Der erste Krieger

Noch in der Nacht nach ihrer Ankunft hatten sich die Streiter zusammengefunden und über ihre Erfahrungen der vergangenen Wochen und Monde ausgetauscht. Lediglich Tomal war nicht zu ihrem Treffen gekommen. Sapius erzählte den anderen, der Lesvaraq sei bei der Königin und würde aufgehalten.

Es gab keinen wirklich guten Grund, das Wiedersehen der Streiter zu feiern. Jedenfalls wäre der Anlass nicht die Freude über die Fortsetzung der Suche nach dem Buch gewesen. Alle Streiter fühlten sich in dieser Frage ähnlich wie Sapius, Baijosto und Belrod von den Wächtern des Buches getäuscht. Dennoch waren unter ihnen seit ihrer ersten Zusammenkunft bis zu den Prüfungen in der Grube Freundschaften entstanden. Die gemeinsamen Erlebnisse und überstandenen Gefahren in den Brutstätten der Rachuren hatten Belrod und Vargnar sowie Renlasol und Baijosto, die ein ähnliches Schicksal teilten, näher zueinandergebracht. So waren sie sich im Lauf der Zeit vertraut geworden und brauchten nur wenig Worte, bis sie sich wieder verstanden und es sich bald wieder wie zuvor anfühlte, als sie gemeinsam das Buch gesucht hatten. Obwohl die Stimmung anfangs noch gedrückt war, besserte sie sich mit jedem Krug Bräu zusehends, bis sie schließlich die Zeit vergaßen und ausgelassen bis spät in die Nacht feierten. In manchen schnell und unüberlegt dahingesagten Worten fand sich sogar die Lust auf ein neues Abenteuer wieder. Die Streiter fieberten der letzten Prüfung entgegen. Der Magier weihte sie ein und so wussten sie alle, dass sich ihr Schicksal und das des Buches in einem gigantischen Spinnennetz entscheiden würde.

Am nächsten Morgen wurde Sapius früh in seinem Quartier im Palast der Königin von Lyara geweckt. Er hatte einen schweren Kopf und ihm war übel.

»Das letzte Bräu muss wohl schlecht gewesen sein«, redete sich der Magier ein.

Saykaras Dienerinnen halfen ihm beim Ankleiden und brachten ihm einen dampfenden Becher Morgenruf, nach dem er sofort verlangt hatte. Er merkte, dass ihn die Dienerinnen zur Eile drängten. Aber es fiel ihm schwer, sich schneller zu bewegen. Er kam sich alt, matt und langsam vor.

»Die Königin erwartet Euch bereits«, sagte Lyara, »wir müssen uns beeilen. Saykara kann sehr ungeduldig werden.«

»Schon gut«, sagte Sapius, »ich gebe mein Bestes.«

»Die Kristalle wurden bereits mit den ersten Sonnenstrahlen des Tages aufgeladen«, erklärte ihm Zyola, »noch sind sie stark und hell. Je länger wir warten, desto schwächer werden sie.«

»Ich bin fertig. Lasst uns gehen«, gab Sapius dem Drängen nach.

Nach einem kurzen Marsch durch den Palast vorbei an vielen Mosaiken und Gemälden, die die Königin in allen erdenklichen Posen zeigten, gelangten sie zu Saykaras Thron und der Statue des ersten Kriegers. Die Königin lief ungeduldig auf und ab. Eine hagere Frau in einem grauen, mit roten und goldenen Stickereien verzierten Gewand prüfte Gahaads Statue, das Herz und Gehirn des Kriegers. Sie nickte und flüsterte der Königin etwas zu, wirkte aber zufrieden mit dem Ergebnis ihrer Untersuchungen. Rings um die Statue herum waren kreisförmig mehrere Kristalle angeordnet, die hell und golden erstrahlten. Das Licht blendete Sapius.

»Wie Sonnenlicht«, dachte er bei sich.

»Da seid Ihr endlich«, fauchte Saykara den Magier an, »das hat ewig gedauert. Ich kann es nicht ausstehen zu warten. Wir müssen beginnen und das Licht der Kristalle nutzen. Die Priesterin hat ihre Vorbereitungen für das Ritual bereits abgeschlossen. Wir öffnen das Portal. Seid Ihr bereit?«

Sapius räusperte sich und lächelte verlegen, dann nickte er der Königin zu, um ihr seine Bereitschaft zu zeigen. Inzwischen war er hellwach und die Kopfschmerzen waren verflogen. Er nahm an, Saykara würde die Schatten rufen. Ihm war nicht wohl bei der Vorstellung, hatte er sich doch vorgenommen, in Zukunft Schattenbeschwörungen zu vermeiden. Er hoffte darauf, dass es ihm erspart blieb, die Königin zu unterstützen, und dass sich die Schatten ihm gegenüber zurückhielten, sollten sie aus ihrem Reich in den Palast der Nno-bei-Maya kommen.

Die Priesterin begann auf Geheiß der Königin in einer ungewöhnlich tiefen Stimme zu singen. Aus ihrer Kehle kamen fremde und unheimliche Töne und Klänge. Während sie ihren Gesang anstimmte, schienen die Kristalle noch heller zu leuchten. Die Musik der Priesterin war mit nichts vergleichbar, was Sapius kannte.

»Scheinbar hat jedes Volk und jeder Schattenbeschwörer seine ganz eigene Methode, die Schatten zu rufen und ein Tor in das Reich der Schatten zu öffnen«, dachte Sapius.

Er hatte in seinem Leben schon einige Schattenbeschwörer kennengelernt. Nalkaars Gesang hatte ihn bislang am meisten beeindruckt. Jedenfalls kannte er keinen anderen, dessen Gesang solch verheerende Wirkungen hervorrief.

Diese Gefahr sah er im Gesang der Priesterin überhaupt nicht. Die Musik war nicht schön, traurig und nicht annähernd so bewegend wie die Nalkaars. Sie war im Grunde abscheulich, aber Sapius wagte es nicht, sich die Ohren zuzuhalten.

Die Priesterin war – unter den strengen Augen ihrer Königin – dazu übergangen, sich tanzend und mit zuckenden Bewegungen um die Statue zu bewegen. Sie erinnerte ihn an einen Laufvogel.

Als die Priesterin die Statue zum zehnten Mal umrundet hatte, sprach Saykara Worte in der alten Sprache, die dem Magier unbekannt waren.

Vor Sapius’ Augen, in unmittelbarer Nähe der Statue, öffnete sich plötzlich ein Portal in das Reich der Schatten. Der Magier konnte durch das pulsierende Licht hindurchsehen und erkennen, dass sich bereits eine Schar Schatten dahinter versammelt hatte. Aber sie blieben, wo sie waren und gingen nicht hindurch.

»Wollt Ihr durch das Portal in das Reich der Schatten gehen?«, fragte ihn Saykara. »Ich halte es offen, bis Gahaad zurückkommt. Ihr könntet Euch dort umsehen und alte Freunde besuchen.«

»Nein«, sagte Sapius, »das ist keine Welt, die ich erkunden muss. Es ist die Welt der Toten, die nichts mit den Lebenden zu tun haben sollte.«

»Ihr seid kein bisschen neugierig?«

»Nein«, antwortete Sapius deutlich.

»Ich lebte dort mehr als fünftausend Sonnenwenden mit meinem Volk.«

»Ich weiß«, meinte Sapius, »aber es hat Euch nicht gefallen, sonst wärt Ihr nicht zurückgekommen.«

»Das stimmt«, musste Saykara zugeben, »jeder Tag im Reich der Schatten war ein verlorener Tag für mich und mein Volk. Aber sobald Gahaad zurück ist, werde ich mir alles wiederholen, was mir gestohlen wurde. Jede Sardas in den Schatten werden mir die Klan dreifach bezahlen.«

»Ihr sinnt auf Rache gegen die Klan wegen Ulljans Unrecht an Euch und Eurem Volk?«, fragte Sapius verwundert.

»Nein«, meinte Saykara, »Ulljans Taten können nicht mehr bestraft werden. Er ist Geschichte. Ulljan ist schon seit langer Zeit tot. Aber die Klan haben uns noch mehr genommen. Sie stahlen unser Land, bekämpften und verdrängten uns. Sie nahmen uns unsere Macht und verdammten uns zur Bedeutungslosigkeit, bis wir endlich Zuflucht auf Kartak fanden. Doch selbst in unserem sicher geglaubten Versteck im Inneren des Vulkans ließen sie uns nicht in Ruhe. Wir schufen die magische Barriere und ließen die Eingänge nach Zehyr bewachen. Bis sie uns Ulljan schickten, der uns in die Schatten verbannte. Ich werde ihre Hauptstadt einnehmen und die Nno-bei-Klan vernichten.«

»Denkt Ihr nicht, Ihr geht zu weit? Die Nno-bei-Klan mussten sich zuletzt mit vielen Eroberern herumschlagen, die so denken wie Ihr.«

»Keineswegs«, lächelte Saykara ihr kaltes Lächeln, »die Klan können nicht wiedergutmachen, was sie uns einst genommen haben. Ihre Zeit ist abgelaufen. Die Zeit wird uns niemand mehr zurückgeben können, es sei denn … jemand würde ein ganz bestimmtes Buch finden.«

»Das Buch der Macht?«

»Erstaunlich, wie schnell Ihr darauf gekommen seid – oder könnt Ihr etwa Gedanken lesen, Sapius?«

»Manchmal gelingt es mir sogar, in die Köpfe anderer zu blicken«, räumte Sapius ein, »so sie es denn zulassen. Aber das hat mehr mit Erfahrung und der Kenntnis anderer Wesen als mit Gedankenlesen zu tun. Mit den Drachen kann ich in Gedanken sprechen.«

»Ihr seid auf der Suche nach dem Buch der Macht«, sagte die Königin.

»Woher wollt Ihr das wissen?«

»Ich sehe es Euch an Eurer Nase an, Sapius«, spottete Saykara. »Aber nein … ich habe mit Tomal gesprochen. Der Lesvaraq hat mir alles erzählt. Ihr wisst, dass Ihr mir das Buch aushändigen müsst, sobald Ihr es gefunden habt. Es gehört mir. Alles auf Kartak gehört der Königin der Nno-bei-Maya. Hätte ich gewusst, dass sich das Buch in unmittelbarer Nähe befindet, hätte ich keine Mühen gescheut, es zu finden. Aber ich wusste es nicht. Niemand meines Volkes wusste davon.«

Saykara wies die Priesterin an, einige besonders hell leuchtende Kristalle durch das Portal zu werfen.

»Gahaad müsste das Licht der Kristalle bis in die tiefsten Ebenen des Nebellandes sehen können. Ich hoffe, er versteht die Zeichen, die wir ihm schicken.«

Die kriegerischen Absichten der Königin gefielen Sapius überhaupt nicht. Er dachte, dass es ein Fehler war, ihr das Herz und Gehirn ihres Kriegers zurückzubringen. Die Klan hatten zuletzt viel über sich ergehen lassen müssen. Eine Eroberung und Vernichtung durch die Hand der Nno-bei-Maya hatten sie nicht verdient. Er glaubte allerdings nicht daran, dass die Nno-bei-Maya das in die Tat umsetzen konnten. Sie waren nicht stark genug, die Nno-bei-Klan zu unterjochen. Jedenfalls nicht ohne die Hilfe eines Lesvaraq. War es das, was die Königin von Tomal wollte? Sollte er das Buch für die Rachepläne der Königin einsetzen? Noch ein Grund für Sapius, weshalb Tomal das Buch der Macht nicht bekommen durfte.

*

Das Licht der Kristalle durchdrang das Reich der Schatten, wie einzelne Sonnenstrahlen durch das dichte Laub der Baumkronen eines Waldes bis zum Boden fielen. Dort wo die Lichtstrahlen das Grau durchdrangen, zogen sich die Schatten ängstlich kreischend zurück. Wurden sie von einem Lichtstrahl getroffen, lösten sie sich auf. Das Licht machte vor nichts halt, drang durch Türen, Schlitze, Spalten und Löcher. Es suchte sich seinen Weg durch das Reich der Schatten bis in das Land des Nebels, als würde es von Saykara bewusst dorthin gelenkt.

Murhab kauerte mit Gahaad und Kelamon in ihrem Versteck, starrte gedankenverloren aus der Höhle und entdeckte als Erster einen Lichtstrahl.

»Gahaad, Kelamon! Habt Ihr das Licht gesehen?«, rief er vor Freude. »Es kommt mir vor, als wäre es ein Sonnenstrahl.«

Die beiden Schatten sahen gelangweilt zu Murhab auf. Offensichtlich hielten sie ihn für verrückt. Im Reich der Schatten gab es kein Licht.

»Seht doch!«, rief Murhab aufgeregt.

Der Kapitän und Todsänger war außer sich vor Freude und sprang immer wieder in die Luft. Sie hatten so lange in der Dunkelheit gesessen und gewartet, dass er sich bereits selbst wie ein Schatten fühlte. Das Licht hatte ihm besonders gefehlt. In den Gesprächen mit Gahaad und Kelamon hatte er zwar vieles über die Nno-bei-Maya und ihre schöne Königin erfahren. Aber er hatte sich auch Kelamons Abscheulichkeiten anhören müssen. Kelamon war eine kranke Seele, die nie wieder auf die Lebenden losgelassen werden durfte.

Murhab sprang auf und rannte aus der Höhle.

»Wohin wollt Ihr?«, fragte Gahaad.

»Das Licht! Es sucht nach uns. Wir müssen ihm folgen und herausfinden, woher es kommt«, meinte Murhab.

Gahaad drehte den Kopf und plötzlich war auch er nicht mehr zu halten. Es war nicht nur das Licht, das er gesehen hatte. Es waren die leisen, schiefen Klänge, die es begleiteten.

»Bei den Kojos«, rief der Schatten des ersten Kriegers, »sie rufen uns aus dem Reich der Schatten zurück. Schnell! Achtet darauf, das Licht nicht zu berühren.«

»Ich bin kein Schatten«, meinte Murhab.

»Stimmt. Das hätte ich beinahe vergessen«, antwortete Gahaad, »wie so vieles, seit ich hierher verbannt wurde.«

Kelamon hatte den Lichtstrahl ebenfalls entdeckt und gesellte sich erwartungsvoll zu Murhab und Gahaad.

»Ich komme mit Euch«, sagte Kelamon, »wo immer uns das Licht auch hinführen wird. Es kann nicht schlechter sein als an diesem Ort. Ihr werdet doch an Euer Versprechen denken, Murhab?«

»Ich habe Euch kein Versprechen gegeben«, entgegnete Murhab.

»Nicht direkt, das ist wahr«, zischte Kelamon, »aber Ihr habt meinen Wunsch auch nicht abgelehnt.«

»Gehen wir«, drängte Gahaad, »wir wissen nicht, wie lange das Licht durch die Schatten dringen wird. Es muss irgendwo ein offenes Portal geben. Folgen wir dem Lichtstrahl und suchen seinen Ursprung.«

Der erste Krieger stürmte los und vermied es dabei tunlichst, in die Nähe des Lichtstrahls zu kommen. Das Licht vor Augen rannten sie in Richtung der Tür, die aus dem Land des Nebels ins Reich der Schatten führte.

Murhab sah sich immer wieder nervös um. Der Gesang störte ihn. Die Todsänger achteten auf Harmonie und Schönheit. Dieser Gesang war anders. Er hätte sich am liebsten die Ohren verstopft und wäre davongelaufen, statt den eigenartigen Tönen zu folgen. Er fragte sich, ob der Gesang eher dazu gedacht war, die Schatten zu vertreiben, statt sie anzulocken.

Als Murhab wieder über die Schulter blickte, bemerkte er, wie der Nebel des Vergessens sich verdichtete und mit seinen Schleiern und Schwaden auf sie zuwaberte.

»Schneller!«, rief er den anderen beiden zu. »Wir müssen die Tür erreichen, bevor der Nebel uns erreicht und eingeschlossen hat. Er hat uns entdeckt.«

Die Schatten bewegten sich rasend schnell. Murhab hatte Mühe, Anschluss zu halten.

*

»Gahaad ist auf dem Weg«, sagte die Priesterin, »er hat meinen Gesang gehört und unser Licht entdeckt.«

»Wie weit ist er noch entfernt?«, wollte Saykara wissen.

»Er hat es noch nicht ins Reich der Schatten geschafft«, antwortete die Priesterin, »der Nebel des Vergessens verfolgt ihn.«

»Können wir ihm helfen?«, fragte Saykara voller Sorge. »Was ist mit dem Todsänger, den ich ihm geschickt habe? Kannst du ihn sehen?«

»Ich sehe ihn«, behauptete die Priesterin, »er ist bei ihm.«

»Gut. Schick ihm ein Zeichen. Er soll den Nebel ablenken und aufhalten.«

»Er müsste sich für Gahaad opfern, meine Königin«, erwiderte die Priesterin.

»Dann soll er sich opfern! Gahaad ist tausendmal mehr wert als dieser Kapitän.«

Die Priesterin tanzte weiter um die Statue herum, verstärkte ihren Gesang und veränderte ihn. Sie mischte Rufe und gutturale Laute dazwischen, die sich für Sapius anhörten, als würden sie eine verschlüsselte Botschaft übermitteln.

Das steinerne Herz in der Statue begann sich zu verändern. Seine feste Hülle begann plötzlich aufzuplatzen und abzublättern. Stein wandelte sich in rotes, festes, pulsierendes Fleisch. Mit dem Gehirn des Kriegers geschah dasselbe. Leben schien langsam in die Artefakte zurückzukehren.

*

Der Ruf der Priesterin erreichte Murhab während der Nebel näher und näher rückte. Er rannte den Schatten hinterher, die geradezu panisch vor dem Nebel des Vergessens flohen.

»Halte den Nebel auf. Rette Gahaad!«, lautete die Anweisung der Priesterin.

Murhab wusste nicht, wie er das anstellen sollte. Aber er blieb instinktiv stehen und drehte sich um, der Gefahr ins Gesicht zu sehen. Der Nebel des Vergessens war dichtauf und kam weiter unaufhaltsam auf ihn zu. Murhab musste sich eingestehen, dass er es ohnehin nicht mehr bis zum Tor geschafft hätte. Der Nebel war zu schnell.

Was würde geschehen, sollte ihn der Nebel erreichen, fragte er sich. Würde er vergessen, wer und was er war? Er drehte sich noch einmal um und sah, wie die beiden Schatten weiterrannten. Ob er hinterherkam oder nicht, schien sie nicht zu kümmern. Ihr Abstand zu Murhab war schon deutlich größer geworden. Er konnte sie nicht mehr einholen, bevor sie das Tor ins Reich der Schatten erreichen würden.

Die ersten Nebelschleier erreichten Murhab und umschlangen seine Beine. An den Stellen, an denen Murhab seine Haut nicht mit Stoff und Leder bedeckt hatte, fühlte sich der Nebel kalt und feucht an. Außerdem konnte er ein Kribbeln auf der Haut spüren. Nebelschwaden wanderten an seinem Körper hoch, wurden dichter und bedeckten ihn immer mehr, bis sie seinen Kopf erreichten und ihn schließlich vollständig verschlangen.

Murhab war blind. Um sich herum sah er nur grau. Gelegentlich formten sich Teile des Nebels zu einem Gesicht, einer Hand oder einem Bein. Murhab war sich nicht sicher, die Erscheinungen im Nebel konnten Täuschungen sein. Er hatte Angst, glaubte Stimmen im Nebel zu hören. Wie war das Vergessen? War es wirklich schlimm, etwas wovor er sich fürchten musste, oder war es am Ende gar eine Befreiung von den Lasten seines Lebens? Wieder sah er Formen, die auf ihn zukamen, ihn angrinsten und sofort wieder im Grau verschwanden. Eine Stimme sprach zu ihm, langsam, hohl und verzerrt.

»Kein Schatten! Kein Vergessen!«

Die Stimme kam aus dem Nebel. Sie war überall um ihn herum, als spräche sie aus tausend Kehlen. Sie klang beinahe enttäuscht.

»Keine Erlösung!«

Murhab wusste nicht, wie ihm geschah. Er spürte, dass er nicht hierher gehörte, konnte die Ablehnung körperlich fühlen. Ein unangenehmes Ziehen in seinen Gliedern und ein Druck in seinem Kopf. Der Nebel stieß ihn ab, gab ihn wieder vollständig frei und zog sich zurück.

Der Todsänger sah sich um. Gahaad und Kelamon hatten das Tor erreicht. Ihre verzweifelten Versuche, das Tor zum Reich der Schatten zu öffnen, scheiterten allesamt. Er musste ihnen helfen. Murhab schüttelte seine traumhafte Beklommenheit aus der Begegnung mit dem Nebel des Vergessens ab und setzte sich in Bewegung.

Was den beiden Schatten nicht gelingen wollte, glückte ihm mit Leichtigkeit. Die zahlreichen Schlösser und Riegel waren offensichtlich nicht für die Schatten gemacht. Murhab entriegelte das Tor und öffnete es.

»Wir lassen das Tor offen«, schlug Murhab vor, nachdem sie hindurchgegangen waren und in der Arena standen, »das wird die Schatten beschäftigen und besänftigen. Viele von ihnen warten schon lange darauf, in den Nebel des Vergessens zu gehen. Ich habe mitbekommen wie zornig sie waren, als das Tor erneut verschlossen wurde.«

Murhab sollte recht behalten. Schon bald hatte sich eine lange Schlange von Schatten vor dem Tor gebildet, die sich zischend und fauchend miteinander unterhielten. Ihre Zeit war gekommen und sie freuten sich offenbar auf diesen letzten Schritt, der sie endlich ins Vergessen führte.

Sie folgten den Lichtstrahlen, die sie durch verwinkelte Gänge führten, bis an das Portal heran. Dort hatten sich zahlreiche Schatten versammelt, die jedoch davor zurückschreckten durch das Portal nach Ell zu gehen.

»Was ist hier los?«, fragte Murhab.

»Das Portal lockt die Schatten zwar an, weil sie fühlen, dass sie der Schattenbeschwörerin gehorchen müssen, der Gesang jedoch hält sie davon ab, das Portal zu betreten«, meinte Gahaad. »Sie sind verwirrt und fürchten sich. Also versammeln sie sich nur und tun gar nichts. Der Gesang ist nur für mich bestimmt und erzählt, dass mein Körper für die Rückkehr meiner Seele bereit ist. Ich kann das Portal gefahrlos betreten und heimkehren. Bahnen wir uns einen Weg durch die Schatten!«

»Gut, worauf warten wir noch? Sehen wir zu, dass wir von hier wegkommen«, schlug Murhab vor.

Gahaad und Murhab arbeiteten sich durch die Schatten hindurch, schoben sie zur Seite und drängelten sich durch die Menge. Bald stellten sie fest, dass Kelamon zurückblieb.

»Ich kann nicht mitkommen«, der Schatten klang verzweifelt, »der Gesang hindert mich daran. Ihr müsst mir helfen.«

»Tut mir leid, Kelamon«, meinte Murhab, »wir können dir nicht helfen. Du wirst im Reich der Schatten bleiben müssen. Aber ich werde ein gutes Wort für dich einlegen. Vielleicht erweist sich die Schattenbeschwörerin als gnädig, setzt den Gesang aus und lässt dich noch durch das Portal gehen.«

»Ihr wolltet mehr für mich tun. Ich habe mein Versprechen gehalten«, fauchte Kelamon. »Lasst mich nicht hier zurück!«

Der Todsänger und der Schatten des ersten Kriegers hatten das Portal erreicht. Murhab sah sich noch einmal nach Kelamon um, bevor er das Portal durchschritt. Der Blick des Schattens war vernichtend.

»Das werdet Ihr eines Tages bereuen!«, rief Kelamon ihnen nach und drohte mit seiner geballten Schattenfaust. »Niemand bricht das Versprechen, das er einem Schatten gab! Ihr habt mich getäuscht.«

Murhab sah noch, wie die anderen Schatten Kelamon beipflichteten und zischend protestierten. »Sollte ich eines Tages sterben und in das Reich der Schatten zurückkehren, werde ich keinen leichten Stand haben«, dachte Murhab, »aber was soll’s. Ich lande sowieso in den Flammen der Pein.«

Sein Versprechen Kelamon gegenüber, Saykara darum zu bitten, nach ihrer Rückkehr den Gesang auszusetzen und Kelamon durch das Portal zu lassen, wollte er allerdings einhalten. Sollte sich doch die Königin der Nno-bei-Maya um den kranken Geist Kelamon kümmern.

*

Sapius sah einen Schatten aus dem Portal springen, der sich auf die Statue stürzte, über sie legte und in ihr verschwand. Das dauerte nur einen Wimpernschlag. Kurz danach trat eine weitere Gestalt mit einem höchst eigenwilligen Kristallhelm aus dem Portal. Schwarz gekleidet glich sie einem Schatten, aber Sapius spürte sofort, dass es sich nicht um einen Schatten handelte. Er kannte das Gesicht. Aber er war sich sicher, dass es sich um einen Todsänger handelte. Davon durfte er sich jetzt nicht beeindrucken lassen. Das Ritual war noch nicht beendet.

Fasziniert sah Sapius, wie die Statue des ersten Kriegers langsam zum Leben erwachte. Es war ein beeindruckendes Schauspiel. Die Wiedergeburt eines lange verschollenen Mannes aus dem Reich der Schatten. Stein wandelte sich in Fleisch.

»Vargnar und Rodso hätten sich die Rückkehr des Kriegers ansehen sollen«, dachte Sapius bei sich, »vielleicht wären auch die Felsgeborenen in der Lage, sich mithilfe der Magie von einem steinernen Wesen in ein Geschöpf aus Fleisch und Blut zu wandeln. Aber wer weiß, ob sie das überhaupt wollen?«

Ausgehend vom Herzen Gahaads breitete sich das Pulsieren immer weiter in seinem Körper aus. Wunden verheilten, schlossen den geöffneten Brustkorb, die Schädeldecke bildete sich neu und legte sich wie eine schützende Hülle über das Gehirn. Die Augenlider öffneten sich. Gahaad rollte mit den Augen und versuchte, sich umzusehen. Aber der Rest seines Körpers war noch aus Stein. Die Veränderung setzte sich fort. Er öffnete seinen Mund und nahm einen tiefen Atemzug. Ein Schrei, der Sapius durch Mark und Bein ging. Es war ein Schmerzensschrei, der jedoch – der Magier war sich sicher – zugleich Freude und Befreiung ausdrückte.

Gahaad begann langsam und vorsichtig, seine Hände zu bewegen. Eine Steinkruste blätterte ab und brachte die Haut darunter zum Vorschein. Die Knie des ersten Kriegers zitterten. Er setzte einen Fuß vor und wieder zurück. Sein Brustkorb bewegte sich auf und ab. Der erste Krieger war zurückgekehrt. Er lebte.

Sapius hatte den Todsänger während Gahaads Wiedergeburt schon fast vergessen, als dieser laut räuspernd auf sich aufmerksam machte. Plötzlich fiel es dem Magier wieder ein. Das war Murhab, Jafdabhs Luftschiffkapitän. Der Kapitän der Aeras Tamar.

»Verzeiht«, sagte Murhab, »ich will mich nicht aufdrängen. Wir sind heil aus den Schatten zurück und wie ich sehe, wurde der erste Krieger wiedergeboren. Ich habe meinen Teil der Aufgabe erfüllt.«

Saykara machte einen abwesenden Eindruck. Sie hatte offensichtlich nur Augen für den ersten Krieger, der sich inzwischen vollständig gewandelt hatte.

»Ja … ja … gut«, sagte sie nur, »sehr gut.«

»Ich … ähm … nun … Ihr wolltet mich vom Fluch des Todsängers befreien«, meinte Murhab, »der Helm drückt und ich dachte wir könnten … vielleicht … gleich … nun … damit anfangen.«

»Ach so … ja«, antwortete Saykara gedankenverloren. »Gahaad, Geliebter! Du bist zurück. Endlich sind wir wieder vereint. Geht es dir gut?«

Sapius wagte sich vor und sprach den Todsänger an.

»Ihr seid Murhab. Ich habe Euch schon einmal gesehen. Damals wart Ihr allerdings noch kein Todsänger. An Eurer Stelle würde ich der Königin noch etwas Zeit lassen. Wie Ihr sicher sehen könnt, genießt Ihr im Augenblick nicht die allergrößte Aufmerksamkeit Saykaras. Ihre Blicke gehören nur dem ersten Krieger.«

»Scheint so«, brummte Murhab unzufrieden, »dann muss ich eben abwarten. Aber da wäre noch etwas anderes. In den Schatten wartet noch ein Geist, der mir half, den ersten Krieger zu finden. Er bittet darum, durch das Portal gelassen zu werden, um wieder leben zu können.«

»Wer ist dieser Schatten?«, fragte Sapius neugierig.

»Kelamon«, antwortete Murhab.

»Der Kelamon?«

»In der Tat«, nickte Murhab, »der Kelamon, der zu Lebzeiten eine ziemlich unrühmliche Bekanntheit auf Ell erreichte.«

»Bei den Kojos …« Sapius klang zutiefst erschüttert.

Die Königin hatte das kurze Gespräch zwischen Sapius und Murhab offenbar mit einem Ohr doch mit angehört.

»Kommt nicht infrage«, lehnte sie barsch ab, »und was Euch betrifft: Geht und lasst mich mit dem ersten Krieger endlich allein. Ihr bekommt, was Ihr verdient habt!«

Die Worte der Königin konnten alles und nichts bedeuten. Im schlimmsten Fall sogar das Ende. Aber was blieb ihnen anderes übrig, als den Befehlen der Königin Folge zu leisten? In ihrer Stadt war es kein guter Einfall, sich ihren Wünschen zu widersetzen.

»Was Tomal wohl über den ersten Krieger und die innige Liebe seiner Königin denken wird?«, fragte sich Sapius. Der Lesvaraq konnte in Sapius’ Vorstellung nur Hass für Gahaad empfinden. Gahaad war der erste Krieger der Nno-bei-Maya. Es war bekannt, dass er einst die Gabe des Kriegers besaß, die später Madhrab gehörte und die Tomal so gerne von seinem Vater geerbt hätte.

Nach Gahaads Rückkehr aus den Schatten stand jedoch für Sapius fest, an wen die Gabe der Kojos nach Madhrabs Tod zurückfallen würde. An den ersten Krieger. Nur er würde in der Lage sein, Madhrabs sagenumwobenes, singendes Schwert Solatar zu führen.

Der Neid würde Tomal zerfressen, nahm Sapius an. Außerdem hatte der Magier Tomals Verhalten gesehen, als der Lesvaraq ihn im Bett der Königin erwischt hatte. Sein Wutausbruch war mehr als nur Eifersucht. Die Liebe zwischen Saykara und Gahaad, die für jeden Beobachter, auch für den Lesvaraq, unverkennbar war, würde Tomal rasend machen. Eine freundschaftliche Beziehung zwischen dem ersten Krieger der Maya und Tomal konnte es nicht geben.

Sapius schlenderte gemächlich zurück in das Quartier, das ihm Saykara im Palast zugewiesen hatte. Murhab begleitete den Magier ein Stück des Weges, was Sapius unangenehm war. Er konnte Todsänger nicht ausstehen. Wenigstens belästigte ihn der ehemalige Kapitän der Aeras Tamar nicht mit Gesängen oder versuchte, ihm die Lebensweise der Seelenfresser näherzubringen. Der Magier akzeptierte den Todsänger nur, weil er mitbekommen hatte, dass Murhab den ersten Krieger in Saykaras Auftrag aus den Schatten geführt hatte und er ihr damit offensichtlich einen großen Dienst erwiesen hatte. Es wäre nicht klug gewesen, den Todsänger im Palast der Königin zu beseitigen. Sapius war froh, als Murhab endlich abbog. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, wenn er sich nur vorstellte, was Todsänger anrichten konnten. Wenigstens war Murhab nur ein seelenloses Opfer des ersten Todsängers und nicht Nalkaar selbst. Eine Begegnung mit Nalkaar hätte Sapius nicht stillschweigend hingenommen.

Sapius war eingeschlafen. Er wurde von einem Klopfen an der Tür geweckt und schreckte hoch.

»Das muss Tarratar sein«, dachte Sapius, »die Suche beginnt.«

Der Magier stand auf und öffnete. Zu seiner Überraschung stand Gahaad vor der Tür.

Der erste Krieger musterte den Magier von oben bis unten. Sapius konnte nicht ergründen, was im Kopf des Maya vorging. Sein abschätziger Blick verhieß nichts Gutes.

»Saykara sagt, ich verdanke Euch mein Leben«, sagte Gahaad, »ich kam, Euch den Dank der Königin zu überbringen. Ich soll Euch von ihr ausrichten, sie halte sich an ihre Versprechen.«

Gahaad überreichte dem Magier einen gefüllten Lederbeutel. Sapius fiel auf, dass der erste Krieger Solatar auf dem Rücken trug. Der Magier hatte nicht damit gerechnet, dass der Lesvaraq das Schwert seines Vaters so schnell an Gahaad übergeben würde. Wahrscheinlich steckte die Königin dahinter.

»Wollte Saykara mir ihren Dank nicht selbst überbringen?«, fragte Sapius.

»Haltet Euch von der Königin fern«, warnte Gahaad den Magier mit finsterem Blick. »Ich glaube nicht daran, dass Ihr derjenige seid, der es Saykara ermöglichte, mich aus den Schatten zurückzurufen. Ich habe gehört, der Dank stünde einem anderen zu. Aber Ihr seid schneller gewesen und habt seinen Verdienst geschickt als den Euren ausgegeben. Es ist Euch immerhin gelungen, bei der Königin Zweifel zu streuen. Die Wahrheit ist schwer zu ergründen. Nur aus diesem Grund stehe ich hier und überreiche Euch das Geschenk der Königin. Ich warne Euch, Betrüger und Diebe haben in Zehyr ein kurzes Leben.«

»Ich weiß die Geste der Königin zu schätzen«, antwortete Sapius ruhig, »richtet ihr meinen Dank aus, wenn Ihr sie seht. Was ist in dem Beutel?«

»Kristallstaub«, antwortete Gahaad, »ich weiß nicht, wofür Ihr ihn braucht. Er ist sehr wertvoll. Setzt Ihr ihn richtig und zur rechten Zeit ein, vermag er die Bewegungen anderer Wesen zu verlangsamen und ihre Angriffe zu schwächen. Der Staub ist nur schwer zu gewinnen. Er blendet die Augen, lähmt Beine und Arme. Aber die Wirkung hält nicht lange an. Einem Maya-Krieger, der damit umzugehen weiß, verschafft der Staub jedoch einen Vorteil im Kampf. Saykara sagte, Ihr wüsstet schon, wann und zu welchem Zweck Ihr ihn verwenden müsst.«

»Im Augenblick ist mir das zwar noch nicht bewusst. Aber die Königin wird wissen, weshalb sie mir ausgerechnet dieses Geschenk macht«, meinte Sapius. »Wenn ich Euch noch einen gut gemeinten Rat mit auf den Weg geben darf. Vertraut den Worten eines Mannes nicht, nur weil Ihr ihn für mächtig und stark haltet. Sein Äußeres könnte Euch täuschen. Versucht, ihn zu ergründen. Ihr könntet einen Todfeind erkennen. Ein freundliches Geschenk könnte vergiftet sein, eine zuvorkommende Geste Euer Todesurteil.«

»Euer Rat ist weder neu noch weise. Behaltet ihn für Euch. Ihr seid ein Betrüger, der in Rätseln spricht, um andere zu täuschen. Ob Ihr auch ein Dieb seid, wird sich erweisen. Ich schlage vor, Ihr erledigt, was Ihr zu erledigen habt, und verschwindet so schnell wie möglich aus Zehyr. Sollte ich herausfinden, dass Ihr gelogen habt, oder Euch beim Stehlen erwischen, schneide ich Euch den Hals durch und bringe Saykara Euren Kopf.«

»Ich habe verstanden«, antwortete Sapius, »macht Euch keine Sorgen meinetwegen. Ich werde niemanden bestehlen und Zehyr bald wieder verlassen. Ich bin jedenfalls froh, dass Ihr wieder zurück seid. Lebt wohl!«

Sapius schlug Gahaad die Tür vor der Nase zu. Tomal hatte offenbar ganze Arbeit geleistet. Wie sonst hatte Gahaad annehmen können, Sapius wäre ein Dieb? Die Lage in Zehyr spitzte sich für Sapius zu. Der Lesvaraq trieb ein falsches Spiel, das gegen ihn gerichtet war. Das gefiel Sapius nicht. Aber er wusste auch, dass der Kampf um das Buch bereits begonnen hatte, obwohl Tarratar die Streiter noch nicht zur letzten Aufgabe gerufen hatte.

Die Streiter versammelten sich auf der Brücke in einer an die Stadt anschließenden, durch mächtige Tore von Zehyr abgeschlossenen Kaverne. Sie verband Zehyr mit der Außenwelt. Ober- und unterhalb der Brücke spannte sich ein gigantisches und weitverzweigtes Netz durch die gesamte Kaverne. Von der Brücke aus war es nicht möglich, das obere oder untere Ende des Netzes zu sehen.

Tarratar hatte die Streiter an diesen unheimlichen Ort gerufen, der von den Maya der Weg der Spinne genannt wurde. Jeder konnte sehen, dass es sich um ein Spinnennetz mit mächtigen Fäden, die teils dicker als starke Stricke waren, handelte. Wer ein solches Netz sein Eigen nannte, musste sehr groß sein. Neben Tarratar stand breitbeinig, die Fäuste in die Hüften gestemmt, Daleima, die zweite Wächterin.

»Ich habe die Streiter an diesen Ort gerufen, weil in diesem Netz eure letzte Aufgabe liegt«, eröffnete Tarratar, »ihr müsst den zweiten Teil des Buches der Macht finden und holen. Sollte euch dies gelingen, müsst ihr die beiden Teile zu einem Ganzen zusammenfügen. Das Buch liegt irgendwo eingesponnen im Netz verborgen. Ihr werdet also in das Netz steigen müssen, um das Buch herauszuholen. Im Netz wohnt Grenwin, der vierte Wächter des Buches. Er lebt und wacht hier schon seit langer Zeit über den Teil des Buches, den Ihr sucht. Grenwin wird euch prüfen und euch das Buch nicht einfach aus freien Stücken überlassen. Und der vierte Wächter ist nicht allein. Neben ihm haust noch Peeva, eine Spinne, in diesem Netz. Ihr braucht Mut, Stärke und Geschicklichkeit für diese Aufgabe. Daleima und ich werden die Prüfung überwachen.«

»Eine Spinne, die einen Namen trägt«, sagte Baijosto schaudernd. »Ist euch schon einmal aufgefallen, dass nur die monströsen und tödlichsten Tiere eigene Namen bekommen?«

»Da ist etwas Wahres dran«, nickte Sapius.

»Und was ist mit diesem Grenwin, den Ihr den vierten Wächter nennt«, wollte Malidor wissen, »ist er auch eine Spinne?«

»Nein«, antwortete Tarratar, »er ist ein eigenständiges Wesen. Von seiner Art gab es schon vor Urzeiten nur sehr wenige. Grenwin ist heute der Letzte seiner Art. Ich schlage vor, Ihr steigt in das Netz.«

Die Streiter sahen sich unschlüssig an. Sapius überlegte, ob sie alle gleichzeitig oder nacheinander ins Netz steigen sollten. Vielleicht wäre es besser, erst einen Streiter vorzuschicken, das Netz zu prüfen und nach potenziellen Feinden zu erkunden. Sie hätten immer noch die Möglichkeit – ohne sich im Netz zu verfangen und gleich alle festzusitzen – den Mutigsten unter ihnen von außerhalb des Netzes magisch zu unterstützen. Doch wer sollte das sein? Wer brachte den Mut auf und opferte sich für die anderen, sollte der Versuch misslingen?

»Es wäre gut, wenn wir wüssten, wo im Netz unser Gegner auf uns lauert«, dachte Sapius.

»Ich steige in das Netz«, schlug Vargnar vor, »die anderen bleiben hier, sichern und warnen mich, falls sich ein Feind nähern sollte. Ich mag keine Spinnen. Warnt mich also rechtzeitig, bevor sie mich erreicht und einspinnen will.«

Sapius war froh, dass sich ausgerechnet der Felsenprinz für diese Aufgabe gemeldet hatte. Der Felsgeborene war einer der mutigsten unter den Streitern. Wenn einer das Buch aus dem Netz holen konnte, dann Vargnar.

»Halt!«, rief der Lesvaraq. »Das kommt nicht infrage. Hat der Felsgeborene das Buch gefunden, wird er es nicht mehr hergeben. Noch steht nicht fest, wer am Ende das Buch in den Händen halten soll.«

»Richten wir uns nach der Prophezeiung, wäre es Renlasol«, gab Sapius zu bedenken.

»Die Prophezeiung ist überholt«, meinte Malidor, »sie galt nur für den ersten Teil des Buches. Im Grunde wäre jeder von den Streitern würdig, das Buch zu besitzen. Dennoch würde ich den Vorschlag unterstützen und Renlasol bitten, für uns in das Netz zu steigen. Er ist ein Bluttrinker. Es heißt, die Bluttrinker seien verdammt schnell. Das wäre ein Vorteil.«

»Das sehe ich anders«, widersprach Tomal, »es gibt nur einen, der würdig und stark genug ist, das Buch zu erhalten, und der auch die Macht des Buches zu schätzen weiß.«

»Und wer wäre das?«, fragte Sapius laut gähnend.

»Ich natürlich«, antwortete der Lesvaraq, »wer sonst?«

»Weshalb steigst du nicht in das Netz, wenn du dich so stark fühlst?«, wollte Sapius wissen.

»Weil ich der Lesvaraq bin. Mächtiger als Ihr alle zusammen. Ich führe die Streiter an und befehle euch, wer mir das Buch bringen soll. Sapius steigt in das Netz!«

»Aber er hat ein steifes Bein, das ihn beim Klettern beeinträchtigt«, warf Baijosto ein. »Ich würde selbst einen Versuch wagen. Die Naiki sind hervorragende Kletterer.«

»Na schön«, stimmte der Lesvaraq zu, »dann eben Baijosto. Es wäre sicherer für Euch, Ihr würdet in der Gestalt des Krolaks ins Netz gehen.«

»Das hatte ich vor«, antwortete Baijosto.

Es dauerte nicht lange, bis Baijosto vor den Augen der Streiter die Gestalt des Krolak angenommen hatte. Die Wandlung war nicht schön anzusehen und schmerzhaft, aber dennoch faszinierte der Anblick immer wieder aufs Neue, wenn sich Knochen und Kiefer verschoben, Muskeln, Pranken und Fell wuchsen.

Der Krolak stieg in das Spinnennetz. Er merkte schnell, dass das Klettern über die klebrigen Fäden eine Tortur werden würde. Das Netz wackelte und zitterte bei jeder Bewegung. Baijosto musste sehr viel Kraft aufwenden, seine Pranken wieder von den Fäden zu lösen, an denen er sich festgehalten hatte. Er blieb immer wieder hängen und kam nur sehr langsam voran. Einen Fuß oder eine Hand hielt er immer frei, um nicht gleichzeitig mit allen vieren hängenzubleiben, was es schwer gemacht hätte, sich wieder zu befreien. Eine falsche Bewegung oder ein zu fester Griff und er wäre sofort gefangen gewesen, wie eine Fliege im Netz einer Spinne.

»Das dauert zu lange«, bemerkte Tomal, »was soll er in dieser Geschwindigkeit für uns erkunden? Ich schlage vor, wir verteilen uns und steigen alle ins Netz. Kennt jemand ein Mittel gegen dieses klebrige Zeug?«

Die Streiter schüttelten den Kopf. Sicher hätten sie das Netz in Teilen anzünden und zerstören können, aber das hätte sie dem Buch nicht näher gebracht.

Als Baijosto etwa vierzig Fuß über ihnen im Netz war, blickte er zurück, machte auf sich aufmerksam und deutete auf eine Stelle weit über ihm im Netz. Sapius folgte den Zeichen des Krolak und entdeckte eine verdichtete Stelle. Es musste sich um eine Art Kokon im Netz handeln. Genau konnte er allerdings nicht erkennen, um was es sich handelte.

Plötzlich kam Bewegung ins Netz. Aus dem Kokon schälte sich ein monströses Wesen, das mit seinen Tentakeln und dem fetten, fleischigen Raupenkörper entfernt an einen Kraken oder eine gigantische Spinne erinnerte.

»Grenwin kommt«, hörte er Tarratar sagen, »der vierte Wächter. Ihr solltet Eurem Gefährten beistehen, wenn Euch sein Leben lieb ist.«

»Los! Alle ins Netz!«, rief Tomal.

Sapius wusste zwar nicht, ob sie schnell genug wären, Baijosto beizustehen, hatte jedoch auch keinen besseren Einfall. Den Streitern ging es jedoch nicht anders als zuvor Baijosto. Es war unmöglich, im Netz schnell voranzukommen. Die dicken Fäden fühlten sich feucht und klebrig an und waren kaum von den Händen wegzubekommen. Zogen sie fester daran, blieb ein Rest an den Händen kleben und zog weitere zähe Fäden nach sich.

Der einzige Streiter, der sich schnell über das Netz bewegen konnte, war Renlasol. Der Bluttrinker hatte bereits ein gutes Stück des Weges zu Baijosto zurückgelegt, während die anderen noch mit ihren ersten Spinnfäden kämpften. Vargnar hatte enorme Schwierigkeiten. Seine gewaltsamen Versuche, sich aus den Fäden zu befreien, führten lediglich dazu, dass er das Netz zerriss und plötzlich nur noch an einem baumelnden Faden hing. Belrod erging es kaum anders. Der Riese war schwer und verfing sich immer mehr in den dicht gesponnenen Fäden, bis er sich kaum noch bewegen konnte.

Grenwin ließ sich Zeit. Beinahe gemächlich bewegte er seinen fetten Körper über das Netz auf den Krolak zu. Entsetzt beobachtete Sapius das Monster aus einiger Entfernung. Der vierte Wächter machte nicht den Eindruck, als würde es ihm schwerfallen, sich über die Spinnfäden zu bewegen. Sapius fiel auf, dass er seine Tentakeln einsetzte, an deren Ende zwar Hände waren, die aber kurz darunter noch eine Art gekrümmten Dorn aufwiesen, den er in die Fäden einhakte und sich daran vorwärtszog.

»So geht das nicht. Tomal! Malidor!«, rief Sapius. »Wir nehmen die Gestalt von Spinnen an. Mit Spinnenbeinen werden wir uns besser im Netz bewegen.«

Erst jetzt, als er sich nach den anderen umsah, bemerkte er, dass Malidor auf der Brücke zurückgeblieben war.

»Malidor! Was tut Ihr da?«, rief Sapius.

»Ich gebe Euch Rückendeckung«, antwortete Malidor, »das Netz erstreckt sich auch weit in die Tiefe. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht von unten überrascht werden.«

»Elender Feigling«, dachte Sapius bei sich, verkniff sich die Worte jedoch.

»Ich kann mich nicht in eine Spinne verwandeln«, antwortete der Lesvaraq, »ich wüsste nicht, wie ich das anstellen soll.«

»Erinnere dich an das, was ich dir beigebracht habe!«

»Wir haben aber nie über die Verwandlung in eine Spinne gesprochen.«

Sapius kam ins Grübeln. Würde er sich selbst noch an den Spruch erinnern? Er hatte ihn nur ein einziges Mal gelesen. Sich in einen Drachendämon zu verwandeln, hatte er bereits zweimal erfolgreich hinbekommen. Aber die Gestalt eines anderen Wesens anzunehmen, war eine Herausforderung. Eine missglückte Wandlung konnte ihn in Schwierigkeiten bringen.

Verzweifelt kroch er weiter, blieb jedoch immer wieder kleben. Grenwin und zog fest an einigen Fäden. Sofort geriet das Netz ins Schwanken und die Streiter wurden hin- und hergeschleudert. Instinktiv hielten sie sich an den Fäden fest und verstrickten sich dadurch nur noch mehr.

Ein knarrendes Geräusch ließ Sapius aufhorchen. Grenwin musste es erzeugt haben. Es hörte sich an, als hätten sich mehrere rostige Türen geöffnet. Der Magier begriff, dass der vierte Wächter ein Signal ausgesendet hatte. Sapius blickte über die Schulter zurück. Aus der Tiefe und Finsternis unterhalb der Brücke kroch eine Riesenspinne direkt auf die Brücke zu.

»Peeva!«, schrie Tarratar.

»Passt auf!«, rief Sapius Malidor eine Warnung zu, der nur nach oben ins Netz blickte.

Malidor wirbelte herum und erschrak. Mit einem Sprung flüchtete er sich nach oben ins Netz und verfing sich in den Fäden. Peeva schob ihren mit dicken Borsten behaarten Spinnenleib über die Brücke und klapperte geräuschvoll mit ihren Zangen, aus deren Enden eine dickflüssige, grüne Flüssigkeit tropfte.

»Ein Biss und sie pumpt ihr Opfer voller Gift. Das überlebt niemand«, dachte Sapius erschrocken.

Malidor schrie und zappelte. Aber das hielt Peeva nicht auf. Es schien so, als würden sie die Bewegungen eher noch anlocken.

»Feuer!«, dachte Sapius. »Spinnen hassen Feuer.«

Der Magier versuchte, seine Angst und den Ekel zu verdrängen. Er behielt die Spinne fest im Blick.

»Sachare aliu feu«, sagte Sapius.

Aus seiner Hand löste sich ein Feuerball, zu klein, die Spinne zu töten. Sapius ärgerte sich, dass er nur so einen kleinen Feuerball hervorgerufen hatte. Das konnte er besser.

Der Feuerball traf Peeva mitten auf ihrem Hinterleib und versengte einige Borsten. Sie zuckte sofort zurück und zog schützend ihre Beine an. Mit einem Faden aus ihren Spinndrüsen hängte sie sich blitzschnell an die Brücke und stürzte sich in die Tiefe. Sapius konnte sie nicht mehr sehen.

»Versucht, Euch zu befreien«, rief Sapius Malidor zu. »Sie kommt bestimmt bald zurück.«

Unter erheblicher Anstrengung gelang es Malidor, einen Arm und ein Bein wieder freizubekommen. Die nächste Gefahr ließ nicht lange auf sich warten. Grenwin klopfte rhythmisch an den Fäden. Kaum hatte er damit begonnen, stürzten aus allen Ecken und Winkeln Tausende von geflügelten Spinnen hervor.

»Achtung!«, schrie Sapius den Gefährten panisch zu.

Die fliegenden Krabbeltiere waren flink, groß und zahlreich. Renlasol ließ sich davon nicht beeindrucken. Er hatte Baijosto inzwischen überholt und hielt geradewegs auf den vierten Wächter zu. Mit einem weiten Sprung hechtete sich der Bluttrinker auf Grenwins Rücken und biss zu. Der vierte Wächter wand sich hin und her. Aber er konnte den Bluttrinker nicht abschütteln. Schwarzes Blut quoll aus der Wunde hervor. Renlasol spuckte den zähen Raupensaft angewidert aus und biss sofort ein weiteres Mal zu. Der vierte Wächter schrie durchdringend und furchtbar. Sofort änderten die fliegenden Spinnen ihre Richtung, um Grenwin zu Hilfe zu kommen.

Grenwin schlug mit den Tentakeln um sich. Doch die wilden Zuckungen schienen den Bluttrinker eher noch anzuspornen. Immer wieder biss er zu.

»Ich töte dich!«, hörte Sapius den vierten Wächter zum ersten Mal grollen.

Renlasol sah nur kurz auf, seine Augen waren blutunterlaufen. Er rief den übrigen Streitern zu:

»Das Buch! Ich kann es sehen. Es ist direkt neben seinem Kokon eingesponnen!«

Der Naiki-Jäger war am nächsten und reagierte sofort. Während Renlasol den vierten Wächter ablenkte, arbeitete sich der Krolak mühsam weiter vor. Er hatte den Kokon beinahe erreicht, als er von einer Flut geflügelter Spinnen überfallen und vollständig bedeckt wurde. Die Streiter konnten Baijosto nicht helfen. Belrod spürte die Gefahr, in der sich sein Bruder befand, und tobte.

Baijosto schleuderte Spinnen von sich weg, schlug um sich, zerquetschte einige der Angreifer zwischen seinen Pranken. Aber es waren einfach zuviele. Der Krolak grollte und schrie, als die Spinnen mit ihren Bissen durch Fell und Haut drangen und ihn mit ihrem Gift betäubten. Seine Bewegungen wurden unkontrolliert und langsamer. Schließlich ließen sie ganz nach und im Netz blieb regungslos eine in dicke Fäden eingesponnene Nahrungspuppe zurück. Gelähmt und bereit von Peeva oder Grenwin ausgesaugt zu werden. Belrod schrie und hackte wütend auf das Netz ein. Er hatte seinen Bruder nicht retten können.

Aber auch die anderen Streiter waren in Gefahr. Peeva war aus der Tiefe an ihrem Faden zurück zur Brücke geklettert und näherte sich erneut. Sapius’ Angriff hatte sie offensichtlich wütend gemacht. Sie bewegte sich schneller und aggressiver als zuvor.

»Na warte«, dachte Sapius, »dieses Mal gebe ich dir mehr Feuer!«

»Sachara aliu feu gratara«, brüllte er.

In der freien Hand des Magiers bildete sich ein Feuerball, der so groß war, dass er damit eine ganze Schar von Gegnern in Brand hätte stecken können. Er wartete, bis Peeva ihren Leib vollständig über die Brücke gehoben hatte, zielte und warf den Feuerball.

Mit einem mächtigen Satz sprang die Riesenspinne ins Netz. Eine solche Sprungkraft hätte Sapius der fetten Spinne nicht zugetraut. Der Feuerball zischte an Peeva vorbei und setzte einen Teil des Netzes unterhalb der Brücke in Brand. Peeva landete direkt neben Belrod. Einen Angriff der Spinne würde er nicht abwehren können.

Peeva schien die Hilflosigkeit ihres Opfers zu riechen. Blitzschnell packte sie Belrods Leib mit ihren Vorder- und Hinterbeinen und wickelte ihn fest in die Fäden ihres Netzes ein. Dann platzierte sie ihren Biss. Das Gift der Riesenspinne musste selbst für einen Riesen wie Belrod tödlich sein. Belrods Bewegungen verebbten abrupt. Sein Körper erschlaffte und er hing regungslos im Netz.

Peeva nahm sich nicht einmal die Zeit, den Ausgang des Kampfes abzuwarten. Stattdessen setzte sie sich auf den eingesponnenen Körper und begann, ihn laut schmatzend auszusaugen.

»Bei den Kojos«, schrie Sapius verzweifelt, »wir sind verloren!«

Aber der Magier hatte nicht mit dem eisernen Willen und Durchhaltevermögen des Felsgeborenen gerechnet. Der Felsenprinz hangelte sich Stück für Stück an einem Faden nach oben. Inzwischen hatte er herausgefunden, wie er sich trotz seines Gewichts bewegen musste, um das Netz nicht zu beschädigen. Bald war er auf der Höhe der Riesenspinne, die sich nicht von ihrer Mahlzeit ablenken ließ.

Vargnar hielt sich mit einer Hand im Netz fest und zückte das Felsenschwert mit der anderen. Mit einem gellenden Schrei lehnte er sich zurück, sprang kraftvoll ab und schwang sich an einem Faden an die Seite von Peeva. Sein Felsenschwert durchschnitt ein Spinnenbein und drang tief in den Vorderleib der Spinne ein.

Peeva gab ein schreckliches Geräusch von sich, als sie sich verwundet zusammenkrümmte und von ihrem Opfer abließ. Aus der Wunde schoß eine gelbe Flüssigkeit, die auch Vargnar traf und seine Felsenrüstung mit zähem Schleim überzog. Rodso hatte sich hinter dem Felsgeborenen rasch in Sicherheit gebracht und war von der Fontäne verschont geblieben. Aber Sapius konnte den Felsenfreund in Gedanken hören.

»Pfui Spinne«, schimpfte Rodso. »Passt bloß auf, dass Ihr nicht noch mehr davon abbekommt. Wer weiß, ob es nicht Rüstung und Stein zersetzt.«

»Ich passe schon auf«, antwortete Vargnar, »aber ich habe eine schreckliche Wut und werde dieses Monster in kleine Stücke zerlegen. Egal, ob wir uns dabei beschmutzen, mein Freund.«

»Ich rufe Euch nicht zur Vernunft, mein Prinz«, sagte Rodso, »nicht in diesem Fall. Macht sie fertig, tötet sie, zerstückelt das Miststück. Ich hasse Spinnen.«

Allmählich verlor der Magier im Chaos der verschiedenen Kampfschauplätze im Netz den Überblick. Baijosto und Belrod waren tot. Vargnar kämpfte gegen die Riesenspinne. Überall wuselten fliegende Spinnen umher und Renlasol war noch immer damit beschäftigt, dem vierten Wächter wie ein Berserker den Rücken aufzureißen. Aber wo waren Malidor und Tomal? Sapius hatte angenommen, dass Malidor – nachdem er sich von den Fäden befreit hatte – wieder zurück auf die Brücke geklettert wäre. Aber er konnte den Magier nicht entdecken. Tomal war ebenfalls nicht zu sehen. Waren die beiden Streiter geflohen? Er musste irgendwie in die Nähe des Buches gelangen und blickte nach oben.

»O nein … Renlasol«, dachte Sapius plötzlich erschrocken.

Grenwin hatte den Bluttrinker mit den Tentakeln zu fassen bekommen. Er hielt Renlasol fest umschlungen, riss ihn von seinem Rücken und schleuderte ihn wütend vor sich ins Netz. Renlasol versuchte, sich sofort wieder aufzurichten, blieb jedoch in den klebrigen Fäden hängen. Der vierte Wächter bewegte sich plötzlich erstaunlich schnell und riss mit einem triumphierenden Schrei sein Maul weit auf. Mehrere Reihen messerscharfer, spitzer Sägezähne kamen dahinter zum Vorschein. Grenwin stülpte sein Maul über den Kopf des Bluttrinkers, klappte es zu und bewegte seine massigen Kiefer kauend hin und her. Dann richtete er sich auf und spuckte den abgerissenen Kopf Renlasols in einem hohen Bogen aus. Der Kopf blieb nicht weit von Sapius entfernt im Netz hängen. Das Gesicht des Bluttrinkers, das noch mit Blutspuren des vierten Wächters um die Mundwinkel verschmiert war, starrte den Magier vorwurfsvoll an.

Sapius fühlte sich leer und machtlos. Einer nach dem anderen fielen die Streiter dem vierten Wächter und seinen Spinnen zum Opfer. Hatte Tarratar damit gerechnet?

Vargnar schlug sich tapfer, obwohl Peeva den Felsgeborenen unaufhörlich attackierte. Die Spinne warf dicke Spinnfäden nach ihm, die sie aus ihren Drüsen drückte. Aber Vargnar wich immer wieder aus. Ihre Angriffe mit den Zangen gingen ins Leere. Peeva sprang und wollte den Felsgeborenen unter ihrem massigen Leib begraben. Doch Vargnar trennte einen Faden im Netz durch und tauchte daran unter ihr durch. Bevor die Spinne sich drehen oder richtig umsehen konnte, traf sie das Schwert von unten in ihren Hinterleib. Zuckend rollte sich Peeva zusammen. Vargnar hatte sie mitten in ihre Spinndrüsen getroffen und wurde erneut von ihrem klebrigen Saft überschüttet.

Grenwin brüllte, als er die Not seiner Gefährtin erkannte. Er ließ Renlasols Leib liegen und hangelte sich über das Netz nach unten.

Sapius sah darin seine Gelegenheit, näher an das Buch heranzukommen.

»Achmak asstar chalem so vai eldrago«, ging ihm der Spruch wie von selbst von den Lippen.

»Ich hätte mich sofort in den Drachendämon verwandeln sollen«, dachte Sapius, als er die Gestalt des geflügelten Drachen angenommen hatte, »dann könnten Renlasol, Belrod und Baijosto vielleicht noch leben«.

Als er sich jedoch über das Netz erheben und mit den Flügeln schlagen wollte, klebten seine Schwingen im Netz fest. Es war zum Verzweifeln. Sapius wurde wütend. Er spürte, wie ihm die Hitze seines Zorns schmerzhaft zu Kopf stieg. Sein Körper wurde heißer und begann zu dampfen.

Er war frei. Überrascht von der plötzlichen Befreiung rutschte er zuerst ein Stück abwärts, bevor er sich abfangen konnte, seine Flügel bewegte und sich über das Netz schwang. Der Magier musste aufpassen, sich nicht erneut zu verfangen. Aber es gelang ihm, sich in langsamen Aufwärtsbewegungen in die Nähe des Kokons zu bringen.

»Schnappt Euch das Buch und verschwindet«, rief ihm Vargnar von unten zu, »ich lenke den Wächter und die Spinne ab.«

»Vargnar«, dachte Sapius, »er ist der Einzige von den Streitern, der das Buch wirklich verdient hätte. Er muss durchhalten.«

In der Nähe des Kokons und an der Stelle, die Baijosto und Renlasol gesehen hatten, wimmelte es von Spinnen. Sie bewachten das Buch. Als er näher heranschwebte, flogen die Spinnen wie in einem Schwarm hoch und stürzten sich in rasender Geschwindigkeit auf ihn. Der Magier griff in seinen Lederbeutel, den ihm Saykara geschenkt hatte, und warf der fliegenden Meute den Kristallstaub entgegen. Die Spinnen flogen durch den Staub. Sobald sie damit in Berührung kamen, wurden sie langsamer und blieben fast im Flug in der Luft stehen. Sapius atmete mehrmals tief ein. Aus der Hitze in seinem Körper schleuderte er seinen Feinden einen Feuerstoß entgegen.

»Drachenfeuer«, dachte Sapius, »seht zu, wie ihr damit klarkommt, ihr verdammten Biester!«

Die Wirkung des Feuerstoßes war verheerend. Das Feuer sprang von Spinne zu Spinne über. Sie verglühten in wenigen Sardas zu Asche und Rauch. Vorsichtig schwebte Sapius zu der Stelle im Netz, wo er das Buch vermutete. Und tatsächlich. Er hatte den Teil des Buches gefunden, der ihm noch fehlte, um das Buch der Macht zu vervollständigen.

Sapius ließ sich auf das Netz sinken. Behutsam, um nicht noch einmal hängen zu bleiben. Sein Atem beschleunigte sich und das Herz schlug ihm bis zum Hals. Mit zittrigen Pranken löste er die Fäden um das Buch, nahm es heraus und drückte es fest an seine Brust. Tarratar hatte gesagt, das Buch müsste zusammengefügt werden. Erst dann war die Prüfung bestanden.

Er holte den anderen Teil hervor und presste beide Teile dicht aneinander. In seinen Fingern juckte und brannte es. Blitze zuckten um seine Drachenpranken und die Buchteile. Der Schmerz war heftig. Aber Sapius hielt durch, bis er schließlich nur noch ein Buch vor sich hielt und der Schmerz nachließ. Das Buch der Macht war vollständig.

»Pass auf!«, hörte er die warnende Stimme Tomals.

Erschrocken sah sich der Magier um. Tomal hatte sich ganz nah angehört. Wo bei den Kojos versteckte sich der Lesvaraq? Er hatte ihn vor dem vierten Wächter gewarnt, der wohl gemerkt hatte, dass Sapius das Buch gefunden hatte, denn Grenwin hatte von Vargnar abgelassen und war wieder nach oben gekrabbelt.

Ein kurzer Blick zur Brücke zeigte Sapius, dass die Riesenspinne Peeva leblos im Netz hing und Vargnar sie mit seinem Felsenschwert zerlegte.

Wutschnaubend griff der vierte Wächter mit seinen Tentakeln nach Sapius’ Beinen.

»Schnell!«, hörte er Tomals Stimme. »Wirf mir das Buch zu!«

»Was?«, Sapius glaubte, nicht richtig gehört zu haben. »Wo bist du?«

»Hier drüben«, antwortete Tomal, »nun mach schon, bevor er dir auch den Kopf abbeißt.«

Sapius zögerte. Er hatte das Buch gefunden und die beiden Teile wieder zusammengefügt. Die Prüfung musste vorbei sein. Weshalb griff ihn der vierte Wächter noch an? Sie hatten drei Streiter während des Kampfes im Netz verloren. Ein herber Verlust.

Die Tentakel wickelten sich um Sapius’ Beine. Der Magier spürte den Schmerz von den Dornen am vorderen Ende, die sich in sein Fleisch bohrten.

»Sapius! Worauf wartest du? Wirf mir das Buch zu!«

Grenwin versuchte, den Magier zu sich zu ziehen. Sapius stemmte sich mit all seiner Kraft dagegen. Hektisch blickte er über die Schulter und entdeckte eine dicht mit weißen Haaren bepelzte Spinne, die ihn aufmerksam musterte. Sie sah aus, als würde sie ihn angrinsen. Sie war so groß wie ein ausgewachsener Mann. Sie musste sich verborgen haben und erst vor Kurzem hinzugekommen sein.

»Los! Gleich ist es zu spät, dann ist alles verloren und die Streiter mussten umsonst sterben.«

Endlich begriff Sapius. Die Stimme kam von Tomal. Der Lesvaraq hatte sich unbemerkt in eine Spinne verwandelt, während das Chaos im Netz herrschte. Beinahe hegte Sapius Respekt für den Lesvaraq. Zum ersten Mal seit langer Zeit.

Sapius warf Tomal das Buch zu, der es geschickt auffing und sich sofort damit davonmachte. Grenwin brüllte und zog an den Beinen des Magiers. Die Raupe hatte ihr Maul weit aufgerissen.

»Meinen Kopf bekommst du nicht«, grollte Sapius und biss die Zähne zusammen.

»Elender Dieb!«, brüllte Grenwin, »gib mir das Buch zurück. Es gehört mir.«

»Nein!«, schrie Sapius zurück. »Wir haben es uns in einem harten Kampf erstritten. Ihr habt alles aufgeboten, um es zu behalten. Wir haben dennoch gewonnen. Die Schlacht ist vorbei«

»Ihr habt meine Kinder und Peeva getötet. Jetzt bist du Raupenfutter.«

Sapius konnte sich nicht länger halten. Grenwin war zu stark und die Tentakel hatten ihn fest im Griff. Der Magier rutschte immer näher an das Maul der Raupe heran.

»Grenwin! Lass ihn los«, rief Tarratar plötzlich von der Brücke.

»Nein!«, weigerte sich der vierte Wächter.

»Ich sage dir, lass ihn los!« Tarratar klang verärgert und schüttelte energisch den Kopf, bis die Glöckchen an seiner Kappe Sturm klingelten. »Daleima! Bring ihn zur Vernunft.«

Grenwin knurrte, fletschte mit den Zähnen und verstärkte den Zug. Sapius verlor das Gleichgewicht und stürzte auf das Netz. Er sah noch, wie die zweite Wächterin ins Netz sprang und sich kraftvoll und schnell über die Fäden zu ihm und Grenwin vorarbeitete. Sie setzte gebogene Dorne ein, ähnlich wie die an Grenwins Tentakeln, die sie sich mit Lederschnüren unter die Handflächen gebunden hatte und in die Fäden einhakte. Der vierte Wächter schob seinen fetten Leib über Sapius und drückte ihn fester ins Netz. Sein Maul befand sich nun direkt vor Sapius’ Gesicht. Speichel tropfte auf Sapius’ Wange. Grenwin riss das Maul weit auf und hauchte Sapius seinen stinkenden Atem ins Gesicht. An den Zähnen hingen noch blutige Fleischfetzen seiner vorherigen Mahlzeit. Er senkte sein Haupt herab, zog die fleischigen Lippenwülste zurück, stülpte sein Maul über Sapius’ Kopf und half mit den Tentakeln nach.

Der Magier schloss die Augen. Es war vorbei. Alle Mühen waren vergebens.

Er steckte mit dem Kopf im Rachen der Raupe. Es konnte nur noch einen Augenblick dauern, bis sich das Maul schloss und Grenwin ihm den Kopf vom Hals sägte. Sapius bekam keine Luft mehr und drohte zu ersticken.

»Nun mach schon, bring es zu Ende«, flehte Sapius, »reiß mir lieber den Kopf ab, bevor ich noch jämmerlich ersticke.«

Grenwin schloss sein Maul um den Hals des Magiers.

»Neeeeeein«, hörte er die entsetzte Stimme des Narren weit entfernt rufen. Es war das Letzte, was Sapius hörte. Dann wurde es Nacht um ihn.