zum Trinken und Waschen, aber es war nicht sein Element. Alleine die Vorstellung, im kalten und tiefen Wasser dauerhaft zu leben, flößte ihm Furcht und Respekt ein. Das Leben eines Moldawar musste wirklich hart sein.

Der Magier griff nach der Rückenflosse des Moldawar und ließ sich von ihm in atemberaubender Geschwindigkeit durch das Wasser ziehen. Dabei achtete der Moldawar meistens darauf, an der Oberfläche zu bleiben. Nur manchmal vergaß er seinen Begleiter und zog ihn mit sich unter Wasser. Zum Glück tauchte der Drache des Meeres schnell wieder auf.

»Hörst du auf einen bestimmten Namen?«, wollte Sapius wissen.

»Yach«, antwortete der Moldawar, »so rufen mich die Moldawar.«

Aus der Nähe sah das Sturmschiff der Königin noch viel beeindruckender aus. Dreihundert Ruder tauchten im Takt der Trommeln gleichzeitig ins Wasser vor, zurück und wieder auf und trieben das Schiff mit hoher Geschwindigkeit über die Wellen.

Yach hatte nicht übertrieben. Das Schiff der Maya war groß und gefährlich. Sapius konnte die Magie des Sturmschiffes am eigenen Leib kribbeln spüren, als würden Millionen kleiner Luftbläschen aus der Tiefe emporsteigen und ihn auf der Haut kitzeln.

»Halte die Luft an, Yasek«, sagte Yach, »wir tauchen und sehen uns den Rumpf des Schiffes von unten an.«

Die übrigen Moldawar hielten sich entweder in einiger Entfernung zurück oder waren in die Tiefen getaucht, um bei der Besatzung des Sturmschiffes keinen Verdacht zu erregen.

Sapius hielt sich wieder an der Rückenflosse des Moldawar fest, hielt die Luft an und ließ sich von ihm unter das Sturmschiff ziehen. Der Magier deutete sofort nach oben zum Rumpf. Er hatte mehrere Stellen entdeckt, an denen die Planken des Rumpfs an in gleichmäßigen Abständen verteilten Querbalken auf Verstrebungen aufgesetzt und zusammengehalten wurden. Die Mäuler der Moldawar waren groß genug, ihre Kiefer kräftig und ihre Zähne, die wie Sägezähne gezackt waren, scharf genug, an den leicht hervorstehenden Balken anzusetzen und diese zu durchtrennen. Arbeiteten sie an mehreren Stellen gleichzeitig zusammen, würden sie Planken herausbrechen und Löcher in den Rumpf reißen. Das Sturmschiff würde sinken.

Sapius deutete dem Moldawar durch ein Ziehen an der Rückenflosse und indem er mit der Hand nach oben deutete an, dass er Luft schnappen musste. Yach stieg sofort auf und sie tauchten an der Seite des Sturmschiffs wieder auf. Sapius wagte einen Blick nach oben und erschrak.

Leicht über die Reling gebeugt stand eine Lichtgestalt und starrte auf das Wasser hinab. Sie sah wunderschön aus. Verträumt und lieblich.

»Saykara« dachte Sapius, »kein Zweifel, sie ist es. Ob sie uns gesehen hat? Und wenn schon, sie kann mich nicht erkennen, sie wird bloß einen Moldawar in Begleitung eines seltsamen Fisches im Meer schwimmen sehen.«

Es fiel ihm schwer, seinen Blick abzuwenden.

Über dem Sturmschiff kreiste in der Höhe der Drache, der mit Drachenaugen darauf achtete, Sapius nicht zu verlieren. Sapius vermutete, dass sein Freund sich große Sorgen um ihn machte, was ihm leidtat. Haffak Gas Vadar würde allerdings bemerkt werden, sobald Saykara oder jemand aus der Besatzung nach oben schaute.

»Ich sage den anderen Moldawar, was du mir gezeigt hast, Yasek«, schlug Yach vor, »wann fangen wir an?«

Sapius schwieg und starrte noch immer gedankenverloren zu Saykara hin. Durfte er ihr das wirklich antun? Sie hatte ihn benutzt und vor Tomal lächerlich gemacht. Aber mehr nicht. Nicht genug, sie zu töten. In ihrem Leib wuchs ein Kind heran. Das machte die Entscheidung noch schlimmer. Würde er womöglich sein eigen Fleisch und Blut den gierigen Mäulern der Moldawar überlassen? Es gab keine Sicherheit, ob das Kind ein Lesvaraq werden würde. Nach Ulljans Tod hatte der neue Zyklus mehr als fünftausend Sonnenwenden auf sich warten lassen.

»Yasek? Stimmt etwas nicht?«, fragte Yach.

»Ich denke nur nach«, antwortete Sapius abwesend, ohne Saykara aus den Augen zu lassen.

»Worüber?«, wollte der Moldawar wissen.

»Ob ich diese Frau dort oben in Stücke zerrissen und tot sehen will oder mich lieber mit ihr ins Bett lege und sie liebe.«

»Ich verstehe dich nicht«, sagte Yach, »sie ist doch nur Beute. Fleisch, Blut, Knochen und Wasser. Nicht besser oder anders als alle anderen auf dem Schiff.«

»Nein, sie ist viel mehr als das. Sie ist eine Königin. Du siehst sie nicht mit meinen Augen und erkennst nicht, wie schön sie ist. Sie trägt den Fluch der Schönheit in sich. Es wäre eine Schande, sie von euch Moldawar zerfleischen zu lassen.«

»Sie gehört dir, wenn du sie willst, Yasek. Sollen wir sie für dich verschonen?«, wollte Yach wissen. »Du brauchst es nur zu sagen, dann krümmen wir ihr kein Haar.«

»Nein … ich … ich weiß es nicht. Ich bin zu schwach, Saykara zu einem solchen Tod zu verdammen. Es kommt mir so grausam und sinnlos vor, nach allem was geschehen ist. Noch mehr Tod und Verderben. Sie, ihre Dienerschaft und die Maya auf den Sturmschiffen sind dem Unglück auf Ell entgangen und sollen nun auf diese Weise sterben? Das ist nicht gerecht.«

»Es gibt keine Gerechtigkeit« antwortete der Moldawar, »nur das Gesetz des Gleichgewichts. Die Frau an Deck des Sturmschiffs erfüllt ihren Zweck, sie ist Futter, Yasek. Futter für die Drachen der Meere.«

Sapius sah dem Moldawar tief ins Auge und glaubte, ihn kalt lächeln zu sehen.

»Wie du das sagst, klingt es einfach«, sagte Sapius, »und dennoch habe ich meine Zweifel, ob es richtig wäre, sie zu töten.«

»Liebst du sie?«, wollte der Moldawar wissen.

»Weißt du denn, was Liebe ist?«, fragte der Magier überrascht zurück.

»Wahrscheinlich nicht wie du sie beschreiben würdest, Yasek«, gab der Moldawar zu, »aber ich weiß, dass sie tiefe Verbundenheit bedeutet und der Verlust einer Liebe mehr schmerzt als alles andere auf Kryson.«

»Das ist eine ziemlich treffende Beschreibung«, gab Sapius erstaunt zurück.

»Danke! Also liebst du sie?«, freute sich der Moldawar und zeigte sich beharrlich.

»Nein … ich … ich weiß es nicht, verdammt. Aber ich weiß sicher, dass mich ihr Verlust schmerzen wird. Vielleicht ist es nur ihr Anblick, der mich über alles andere an ihr hinwegtäuscht. Wahrscheinlich verfiel ich ihrem Fluch der Schönheit wie alle anderen auch, die sie einst umgarnte und die seitdem nicht mehr von ihr lassen können.«

»Du solltest sie loswerden. Aber ich denke, du hast das Töten einfach satt«, bemerkte der Moldawar, »du musst nicht dabei sein und zusehen, wenn das Schiff sinkt und wir uns unsere Beute schnappen. Wir lassen dich gehen und mit deinem Drachen fliegen, wenn du darauf bestehst. Du musst mir aber versprechen, dass du eines Tages wiederkommst. Denn du bist auch unser Yasek. Der Yasek der Drachen der Meere.«

»Das verspreche ich, aber das kann lange dauern. Ich fühle mich im Meer nicht zu Hause.«

»Das habe ich bemerkt, Yasek«, zeigte sich der Moldawar verständnisvoll, »wir werden dich zu nichts zwingen. Es war schön und eine Ehre für uns, dass du den Mut aufgebracht hast und zu uns ins Wasser gesprungen bist. Das werden wir dir nicht vergessen und wir werden immer daran denken, welche Beute du uns heute einbringen wirst. Sollen wir anfangen?«

Sapius wagte noch einmal einen letzten Blick auf das Sturmschiff, das bald in den Fluten versinken würde. Saykara zog sich von der Reling zurück und er verlor sie aus den Augen. Es brach ihm fast das Herz.

»Fangt an!«, sagte Sapius.

Der Moldawar umkreiste Sapius dreimal zum Abschied, tauchte ab und begann, die anderen Drachen der Meere um sich zu scharen. Sapius rief nach Haffak Gas Vadar.

»Ich komme zurück«, sagte Sapius, »kannst du mir entgegenfliegen?«

»Schon unterwegs, alter Freund«, antwortete Haffak Gas Vadar.

Sapius ließ das Sturmschiff an sich vorbeiziehen, wartete, bis er sich einigermaßen sicher fühlte und bewegte dann seine Drachenschwingen. Aber sie waren zu schwer. Er kam nicht hoch. Plötzlich packten ihn kräftige Pranken im Nacken und zogen ihn in die Höhe. Nachdem sie fünfhundert Fuß hoch waren, ließ ihn der Drache fallen.

»He! Bist du wahnsinnig?«, rief Sapius entsetzt.

»Halt den Mund, breite deine Schwingen aus und flieg. Jetzt hindert dich das Wasser nicht mehr daran.«

Sapius gehorchte und flog. Der Drache verlangsamte seinen Flug, setzte sich unter Sapius, ging in einen gleichmäßigen Gleitflug über und wartete, bis der Magier auf seinem Rücken aufgesetzt und seinen Platz wieder eingenommen hatte. Sapius verwandelte sich zurück in seine tartykische Gestalt.

»Du hast mir einen gewaltigen Schrecken eingejagt«, schimpfte Haffak Gas Vadar, »tu das nie wieder!«

»Genau«, pflichtete Rodso dem Drachen bei, »das war unvernünftig, sinnlos und gefährlich. Ihr hättet Euer Leben an diese Meeresmonster verlieren können.«

»Ach, hört doch auf. Sie sind keine Monster«, tadelte Sapius die Freunde, »die Moldawar sind Drachen der Meere. Sie sind intelligent und können in Gedanken sprechen, so wie Haffak und du, Rodso. Und Haffak … ich glaube du hast mir etwas sehr Wichtiges verschwiegen.«

»Was denn?«, stellte sich der Drache unwissend.

»Die Moldawar sind keine Fische. Du wusstest das. Und du kennst auch die Geschichte, die Euch zu erbitterten Feinden macht, obwohl Ihr im Grunde Brüder und Schwestern seid.«

»Ja … und ja. Ich wusste es«, sagte Haffak Gas Vadar, »ich kenne auch die Geschichte, aber glaub mir, Sapius. Du willst sie nicht hören. Nicht jetzt in der frischen Erinnerung an die vollkommene Zerstörung. Die Geschichte handelt von einem Streit, einem blutigen Krieg und einer Grausamkeit, die du dir nicht vorstellen kannst. Schlimmer als alles, was du gesehen hast.«

»Schon gut«, sagte Sapius, »ich habe genug gehört und verzichte.«

»Was wird aus den Sturmschiffen?«, fragte Haffak Gas Vadar.

»Du wirst es gleich mit eigenen Augen sehen«, sagte Sapius, »sie werden untergehen. Das anschließende Massaker Tausender Moldawar im Wasser wird kein Schiffbrüchiger überleben. Sie werden alle gefressen.«

»Kein schöner Tod«, stellte Haffak Gas Vadar fest.

»Nein«, schluckte Sapius einen Kloß in seinem Hals hinunter, als er an Saykara dachte.

»Und wieder stirbt ein Volk der Altvorderen«, seufzte der Drache traurig, »ist dir bewusst, dass nur die Tartyk die Katastrophe überlebt haben?«

»Ja«, antwortete Sapius, »und das haben wir nur unserer Verbindung mit den Drachen zu verdanken.«

»So ist es, Sapius.«

Der Drache stieg höher und kreiste noch eine Weile über den Sturmschiffen der Nno-bei-Maya. Lärm drang bis zu ihnen in die Höhe. Erst war es ein Klopfen, Krachen und beißendes Krachen, dann fürchterliche Schreie und das Geräusch sinkender Schiffe.

Sapius blickte entsetzt nach unten und sah, wie kreischende Maya von Bord sprangen, als ihr Schiff versank und drohte, sie mit in die Tiefe zu ziehen. Doch im Wasser lauerten schon die hungrigen Moldawar auf sie.

Das blutige Gemetzel wollte sich Sapius nicht mehr mit ansehen und bat den Drachen, abzudrehen und weiterzufliegen. Sapius hatte schweren Herzens verhindert, dass Saykara mit ihrer Dienerschaft und den Maya-Kriegern den magischen Kontinent Fee jemals erreichen würde.

Ihm war klar, dass niemand dieses Schiffsunglück überleben würde. Selbst ein hervorragender Kapitän wie Murhab war gegen eine Übermacht der Drachen des Meeres machtlos. Die letzten Überlebenden der Nno-bei-Maya waren Moldawarfutter. Der einzige Trost, der Sapius in diesem Augenblick blieb, war, dass das Volk der Maya gemeinsam in das Land der Tränen ziehen konnte. Vielleicht war ihnen dieses Schicksal vom Buch der Macht schon vorbestimmt gewesen, als sie von Tomal aus dem Reich der Schatten geführt worden waren.

Haffak Gas Vadar, Sapius und die Felsenfreunde flogen lange durch die Nacht. Sapius fielen irgendwann die Augen vor Erschöpfung zu und er träumte von Saykara, Elischa, Demira und seiner Familie. Es war ein seltsamer Traum, denn er liebte all seine Frauen und konnte sich für keine entscheiden. Am Ende hatte er alle verloren und wurde sehr einsam.

Der Magier wachte mit Tränen in den Augen auf. Über dem Meer stieg die Sonne auf, deren grelles Licht ihn blendete. Sapius drehte den Kopf und sah in die entgegengesetzte Richtung. Doch dort war nichts mehr. Keine zweite Sonne, die er erwartet hätte. Es war der erste Tag nach Rucknawzor, der Katastrophe und dem Untergang Ells.

»Fällt dir etwas auf?«, fragte Sapius den Drachen.

»Natürlich«, antwortete dieser, »wir haben nur noch eine Sonne auf Kryson, die uns Licht, Leben und Wärme schenkt. Die andere Sonne ist für immer verloren.«

»Was wird auf Fee geschehen, wenn es nur noch eine Sonne gibt?«

»Weißt du es noch nicht?«, fragte der Drache.

»Nein, wie sollte ich?«

»Sieh dich um«, meinte der Drache, »wir befinden uns bereits in der Nähe von Fee. Ich kann schon die Küste sehen.«

»Ja und? Was bedeutet das?« Sapius verstand nicht, worauf der Drache hinauswollte.

»Die Grenze von Tag und Nacht«, erklärte der Drache, »ich habe sie vergebens gesucht. Sie ist mit der Sonne verschwunden.«

»Du meinst … das Gleichgewicht hat sich verschoben? Es gibt keine Seite des Tages und auch keine der Nacht mehr?«

»Genau das ist meine Vermutung«, antwortete der Drache, »in Zukunft werden sich Tag und Nacht in schöner Regelmäßigkeit abwechseln. Die Sonne geht unter und es wird Nacht auf Fee. Sie geht wieder auf und es wird Tag. Genauso wie wir es auf Ell gewohnt waren. Das wird auf dem magischen Kontinent vieles verändern und von den Völkern des Lichts und der Dunkelheit einiges an Anpassung fordern. Ich bin mir nicht sicher, ob sie diesen Einschnitt in ihr bisheriges Leben alle überleben werden. Wir werden ihnen dabei helfen müssen, ihr Gleichgewicht wiederzufinden. Sie müssen lernen, damit umzugehen.«

»Ich bin bereit dazu«, sagte Sapius.

»Ich hatte nichts anderes von dir erwartet«, meinte der Drache, »Aber bist du auch bereit, deine Familie zu sehen und die Verantwortung als Yasek über unser Volk endlich zu übernehmen?«

»O ja«, antwortete Sapius, während ihm das Herz aufging, »das bin ich wirklich.«

Haffak Gas Vadar kreischte vor Freude. Sie waren gerettet und dem Ende aller Tage und Nächte auf Ell entkommen.

Sie flogen über die Felsen der Küste Fees. Bald hatten sie die Gegend erreicht, die Sapius als das Zuhause der Drachenmutter bei seinem letzten Besuch kennengelernt hatte. Dort – im Schutze des ältesten und mächtigsten Drachen – siedelten die Tartyk und ihre noch jungen Drachen. Noch war das Volk klein, aber es würde unter Sapius’ Obhut wachsen und gedeihen, wenn er alles richtig machte. Der Drache setzte auf einem Felsvorsprung auf und Sapius rutschte vom Rücken seines Freundes, der ihn wohlbehalten nach Hause getragen hatte.

Die Tartyk waren von den Drachen vorgewarnt worden und hatten sich ohne Ausnahme zur Begrüßung am Felsvorsprung versammelt. Demira stand mit ihren beiden Kindern vorne. Sie lachte und hatte Tränen in den Augen. Sapius hatte nur noch Augen für sie und seine beiden Kinder. Er vergaß sein steifes Bein, stolperte, fiel prompt auf die Nase und stand wieder auf. Die versammelten Drachenreiter lachten über das kleine Missgeschick ihres Yasek. Ein freudiges Lachen, kein Auslachen aus Schadenfreude. Sapius spürte ihre Erleichterung und die Freude über das Wiedersehen.

Demira hielt es nicht länger auf ihrem Platz. Sie rannte ihrem Gemahl mit den beiden Kindern, einem Mädchen und einem Jungen an der Hand entgegen und fiel ihm mit einer solchen Wucht um den Hals, dass er beinahe nach hinten umgefallen wäre.

»O Sapius«, schrie sie weinend und lachend zugleich, »endlich habe ich dich wieder. Was für ein großes Glück. Wir haben dich so sehr gebraucht und vermisst. Ich liebe dich.«

»Ich liebe dich auch«, antwortete Sapius, der seine Freudentränen nun ebenfalls nicht mehr zurückhalten konnte.

Demira hielt Sapius fest umschlungen und drückte ihn so fest, dass ihm beinahe die Luft wegblieb. Sie bedeckte sein ganzes Gesicht mit Küssen und wollte nicht mehr aufhören. Behutsam schob der Yasek Demira von sich und betrachtete seine Kinder. Sie machten ihn stolz und er empfand sofort eine tiefe innige Zuneigung und Verbundenheit zu ihnen. Er nahm jedes seiner Kinder auf den Arm und küsste sie auf Wange und Stirn.

»Ich bin Euer Vater«, sagte der Yasek, »und ich bin sehr froh, Euch endlich kennenzulernen und auf meinem Arm halten zu dürfen. Ihr seid mein ganzer Stolz und meine Freude. Ich werde Euch nie wieder verlassen und immer für Euch da sein, wenn Ihr mich braucht.«

Sapius setzte die Kinder ab und ließ es sich nicht nehmen, jeden einzelnen Tartyk mit einer freundschaftlichen Umarmung und die jungen Drachen mit einem kurzen Gespräch in Gedanken persönlich zu begrüßen. Er war der Yasek.

Sapius war endlich, endlich zu Hause.