Alte Feinde

Was geht auf Ell vor sich?«, fragte Madhrab verblüfft.

»Keine Ahnung«, antwortete Warrhard.

»Gewiss hat der Praister noch eine alte Rechnung mit dem Todeshändler offen«, nahm Corusal an. »Sie scheinen gegeneinander zu kämpfen, mit allem, was sie aufzubieten haben. Mal gewinnt der Praister mit unserer Hilfe die Oberhand, mal der Todeshändler mit seinen Mitteln, was auch immer diese sein mögen.«

»In nur wenigen Sardas hat sich alles verändert. Der Kanal. Die Stadt. Der Ort, an dem Thezael uns zu sich rief. Er verlor seine Macht über die Schatten. So schrecklich ich den Praister auch finde, die Veränderung war furchterregend. Hast du denn keine Erklärung dafür, Corusal?«, hakte Madhrab nach.

»Vielleicht … aber je länger ich darüber nachdenke … sie scheint mir doch eher unwahrscheinlich«, grübelte Corusal.

»Sprich!« Madhrab wurde ungeduldig.

»Das Buch der Macht«, sagte Corusal, »sollte es das Buch tatsächlich geben, wurde es gefunden, und befindet es sich in Jafdabhs Besitz, könnte es eine solche Veränderung hervorrufen, so der Todeshändler es denn versteht, damit umzugehen. Ich kannte ihn zu Lebzeiten. Er ist reich und kennt Mittel und Wege, wie er ein solch mächtiges Artefakt einsetzen muss. Vielleicht lässt er sich dabei helfen, sollte es ihm an magischem Geschick fehlen.«

»Wer würde Jafdabh bei einem solchen Vorhaben unterstützen?«, fragte Madhrab. »Er greift in die Schöpfung ein. Das ist gefährlich.«

»Gewiss, das ist es«, stimmte Corusal zu, »aber ich glaube, es gibt genügend Wahnsinnige mit magischer Begabung, die ihm zur Seite stehen würden, wenn sie nur die Gelegenheit erhalten, ihre Macht zu erproben und einen Blick in das Buch zu werfen.Die Macht, die in der Lage ist, die Schöpfung selbst infrage zu stellen, ist überaus verführerisch. Wer von ihr kostet, steht den Kojos gleich.«

»Denkt er jedenfalls. Aber was sollen wir tun?« Madhrab klang verunsichert. »Thezaels Ruf folgen und Jafdabh zu ihm bringen?«

»Sollte Thezael das verlangen und uns erneut nach Ell rufen, werden wir seinen Befehl ausführen müssen«, meinte Corusal, »bis dahin können wir in dieser Sache nichts unternehmen und sind an das Reich der Schatten gebunden. Sobald sich das Portal wieder für uns öffnet, werden wir Jafdabh suchen. Vielleicht hat das auch sein Gutes, so falsch sich die Befehle Thezaels auch anfühlen mögen. Das Gleichgewicht trägt zuweilen merkwürdige Züge. Wir sollten jetzt aber keine Zeit verlieren. Eine andere Aufgabe wartet auf dich, Madhrab. Wir waren auf dem Weg in die Arena. Bevor uns Thezael erneut nach Ell ruft, sollten wir den Weg in den Nebel des Vergessens freigekämpft haben.«

»Wir?«

»Nun … ähm … du natürlich«, verzog Corusal das Gesicht zu einer mitleidigen Grimasse, »aber wir wollen dich nach Kräften unterstützen und dich anfeuern. Die meisten Schatten beten für deinen Sieg.«

»Wie beruhigend, dann kann ich wohl nicht scheitern.«

Der Weg in die Arena war nicht weit, dennoch kam er Madhrab lang vor. Sie zogen an Kammern vorbei, in denen Schatten hausten. Wie lange waren sie schon hier und warteten auf ihre Erlösung im Nebel des Vergessens? Es reichte nur für kurze Blicke in die Kammern. Manchmal bekam er ein wohlwollendes Nicken zurück, als ob die Schatten einen alten Freund erkannt hätten. Von anderen jedoch vernahm er ein Fauchen und bösartiges Zischen, das wenig erfreut klang. Nein, dies war nicht seine Welt. Madhrab war geduldet, aber nicht willkommen. Hier gehörte er nicht her.

Madhrab kam das Reich der Schatten unwirklich vor, grau und düster wie ein Traum. Ein Albtraum. Er wusste, es würde kein Erwachen geben. Er war tot, wie die Schatten um ihn herum. Es war absurd. Wofür hatte er gelebt und für was war er gestorben? Warum musste er erneut zum Kampf antreten? Wann würde das Leid ein Ende nehmen? Er hatte genug getan und wollte seinen Frieden. Madhrab nahm sich vor, so schnell wie möglich aus dem Reich der Schatten zu entkommen. Elischa. Würde er sie eines Tages wiedersehen? Das war eine Hoffnung, auch wenn sie nur schwach war. Dafür lohnte es sich zu kämpfen.

Die Arena war größer, als Madhrab angenommen hatte. Ein mulmiges Gefühl überkam ihn, als er den sandigen Boden betrat und sich umblickte. Die Ränge rundherum waren bis weit in die Höhe angefüllt mit Schatten, die ungeduldig auf ihren Befreier zu warten schienen. Oder waren sie nur gekommen, um den Kampf zu sehen und sich an der Gewalt zu ergötzen? War dies bloß eine willkommene Abwechslung im tristen Grau des Alltags im Reich der Schatten? Die Schatten flüsterten, zischten und raunten, als er sich langsam Richtung Mitte bewegte. Warrhard begleitete ihn auf dem Weg, während sich Corusal und die anderen einen Platz unter den Zuschauern suchten. Chromlion war nirgends zu sehen. Aber Madhrab erkannte ein großes Tor am Ende der Arena.

»Ist es das?«, fragte Madhrab und deutete mit dem Kopf in Richtung Tor.

»Ja«, antwortete Warrhard, »das ist das Tor in den Nebel des Vergessens. Der einzige Zugang, der uns von den Erinnerungen erlöst und uns den Frieden gibt, den wir verdient haben.«

»Chromlion bewacht es nicht. Warum gehen wir nicht einfach hin, öffnen es und ihr alle geht hindurch«, schlug Madhrab vor.

»Chromlion ist da, das könnt Ihr mir glauben. Kämen wir dem Tor auch nur einen Schritt zu nahe, wäre er sofort zur Stelle«, meinte Warrhard.

»Gut … dann … was schlagt Ihr vor? Soll ich ihn rufen, damit wir mit dem Kampf beginnen?«

»Nur Geduld. Er weiß, dass Ihr da seid. Er wird kommen. Aber täuscht Euch nicht. Er ist nicht mehr derselbe, seit Ihr ihn getötet habt«, warnte Warrhard seinen Freund. »Ihr müsst auf das Schattenschwert achten. Eine mächtige Waffe. Solltet Ihr Euch an der Klinge verletzen, wird Euch das schwer zusetzen. Ich kann Euch nur den Rat geben, Euch nicht treffen zu lassen. Weicht seinen Schlägen lieber aus und zermürbt Euren Gegner. Ich habe zwar eine Waffe für Euch, mit der Ihr Chromlion bezwingen könnt, aber leider kein Schattenschwert. Es ist ein wirklich gutes Schwert. Ihr werdet es mögen. Ausbalanciert, und die Klinge ist scharf genug, selbst einen Schatten zu schneiden. Was ist eigentlich aus Eurem Blutschwert Solatar geworden?«

»Ich habe es an meinen Sohn Tomal verloren«, antwortete Madhrab.

»Ach?« Warrhard zog überrascht die Augenbrauen nach oben.

»Tomal tötete mich und ich tötete ihn. Jedenfalls einen Teil von ihm. Ich musste es tun. Er hat es verlangt und ich war ihm diesen Dienst als Vater schuldig, auch wenn ich selbst dabei mein Leben verlor. Solatar gehört ihm, es sei denn, die Kojos verweigern ihm die Gabe des Kriegers.«

»Warum sollten sie?«

»Weil er sich die Gabe nicht verdient hat und sich eines solchen Geschenkes der Kojos nicht als würdig erweist.«

Warrhard reichte Madhrab die Waffe. Ein Breitschwert mit einer langen und starken Klinge, das gut in der Hand lag. Madhrab nickte anerkennend. Es war ein gutes Schwert.

»Viel Glück«, wünschte Warrhard.

»Das werde ich brauchen. Danke, mein Freund.«

»Wir zählen auf Euch«, ergänzte Warrhard.

»Aye, ich weiß.«

Warrhard sah sich um und verließ die Arena, nachdem er Corusal und die anderen in den Zuschauerrängen entdeckt hatte. Sie hatten sich – um besser sehen zu können – einen Platz weit vorne gesichert und zwischen andere Schatten gedrängt, die sich dort bereits breitgemacht hatten und ihre Plätze nicht freiwillig räumen wollten. Als Warrhard hinzustieß, fauchte und böse dreinblickte, war der Streit schnell geschlichtet und die anderen Schatten mussten murrend weichen.

Madhrab musste schmunzeln, offensichtlich hatte sich der Eiskrieger auch nach seinem Tod nicht geändert und flößte anderen immer noch gehörigen Respekt ein.

Erste Rufe von den Zuschauerrängen wurden laut. Ein Stimmengewirr aus flüsternden und zischenden Lauten, das stetig anschwoll und sich am Ende wie das Brummen eines übergroßen Bienenstocks anhörte. Vereinzelt konnte Madhrab aus den Rufen heraushören, dass die Schatten seinen Namen skandierten. Andere forderten lautstark Chromlions Erscheinen. Die Ungeduld und Aggression der Schatten lag wie eine schwere Decke über der Arena. Der Bewahrer war aufgeregt. Wäre er noch am Leben gewesen, hätte er gewiss ein bis an den Hals schlagendes Herz und schweißnasse Hände beklagen müssen. Aber so blieben ihm diese körperlichen Auswirkungen erspart.

Madhrab packte das Schwert fest und ging entschlossen auf das Tor zu. Als er bis auf sechzig Fuß heran war, zeigte sich Chromlion. Sein Erzfeind hatte hinter einer Säule in der Nähe des Tores gewartet.

»Zurück!«, rief Chromlion. »Hier kommt niemand durch. Der Weg in den Nebel des Vergessens ist verschlossen. Ich bin der Wächter und das Siegel.«

Madhrab fiel auf, wie sehr sich Chromlion verändert hatte. Er kam ihm größer und kräftiger vor als zu jener Zeit, in der Madhrab ihn an das Tor seiner eigenen Burg genagelt hatte. Chromlion hielt ein ungewöhnliches Schwert in den Händen. Es war groß und schwer. Die Klinge schien zu leben. Schattenhafte Wesen liefen in unregelmäßigen Abständen an ihr auf und ab.

Madhrab konnte sehen, wie Chromlion die Augen zusammenkniff und wie es in seinem Gegner arbeitete. Offenbar hatte er ihn noch nicht erkannt. Doch plötzlich ging ein Ruck durch Chromlions Körper. Madhrab konnte sehen wie sein Erzfeind zusammenzuckte und in eine kurze Starre verfiel. Chromlion schien verunsichert.

»Du?« Chromlions Stimme klang alles andere als fest. »… bei den Kojos, was hast du hier verloren?«

»Ich kam, den Weg für die Schatten frei zu machen und das Tor zu öffnen«, rief Madhrab.

»Ha«, höhnte Chromlion, der seine Selbstsicherheit wieder zurückzugewinnen schien, »dann musst du zuerst an mir vorbei. Aber wie ich dich kenne, wirst du das in deiner Überheblichkeit nicht als ernsthafte Herausforderung sehen.«

»Wir müssen nicht kämpfen, wenn du das Tor freiwillig aufgibst und versprichst, den Weg in den Nebel des Vergessens nicht mehr zu versperren.«

»Oh, nein«, schüttelte Chromlion den Kopf, »ich habe eine Aufgabe zu erfüllen. So leicht werde ich es dir nicht machen. Wenn du wüsstest, wie sehr ich mir diesen Augenblick gewünscht habe, obwohl ich ihn für unmöglich hielt. Madhrab in den Schatten, was kann es Schöneres geben. Meine Rache wird vollkommen sein.«

»Rache?«, sagte Madhrab nachdenklich. »Du hast Rache über den Tod hinaus geschworen? Nach allem, was du mir und meiner Familie angetan hast? Nach allem, was du Elischa zugemutet hast? Du hast mein Leben zerstört, Chromlion. Du hast alles getötet, was mir wichtig war, und meine einzige Liebe beendet. Und du redest von Rache?«

»Ich tat, was ich tun musste«, zuckte Chromlion gleichgültig mit den Schultern. »Meine Kinder und ich starben durch deine Hand. Du warst unsagbar grausam.«

»Das war nur gerecht«, erwiderte Madhrab.

»Wie kannst du von Gerechtigkeit reden, Madhrab? Du, der du dein eigenes Volk, deine Liebe und deinen Orden schändlich verraten hast. Meine und Elischas Söhne waren unschuldig an deinem Versagen.«

»Sie hatten das Leben nicht verdient. Sie hätten niemals geboren werden dürfen«, rief Madhrab zornig.

»Und das hast du ganz allein in deiner Überheblichkeit entschieden, nicht wahr?«, schrie Chromlion. »Du bist nicht besser als ich, Madhrab. Du warst so voller Hass und kanntest einzig deine Vergeltung. Meine Söhne mussten dafür mit ihrem Leben bezahlen.«

»Und warum hast du sie gegen mich geschickt, obwohl du wusstest, dass ich sie besiegen würde? Du warst zu feige, um gleich gegen mich anzutreten, und du wolltest den Schmerz in Elischas Augen sehen, als ihre Söhne durch meine Klinge starben. Dir ging es nur darum, unsere Liebe endgültig zu zerstören. Deine Söhne waren dir gleichgültig.«

»Wie auch immer«, rümpfte Chromlion die Nase, »wir stehen uns ein letztes Mal im Reich der Schatten gegenüber und ich erhalte endlich Gelegenheit, Rache an dir zu nehmen.«

»Wie du willst«, sagte Madhrab, »ich nagle dich auch ein zweites Mal ans Tor.«

Das Stimmengewirr in der Arena wurde lauter und schwoll zu einem Kreischen an, als Chromlion den ersten Schritt auf Madhrab zu machte. Der Bewahrer bereitete sich auf einen raschen und heftigen Angriff Chromlions vor und nahm einen sicheren Stand ein. Er blieb ganz ruhig. Beobachtete und wartete. So hatte er es einst gelernt und an andere Sonnenreiter in der Ausbildung weitergegeben. Er mochte langsamer geworden sein und die eine oder andere Fähigkeit mit dem Verlust der Gabe eingebüßt haben, aber er war noch immer ein Bewahrer, der genau wusste, wie er kämpfen und einem starken Gegner wie Chromlion begegnen musste.

Chromlions Schritte wurden schneller und schließlich rannte er mit einem durchdringenden Schrei auf Madhrab zu. Seine Augen glühten vor Hass und Rachedurst. Die Schattenklinge beschrieb einen Bogen von oben herab, während Chromlion herangestürmt kam. Madhrab wartete, bog den Oberkörper nach hinten, ließ die Klinge passieren und rammte seinem vorbeistürmenden Gegner den Ellbogen in die Rücken. Chromlion stolperte, hob ab und stürzte einige Fuß weiter in den Sand der Arena.

Einige Schatten sprangen auf und jubelten. Andere schrien ihre Enttäuschung über das vermeintlich schnelle Ende des Kampfes fauchend heraus. Aber Chromlion war nicht geschlagen. Rasch war Madhrabs Gegner wieder auf den Beinen und wirbelte herum, um dessen Angriff entgegenzutreten. Der Bewahrer hatte Chromlions Sturz genutzt und war aus seiner abwartenden Haltung zu einem überraschenden Vorstoß übergegangen. Aber Madhrab merkte, dass er nicht mehr schnell genug war, um rechtzeitig nah genug an den gestürzten Krieger heranzukommen und ihm den finalen Stoß zu verpassen. Er brach den Angriff ab und wartete erneut regungslos auf seinen Feind.

Erneut stürmte Chromlion heran und versuchte, Madhrab mit der Schattenklinge zu treffen. Dieses Mal hatte er den Angriff tiefer angesetzt, um es unmöglich zu machen, auszuweichen und unter der Klinge hinwegzutauchen. Madhrab hatte die Absicht jedoch erkannt und war im letzten Moment ab- und über die Klinge gesprungen. Er landete wie geplant, kam in Chromlions Rücken auf, verpasste ihm einen kräftigen Stoß mit der flachen Seite seines Schwerts und brachte seinen Gegner damit erneut zu Fall.

Von Chromlions Lippen löste sich ein böser Fluch, noch während er stürzte. Madhrab beobachtete ihn genau. Wieder verharrte der Bewahrer in seiner Position und wagte es nicht, seinem gestürzten Gegner nachzueilen. Madhrab wollte seinen Gegner genau studieren, bevor er sich zu einem Angriff entschloss. Es war wichtig, die Stärken und Schwächen Chromlions zu kennen. Was hatte sich verändert? Was hatte er seit ihrer letzten Begegnung hinzugelernt? Chromlion bewegte sich anders. Er war schneller geworden und seine Schläge waren von tödlicher Präzision, obwohl sie Madhrab im letzten Moment verfehlt hatten. Chromlion hatte ihm bei beiden Vorstößen nicht die Gelegenheit gelassen, sein Schwert richtig einzusetzen und ihn ernsthaft zu verletzen, weshalb Madhrab Ellbogen und die flache Seite der Klinge für Treffer einsetzen musste. Und auch die Stürze Chromlions waren kontrolliert. Madhrab hatte den Eindruck, dass Chromlion seinen Körper besser beherrschte als früher. Madhrab befürchtete, Chromlion würde eine Schau für die Schatten abziehen und den Kampf in seinem Sinne gestalten. Vielleicht wollte er Unterlegenheit vorspielen, Madhrab in Sicherheit wiegen und danach umso überraschender zuschlagen. Madhrab musste das Spiel mitspielen und auf der Hut sein. Er kannte Chromlions Verschlagenheit nur zu gut. Aber er war sich auch sicher, er würde eine Schwäche finden.

Chromlion näherte sich dieses Mal langsamer. Er nahm eine geduckte Haltung ein und sah aus, als wollte er den Bewahrer durch seine Bewegungen und Blicke hypnotisieren.

Plötzlich stieß er blitzschnell wie eine Schlange vor. Madhrab, der seinen Gegner keinen Moment aus den Augen gelassen hatte, gelang es im letzten Augenblick, mit einem Seitwärtsschritt auszuweichen und seinen Feind mit einer Hand am Unterarm zu packen. Er drehte sich, nutzte das Gewicht und die Kraft seines Gegners für eine Hebelbewegung und schleuderte Chromlion über seinen Kopf hinweg zu Boden. Chromlion war überrascht von diesem Wurf und brauchte einen Moment, sich davon zu erholen. Madhrab setzte nicht nach. Noch war er nicht so weit. Er hatte noch nicht alles gesehen, was er aus den Bewegungen seines Gegners lernen wollte. Chromlion sprang wieder auf die Beine.

»Du steckst noch immer voller Überraschungen«, grummelte Chromlion, »obwohl du längst tot bist, scheinst du nichts vergessen zu haben.«

»Und du? Was hast du in den Schatten hinzugelernt?«, provozierte Madhrab seinen Feind.

»Vieles! Aber eine Sache war besonders nützlich: in den Schatten zu töten. Wie tötest du etwas, das bereits tot ist? Du tötest einen Schatten, indem du jede Erinnerung an ihn auslöschst. Du nimmst ihm alles, was er jemals war, und vernichtest die Seele, damit sie niemals vom Nebel des Vergessens aufgenommen und nicht wieder erneuert werden kann. Das Nichts ist die Folge. Der Schatten hat nie existiert. Und genau das werde ich mit deiner Seele machen, Madhrab.«

»Nur zu«, raunte Madhrab, »versuch es!«

Chromlion wirbelte herum und griff mit wuchtigen Schlägen an. Die Schattenklinge traf wieder und wieder auf Madhrabs Schwert. Kleine Schatten versuchten, auf Madhrabs Schwert überzuspringen, fielen jedoch beim nächsten Aufprall wieder ab und vergingen im Sand.

Madhrab wurde zurückgedrängt, wehrte jedoch jeden Schwerthieb seines Gegners ab. Er hatte keine Mühe damit. Chromlions Schläge waren vorhersehbar und folgten einem gleichbleibenden Ablauf.

»Chromlion will mich müde machen und zermürben«, dachte Madhrab bei sich, »vielleicht hat er doch nicht so viel gelernt.«

Madhrab stellte die Rückwärtsbewegung plötzlich ein und stemmte sich mit seiner Klinge gegen die nächsten beiden Schläge, um nun seinerseits mit dem Angriff zu beginnen. Er hatte genug gesehen. Dunkle Funken stoben durch die Arena, als Madhrab auf seinen Gegner eindrosch. Chromlion nahm eine geduckte Haltung ein und hielt das Schattenschwert schützend über seinem Kopf.

Der Bewahrer des Nordens täuschte einen frontalen Vorstoß an, brach jedoch ab, drehte sich zur Seite und stieß zu. Das Schwert bohrte sich in Chromlions Flanke unterhalb der Rippen. Chromlion heulte auf und mit ihm die Zuschauer auf den Rängen. Aus der Wunde floß dunkles Blut, das sich in Nebelschwaden auflöste.

»Du verdammter Mistkerl!«, schrie Chromlion. »Jetzt ist Schluss mit der Spielerei. Kämpfen wir richtig!«

Chromlion presste die Hand auf die Wunde und stoppte die Blutung. Die Wunde schloss sich vor den Augen Madhrabs. Schon im nächsten Augenblick griff Chromlion wieder an. Doch dieses Mal waren seine Schläge präzise und undurchschaubar. Er war schnell und ungeheuer stark. Madhrab spürte sofort, dass die Lage für ihn bedrohlich wurde. Chromlion hatte ihn über seine wahren Fähigkeiten getäuscht. Madhrab musste sich steigern und sein ganzes Können aufbieten, um den Angriffen seines Feindes standzuhalten. Er wehrte sich verbissen, parierte Schlag um Schlag.

Doch plötzlich traf Chromlion den Bewahrer am Arm. Eine kleine, scheinbar harmlose Schnittwunde nur. Doch die Wunden der Schattenklinge waren verheerend. Sofort sprangen winzige Schatten auf die Wunde und fraßen sich ins tote Fleisch des Bewahrers. Die Schmerzen waren unerträglich. Madhrab fauchte und schrie. Die Wunde wurde größer und tiefer.

Auf den Rängen rasten die Schatten. Madhrab fand nur einen Ausweg. Entschlossen hackte er sich mit seinem Schwert oberhalb der Wunde den Arm ab. Dunkles Blut schoss aus dem Armstumpf und löste sich im Nebel auf. Genau wie Chromlion zuvor schloss Madhrab die Wunde mit der Hand. Angewidert betrachtete er die Schatten, die seinen abgetrennten Arm auffraßen, bis nichts mehr von ihm übrig blieb.

Der Bewahrer schüttelte den Kopf. Er hatte keinen Schmerz verspürt, als er sich in der Not den Arm abtrennte. Aber jetzt bemerkte er ein Ziehen und Brennen in dem Stumpf. Es war ein eigenartiges Gefühl. Sein Arm wuchs nach. Zoll für Zoll. Nicht schnell genug. Chromlion war drauf und dran, seinen nächsten Streich zu vollbringen. Madhrab wich aus und ließ seinen Gegner ins Leere laufen.

»Machen wir ein Ende!«, rief Madhrab.

»O ja, darauf habe ich lange gewartet«, antwortete Chromlion.

»Vorher verrätst du mir, wem du dienst!«

»Ha«, höhnte Chromlion, »das wüsstest du wohl gerne.«

»Wer ist es, Chromlion?«

»Jemand, dem du nicht gewachsen bist.«

»Wer?«

»Wozu willst du das erfahren? Du wirst unwissend sterben und ein Nichts sein. Ich vernichte dich. Meine Rache wird vollkommen sein. Madhrab hat es nie gegeben.«

»Noch kannst du umkehren und deinen Frieden erhalten. Gib nur das Tor und den Weg frei.«

»Zu spät, Madhrab«, lachte Chromlion.

»Für die Einsicht ist es nie zu spät.«

Madhrabs Arm war zur Hälfte wiederhergestellt. Chromlion wartete nicht länger und rannte los. Madhrab hob das Schwert und fing den Angriff ab. Er setzte sogleich zum Sprung an und führte einen mächtigen Schlag von oben herab auf Chromlion.

Chromlion brachte seine Klinge nicht schnell genug zur Abwehr nach oben. Das Schwert drang neben seinem Hals durch die Schulter bis tief in seinen Brustkorb ein, bevor Madhrab es mit einem Ruck wieder herauszog.

Die Schatten hielt es nicht mehr auf ihren Plätzen. Sie sprangen auf, johlten und kreischten. In der Arena herrschte ein ohrenbetäubender Lärm. Chromlion sackte in sich zusammen und sank vor dem Bewahrer auf die Knie. Die Schattenklinge fiel zu Boden.

»Was ist?«, wollte Madhrab wissen: »Gibst du auf?«

»Ich kann nicht«, keuchte Chromlion. »Wie ist das möglich? Warum schlägst du mich immer noch?«

»Du bist gut und hast viel gelernt, Chromlion«, flüsterte Madhrab, »aber nicht gut genug, um einen Lordmaster zu überwinden.«

»Ich habe nie geglaubt, du wärst besser als ich«, gestand Chromlion. Seine Stimme drohte zu versagen, »aber jetzt … obwohl ich dir in den Schatten weit überlegen sein müsste, schlägst du mich wieder. Du hattest es zeit deines Lebens nicht verdient, mir vorgezogen zu werden. Das war nicht gerecht. Ein Mann aus den Bergen, nichts weiter als ein dummer Bauer. Ich hingegen stammte aus einem der besten Fürstenhäuser. Ich hatte die besten Voraussetzungen. Aber du wurdest von den Kojos geliebt und sie beschenkten dich reich mit der Gabe des Kriegers. Boijakmar liebte dich wie einen eigenen Sohn, statt auf meinen Vater zu hören und mich zu fördern. Elischa liebte dich wie keinen anderen auf Kryson. Für mich jedoch hatte sie nur Abscheu und Hass übrig. Nein«, Chromlion schüttelte heftig den Kopf, »du hast es immer noch nicht verdient.«

Madhrab hob das Schwert, um Chromlion den Todesstoß zu geben. Er war sich nicht sicher, ob ihm dies in den Schatten überhaupt gelingen würde. Ein Blick auf das Schattenschwert ließ ihn zögern. Er bückte sich nach der Waffe und hob sie auf. Chromlion erzitterte, als er erkannte, dass Madhrab sein eigenes Schwert gegen die Schattenklinge getauscht hatte und diese nun auf ihn richtete.

»Damit kann ich dich endgültig für deine Schandtaten hinrichten. Aber wir sind im Reich der Schatten und ich will dir vergeben. Unter einer Bedingung: Ich lasse dich gehen, wenn du mir sagst, wer dich beauftragt hat, die Schatten in ihrem Reich festzuhalten.«

»Das wirst du niemals erfahren«, lehnte Chromlion kopfschüttelnd ab.

Die Wunde war zu tief, um die Blutung zu stoppen und sie wieder zu schließen. Chromlion hatte es mit den Händen versucht. Aber es war zwecklos. Mit jeder Sardas wurde er schwächer und schwächer.

»Das Geheimnis nehme ich mit mir!«

»Wohin? Ins Nichts? In die Leere, in der es nie etwas gab oder geben wird?«, sagte Madhrab. »Sei nicht dumm und stur, Chromlion! Hier in den Schatten geht es um Vergebung. Denke darüber nach, wer, was und wie du zu Lebzeiten warst. Vergib, wo es etwas zu vergeben gibt, und bessere dich. Sag mir wenigstens den Grund, warum du das Tor versperrt hast.«

»Ich will aber nicht«, entgegnete Chromlion.

»Du bist wie ein kleines Kind. Soll ich etwa raten? Der dunkle Hirte, der weiße Schäfer, Tomal, Thezael, Nalkaar oder gar Sapius? Sie alle wollten eine Schattenarmee für den letzten Kampf auf Ell aufstellen. Ein verrückter Gedanke.«

»Mag sein, aber so abwegig ist er nun auch wieder nicht. Dein Verstand ist immer noch scharf, Madhrab. Aber keiner der von dir erwähnten Namen gab mir diesen Auftrag.«

»Wer könnte noch dahinterstecken?«

Chromlion antwortete nicht. Er kicherte nur, spuckte dunkles Blut und wiegte seinen Oberkörper hin und her.

»Es tut mir leid«, flüsterte Madhrab, »aber dann vernichte ich jetzt deine Seele.«

Mit einem von der Seite geschwungenen Hieb schlug er Chromlion den Kopf ab. Die winzigen Schatten sprangen auf Kopf und Körper des Gefallenen und begannen ihr grausiges Werk. Chromlion löste sich unter Schmerzens- und Angstgeschrei langsam auf.

Madhrab wandte sich den Schatten auf den Rängen zu und brüllte, so laut er konnte, damit auch der letzte Schatten in den obersten Rängen seine Worte verstand:

»Der Weg ist frei!«, rief Madhrab. »Der Wächter des Tores ist gefallen.«

»Der Weg ist frei!«, skandierten die Schatten und – Madhrab konnte es deutlich heraushören: »Madhrab … Madhrab … Madhrab … Madhrab … Madhrab …« Das hatte der Bewahrer lange nicht mehr gehört. Es erfüllte ihn mit Stolz.

Madhrab sah, wie sich Corusal, Warrhard, Gwantharab und dessen Söhne Hardhrab und Foljatin einen Weg durch die tobenden Schatten bahnten. Es sah aus, als wollten sie ihn zu seinem Sieg über Chromlion beglückwünschen. Sie kamen ihm vor, als befänden sie sich in einem Rausch – Betrunkene, die ihm im Freudentaumel entgegenwankten. Aber nicht alle Schatten waren ihm wohlgesonnen. Das konnte Madhrab an den Zischlauten und einem verärgerten Fauchen erkennen. Sein Arm war wieder nachgewachsen und fühlte sich wie neu an.

»Wir haben es geschafft«, rief Corusal. »Nein, du hast es geschafft. Wir wollen es doch richtig erzählen, sonst entstehen Legenden und Geschichten, die nicht wahr sind.«

»Was wäre daran so schlimm?«, fragte Madhrab. »Du erinnerst dich gewiss an die Zeit vor der Geburt Tomals.«

»Ja … dunkel … ich hätte diese Hora lieber für immer aus meiner Erinnerung verbannt. Willst du mir vielleicht etwas sagen?«

»Ich dachte an die beiden Geburtshelfer, die wir von Baylhard beseitigen ließen. Ich meinte nur, dass du auch nicht immer die Wahrheit gesagt hast.«

»Das ist doch etwas anderes«, protestierte Corusal, »wir mussten so handeln, um Tomal zu schützen. Das weißt du genau. Heute jedoch hast du eine große Tat vollbracht und einen schrecklichen Krieg der Schatten verhindert. Die Ehre gebührt alleine dir. Aber wir müssen uns vorsehen. Nicht alle Schatten stehen hinter uns. Einige wären lieber im Reich der Schatten geblieben, statt in den Nebel des Vergessens zu gehen. Wir sollten uns beeilen und den letzten Schritt machen. Ich will nicht riskieren, dass sich erneut jemand aufschwingt, das Tor zu verschließen.«

»Bevor ihr alle im Nebel verschwindet«, sagte Madhrab, »schuldet ihr mir noch einen Dienst. Ihr habt es versprochen, sollte ich erfolgreich sein.«

»Was meinst du?«, fragte Corusal.

»Du weißt genau, wovon ich spreche. Das Land der Tränen. Es ist meine Bestimmung.«

»Ach das …«, Corusal wirkte plötzlich sehr nachdenklich, »… hm … nun ja … ich weiß nicht genau, wie wir das anstellen sollen. Das Beste wäre, du kommst einfach mit uns in den Nebel des Vergessens.«

»Nein«, lehnte Madhrab den Vorschlag ab, »du hast mir gesagt, du wüsstest einen Weg.«

»Ich … ich … habe gelogen«, gab Corusal zu.

»Es gibt einen Weg«, mischte sich Warrhard ein.

»Nicht, Warrhard«, versuchte Corusal, den Eiskrieger zum Schweigen anzuhalten, »das ist gefährlich.«

»Sprich!«, forderte Madhrab.

»Wie Chromlion sagte: du musst noch einmal sterben. Endgültig. Es gibt nur einen Weg. Wir müssen dich auslöschen. Mit der Schattenklinge«

»Das ist Wahnsinn«, gab Corusal zu bedenken, »wenn wir Madhrab mit der Schattenklinge töten, könnte seine Seele für immer verloren sein. Das dürfen wir nicht riskieren. Er könnte im Nichts vergehen, als hätte er niemals gelebt. Jede Erinnerung wäre für immer ausgelöscht. Nicht nur in den Schatten, sondern überall. Aber selbst wenn dies ein Weg wäre, müsste Madhrab furchtbare Qualen erdulden, bevor er endgültig stirbt und sein Geist in das Land der Tränen entschwindet.«

»Es wird wohl kaum schlimmer sein, als in den Flammen der Pein zu schmoren«, sagte Madhrab. »Ich will es. Ihr seid mir diesen Dienst schuldig.«

»Madhrab, bitte …«, flehte Corusal, »komm mit uns und finde deinen Frieden im Nebel des Vergessens.«

»Nein, ich will jemanden wiedersehen. Das wird mir nur im Land der Tränen gelingen. Es ist meine einzige Hoffnung. Alles, was mir geblieben ist.«

»Elischa?« Corusal nickte verständnisvoll. »Ich verstehe. Nun gut, es ist deine Entscheidung. Ich habe dich gewarnt. Aber wenn du für ein Wiedersehen mit deiner Liebe alles riskieren willst, dann soll es so sein. Es tut mir aufrichtig leid, dass du nicht mit uns kommen wirst. Dann endet unser aller Weg an dieser Stelle. Viel Glück mein Freund. Ich wünsche dir, dass du Elischa findest.«

»Ich werde bis in alle Ewigkeit auf sie warten, wenn es sein muss«, antwortete Madhrab.

Er reichte Corusal die Schattenklinge. Der lehnte jedoch ab und deutete auf Warrhard.

»Ich kann das nicht, mein Freund«, meinte Corusal, »Warrhard ist viel besser dafür geeignet.«

»Feigling«, brummte Warrhard missgelaunt, »gib schon her. Ich mache es.«

Warrhard nahm Madhrab die Schattenklinge ab und wog sie sorgfältig in den Händen.

»Wie sollen wir dich töten?«, wollte der Eiskrieger wissen. »Ein Stich mitten ins Herz oder den Kopf abschlagen?«

»Ein Stich ins Herz sollte genügen«, schlug Madhrab vor. »Ich will nicht wie Chromlion enden und wer weiß, ob ich meinen Kopf im Land der Tränen wiederfinde. Ich glaube, ich brauche ihn noch.«

»Ihr redet darüber, als ob dies die natürlichste Sache auf Kryson wäre«, beschwerte sich Gwantharab, »aber wir verabschieden einen Freund. Den besten Freund, den wir je hatten. Es tut mir leid, dass ich das nicht immer so gesehen habe, Madhrab. Leb wohl, mein Freund. Finde dein Glück in jenem Land, das unsereinem verschlossen bleibt.«

Gwantharab umarmte seinen Freund und drückte ihn fest an sich. Seine Söhne schlossen sich ihrem Vater an.

»Wir sind dir nicht böse, Madhrab«, sagte Foljatin, »du warst immer für uns da, wenn wir dich brauchten. Du hast getan, was du tun musstest. Deine Begegnung mit dem Todsänger war nur ein Unglück.«

»Genau«, schloss sich Hardhrab an, »du warst uns wie ein Vater, auch wenn Gwantharab das vielleicht nicht gerne hört. Wir würden dich auch auf dieses Abenteuer begleiten, wenn wir könnten. Aber das geht leider nicht. Wir gehen in den Nebel des Vergessens und werden uns nicht wiedersehen.«

»Danke, meine Freunde«, sagte Madhrab.

Der Abschied fiel ihm schwer. Aber Madhrab klammerte sich an seine einzige Hoffnung, auch wenn die Chance nur gering war. Vielleicht würde er Elischa wiedersehen.

Madhrab machte seine Brust frei und präsentierte sie dem Eiskrieger. Warrhard zögerte nicht und stieß ihm das Schattenschwert mitten in die Brust. Madhrab schrie auf, als das Schwert seinen Körper durchbohrte und die winzigen Schatten auf ihn übersprangen. Er würde den Schmerz ertragen. Ein letztes Mal für seine Hoffnung. Madhrab wurde von den Schatten verzehrt. Sein letzter Blick gehörte seinen Freunden, die in den Schatten zurückblieben und ihn besorgt betrachteten. Sie konnten ihm nicht mehr helfen. Es dauerte lange, bis der Schmerz aufhörte und der Bewahrer sich im Nichts verlor.