Botschaft aus Krawahta

Nebel lag über den Grasebenen der Klanlande. Die Sonnen Krysons waren erst vor wenigen Augenblicken an entgegengesetzten Horizonten aufgegangen. Nalkaar wusste, es würde noch eine Weile dauern, bis die ersten Sonnenstrahlen durch den Nebel bis zum Boden drangen, den Tau auf den Gräsern und die milchige Suppe auflösten. Es war ein kühler und feuchter Morgen. Obwohl den Todsänger Kälte und Hitze kaum beeinträchtigen konnten, hatte er sich eng in seinen Mantel gewickelt, als er nach einer schlaflosen Nacht vor sein Zelt trat.

Die ständigen Veränderungen auf Kryson ließen ihm keine Ruhe. Irgendetwas stimmte nicht und verwirrte ihn. Träume und Visionen plagten ihn schon seit Tagen. Es fühlte sich an, als würde er neben sich stehen. Ein anderer Nalkaar, ein Todsänger in einem anderen Leben. Er musste herausfinden, was dahintersteckte, und es beenden, bevor er mit den Rachuren weiter Richtung Norden ziehen konnte. Nalkaar hatte sich fest vorgenommen, die Ordenshäuser einzunehmen und dann, den Winter im Schutz der Ordensmauern abwartend, weiter nach Eisbergen zu ziehen. Die letzte Bastion der Klan musste in seine Hände fallen.

Sein Blick wanderte über das Lager der Rachuren. Noch war alles ruhig. Die meisten Krieger und Chimären schliefen in der Nähe ihrer Grubenfeuer. Sie schienen von den Veränderungen weit weniger beeindruckt als er. Dennoch hatten auch sie den Lärm, den Gestank und die eigenartigen, stählernen Flugdrachen in dieser Gegend bemerkt, die von Zeit zu Zeit über ihre Köpfe donnerten und ihnen Angst einjagten. Es war seltsam, sie passten nicht zu Nalkaars eigenen Visionen einer ihm gänzlich fremden Welt. Aber die Krieger berichteten ihm davon. Niemand konnte sich erklären, woher sie kamen und was sie wollten.

Schon seit einigen Tagen lagerten die Rachuren in den Grasebenen unweit der Ufer des Rayhin zwischen Tut-El-Baya und den Ordenshäusern der Orna und der Bewahrer. Nalkaar hielt eine längere Rast für ratsam, das Heer musste sich von den Strapazen der vergangenen Monde erholen, neuen Mut und Kräfte sammeln. Seit der Begegnung mit dem Lesvaraq war ihre Moral gebrochen.

Ein Bote war Nalkaar schon am Abend zuvor von seinen Spähern angekündigt worden. Nalkaar wartete ungeduldig auf den Rachuren aus Krawahta. Warum schickte ihm Rajuru ausgerechnet jetzt einen Boten? Wollte sie den Feldzug abbrechen und die Truppen zu ihrem Schutz zurück nach Krawahta befehlen? Sie hätte auch auf anderem Wege mit ihm Verbindung aufnehmen können. War sie zu schwach geworden, ihre Magie einzusetzen?

Das passte Nalkaar ganz und gar nicht. Nicht jetzt, wo er so kurz vor seinem Ziel stand. Der Todsänger hatte Tage gebraucht, das in alle Richtungen zerstreute Heer der Rachuren wieder zu sammeln und Ordnung unter den Kriegern zu schaffen. Die Begegnung mit dem Lesvaraq hatte Nalkaars Eroberungspläne weit zurückgeworfen. Die Zeit war knapp. Eisbergen musste in die Hände der Rachuren fallen. Sie hätten den Choquai vor Wintereinbruch erreichen und überqueren müssen. Es war zu spät. Nun würden sie auf dem Pass über das Riesengebirge abstürzen, von Lawinen verschüttet werden oder erfrieren. Da sie den Weg nicht mehr rechtzeitig schaffen konnten, würde das Heer überwintern müssen. Um Tomal würde er sich erst später kümmern können.

Es war nicht leicht für Nalkaar, den Rachuren und ihren Kriegerchimären die Furcht vor der Macht des Lesvaraq zu nehmen und sie auf die Fortsetzung des Feldzuges gegen die Klan einzustimmen. Würde er sie die lange Zeit bis zum Ende des Winters bei Laune halten können? Eine Frage, die ihn laufend beschäftigte. Noch hatte er keine Lösung gefunden. Die Todsänger konnte er steuern. Sie gehorchten ihm, schließlich gebot er über ihre Seelen. Nicht jedoch über die der Krieger und Chimären.

Er musste sich etwas einfallen lassen. Die Eroberung der Ordenshäuser würde ihm helfen. Die Krieger konnten sich über die Zeit der kalten Monde nach Lust und Laune mit den Gefangenen vergnügen. Das war zwar in Nalkaars Augen abstoßend, aber wenn es seinen Kriegern gefiel, sollte es ihm recht sein.

Das Wichtigste jedoch war, dass er seine Krieger von sich selbst und seinen Fähigkeiten überzeugen musste. Er war anders und sprach nicht ihre Sprache. Oft fand er nur die falschen Worte. Sie mussten ihm und seiner Magie vertrauen. Er würde nicht umhinkommen, ihnen immer wieder seine Macht zu demonstrieren. Es war bedauerlich und grämte ihn, wie schnell sie wieder vergaßen.

Grimmgour war gefallen. Das war einerseits eine Erleichterung für Nalkaar, andererseits bedauerte er den Verlust, da die Krieger Grimmgour als ihren Anführer respektiert hatten. Niemand hätte es gewagt, gegen den Rachurengeneral aufzubegehren. Weder offen noch im Geheimen. Eine Mischung aus Ehrfurcht, Bewunderung und Angst hatte den Rachuren unantastbar und zur Legende werden lassen. Jetzt musste sich Nalkaar selbst um die Krieger kümmern und sich deren Respekt immer wieder aufs Neue verdienen. Gewiss, die Krieger fürchteten ihn und seine Macht. Sie ertrugen den Anblick seines Gesichtes nicht. Aber das reichte nicht, sie für ihn einzunehmen. Die Niederlage gegen den Lesvaraq hatte nicht dazu beigetragen, ihr Vertrauen in seine Fähigkeiten zu stärken.

Rajuru war gewiss nur noch ein Schatten ihrer selbst, nahm Nalkaar an. Der Todsänger hatte freie Hand. Er musste nur noch zuschlagen und schon bald würde ganz Ell ihm und seinen Todsängern gehören. Die Häuser des hohen Vaters und der heiligen Mutter würden fallen, und danach Eisbergen. Mit diesen Erfolgen im Rücken wäre es ein Leichtes, sich endgültig von Rajuru zu befreien. Wie sehr er diese alte Hexe wirklich hasste, wurde ihm immer schmerzlicher bewusst, je länger und weiter er von ihr entfernt war.

Dabei hatte er sie einst geliebt. Sie war das Einzige gewesen, wofür es sich gelohnt hatte, zu leben und weiterzumachen. Selbst nach seinem Unfall blieb er ihr treu ergeben. Er hätte alles für sie getan. Rajuru war einst sein Ein und Alles. Aber sie hatte ihn verraten. Ihn erniedrigt, versklavt und in den Flammen der Pein leiden lassen. Das würde er ihr niemals verzeihen.

Nalkaar lächelte. Er würde Rajuru nicht töten müssen oder ihre Seele verspeisen. Sie war von ihm abhängig und von den Seelen, die er ihr zuführte. Ihre Sucht nach Jugend und Schönheit war zu stark geworden. Umkehr oder Heilung waren undenkbar. Mit jeder Seele, die Rajuru verschlungen hatte, war die Hexe gieriger und zugleich schwächer geworden. Sie war kein Todsänger wie Nalkaar und konnte die vielen Seelen nicht steuern. Nalkaar hatte das gewusst. Immer schon. Die Sucht würde Rajurus Verderben werden.

Nalkaar sah sich verdutzt um. Schon wieder. Das Lager war verschwunden. Kaum war er vor das Zelt getreten, erreichte ihn erneut eine Vision, die ihn von einer Welt in die andere und wieder zurück riss. War das wirklich eine Vision? Welche Welt war wirklich und welche falsch? Er hatte eine Ahnung von der Wirklichkeit, der des Krieges, die ihm stärker und deutlicher vorkam. Der Wirklichkeit des Lagers. Doch schien auch sie nicht von Bestand und verschwamm immer wieder vor seinen Augen.

Nalkaar wusste nicht, was vor sich ging und worauf er sich noch verlassen konnte. Mal führte er das Heer der Rachuren gegen die Klan in den Krieg, dann wiederum fand er sich singend auf einer Bühne vor einer johlenden und applaudierenden Menge Nno-bei-Klan, die ihn unter Tränen verehrten und ihm frenetisch zujubelten. Nalkaar freute sich über ihren Zuspruch. Es war ein erhebendes Gefühl, für seine Kunst bewundert zu werden. Ein Gefühl, das er nicht missen wollte und das ihm die Rachuren nie zuvor gegeben hatten. Aber er war sich beinahe sicher, dass irgendetwas an diesem Bild nicht stimmte. Es fühlte sich falsch an. Sie spendeten ihm Applaus, ihre Seelen jedoch behielten sie bei sich. Nalkaar hatte Hunger.

Diesesmal verging die Vision nach kurzer Zeit und er stand wieder vor seinem Zelt im Lager der Rachuren. Aber es blieben jedes Mal Spuren der Erinnerung zurück. Nalkaar ging nachdenklich in sein Zelt zurück.

Der Bote aus Krawahta war ein Rachure. Groß und stark, mit grobschlächtigen Gesichtszügen und pechschwarzen Haaren, die er zu zahlreichen Zöpfen geflochten hatte. Er trug eine einfache Lederrüstung und auf seiner Brust einen Schlüssel an einer Kette, die ihn als Zuchtmeister auswies. Das war ungewöhnlich, fand Nalkaar. Rajuru schickte ihm einen ihrer Zuchtmeister als Boten? Was war geschehen, wenn sie ihre wertvollsten Vertrauten auf eine solche Reise schickte? Nalkaar merkte, dass dem Rachuren nicht wohl dabei war, dem Todsänger gegenüberzutreten. Der Bote deutete eine Verbeugung an.

»Verzeiht die Störung, Nalkaar«, sagte der Zuchtmeister, »ich hatte Mühe, Euch und das Heer aufzuspüren.«

»Das kann ich mir vorstellen«, meinte Nalkaar, »ich habe es auch erst vor Kurzem geschafft, die Rachuren an diesem Ort zu sammeln. Wir hatten eine Begegnung mit einem Lesvaraq.«

»Oh …«, zeigte sich der Bote überrascht, »das wusste ich nicht. Aber das Heer scheint überlebt zu haben. Ich habe Befehle aus Krawahta für Euch, Herr.«

»Befehle?«, krächzte Nalkaar ärgerlich.

»Sehr wohl, Herr. Raymour schickt mich. Er befiehlt das Heer nach Krawahta zurück. Ihr müsst die Eroberung abbrechen und die Rachuren auf dem schnellsten Weg nach Krawahta führen.«

»Raymour? Ist das nicht der Sklaventreiber und Herrscher über die Schwefelminen? Grimgours Halbbruder, der von Rajuru einst verstoßen wurde?«, zeigte sich Nalkaar überrascht. »Wie kann er es wagen, mir oder seinem Bruder Befehle zu erteilen?«

»Rajuru ist tot, Herr«, antwortete der Bote trocken, »die Brutstätten wurden vernichtet. Raymour herrscht nun über Krawahta und wir Rachuren hegen keinen Zweifel an seinem Anspruch auf die Führung. An seiner Seite stehen die Zuchtmeister, denen Zanmour vorsteht. Ihr werdet Raymours Befehl Folge leisten und die Eroberung der Klanlande beenden.«

Die Botschaft aus Krawahta verschlug Nalkaar die Sprache. Rajuru? Seine Rajuru? Die alte Hexe? Nalkaar hätte schreien, jubeln und weinen können. Alles zur selben Zeit. Die Brutstätten vernichtet? Wie war das möglich? Was bedeutete das für ihn? Nach allem, was er über eine unfassbar lange Zeit durch Rajuru hatte erdulden müssen. Nun war Nalkaar frei und doch fühlte er sich nicht so.

Es hatte sich nichts verändert. Nichts, was er unmittelbar spüren konnte. Was fühlte er? Nichts. Und doch war eine plötzliche Leere in ihm. Ein Stich in seinem toten Herzen, der sich fürchterlich anfühlte. Hatte sie ihm mehr bedeutet, als ihm lieb sein konnte?

»Rajuru, meine Liebe. Rajuru, warum tust du mir das an?«, schluchzte Nalkaar leise. »Ich habe dich geliebt und gehasst. Wie kannst du tot sein nach all den Sonnenwenden? Das ist nicht gerecht! Du solltest bei mir sein, damit ich dich leiden lassen kann. Bei den Kojos, wie konnte das geschehen?«

»Herr?«, fragte der Bote vorsichtig.

»Was ist?«, schreckte Nalkaar unwirsch aus seinen Selbstgesprächen hoch.

»Oh, ich wollte nur fragen, ob alles in Ordnung mit Euch ist«, antwortete der Bote.

»In Ordnung? In Ordnung?«, kreischte Nalkaar lautstark. »Nichts ist in Ordnung. Chaos! Rajuru ist tot und Ihr wollt mir Befehle von Raymour überbringen. Wer hat das getan? Berichtet auf der Stelle!«

Nalkaar war außer sich und tobte im Zelt. Der Bote sah ihn entsetzt an.

»Ein fürchterlicher Kampf hat stattgefunden«, stammelte der Bote, »wir wurden überfallen und der Drache wurde befreit. Die gefangenen Tartyk ebenso. Selbst die Dreloks konnten die Angreifer nicht aufhalten – sie freizulassen, war ein Fehler. Sie wurden alle vernichtet. Das Unvorstellbare ist eingetreten. Eine Gruppe von Magiern drang in die Brutstätten ein. Sie wurden von Rachuren unterstützt. Raymour und Zanmour führten die Revolte. Rajuru wurde von einem Magier namens Sapius getötet und von der Dunkelheit verschlungen. Wir waren geschlagen und mussten aus den Brutstätten fliehen. Viele Zuchtmeister fielen im Kampf.«

»Sapius?«, hakte Nalkaar nach und erinnerte sich: »Verdammt, den Namen habe ich doch schon einmal gehört. Rajuru hat ihn erwähnt. Er war ein Saijkalsan, der uns in der Schlacht am Rayhin schwer zugesetzt hat. Ich kann kaum fassen, was Ihr mir da erzählt. Was ist mit den Leibwächtern?«

»Erschlagen, Herr«, antwortete der Bote.

»Ayomaar und Onamaar erschlagen? Sie waren neben Grimmgour die besten und stärksten Krieger der Rachuren«, schüttelte Nalkaar den Kopf. »Wer hat die beiden erschlagen?«

»Raymour und Zanmour«, sagte der Bote.

»Und warum denkt Ihr, ich würde den Befehlen von einem Raymour und einem Zanmour Folge leisten? Den Mördern von Rajurus Leibwächtern? Ich bin Nalkaar der Todsänger«, baute sich Nalkaar vor dem Boten auf, »ich kenne Zanmour, er war ein durchaus fähiger Rachure mit einem Gefühl für die geplagten Kreaturen. Einfühlsamer und besser als all die anderen Zuchtmeister in den Brutstätten. Aber ein Herrscher ist er ganz gewiss nicht.«

»Ich darf mir dazu keine Äußerung erlauben, Herr«, meinte der Bote, »Zanmour ist einer von uns und doch gehörte er nie wirklich zu den Zuchtmeistern. Aber er ist nun einmal einer unserer neuen Herrscher. Wir mussten ihm und Raymour die Treue schwören. Ich bin nur ein Bote, der Euch Nachrichten und Befehle überbringt.«

»Ihr könnt bei mir bleiben und Euch dem Heer anschließen, wenn Ihr wollt«, schlug Nalkaar vor, »Ihr müsst ihnen nicht dienen. Oder Ihr kehrt unverzüglich nach Krawahta zurück und überbringt Raymour und Zanmour meine Antwort.«

»Wie lautet Eure Antwort, Herr?«, fragte der Bote.

»Sie lautet nein!«, schrie Nalkaar. »Ich werde die Eroberung erfolgreich zu Ende führen. Wir werden die Klan besiegen und unterjochen. Es wird ein Reich der Todsänger erblühen, wie es Kryson noch nicht gesehen hat. Erst wenn ich gesiegt habe, werde ich nach Krawahta zurückkehren und die Herrschaft über die Rachuren an mich nehmen. Und ich werde für sie singen. Es wird mir ein besonderes Vergnügen sein, die Seelen Raymours und Zanmours zu fressen.«

Der Bote wurde blass und trat einen Schritt zurück.

»Das kann ich nicht zulassen, Herr«, flüsterte der Bote, »die neuen Herrscher werden von den Rachuren respektiert und gefeiert. Sie haben uns aus der Knechtschaft der Tyrannei befreit und uns aus der Dunkelheit und der Dekadenz ans Licht geführt. Das Gute, das sie für unser Volk getan haben, hat sich in unseren Köpfen und Herzen festgesetzt. Wir werden das nicht vergessen. Raymours und Zanmours Versprechen einer besseren Zukunft ist wahrscheinlich und zum Greifen nahe. Wir wünschen nicht, dass Ihr die Macht über Krawahta an Euch reißt.«

»Ihr wünscht es nicht?« Nalkaar stand der Mund vor Erstaunen offen.

»So ist es«, antwortete der Bote, »kehrt mit dem Heer und den Todsängern nach Krawahta zurück und beugt das Knie vor Raymour und Zanmour.«

»Ihr seid nicht bei Verstand«, fuhr Nalkaar den Boten an, »weder Raymour der Bastard noch Zanmour der Zuchtmeister haben einen Herrschaftsanspruch auf den Thron. Sie sind nichts weiter als feiste Thronräuber. Ist Euch das denn nicht klar?«

»Sie waren die Stärkeren und nutzten ihre Gelegenheit«, konterte der Bote.

»Durch schändlichen Verrat und mit der Hilfe eines fremden Magiers«, entgegnete Nalkaar. »Ich diente Rajuru über viele Sonnenwenden. Treu und ergeben. Ich kannte alle ihre Geheimnisse, Bedürfnisse und Pläne. Ich führte das Heer der Rachuren von Sieg zu Sieg und zu ewigem Ruhm für die Rachuren. Wir schufen eine Drachenarmee, wir nahmen die Trutzburg zu Fallwas ein und Tut-El-Baya unterwarf sich ohne Widerstand. Der Regent der Klanlande kapitulierte vor unserer, was sage ich, vor meiner Macht, die mit jedem Tag stärker wird. Was können Raymour und Zanmour mir entgegensetzen?«

»Eine Zukunft ohne Unterdrückung und Angst. Die Hoffnung auf eine bessere Welt. Eine Zeit des Friedens. Und dafür ernten sie den Rückhalt und den Dank der Rachuren und der überlebenden Zuchtmeister, Herr«, gab der Bote zu bedenken.

»Oh, na gut, wenn Ihr das so seht, dann will ich Euch gerne sagen, was Euch tatsächlich erwartet. Der Frieden ist nur eine Illusion. Nicht mehr und nicht weniger. Es wird Krieg geben, wenn wir diesen Feldzug nicht erfolgreich zu Ende bringen. Den verheerendsten Krieg, den Ell und die Rachuren jemals gesehen haben. Ist es das, was Raymour und Zanmour heraufbeschwören wollen und was sich die Rachuren wünschen? Das können sie haben. Ich werde nach Krawahta zurückkehren. Mit dem Heer der Rachuren und mit weiterer Verstärkung und ich werde Krawahta im Sturm nehmen«, drohte Nalkaar.

»Krawahta lässt sich nicht im Sturm erobern«, entgegnete der Bote, »das solltet Ihr wissen. Schließlich nennt Ihr Euch doch einen Feldherren.«

»Ihr seid dumm und uneinsichtig«, zürnte Nalkaar. »Ihr habt keine Ahnung davon, was ich inzwischen vermag. Glaubt Ihr wirklich, ich würde mich mit dem Heer durch die Belüftungsschächte bis nach Krawahta quetschen? Denkt Ihr wirklich, ich würde das Heer durch das Haupttor auf den engen Pflastern nach Krawahta führen oder über verschlungene Pfade durch die Minen? O nein, einen solchen Kampf wird es nicht geben. Es wird ein Kunstwerk ohnegleichen sein. Wir räuchern Krawahta aus und wenn die Überlebenden hustend und stöhnend an die Oberfläche taumeln, werden wir sie dort mit Gesang und offenen Armen empfangen. Ich verspreche Euch, sobald ich die Eroberung der Klanlande zu Ende gebracht habe, werde ich zurückkehren. Krawahta wird schon bald eine Stadt der Todsänger sein.«

»Wir haben keine Angst mehr vor den Todsängern«, zeigte sich der Bote trotzig.

»Ach nein?«, lächelte Nalkaar und stülpte seine Kapuze nach hinten.

Der Bote erschrak und taumelte drei Schritte zurück. Seine Augen weiteten sich und die Farbe wich ihm augenblicklich von den Lippen und den Wangen.

»Murhab, Madsick«, rief Nalkaar die Namen seiner Vertrauten, »kommt zu mir. Ich habe hier jemanden, der mich um eine Kostprobe unserer Kunst anfleht.«

»Bitte«, flehte der Bote, »tut das nicht. Ich will Euch nicht dienen. Es hat sich doch gerade erst alles zum Guten gewendet. Kehrt nach Krawahta zurück und macht Euren Frieden mit den neuen Herrschern.«

Murhab und Madsick betraten das Zelt des ersten Todsängers. Nalkaar nickte ihnen wohlwollend zu und deutete mit einer Handbewegung auf den Boten.

»Wir singen ein Lied für den Boten aus Krawahta«, sagte Nalkaar. »Was denkt ihr? Sollen wir ihn in unseren Reihen aufnehmen oder ihm den Gesang vortragen, der ihn in die Flammen der Pein bringt?«

»Weshalb wollt Ihr für ihn singen, Herr?«, wollte Murhab wissen. »Hat er keine guten Nachrichten gebracht?«

»Er brachte uns die schlechteste Botschaft, die Ihr Euch nur vorstellen könnt«, antwortete Nalkaar, »an Dreistigkeit nicht zu überbieten. Rajuru ist tot. Die Nachricht handelte von Verrat und Rebellion.«

»Ich verstehe. Ist seine Stimme gut, sollten wir ihn aufnehmen«, schlug Murhab vor.

»Seine Stimme ist gut«, antwortete Nalkaar, »aber er weigert sich, mir zu dienen.«

»Im Augenblick weigert er sich«, warf Murhab ein, »aber sobald er gewandelt wurde, wird er Euch treu ergeben sein. Wie wir alle. Auch wir waren einst Feinde, falls Ihr Euch erinnert. Er hat doch keine Wahl, sobald Ihr über seine Seele gebietet.«

»Das ist richtig«, sagte Nalkaar, »dennoch … er ist ein Rachure. Das ist etwas anderes. Ich wandle ihn nur, wenn er mir aus freien Stücken folgt.«

»Das werde ich niemals«, rief der Bote, »lieber sterbe ich, als untot und verrottend über Ell zu wandeln und um die Seelen anderer zu singen.«

»Bedauerlich, aber dann werden wir wohl ein anderes Lied für Euch singen müssen. Ein Lied der Schatten und der Flammen«, meinte Nalkaar. »Madsick, gibst du den Takt und den Ton vor?«

Madsick nickte, hob die Flöte an seine Lippen und tippte mit dem Fuß einen langsamen Takt. Wie gebannt starrte der Bote auf den Flötenspieler. Die ersten Töne waren leise, fühlten sich warm und harmonisch an. Nalkaar war zufrieden. Madsick wusste genau, was er wollte. Es dauerte nicht lange und Nalkaar fiel mit seiner Stimme in das Lied ein.

Feuer und Schatten

im wilden Tanz

der Flammen Glanz.

Sie begehren dich.

Sie verzehren dich.

Feuer und Schatten

in ewigem Schmerz

der Flammen Herz.

Sie reinigen dich.

Sie peinigen dich.

Feuer und Schatten

in dunkler Not

der Flammentod.

Schuld und Sühne.

Feuer und Schatten im wilden Tanz.

Der Bote konnte sich dem Gesang Nalkaars nicht entziehen, dessen Stimme von Murhab in den tieferen Tonlagen unterstützt und verstärkt wurde. Er stand regungslos, mit offenem Mund und mit weit aufgerissenen Augen in Nalkaars Zelt und lauschte den Klängen der Todsänger und des Flötenspielers.

Je länger der Gesang andauerte, desto dunkler wurde es im Zelt. Es schien gerade so, als ob die Umgebung verschwimme und sich ein Portal in eine andere Welt öffnen würde. Graue Nebelschwaden waberten in das Zelt und umgarnten die Anwesenden. Während er weitersang, verfolgte Nalkaar den dichter werdenden Nebel aufmerksam. Er wusste genau, dass sich die Schatten darin verbargen und bald nach dem Boten greifen würden. Ein seltsamer Glanz trat in seine milchig trüben, toten Augen, als er die ersten Schatten erblickte. Kreischend und bedrohlich zischend griffen sie bereits nach dem Boten. Aber irgendetwas stimmte nicht. Die Schatten verhielten sich anders als sonst. Sie waren wütend und aggressiver. Ihr Widerstand gegen den Gesang war deutlich spürbar.

Aber die Schatten mussten Nalkaars Gesang gehorchen, sie konnten sich ihm nicht widersetzen oder ihn angreifen. Er war ein Todsänger und Schattenbeschwörer. Nalkaar wollte nicht glauben, dass sie gegen ihn aufbegehrten. Dennoch kamen sie Nalkaar zu nahe und sprühten ihm ihren Hass entgegen. Er musste achtgeben, dass sie ihn nicht berührten, und wich einen Schritt zurück, ohne seine Stimme zu senken.

Das Flötenspiel verstummte. Überrascht drehte Nalkaar den Kopf und musste entsetzt entdecken, dass sich die Schatten nicht nur auf den Boten, sondern auch auf Madsick gestürzt hatten.

»Zurück! Zurück mit Euch!«, rief Nalkaar den Schatten aufgebracht zu.

Die Schatten ließen jedoch nicht von Madsick ab. Madsicks Augen waren verdreht vor Furcht. Nur noch das Weiße war darin zu sehen. Der Flötenspieler schrie und wand sich unter den eisigen Griffen der Schatten.

Nalkaar wusste, dass die Schatten lange auf diese Gelegenheit gewartet hatten, weil er sie immer wieder vertrieben hatte, um Madsick vor ihrem Zugriff zu schützen. Insgeheim hatte der Todsänger immer schon gewusst, warum die Schatten Madsick unbedingt haben wollten. Madsick gehörte nicht in diese Welt. Der Gesang des Todsängers hatte keine Wirkung auf den Flötenspieler. Nicht wie auf andere.

»Er ist ein Schattenwesen, ein Seelenloser, den Schatten entsprungen und aus ihrem Reich geflohen. Der Herr der Grube half ihm und beherrscht ihn. Seine Gedanken gehören dem Gedankenschinder. Mit seiner Hilfe will der Herr der Grube die Schatten befreien. Ein boshafter und höchst gefährlicher Plan«, dachte Nalkaar.

Aber weshalb gehorchten die Schatten Nalkaar nicht mehr? Nalkaar hatte doch Macht über sie. Sein Gesang war unwiderstehlich, dachte der Todsänger.

»Murhab! Hilf mir«, rief Nalkaar. »Ein Lied, die Schatten zu besänftigen und Madsick vor ihnen zu schützen.«

Doch zur Antwort hörte Nalkaar nur ein dumpfes Grunzen. Der Todsänger wirbelte herum. Murhab kämpfte gegen eine Flut von Schatten, die zornig nach ihm griffen.

»Was ist los mit Euch«, rief Nalkaar, »Ihr müsst mir gehorchen. Lasst Murhab in Ruhe und gebt Madsick frei.«

»Vergissss essss«, zischte eine tonlose Stimme, »der Flötenspieler gehört uns!«

Ein Schattengesicht kam Nalkaar gefährlich nahe und starrte den Todsänger aus toten, grauen Augen wutentbrannt an.

»Das geht nicht«, sagte Nalkaar, »ich werde ihn Euch nicht kampflos überlassen und auch Murhab nicht. Ich bin Nalkaar der Todsänger. Ihr werdet mir gehorchen.«

»Nein! Nicht mehr! Nicht sssso … zwingt uns nicht …«

»Bei den Kojos, was macht Euch so zornig?«, wollte Nalkaar wissen.

»Ihr habt uns den Weg versperrt«, zischte der Schatten.

»Welchen Weg?«, fragte Nalkaar verblüfft.

»Den Weg in den Nebel des Vergessens«, antwortete der Schatten. »Ihr wollt uns für Eure Zwecke benutzen und uns die Belohnung für unsere Dienste verweigern. Der Tod ist heute nur ein erster Schritt in eine Welt, die noch viel grauer und grausamer ist als die der Lebenden, denn sie kennt keine Erlösung mehr. Wir haben die Ruhe und das Vergessen verdient. Gebt den Weg frei und ruft Euren Wächter endlich zurück!«

»Ich verstehe nicht«, schüttelte Nalkaar den Kopf. »Ich habe nichts getan, was Euch den Weg in den Nebel des Vergessens verwehren könnte.«

»Ihr lügt …«, fauchte der Schatten, »… ein Totenbeschwörer führt nur Böses im Sinn.«

»Aber nein, welches Interesse sollte ich daran haben, Euch im Reich der Schatten zwischen Leben und Tod festzuhalten?«

»Macht über die Schatten … eine Armee der Schatten, Kryssssson zu unterwerfen.«

»Dafür brauche ich die Schatten nicht«, meinte Nalkaar überzeugt. »Mein Gesang sollte genügen, die Welt zu unterjochen«.

Der Schatten lachte den Todsänger aus. Ein scheußliches, gackerndes Geräusch. Nalkaar war der Verzweiflung nahe. Ihm blieb wenig Zeit. Sein Gesang hatte die Schatten zwar heraufbeschworen, aber er war nicht in der Lage, sie im Zaum zu halten. Während er sich auf einen Streit mit dem Schatten eingelassen hatte, waren die übrigen Schatten weiter gegen seine Gefährten vorgegangen und hatten den Boten aus Krawahta inzwischen in ihr Reich gezogen. Sein toter Leib lag mit weit aufgerissenen Augen auf dem Boden. Nalkaar musste die Schatten zur Vernunft bringen. Schnell!

»Ich verspreche, Nalkaar wird Euch helfen, wenn Ihr meine Gefährten gehen lasst.«

»Den einen kannsssst du haben. Den anderen nicht!«, zischten die Schatten.

Nalkaar wusste genau, wen sie damit meinten. Sie würden Madsick nicht mehr gehen lassen. Er konnte ihnen anbieten, was immer er wollte. Sie waren bereits zu weit gegangen. Noch hatten die Schatten nicht gewagt, Hand an Nalkaar selbst zu legen. Aber er fühlte, dass dies nur noch eine Frage der Zeit war. Nalkaar rief im Geiste nach seinen anderen Todsängern. Wenn sie sich zusammentaten und gemeinsam sangen, müssten sie stark genug sein, einen Schutzschild gegen die Schatten aufzubauen und das Portal in das Reich der Schatten wieder zu schließen.

Er hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, als bereits die ersten seiner Todsänger in das Zelt kamen und sich verwundert umsahen.

»Singt!«, rief Nalkaar ihnen zu. »Ein Lied zum Schutz gegen die Schatten! Eins, zwei, drei.«

Etwa dreißig Todsänger waren Nalkaars Ruf gefolgt und hatten sich in sein Zelt gedrängt. Sie standen dicht an dicht. Wie auf einen Befehl ölten sie gleichzeitig ihre Stummelzungen. Immer noch strömten Todsänger von draußen nach, fanden jedoch keinen Platz mehr im Zelt.

Wir sind der Schild.

Wir schließen das Tor.

Wir trotzen den Schatten.

Hinweg, hinweg, hinweeeeg.

Wir sind der Schild.

Wir schließen die Pforte.

Verschwindet von diesem Orte.

Hinfort, hinfort, hinfoooort.

Siehst du den Tod?

Siehst du das Leben?

Fühlst du den Tag.

Fühlst du die Nacht.

Hinweg, hinweg, hinweeeeg.

Wir sind der Schild.

Wir schließen das Tor.

Wir trotzen den Schatten.

Das Lied verfehlte seine Wirkung nicht. Nebelschwaden wirbelten durch das Zelt und verbanden sich zu einer Einheit, von der die Schatten aufgenommen wurden. Immer mehr mussten von ihren Opfern ablassen und wurden in den Nebel gezogen. Doch an Madsick hielten die Schatten eisern fest. Sie kreischten und schlugen wild um sich und verscheuchten den Nebel.

»Singt weiter!«, schrie Nalkaar. »Immer weiter. Es wirkt, aber es ist noch nicht vorbei.«

Wir sind der Schild.

Wir schließen das Tor.

»Das wird Euch noch leidtun!«, fauchte ein Schatten dicht an Nalkaars Ohr.

»Ich will Euch doch helfen!«, bot Nalkaar an. »Ihr müsst mir vertrauen. Erzählt mir von Euren Schwierigkeiten, damit ich verstehe.«

Es war zwecklos, die Schatten waren außer sich und nicht bereit, mit Nalkaar zu verhandeln.

»Singt weiter!«, verlangte Nalkaar von seinen Todsängern. »Verdammt noch mal, rasch! Weitersingen! Lauter. Ihr müsst Euch steigern. Der Schutz ist noch nicht stark genug. Es ist ihr Hass und ihr Zorn, dem wir standhalten und den wir überwinden müssen.«

Wir sind der Schild.

Wir schließen die Pforte.

»Noch lauter!«, feuerte Nalkaar die Todsänger an.

Die Todsänger waren nicht stark genug. Nalkaar spürte, dass sie nicht alleine gegen die Schatten ankamen. Er zog die Phiole mit der dunklen Essenz aus seinem Mantel und träufelte sich einen Tropfen auf seine Zunge. Nalkaar musste die Todsänger in ihrem Gesang unterstützen. Er war ihre erste Stimme, ohne ihn drohten sie zu scheitern. Nalkaar fiel in den Gesang mit ein.

Wir sind der Schild.

Wir schließen das Tor.

Wir trotzen den Schatten.

Hinweg, hinweg, hinweeeeg …

Nalkaar verlangte sich das Äußerste ab, presste aus seinem Brustkorb, was er an Kraft und Erfahrung aufzubieten hatte, und schmetterte den letzten Ton mit einer solchen Wucht und Lautstärke gegen die Schatten, dass diese sogar von Madsick abließen und vom Nebel aufgesogen wurden.

Er hatte es noch einmal geschafft. In letzter Sardas. »Das war knapp«, krächzte er.

Er konnte sich kaum auf den Beinen halten und seine Stimme klang eigenartig tonlos. Nalkaar wankte. Murhab trat an seine Seite und stützte den Todsänger. Der Kampf gegen die Schatten hatte Nalkaar viel Kraft gekostet. Sein Hunger nach Seelen meldete sich augenblicklich. Nalkaar würde sich bald nähren müssen.

»Wie fühlt Ihr Euch, Murhab?«, fragte Nalkaar leise, während er die übrigen Todsänger aus dem Zelt winkte.

»Schwach, Herr«, flüsterte Murhab, »es kommt mir so vor, als wäre ich bereits mit einem Teil meiner selbst in den Schatten gewesen und hätte die Flammen der Pein erblickt. Ich spürte die Hitze des Feuers, die meine Haut verbrannte. Seht her …«

Murhab zeigte Nalkaar eine Stelle an seinem Arm, an der sein totes Fleisch verbrannt war und Blasen geschlagen hatte.

»Das ist höchst bedenklich«, antwortete Nalkaar, »die Schatten hätten Euch beinahe entführt. Das hätte niemals geschehen dürfen. Sie hätten mir gehorchen müssen. Ich weiß nicht, was ich falsch gemacht habe. Etwas ist faul im Reich der Schatten. Wir müssen herausfinden, was es ist und wer dahintersteckt. Es muss ein anderer Totenbeschwörer sein, der uns diese Schwierigkeiten eingebracht hat. Lasst uns nach Madsick sehen!«

Madsick lag starr und steif auf dem Boden. Seine Augen waren weit aufgerissen und blickten ins Leere. Aber Nalkaar konnte sehen, dass der Flötenspieler atmete. Sein Atem ging zwar flach und unregelmäßig, aber er weilte untrüglich noch unter den Lebenden.

Murhabs Blick war besorgt.

»Madsick lebt, aber sein Geist ist nicht bei uns«, meinte Murhab.

»Wo ist er hingegangen?« Nalkaar ahnte Schreckliches.

»Das fragt Ihr Euch wahrhaftig?«

»Nun ja … wie kann er leben und sich zugleich in den Schatten aufhalten?«

»Gibt es denn keine Beispiele für dieses Phänomen?«, wollte Murhab wissen.

»Lasst mich nachdenken … ich glaube … nein, ich bin mir sicher, ich habe schon einmal von so einer Sache gelesen. Es verhält sich ganz ähnlich wie der Zugang der Saijkalsan zu den magischen Brüdern. Ich war selbst einst ein Saijkalsan, als mich Rajuru noch als ihren Schüler unterrichtete. Wenn die Saijkalsan ihre Welt verlassen und die heiligen Hallen aufsuchen, steht die Zeit für sie beinahe still und sie verfallen in eine Art Schlaf, eine Starre, aus der sie erst wieder erwachen, wenn sie in ihre Welt zurückkehren. Aber das ist es nicht, was ich meine. Es mag ähnlich sein, aber die heiligen Hallen der Saijkalrae sind nicht das Reich der Schatten und die magischen Brüder sind alles andere als tot.«

»Was meint Ihr denn?«

»Wartet … es gibt da eine Geschichte über die Nno-bei-Maya, die sich in den Schatten aufhielten, ohne tot zu sein. Die Starre des verlorenen Volkes musste vollkommen sein, als Ulljan sie in das Reich der Schatten führte. Aber sie waren nicht tot. Sie lebten und ihre Körper verrotteten nicht. Und soweit ich gehört habe, kehrten sie mit der Hilfe des Lesvaraq unlängst zurück nach Ell. Es ist möglich, durch ein geöffnetes Portal in das Reich der Schatten zu gelangen und wieder zurückzukehren. Aber dieser Weg ist gefährlich. Es kann sein, dass es kein Zurück mehr gibt, wenn man dem Tod erst einmal ins Gesicht gelächelt hat. Solltet Ihr recht haben und Madsicks Geist von den Schatten verschleppt worden sein, müssen wir ihn suchen und zurückholen. So schnell es nur geht.«

»Ihr wollt in das Reich der Schatten eindringen und Madsicks Geist von dort entführen? Das ist doch Wahnsinn!«

»Vielleicht … aber ich werde das nicht selbst machen. Ihr werdet ihn suchen und zurück nach Ell bringen, Murhab!«

»Ich?« Murhab fehlten die Worte.

»Natürlich. Was habt Ihr geglaubt? Soll ich mich etwa selbst dieser Gefahr aussetzen und all meine Ziele für einen Gefährten aufgeben? Ich stehe kurz vor meinem größten Triumph. Ich brauche Madsick, aber ich darf nicht zu den Schatten gehen. Ihr müsst das für uns tun. Ihr seid ein fähiger Todsänger und ein noch besserer Mann und Kämpfer. Ihr werdet Madsicks Geist und einen Weg zurück für Euch beide finden. Ich öffne ein Portal zu den Schatten und stehe in ständiger Verbindung mit Euch. Ich kann alles sehen, was Ihr seht. Sollte es Euch schlecht ergehen, fühle ich das.«

»Nun gut, dann werde ich Madsick suchen und hoffen, unter den Schatten nicht aufzufallen. Erwischen mich die Schatten, bin ich als Seelenloser verloren.«

»Was keinen Unterschied zu Eurem heutigen Zustand macht«, lächelte Nalkaar. »Ihr habt nichts mehr zu verlieren, was ich nicht bereits besäße.«

»Vielen Dank, Meister«, brummte Murhab ärgerlich, »Ihr seid zu gütig.«

»Ich weiß«, nickte Nalkaar, »und nun beeilt Euch. Ich kann das Portal nur für kurze Zeit offen halten. Solltet Ihr Madsick gefunden haben, öffne ich wieder ein Portal, damit Ihr den Schatten entfliehen könnt.«

Nalkaar summte eine Melodie vor sich hin. Leise und traurig. Wenige Augenblicke später öffnete sich das Portal ins Reich der Schatten und Murhab schlüpfte hindurch.

»Ihr werdet ihn finden und zu mir zurückbringen«, dachte und hoffte Nalkaar, als er seinen Todsänger in den Schatten verschwinden sah, »ich werde mich in Zukunft besser vorsehen müssen. Die Schatten sind rebellisch. Ich sollte herausfinden, was oder wer dahintersteckt.«

Der Todsänger ließ sich an Madsicks Seite nieder und betrachtete den geistlosen, verschwitzten Körper voller Sorge. Er konnte die Angst riechen. Behutsam strich Nalkaar dem Flötenspieler eine Haarsträhne aus der Stirn.

»Hab keine Furcht. Ich bin bei dir. Alles wird gut, du wirst schon sehen«, flüsterte Nalkaar.

Ungeduldig folgte er den Schritten Murhabs durch den Nebel ins Reich der Schatten. Er konnte durch Murhabs Augen und Ohren alles sehen und hören, als wäre er selbst zu den Schatten gegangen. Nalkaar spürte die Kälte des Todes und wusste, dass Murhab angekommen war. Der Todsänger war zufrieden. Murhab würde sich, in seinen schwarzen Mantel der Todsänger gehüllt, kaum von den Schatten unterscheiden. Wie auch? Er war tot.

Der einzige – auf den ersten Blick nicht sichtbare – Unterschied war, dass es sich bei den Schatten um die Seelen der Verstorbenen handelte, deren Körper auf Ell verrottete. Wohingegen Murhab in seiner körperlichen, sehr langsam verwesenden Hülle unter den Schatten wandelte und seine Seele in Nalkaars Besitz verblieben war. Den Gestank verfaulenden Fleisches, den die Todsänger und auch Murhab für gewöhnlich verströmten, würden die Schatten zum Glück nicht wahrnehmen können. Nalkaar war über diesen Punkt bereits seit vielen Sonnenwenden hinaus und hatte einen Weg gefunden, den Zerfall aufzuhalten und das ihm noch verbliebene Fleisch an seinen Knochen zu konservieren. Den anderen Todsängern hatte er diesen Weg nicht gezeigt, sodass einige unter ihnen unter ihren Mänteln nur noch aus Knochen, Lunge, Haut, Stimmbändern und Stummelzunge bestanden. Der Rest war verrottet.

Nalkaar verfolgte Murhabs Weg durch das Reich der Schatten wie in einem Traum. Der erste Todsänger war schon mehrere Male im Reich der Schatten gewesen. Zweimal musste er dank Rajuru in den Flammen der Pein unerträgliche Qualen leiden. Aber das war vorbei. Nicht vergessen, aber vergangen. Er verspürte keine Lust, das Reich der Schatten jemals wieder auf eigenen Füßen zu betreten. Zum Glück konnte er sich auf seine Getreuen verlassen, die ihm diese Bürde sicher gerne abnahmen, dachte Nalkaar. Ihm gehörten ihre Seelen. Er beherrschte sie vollkommen.

Aber er würde Murhab nicht die volle Aufmerksamkeit widmen können, die ihm auf seiner gefährlichen Suche durch das Reich der Schatten gebührte. Gewiss, Madsick war ein wichtiger Baustein für das Gelingen seiner Komposition. Er brauchte ihn und sein virtuoses Flötenspiel, um den perfekten, makellosen Gesang vorzutragen. Aber konnte er sich das Warten auf Murhabs Rückkehr überhaupt leisten? Der Erfolg seiner Mission im Schattenreich war mehr als ungewiss. Madsick konnte längst verloren sein. Es war schon schmerzlich genug, für die Suche nach dem Flötenspieler einen seiner besten Todsänger opfern zu müssen.

Die Botschaft aus Krawahta war beunruhigend. Der Todsänger wusste, dass er sich eigentlich schnellstmöglich darum kümmern und die Ordnung in der Hauptstadt wiederherstellen musste. Seine Ordnung. Die Herrschaft der Todsänger.

Je länger er der Hauptstadt der Rachuren fernblieb, desto eher würden sich die neuen Machtverhältnisse verfestigen. Das war nicht gut. Sollte das Heer der Rachuren von dem Umsturz und Rajurus Tod erfahren, würde er die Truppen nicht mehr zusammenhalten können. Nalkaar konnte nur darauf hoffen, dass sich die Botschaft nicht auf andere Weise unter den Kriegern verbreitete.

Denn dann würde das Heer auseinanderfallen und sich in alle Richtungen zerstreuen. Seine Eroberungspläne wären dahin. Er brauchte den Rückhalt der Rachuren und ihrer Chimären, um vollends an die Macht zu gelangen. Raymour und Zanmour waren ihm ein Dorn im Auge. Wie hatten sie es nur wagen können, sich gegen Rajuru zu erheben? Und wie hatten sie zu allem Überfluss noch die Dreistigkeit besitzen können, die Herrscherin zu besiegen? Diese Aufgabe wäre alleine ihm zugefallen, wenn er im Triumph nach Krawahta zurückgekehrt wäre.

Seine ihm treu ergebenen Todsänger waren ihm zwar eine große Hilfe, würden zur Verwirklichung seiner Pläne jedoch nicht ausreichen. Er musste die Soldaten im Unklaren lassen und zusammenhalten. Sein Ziel lag zum Greifen nah. Er musste nur mit dem Heer zu den Ordenshäusern der Sonnenreiter und Orna marschieren und es sich nehmen. Mit Madsick oder ohne den Flötenspieler. Nalkaar durfte keine Zeit mehr verlieren.

»Wir brechen das Lager ab und ziehen sofort gegen die Ordenshäuser«, dachte Nalkaar bei sich, »danach geht es ohne Aufenthalt weiter nach Eisbergen. Bis das Heer von den neuen Machtverhältnissen erfährt, sind wir längst auf dem Rückweg nach Krawahta, Raymour und Zanmour zu stürzen.«

Nalkaar trat vor das Zelt, rief seine Heerführer zu sich und ließ zum Aufbruch blasen. Nach wenigen Horas marschierte das Heer unter der Führung des Todsängers weiter nach Norden.