Einsicht

Der Drache war nah. Sapius konnte Haffak Gas Vadar spüren. Gebannt blickte der Magier zum Himmel. Sein Herz schlug höher und sein Atem beschleunigte sich, wenn er nur daran dachte, den Drachen bald wiederzusehen. Aber war es richtig, Haffak Gas Vadar gerade jetzt zu rufen? Die jungen Drachen und die Tartyk brauchten Schutz. Noch waren sie nicht stark genug und mussten sich von den Rückschlägen erholen. Jede Störung konnte ihr Überleben gefährden.

Die Vision des ausgebeuteten Kontinents Ell hatte nachgelassen, obwohl sie sich, je öfter sie auftrat, allmählich in den Gedanken festsetzte und ihre Spuren hinterließ. Fetzen nur, genug jedoch, um Ideen, Bilder und Träume einer anderen Gegenwart und Zukunft in den Köpfen zu verankern.

Tarratar hatte das erwähnt. Das war die eigentliche Gefahr von Jafdabhs Visionen. Irgendwann würden sie sich verfestigen. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit, den Todeshändler ausfindig zu machen und davon zu überzeugen, das Buch herauszugeben; den Teil, den er brauchte, den Rest des Buches zu vervollständigen.

Sapius war froh, dass die Vision im Augenblick nicht präsent war, denn die Verzerrung der Wirklichkeit war irritierend. Er glaubte, bald den Verstand zu verlieren, sollte er der Veränderung noch mehrmals ausgesetzt sein.

»Er kommt!«, rief Sapius freudig.

»Natürlich kommt er«, antwortete Rodso, »Ihr seid der Yasek. Ihr befehlt, der Drache folgt. Hattet Ihr daran gezweifelt?«

»Ich weiß nicht«, Sapius schüttelte den Kopf, »ich sehe meine Verbindung mit Haffak Gas Vadar anders. Er ist uralt und mächtig, weiß so viel mehr und hat so viel mehr gesehen als ich. Ich bin dankbar, dass er mich respektiert und meine Freundschaft annimmt.«

»Ihr unterschätzt Euch«, mischte sich Prinz Vargnar ein, »Ihr habt den Drachen und Euer Volk befreit. Ihr seid ein Magier, der jeden – und ich meine wirklich jeden – vernichten könnte, der sich Euch in den Weg stellt. Eure Zweifel an Euren eigenen Fähigkeiten sind Eure Schwäche und zugleich Eure Stärke, denn sie hindern Euch daran, unüberlegt zu handeln.«

Sapius blickte nach oben und nahm einen Schatten wahr, der langsam größer wurde. Ein schwarzer Drache brach durch die Wolken. Das Sonnenlicht spiegelte sich funkelnd auf seinen Schuppen wider. Es sah aus, als wäre er von einem Lichtschimmer umgeben. Haffak Gas Vadar.

Sapius stand mit offenem Mund staunend da, als er den Flug des Drachen wie gebannt verfolgte. Obwohl er den Drachen gut kannte und schon oft gesehen hatte, wurde ihm plötzlich bewusst, wie groß und majestätisch Haffak Gas Vadar war. Er war nicht einfach nur eine fliegende Echse, die von den Drachenreitern als Reittier eingesetzt wurde. Der Flugdrache war ein einzigartiges und mächtiges Wesen. Durch und durch magisch und gefährlich. Mit seiner Unterstützung musste Sapius nur wenige Gegner fürchten.

Der Drache hatte die Flügel zu voller Größe ausgebreitet und kippte sie schräg gegen die Flugrichtung, um seinen Flug zu bremsen. Er verlor an Höhe, nahm die krallenbewehrten Füße nach vorne und setzte auf. Sein mit Dornen besetzter Schwanz verhakte sich in der Erde und brachte ihn sofort zum Stehen. Der Drache hob den mächtigen Kopf, sah sich neugierig um und blinzelte mit den Augen, als er Sapius erspähte. Er ging einige Schritte auf den Magier zu.

»Du hast mich gerufen«, sagte Haffak Gas Vadar, Rodso und Vargnar hörten die Stimme des Drachen ebenfalls, »hier bin ich.«

»Ich brauche deine Hilfe, mein Freund«, antwortete Sapius, »ich bin froh, dass du gekommen bist.«

»Das habe ich mir schon gedacht«, Haffak schien auf seine Art zu grinsen, »ein Yasek ohne seinen Drachen ist nicht viel mehr als ein Häufchen Elend.«

»Nun ja … also …«, stammelte Sapius, der Haffaks Einschätzung in dieser Hinsicht nicht teilte.

»Du siehst furchtbar aus«, unterbrach ihn der Drache, »eines Yasek nicht würdig. Wo ist deine Kleidung? Trägst du jetzt Säcke statt einer Robe und eines Mantels oder der Rüstung eines Yasek? Findest du die alten Lumpen etwa schick? Du bist schmutzig und stinkst meilenweit nach Aas und altem Sack. Ich konnte deinen Gestank schon an der Küste des Ostmeeres riechen.«

Prinz Vargnar konnte sich ein schadenfrohes Lachen nicht verkneifen. Sapius ärgerte sich über die Bemerkung des Drachen, noch viel mehr jedoch über die Reaktion des Felsgeborenen.

»Es tut mir leid, wenn ich deine Nase beleidigt habe«, fuhr Sapius den Drachen an, »aber nicht jeder von uns liegt auf der faulen Haut und kann sich den ganzen Tag lang pflegen.«

»Euer Yasek musste in letzter Zeit einiges durchmachen«, sprang Vargnar rettend ein, »er wurde ausgeraubt. Sapius ist schon froh, dass er nicht mehr nackt durch die Gegend laufen muss. Aber ich stimme Euch zu, ein Bad könnte ihm wirklich nicht schaden.«

»Du hast dich ausrauben lassen?«, prustete der Drache fassungslos. »Schäm dich, Yasek. Wie konnte dir das nur passieren?«

»Ich wurde überrascht und habe meine Gegner unterschätzt«, gab Sapius mit gesenktem Kopf zu, »sie haben mich mit Magie überrumpelt. Damit hatte ich nicht gerechnet. Das wird mir aber nicht noch einmal passieren.«

»Gut. Dann sollten wir deinen Zustand schnellstens ändern«, schlug der Drache vor.

»Ich habe andere Sorgen als meine Kleidung und ein Bad, Haffak«, meinte Sapius. »Wir müssen auf schnellstem Weg nach Tut-El-Baya und Jafdabh aufsuchen. Der ehemalige Regent und Todeshändler missbraucht das Buch der Macht.«

»Seid Ihr sicher, dass Ihr Jafdabh in Tut-El-Baya antreffen werdet?«, gab Rodso zu bedenken.

»Nein«, räumte Sapius ein, »nicht, solange seine Vision nicht wirkt. Er wird sich irgendwo – bewacht von seinen bis an die Zähne und mit magischen Artefakten bewaffneten Männern – in den Wäldern des Faraghad verstecken, oder in einer Höhle in der Nähe der Hauptstadt. Tut-El-Baya wäre viel zu gefährlich für ihn und uns, solange Thezael mit seinen Praistern und die Todsänger über die Stadt herrschen. In seinem Versteck werden wir ihn niemals finden. Wir müssen warten, bis er das Buch benutzt und seine Vision erneut heraufbeschwört. Nur dann ist Tut-El-Baya einigermaßen sicher und ich werde ihn in seinem Haus besuchen.«

»Das ist ein guter Vorschlag«, nickte Vargnar.

Der Drache wog den Schädel nachdenklich hin und her. Er schien von Sapius’ Plänen nicht überzeugt zu sein.

»Du bist nicht einverstanden?«, fragte Sapius.

»Das ist es nicht, was mich bedrückt. Du bist der Yasek und gibst den Weg und das Ziel vor. Die Vision, von der du sprichst«, antwortete Haffak Gas Vadar zögerlich, »ich habe sie auch gesehen und am eigenen Leib gespürt. Ein schrecklicher Frevel gegen die Natur und die Magie. Sie schwächt mich und beeinträchtigt meinen Flug. Ich weiß nicht, ob ich es bis nach Tut-El-Baya schaffe. Ich kann nur einen von euch auf dem Rücken tragen. Wir müssen vorsichtig sein und fliegen, solange die Veränderung nicht wirkt.«

»Gut, dann fliege ich alleine«, sagte Sapius.

»Das ist gefährlich. Ihr könntet den Rachuren oder den Praistern in die Hände fallen«, meinte Rodso.

»Wir werden nicht bis in die Stadt fliegen und ich habe immer noch meine Magie«, sagte Sapius. »Haffak Gas Vadar wird mich an einer sicheren Stelle vor den Toren Tut-El-Bayas absetzen und dort auf meine Rückkehr warten. Sobald Jafdabh seine Vision erneuert, werde ich durch die Tore gehen und ihn aufsuchen.«

»Und das alles wegen dieses verdammten Buchs«, seufzte der Drache. »Ich hatte euch vor Tarratars Spiel und der Suche nach dem Buch gewarnt.«

»Ich weiß, Haffak. Aber ich habe mich entschieden. Wir werden das zu Ende bringen.«

»Natürlich! Ich hatte nichts anderes von dir erwartet. Aber bevor wir fliegen, muss ich dir und den anderen noch etwas sagen. Du hast mich noch nicht danach gefragt, wie es um die Drachen und die Tartyk steht.«

»Oh … das … ich hätte dich gleich gefragt«, antwortete Sapius peinlich berührt, »wie geht es den Drachen und den Tartyk? Ist Demira wohlauf?«

Der Drache legte den Schädel auf die Vorderpranken und musterte den Magier eindringlich mit einem Auge. Sapius trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Schließlich atmete der Drache tief ein und begann zu sprechen.

»Demira vermisst dich. Alle vermissen den Yasek. Dein Volk und die Drachen brauchen deine Führung, Sapius. Ich gab mein Bestes. Aber ich kann den Yasek nicht ersetzen. Dennoch wachsen und gedeihen die Drachen, und die Tartyk erholen sich von den Qualen, die sie in den Brutstätten erdulden mussten. Demira hat dir eine Tochter geboren, hast du das nicht gefühlt?«

»Was? Nein!« Sapius horchte auf, das konnte er kaum glauben.

»Und sie wird bald schon ein zweites Kind nach Kryson bringen«, meinte der Drache.

»Aber … aber wie ist das möglich? Wer ist der Vater?« In Sapius keimte plötzlich Eifersucht auf.

»Manchmal überraschst du mich, Sapius«, der Drache lächelte weise, »du bist so … unbedarft. Es wird dein Kind sein. Natürlich! Demira würde mit keinem anderen außer dir das Lager teilen. Das solltest du wissen und ihr vertrauen. Der Samen der Tartyk ist stark und lebt lange. Auch das sollte dir bekannt sein. Er überlebt sogar eine Schwangerschaft und die Geburt von Geschwistern, wenn es die Mutter so will.«

»Ich … ich … bin sprachlos.«

»Demira gibt uns Hoffnung. Sie ist die Mutter einer neuen Generation von Tartyk und schreitet tapfer voran, ohne ihren Gemahl an der Seite.« Der tadelnde Blick des Drachen ließ Sapius schaudern. »Folgen die anderen Tartyk ihrem Beispiel, werden die Drachenreiter voller Zuversicht in die Zukunft blicken und erblühen.«

»Sieh an, sieh an. Sapius ist Vater geworden«, spottete Vargnar, »wer hätte das gedacht. Ich beglückwünsche Euch, auch wenn Ihr das Kind noch nicht gesehen habt.«

»Danke. Es erfüllt mich mit Scham und Stolz zugleich«, sagte Sapius. »Ich kann mein Glück kaum fassen. Am liebsten würde ich sofort losstürmen, Gemahlin und Tochter in meine Arme nehmen und vor Freude weinen. Aber das kann ich nicht.«

»Die Suche nach dem Buch der Macht hält dich zurück«, maulte Haffak Gas Vadar.

»Ja«, gab Sapius mit Bedauern zu, »erst wenn wir das Buch in Sicherheit wissen, kann ich zurückkehren und meine Familie sehen.«

»Dann lass mich dir noch eines sagen und euch alle warnen, bevor wir nach Tut-El-Baya aufbrechen«, fügte der Drache hinzu: »Wir Drachen träumen manchmal von der Zukunft. Unklar meist und rätselhaft verschleiert, doch besorgniserregend genug. Je stärker die Gefahr für unser Überleben, desto intensiver und häufiger werden unsere Träume. Ich habe geträumt. In letzter Zeit sehr oft sogar. Das Ende ist nah. Ell verändert sich. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit. In meinen Gedanken habe ich mit der Mutter aller Drachen gesprochen. Sie ist sehr weise und weiß mehr als wir anderen. Und sie teilt meine Sorge. Wir müssen handeln, wenn wir überleben wollen. Alles hängt mit dem Gleichgewicht und dem Buch der Macht zusammen. Wir müssen unsere Völker und die Drachen in Sicherheit bringen. Sie können nicht auf Ell bleiben.«

»Die Felsgeborenen werden Ell nicht verlassen. Wir gehen in den Stein zurück, sollte uns das Schicksal dazu zwingen. Wir kämpfen bis zum Schluss. Wird es einen Kampf geben?«, wollte Vargnar wissen.

»Das weiß ich nicht. Ich sah Tod und Verderben. Die Ursache konnte ich nicht erkennen. Ihr solltet Euch darauf vorbereiten«, meinte der Drache.

»Dann werden Rodso und ich zu meinem Vater gehen, während Ihr nach Tut-El-Baya reist. Wir werden eine Armee aus Golems und Eisprinzessinnen erschaffen. Wir treffen uns auf Kartak wieder, Sapius«, sagte Vargnar.

»Einverstanden«, stimmte Sapius zu.

Jafdabhs Vision ließ auf sich warten. Das war ein Glück für Sapius und den Drachen. Sie verabschiedeten sich von den Gefährten und machten sich auf den Weg nach Tut-El-Baya. Der Magier genoss das Gefühl, sich endlich wieder auf dem Rücken von Haffak Gas Vadar hoch durch die Lüfte tragen zu lassen. Sapius wusste, die Reise in die Hauptstadt würde leider viel zu kurz sein, um sich wie ein echter Drachenreiter zu fühlen.

*

Die Fährte war frisch. Das Rudel war auf der Jagd. Aber es war nicht wie an anderen Tagen nur irgendeine Jagd nach Beute, um sich die Bäuche mit Fleisch vollzuschlagen und satt zu werden. Die Baumwölfe waren aufgebracht. Sie waren in ihrem Zorn nur schwer zu kontrollieren und zurückzuhalten. Ihr Hass saß tief und sie sannen nach Rache.

Der Krolak hatte die Veränderung nicht erst nach seiner Rückkehr in das Rudel gespürt. Er wusste sofort, dass etwas nicht stimmte.

Baijosto hatte zunächst gemeinsam mit Belrod die Siedlung der Naiki besucht. Dort hatten sie Solras und dem inneren Rat der Naiki von ihren Erlebnissen auf der Suche nach dem Buch der Macht berichtet. Solras hatte besonders aufmerksam zugehört, überaus besorgt gewirkt und auf eigenartige Weise auch abwesend. Sie lauschte in den Wald hinein und hörte offenbar etwas, was die anderen noch nicht wahrgenommen hatten. Eine Bedrohung, die sie selbst noch nicht begreifen konnte.

Kaum waren Baijosto und Belrod in der Siedlung angekommen, mussten sie sich mit einer unerwarteten Gefahr auseinandersetzen. Der Wald Faraghad lag plötzlich und völlig unerwartet im Sterben. Das Herz des Waldes schrie laut um Hilfe. Täglich kamen die Holzfällertrupps der Nno-bei-Klan näher an die Siedlung heran, holzten mit ihren Sägen, Äxten und mechanischen Monstern große Waldflächen mit uralten Bäumen ab. Die Tiere flohen in Panik in das dunkle Herz des Waldes.

Aber wie sollten die Naiki ihren Wald, ihre einzige Zufluchtstätte retten? Es gab keine Möglichkeit, die Klan aufzuhalten. Ihre Zerstörungswut kannte keine Grenzen. Überall wo sie hinkamen, legten sie Feuer und verbrannten alles, was sie nicht gebrauchen konnten oder mit ihren eisernen, dröhnenden Drachen gleich abtransportierten. Danach rissen sie den Boden auf, gruben ihn um, bis sie auf Wasser stießen, stampften alles klein und spuckten die unbrauchbaren Reste wieder aus.

Doch dann war die Gefahr verflogen und alles war wie zuvor. Als wäre nichts geschehen. Selbst die Erinnerungen an das entsetzliche Grauen verflogen, als hätte es sie nie gegeben. Lediglich albtraumhafte Spuren blieben in den Gedanken und Träumen zurück. Die Naiki waren verwirrt. Baijosto wollte der Sache auf den Grund gehen und schloss sich dem Rudel der Baumwölfe wieder an. Er merkte rasch, dass die Baumwölfe ebenso von den Veränderungen betroffen waren wie die Naiki. Die Raubtiere konnten jedoch überhaupt nicht mit dem ständigen Wechsel zwischen Zerstörung ihres Waldes und normalem Leben umgehen. In der Gestalt des Krolaks war Baijosto in der Lage, wie die Baumwölfe zu empfinden. Er verstand ihre unbändige Wut, denn sie konnten nicht vergessen. In ihren Köpfen setzten sich die Bilder der Zerstörung fest und der Schrecken blieb. Es gab kein Vergessen. So jagten sie an manchen Tagen rastlos und wütend durch den Wald. Ihre Beute war nicht mehr als ein Geist, der sich hinter einem nur scheinbar heilen Wald versteckte und sich jederzeit zeigen konnte, um die Vernichtung des Faraghad fortzusetzen. An den Tagen, an denen er Gestalt annahm, hatte das Rudel ein klares Ziel. Sie hetzten die Holzfällertrupps der Nno-bei-Klan.

Es war ein harter Kampf. Die Holzfäller waren gut geschützt. Sie versteckten sich hinter dicken Platten und Monstern aus Eisen, die sich wie Raupen auf Ketten über den Boden bewegten, tiefe Narben hinterließen und einen schrecklichen Lärm verursachten, der den Baumwölfen in den empfindlichen Ohren schmerzte. Es war schwierig, die Klan aus ihren Monstern zu zerren und zu zerfleischen. Zu allem Überfluss wurden sie von feuerspuckenden und mit Eisen gepanzerten Flugdrachen aus der Luft unterstützt, die einen noch schrecklicheren Lärm wie ein metallisches Kreischen von sich gaben. Dort wo sie auftauchten, verpestete ihr Rauch die Luft. Sie wurden von Klan gesteuert.

Aber das Rudel der Baumwölfe war groß und stark, nach der Zahl seiner Mitglieder das größte Rudel, das es je im Faraghad-Wald gegeben hatte. Unter der Führung des Krolak waren sie mächtig. Sie konnten zuschlagen, wann und wo sie wollten. Alleine ihre Masse machte sie für die Nno-bei-Klan gefährlich und unberechenbar.

Baijosto wusste, sie konnten nur erfolgreich sein, wenn sie im Verband jagten und rasch neue Taktiken anwendeten. Sie mussten die Frevler überraschen. Bald lernten sie, an welchen Orten die Holzfällertrupps für gewöhnlich auftauchten und wie sie sich verhielten. Es war eigenartig.

Nach einem gewöhnlichen Tag ohne Zwischenfälle tauchten sie am nächsten Tag exakt an den Stellen wieder auf, an denen sie zuvor begonnen hatten, den Wald zu roden.

Baijosto stellte fest, dass sie in ihrer Arbeit keine Fortschritte machten. Die Veränderungen dauerten zwar unterschiedlich lang, doch, die Nno-bei-Klan begannen immer wieder von vorne, als wären sie in einem sich ständig wiederholenden Zyklus gefangen.

Gleiches galt auch für die Jagd des Rudels. Anfangs erlitten die Baumwölfe bei ihren Angriffen auf Holzfäller der Klan noch große Verluste, wurden von Äxten und Sägen erschlagen und von den Monstern überrollt und zerquetscht. Oder sie wurden verbrannt, sobald ihnen die Monster zu Land und aus der Luft aus heiß glühenden Rohren Flammen entgegenschleuderten. Der Kampf schien aussichtslos.

Doch plötzlich war er vorüber und die gefallenen Baumwölfe weilten schon am nächsten Tag wieder unter dem Rudel, als wäre überhaupt nichts geschehen. Nur die Erinnerungen an den Krieg und den eigenen Tod waren geblieben.

Die Baumwölfe änderten bald ihre Taktik und hatten damit Erfolg. Die Holzfäller starben in einem Massaker aus Blut, Schreien und Tränen. Das Rudel kannte keine Gnade. Sie zerfetzten ihre Feinde zwischen ihren Klauen und Zähnen. Niemand entkam.

Aber genau wie die in der Schlacht getöteten Baumwölfe standen auch die getöteten Holzfäller wieder auf und begannen an einem anderen Tag erneut mit der Zerstörung des Waldes.

An der Seite des Krolak jagten seine Söhne und Töchter. Sie waren nicht wie Baijosto. Der Fluch hatte sie fest im Griff. Zeit ihres Lebens hatten sie in der bestialischen Gestalt eines Baumwolfs verbracht. Ihr Wille war nicht stark genug, sich in einen Naiki zu wandeln, obwohl ihr Körper zu einer Verwandlung in der Lage war. Das Raubtier beherrschte ihren Geist. Sie kannten kein anderes Leben. Baijosto hatte immer wieder versucht, ihnen die Verwandlung ihrer Gestalt beizubringen. Ohne Erfolg.

Der stärkste und größte unter ihnen hatte ein graubraunes, zotteliges Fell. Baijosto wusste, dass sein Sohn ihn eines Tages zu einem Kampf um die Führung über das Rudel herausfordern und besiegen würde. Das würde der Tag seines Todes werden. Die Baumwölfe würden den Verlierer zerfleischen, wenn er nicht schon dem Biss seines Sohnes zum Opfer gefallen wäre. Aber noch war es nicht so weit. Baijosto war klüger und erfahrener als seine Kinder. Die Baumwölfe folgten ihm. Niemand zweifelte seine Stellung als Anführer des Rudels an.

Baijosto konnte die Nno-bei-Klan bereits riechen und ihre lärmenden Monster hören. Sie mussten ganz in der Nähe sein. Er stieß ein kehliges Knurren aus und verlangsamte die Geschwindigkeit, in der sie über die Baumwipfel hetzten. Das Zeichen für die Baumwölfe, dass sie sich der Beute näherten und sich leise und vorsichtig verhalten mussten.

Heute war wieder ein Tag der Veränderung, an welchem die Holzfällertrupps den Wald zerstörten. Die Ausbeutung würde wie an den letzten Tagen zuvor ein blutiges Ende nehmen. Doch Baijosto hatte etwas anderes vor. Er wollte den Zyklus endlich durchbrechen. Die Baumwölfe würden sich nur schwer davon überzeugen lassen, dass sie die Frevler nicht töten durften. Es musste ihm gelingen, den Blut- und Rachedurst seines Rudels zu zügeln. Notfalls mit Gewalt.

Er hatte vor, die Holzfäller so lange festzuhalten, bis die Veränderung endete und die Normalität in den Wald zurückkehrte. Doch was war wirklich und was falsch? Der Naiki hatte nur ein Gefühl. Die Zerstörung des Waldes konnte nur ein böser Albtraum sein.

Baijosto war gespannt darauf, was geschehen würde. Er nahm an, dass erst der Tod den Nno-bei-Klan die Möglichkeit gab, mit jedem neuen Zyklus von vorne zu beginnen. Ließ er sie festhalten, würden sie sich der Rückkehr der Wirklichkeit nicht mehr entziehen können. Erst wenn der Wald wieder unangetastet war, wollte er sie von den Baumwölfen töten lassen. Starben sie in der Wirklichkeit, kehrten sie nicht mehr aus dem Reich der Schatten zurück, dachte er. Eines war ihm bei seinen Beobachtungen klar geworden. Der meist gleichbleibende Ablauf wies doch jedes Mal leichte Unterschiede auf. Es waren nur Kleinigkeiten, die kaum auffielen, einem erfahrenen Jäger wie Baijosto entgingen sie jedoch nicht. Die Veränderungen waren keine Wiederholung, kein Zeitsprung zurück in die Vergangenheit. Sie geschahen immer wieder aufs Neue und die Zeit schritt unaufhaltsam voran.

*

Der Drache musste landen. Sein Flug war zu unsicher geworden. Er hatte Mühe, sich mit Sapius auf dem Rücken in der Luft zu halten und den zahlreichen eisernen Monstern der Klan auszuweichen. Sie schienen ihn nicht einmal wahrzunehmen, wenn sie, dicke schwarze Rauchfahnen hinter sich herziehend, in hoher Geschwindigkeit an ihm vorbeidonnerten. Jafdabhs Vision war zurückgekehrt. Sapius hatte das Gefühl, als wäre sie jedes Mal ein kleines Stück stärker als zuvor. Sie würden warten müssen, bis sich die Vision des Todeshändlers wieder verflüchtigte.

»Wie ist ihr Name?«, wollte Sapius wissen, nachdem sie gelandet waren und sich ein sicheres Versteck gesucht hatten.

»Wen meinst du?«

»Meine Tochter! Wie heißt sie? Demira hat ihr doch bestimmt einen Namen gegeben.«

»Ach … du meinst das kleine Mädchen mit den schwarzen Locken und dem unwiderstehlichen Lachen einer wunderschönen Prinzessin. Man kann gar nicht glauben, dass sie von dir abstammt«, antwortete der Drache, »sie wird Jennfa gerufen.«

»Jennfa? Das hört sich schön an. Wie kam Demira auf den Namen? Es ist kein traditioneller Name der Tartyk.«

»Was fragst du mich das? Frag deine Gemahlin. Sie wird sich schon etwas dabei gedacht haben. Wahrscheinlich gefiel ihr einfach der Klang des Namens. Und wie du weißt, bedeutet »Fa« Glück und »Jenn« im weitesten Sinne Drache in der Sprache der Altvorderen. Die kleine Jennfa ist also ein Glücksdrache.«

»Das ist … da wäre ich niemals drauf gekommen … ich bin gerührt«, schniefte Sapius und wischte sich eine Träne aus dem Auge, »möchtest du mir von ihr erzählen?«

»Du interessierst dich also für sie?«, fragte Haffak Gas Vadar.

»Aber natürlich … sie ist doch meine Tochter! Was denkst du nur von mir«, empörte sich Sapius.

»Ich dachte, das Buch sei dir wichtiger. Aber gut«, seufzte der Drache, »wie ich schon sagte, sie sieht dir überhaupt nicht ähnlich. Ein großes Glück bei einem so hässlichen Vater.«

»Na, vielen Dank auch, Haffak«, beschwerte sich Sapius, »das wolltest du schon immer mal loswerden, nicht wahr?«

»Jennfa ist ein umwerfendes Mädchen«, fuhr der Drache fort, »alle lieben sie. Sie ist die Hoffnung der Tartyk. Das erste neue Leben bei den Drachenreitern seit der Befreiung aus der Sklaverei. Sie ist immer fröhlich und lacht viel. Sie sprüht vor Leben und Energie. Ihr Tatendrang ist unglaublich, dabei hat sie gerade erst das Laufen gelernt. Und was macht sie mit ihren ersten Schritten? Sie geht auf einen der jungen Drachen zu und will sofort auf seinen Rücken klettern. Eines Tages wird sie eine großartige Drachenreiterin werden, Sapius. Die Drachen haben bereits jetzt mit ihr Verbindung aufgenommen, obwohl sie noch so klein ist.«

»Ich bin froh, das zu hören. Es macht mich sehr stolz. Ich kann es kaum abwarten, sie in meine Arme zu nehmen. Versprich mir eines, Haffak. Sobald wir in Kartak angekommen sind, kümmerst du dich um die Sicherheit der Drachenreiter. Bring Demira, Jennfa und die anderen weg von Ell.«

»Das hätte ich dir auch vorgeschlagen. Wir werden uns allerdings überlegen müssen, wie wir nach Fee zur Mutter aller Drachen kommen. Dort wären die Tartyk in Sicherheit. Die jungen Drachen sind noch nicht stark genug für einen Flug über das Meer. Ihre Kräfte reichen nicht. Ich kann nicht alle Drachenreiter nach Fee tragen. Das würde zu lange dauern und auch meine Kräfte wären bald erschöpft.«

Sapius überlegte, wie die Tartyk nach Fee gelangen könnten. Der Seeweg über das Ostmeer war lang, wahrscheinlich zu lang. Die Drachenreiter kämen nicht schnell genug voran. Sie würden nicht genügend Vorräte an Bord nehmen können. Die Tartyk müssten verhungern und verdursten. Da hatte Sapius plötzlich einen Einfall.

»Bring unser Volk an die Küste des Ostmeeres. Sie sollen für eine Weile am Fuß des Südgebirges siedeln und ein großes Schiff bauen, auf dem alle ausreichend Platz finden. Das Oberdeck muss lang und breit genug sein, damit sich ein Drache darauf ausruhen kann. Stellt viele Seile her. Sie müssen lang und stark sein.«

»Was hast du vor, Sapius?«, fragte Haffak Gas Vadar neugierig.

»Du wirst fliegen und das Schiff hinter dir herziehen. Die jungen Drachen werden dir dabei nach Kräften helfen und sich während des Fluges abwechseln. Vier ziehen das Schiff gemeinsam mit dir, während sich einer auf dem Schiff ausruht und neue Kräfte sammelt.«

»Das könnte tatsächlich gehen«, meinte der Drache. »Du hast sehr gute Ideen, mein Freund. Bauen wir das Deck größer, könnten sich zwei Drachen gleichzeitig ausruhen. Das wäre sicherer. Ich weiß nicht, was wir den jungen Drachen bereits zutrauen können.«

»Gewiss, aber Eile ist geboten. Die Tartyk sollen sich sofort an den Bau des Schiffes machen, sobald sie an der Küste angekommen sind.«

Der Drache nickte mit seinem mächtigen Schädel. Sapius war zufrieden, seine Familie und sein Volk bald in Sicherheit zu wissen.

Jafdabhs Vision hielt länger an als sonst. Sapius und Haffak Gas Vadar merkten sofort, als sie wieder zu Ende war. Alles um sie herum wurde plötzlich friedlich und still. Es war Zeit, nach Tut-El-Baya aufzubrechen. Sapius kletterte auf den Rücken des Drachen, der sofort seine Flügel ausbreitete und sich in die Lüfte schwang. Dieses Mal würden sie den Flug gewiss ohne Unterbrechung schaffen. Es war nicht mehr weit bis zu den Toren der Hauptstadt.

*

Das Rudel pirschte sich an die eisernen Monster der Holzfällertrupps heran und lauerte hinter Büschen und in den Baumwipfeln auf das Zeichen ihres Anführers. Sie waren bestens aufeinander abgestimmt. Jede Bestie wusste, welche Aufgabe sie erfüllen musste, um dem Rudel zum Erfolg zu verhelfen. Doch die Schlacht mit den Nno-bei-Klan verlief niemals gleich. Die Baumwölfe hatten es zwar geschafft, bei den letzten Kämpfen die Verluste in ihren eigenen Reihen zu verringern, aber die Klan schienen ebenfalls mit jeder Schlacht hinzuzulernen. So hatten sie bei der letzten Auseinandersetzung zum ersten Mal verbesserte Galwaas mitgeführt. Zum Glück waren sie mit den neuen Waffen noch nicht sonderlich gut vertraut gewesen.

Es war kalt. Baijosto konnte seinen eigenen Atem und den seiner Gefährten sehen. Er kletterte lautlos von einem Baum herab und legte sich, mit dem rechten Ohr auf den Boden gepresst, hinter einen dichten Busch auf die Lauer. Die Baumwölfe konnten ihre Beute noch nicht sehen. Er wollte lauschen, wie weit der Feind noch entfernt war und sichergehen, dass die Baumwölfe in keine Falle liefen.

Die Nno-bei-Klan waren deutlich zu hören. Der Holzfällertrupp musste sich in einer Entfernung von vierhundert oder fünfhundert Fuß befinden, genau dort, wo ihn Baijosto erwartet hatte. Aber der Krolak vernahm noch etwas anderes, als er am Boden horchte.

Das Flüstern überraschte und irritierte ihn. Er kannte die Stimme bereits, die aus den Steinen zu ihm sprach. Die Streiter wurden gerufen.

Was war geschehen? War die Suche nach dem Buch der Macht noch nicht beendet? Die Stimme forderte ihn und Belrod auf, sich nach Kartak aufzumachen, zur sagenumwobenen Insel der Nno-bei-Maya. Plötzlich wurde Baijosto einiges klar. Die Veränderungen, gegen die das Rudel und er kämpften, waren auf das Buch der Macht zurückzuführen. Er hätte es sich denken können. Irgendjemand missbrauchte die Macht des Buches und war für die Ereignisse auf Ell verantwortlich. Das war also der Weg, die Zerstörung ihrer Welt zu beenden. Die Streiter mussten den Rest des Buches finden und die Teile zusammensetzen. So hatte es ihm die Stimme aus den Steinen zugeflüstert.

Baijosto musste zur Siedlung der Naiki und Belrod benachrichtigen. Sie mussten so schnell wie möglich aufbrechen und zur Zusammenkunft der Streiter nach Kartak reisen.

Sollte er die Jagd abbrechen und das Rudel im Stich lassen? Sie würden die Holzfäller aus den Monstern zerren und zerfleischen, wie sie es zuletzt getan hatten. Aber er hatte kein gutes Gefühl dabei. Beeilten sie sich, würde das Gemetzel rasch beendet sein. So viel Zeit musste sein.

Baijosto gab das Zeichen zum Angriff: das donnernde und durchdringende Grollen einer tödlichen Bestie, das die Bäume und Büsche in der Umgebung erbeben ließ. Die Holzfällertrupps würden den Krolak hören und vor Angst zittern. Das war gut, dachte Baijosto. Angst lähmte ihre Sinne.

Die Baumwölfe stürzten sich heulend, knurrend und zähnefletschend aus den Baumwipfeln und Büschen auf ihre Beute. Einige Holzfäller hatten sich aus dem Schutz ihrer Eisenmonster hervorgewagt und waren gerade dabei, die Bäume in ihrer Umgebung mit Äxten und Sägen zu bearbeiten. Mit ihnen hatten die Baumwölfe leichtes Spiel. Baijosto packte einen Holzfäller von hinten, indem er ihm die Zähne in den Nacken schlug und ihm mit den Klauen den Kopf abriss. Das warme Blut spritzte aus dem Hals seines Opfers und besudelte sein Fell. Er ließ von seiner Beute ab und drehte sich, um das nächste Opfer anzugreifen. So hatte er es auch an den anderen Tagen getan. Seinen Plan, die Holzfäller festzuhalten, hatte er wieder aufgegeben. Er wusste jetzt, dass es nichts nutzen würde, solange die Streiter nicht das Buch der Macht gefunden und zusammengesetzt hatten. Sollten sich die Baumwölfe ruhig austoben und satt fressen.

Plötzlich tauchten aus einem der Monster drei schwer bewaffnete Klan auf. Sie trugen Galwaas mit mehreren, unter- und nebeneinander angeordneten Läufen mit sich und feuerten aus allen Rohren auf das Rudel. Baijosto sprang in einem gewaltigen Satz zur Seite, rollte sich ab und brachte sich hinter dem dicken Stamm eines Baums in Sicherheit. Der Krolak hoffte, dass die Kugeln nicht durch den Baum schlugen und ihn verletzten.

Er brauchte Zeit, die Lage zu überblicken. Wie war das möglich? Hatten die Nno-bei-Klan aus ihren Fehlern der vorangegangenen Schlachten gelernt wie die Baumwölfe? War es denkbar, dass auch bei den Klan jedes Mal eine Erinnerung an die Veränderung zurückblieb?

Ein eiserner Drache landete mit Getöse auf der gerodeten Lichtung. Baijosto erkannte sofort, dass es sich nicht um ein lebendiges Wesen handelte. Es war ein gepanzertes Luftschiff, das von Klans gesteuert wurde und in dessen Bauch Krieger und Waffen transportiert wurden. Er hatte so etwas noch nie zuvor aus der Nähe gesehen. Weitere Männer sprangen heraus und begannen sofort, auf die Baumwölfe zu schießen.

Der Krolak musste mit ansehen, wie die Tiere seines Rudels von den Kugeln geradezu in Stücke gerissen wurden. Die Waffen der Klan waren verheerend. Das Rudel war nicht schnell genug, sich dem massiven Beschuss zu entziehen.

Der Krolak brüllte aus Leibeskräften. Ein markerschütterndes Gebrüll, das sogar das Feuergefecht der Galwaas übertönte. Alle – Baumwölfe wie Klan – starrten in seine Richtung. Er hatte dem Rudel den Befehl zum Rückzug erteilt. Für einen Augenblick war es totenstill auf der Lichtung. Die Klan verharrten in einer Starre, als wären sie Steinsäulen. Blankes Entsetzen stahl sich in die Gesichter der Holzfäller und der Soldaten, als sie den Krolak erblickten. Baijosto konnte sich vorstellen, was sie über ihn dachten: Wer so brüllen konnte wie er, musste gefährlich sein. Er war deutlich größer und muskulöser als ein normaler Baumwolf. Seine Haut war fester und dicker. Es konnte gut sein, dass ihn die Geschosse aus den Galwaas der Klan nicht ernsthaft verletzten. Sicher war er allerdings nicht und er verspürte keinerlei Lust dazu, es auszuprobieren. Die Demonstration seiner Macht war ihm jedoch gelungen.

Langsam schlich er um den Baumstamm herum und zeigte sich seinen Feinden in voller Größe. Er fletschte die Zähne und knurrte bedrohlich. Seine Augen funkelten dunkel und gefährlich. Die Zähne des Krolak waren gelb und an manchen Stellen mit einem braunen Belag überzogen. Sie waren länger und schärfer als die jedes anderen Baumwolfs. Seine Klauen waren wie Messer.

Baijosto hatte eine Wut im Bauch. Er würde nicht zulassen, dass sie sein Rudel abschlachteten. Auch nicht in einer Vision oder einem Albtraum. Auf sein Zeichen gesellten sich einer seiner Söhne und eine seiner Töchter an seine Seite. Beide standen ihm in Größe und Gefährlichkeit nur wenig nach. Baijosto konnte die Angst bei seinen Gegnern riechen. Das war ein Vorteil, den er für sich und das Rudel nutzen konnte.

»Erschießt ihn!«, schrie plötzlich einer der Klansoldaten und zeigte dabei auf Baijosto. »Erschießt sie alle!«

Die Klan erwachten aus der Erstarrung, als hätte der Ruf ihres Kameraden sie wachgerüttelt. Baijosto warf den Kopf in den Nacken, holte Luft und brüllte erneut, bis sein Gebrüll in ein tiefes Knurren überging. Diesesmal ließen sich die Nno-bei-Klan nicht beeindrucken. Fest entschlossen und mit hartem Griff zogen sie den Abzug ihrer Galwaas durch. Es hagelte Geschosse, die dem Krolak schmerzhaft an den Ohren vorbeipfiffen und seinen Pelz versengten, bis er schließlich getroffen wurde. Die Wucht, mit der die Geschosse seinen Körper trafen, warf ihn nach hinten.

Baijosto heulte auf, stürzte zu Boden, wälzte und wand sich hin und her. Jeder Treffer schmerzte. Die Klan jagten dem Krolak eine Salve nach der anderen in den Leib, pumpten ihn mit ihrem bleiernen Gift voll. Er verlor die Kontrolle über seinen Geist und seinen Körper. Die letzten Zuckungen durchzogen seine Nerven. Baijosto verlor das Bewusstsein und starb in einer Welt, die er nicht für wirklich hielt.

*

Haffak Gas Vadar fand einen Ort, an dem er und Sapius unbemerkt unweit der Stadtmauern von Tut-El-Bay landen konnten. Er hatte es gerade noch rechtzeitig geschafft, bevor die nächste Vision Jafdabhs begann.

»Warte auf mich«, sagte Sapius, »ich bin bald zurück.«

»Oder auch nicht«, erwiderte Haffak Gas Vadar.

»Es wird schon gut gehen«, beruhigte Sapius den Drachen, »ich würde mich schlechter fühlen, wenn ich Thezael oder den Todsängern gegenübertreten müsste.«

»Vielleicht musst du das, sollte Jafdabhs Vision früher enden als angenommen. Und sie wird enden, sobald du ihn überzeugen konntest, dir das Buch wiederzugeben und das Geschehene ungeschehen zu machen.«

»Mach dir keine Sorgen um mich. Sollte es zu schlimm werden oder sollte ich in ernsthafte Gefahr geraten, rufe ich dich.«

»Aber nicht, wenn die Todsänger ihren Gesang anstimmen. In diesem Fall werde ich dir nicht helfen.«

»Ich bin der Yasek! Schon vergessen?«

»Du bist der Yasek!«, antwortete der Drache. »Ich komme, solltest du mich brauchen, egal welche Mühen und Ängste auf mich warten sollten. Gleichgültig, ob ich mein Leben lasse oder das meiner Freunde gefährde. Der Yasek befiehlt, der Drache springt.«

»Du weißt, dass ich nicht so denke.«

»Ich weiß«, nickte der Drache, »sonst wärst du nicht mein Freund, sondern nur ein Yasek, wie es dein Vater Calicalar war. Er befahl und erwartete unbedingten Gehorsam. Das war nicht immer leicht. Aber es war klar und eindeutig. Er war ein gerechter und guter Yasek. Es gab keinen Grund, an seinen Befehlen zu zweifeln.«

»Was willst du damit sagen? Zweifelst du etwa meine Befehle an?«

»Du erteilst meist keine Befehle, und wenn du es doch einmal tust, vermittelst du mir das Gefühl, als müsstest du dich dafür noch entschuldigen. In anderen Fällen hinterfrage ich deine Entscheidung, die erst später zu einem Befehl wird. Deine Beweggründe für eine bestimmte Entscheidung bleiben den meisten von uns oft verborgen. Manches erscheint mir unsinnig und aus einer Uneinsichtigkeit oder Sturheit geboren.«

»Aha …«, sagte Sapius, »dann vertraust du mir also nicht.«

»Sapius, du bist der Yasek. Nur weil ich nicht alles verstehe oder manches für unsinnig halte, bedeutet das nicht, dass es nicht richtig wäre. Auch ich kann mich irren … wenn auch nur selten.«

»Ich gehe jetzt durch das Stadttor und suche Jafdabh.« Sapius stapfte los.

»Glaubst du, sie werden dich in diesem Aufzug zu Jafdabh vorlassen?«, rief ihm der Drache in Gedanken hinterher. »Einen zum Himmel stinkenden Bettler, der bei einem König vorsprechen will?«

»Er wird mich anhören«, konterte Sapius fest entschlossen, »darauf kannst du dich verlassen.«

Sapius wanderte eine Weile entlang der Stadtmauer. Schließlich kam er zum Tor, sah sich kurz nach allen Seiten um und ging einfach hindurch.

Er schlüpfte unbemerkt in die Gassen der Stadt und tauchte im Trubel zahlreicher Klan unter, die sich schimpfend und drängelnd durch die Straßen der Stadt, die vielen verwinkelten Gassen und über den Markt schoben. Manche Einwohner versuchten, Abstand zu Sapius zu halten, was in dem Gedränge nicht leicht war. Sie rümpften die Nase und schimpften über die vielen Bettler. Der Magier ließ sich mit der Masse treiben, bis er schließlich auf dem Marktplatz angelangt war.

»Es werden jeden Tag mehr«, hatte eine Frau hinter Sapius zu einer Bekannten gesagt. Und eine andere beschwerte sich: »Dieses stinkend faule Pack sollte aus der Stadt vertrieben und endlich zur Arbeit gezwungen werden. Es ist eine Schande. Warum tut Jafdabh nichts dagegen? Glaubt er vielleicht, wir füttern sie auch noch durch?«

Tatsächlich trieben sich auffallend viele Bettler in den Straßen herum. An vielen Hauseingängen und an den Ecken hielten sie die Hand auf und flehten um eine milde Gabe. Auf dem Marktplatz traten sie sich gegenseitig auf die Füße und säumten Bettler an Bettler den Rand des Marktes, als ob sie diesen in einem dichten Ring eingekreist hätten. Sapius fragte einen Bettler, warum sie sich so zahlreich ausgerechnet auf dem Markt versammelten.

»Halt dein Maul und verschwinde«, fauchte der Bettler, »hier ist kein Platz mehr für dich. Alles ausgebucht. Du siehst doch, dass bereits zu viele von uns hier sind. Aber solltest du in einigen Wochen einen Platz mieten wollen, dann geh zu Tadder. Du findest ihn in der Marktschenke. Er vermietet die aussichtsreichsten Plätze und verlangt dafür nur einen Teil deiner Einnahmen.«

»Scheint ein netter Klan zu sein, dieser Tadder«, hatte Sapius mit einem gequälten Lächeln angemerkt.

»Der haut dir aufs Maul. Du stehst eine Woche nicht mehr auf, solltest du ihn nicht bezahlen oder bescheißen wollen. So nett ist Tadder. Und nun verschwinde. Erwischt er mich beim Quatschen oder dich beim Betteln in der Nähe seiner Plätze, bekommen wir beide aufs Maul oder wir werden von seinen Schlägern zugeritten wie die Stuten, die er am Hafen für Anunzen feilbietet.«

»Tadder wird mir mit jedem Wort sympathischer«, grummelte Sapius, »vielleicht sollte ich ihn wirklich mal aufsuchen.«

»Hau endlich ab, Dummkopf«, zischte der Bettler, »Tadder war einst ein Praister, der zu Thezaels engsten Vertrauten gehörte. Leg dich nicht mit ihm an.«

»Danke für den Rat«, antwortete Sapius, »ich wünsche gute Geschäfte.«

Jeder Bettler hatte seine ganz eigene Geschichte, um das Herz der Passanten zu bewegen. Manche Schicksale wirkten tatsächlich echt. Die meisten arbeiteten allerdings für Tadder. Es war keine Kunst, das herauszufinden. Der Name Tadder war in aller Munde. Zumindest unter den Bettlern, Dieben und Huren der Stadt.

Es gab erschreckend viele Hungernde, Kranke und Verkrüppelte. Eine Auswirkung von Jafdabhs Vision einer neuen, technischen Welt, dachte Sapius und nahm zugleich an, dass Jafdabh zu beschäftigt war, die Missstände zu bemerken.

Dem Magier hingegen kamen die zahlreichen Bettler ganz gelegen. Er unterschied sich nicht von ihnen. Sapius hoffte allerdings, dass er diesem Tadder nicht begegnete. Ärger oder Aufsehen war das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte.

Ein junger Mann, offensichtlich gut gelaunt und frisch verliebt, was Sapius daran erkannt hatte, wie dieser seine Gefährtin angesehen hatte, warf dem Magier sogar eine Anunze zu. Eine großzügige Spende. Davon konnte er sich immerhin etwas zu essen und ordentliche Schuhe kaufen.

Tut-El-Baya hatte sich verändert. Sapius kam die Stadt schmutziger vor als zu jenen Tagen, an denen er mit Tomal im Kristallpalast zu Gast war. Ein Blick Richtung Palast und Gärten genügte ihm schon, um den Unterschied zu sehen. Die einst funkelnden und im Licht der Sonnen glitzernden Kristalle waren verblasst. Überzogen mit einer schmutzig braunen Schicht hatten sie ihre Leuchtkraft verloren. Auch die einst weiß getünchten Häuser und Mauern der Stadt wirkten dreckig. Sie waren nicht länger weiß, sondern grau, schwarz oder braun. Überall lag stinkender Abfall vor den Türen der Häuser, der sich an den Straßenecken und in Nischen teils haushoch stapelte. Neben den Straßen liefen Kloakenbäche, die in den quer durch die Stadt verlaufenden Flusskanal führten und von dort in der Nähe des Hafenbeckens ins Meer flossen. Zahlreiche rauchende Schornsteine ragten aus größeren Gebäuden in die Höhe. Sie waren höher als die höchsten Türme des Kristallpalastes.

Über der Stadt hingen dicke Luft und Nebel, die das Licht der Sonnen nicht vollständig durchließen. Eine braunrot schimmernde, nach Rauch, Teer und Schwefel stinkende, dichte Wolkendecke. Der Nebel reizte die Atemwege. Sapius musste immer wieder husten, Nase und Augen brannten. Der Nebel setzte sich wie eine feuchte, klebrige Schicht auf Haut, Kleider und Steine und war nur schwer wieder abzuwaschen.

Sapius versuchte, sich durchzufragen. Das war schwieriger, als er es sich vorgestellt hatte. Er hätte sich auch auf seinen Instinkt verlassen können, aber die Zeit drängte und er wollte sichergehen, nicht am falschen Ort anzukommen. In seiner Aufmachung erntete er allerdings wenig Gegenliebe und wurde meist ohne Antwort stehen gelassen oder davongejagt. Er hatte schon begonnen, die am häufigsten gebrauchten Worte »hau ab«, »elendiger« und »Bettler« zu zählen. Dabei führte »Bettler« mit in kurzer Zeit über einhundert Erwähnungen das Feld der Beschimpfungen an.

»Was willst du von Jafdabh?«, fragte ihn ein Mann an einem der Marktstände. »Denkst du, Jafdabh würde einen heruntergekommenen Landstreicher wie dich empfangen?«

»Suchst du Arbeit?«, fragte ein anderer Mann. »Wasch dich und lern erst mal was Vernünftiges, bevor du uns brave Einwohner mit deinem Gestank belästigst.«

Erst im dreiundzwanzigsten Anlauf erfuhr Sapius von einem blinden, alten Greis wo sich Jafdabh für gewöhnlich aufhielt.

»Ich habe Jafdabhs Haus nicht mit eigenen Augen gesehen«, sagte der Greis, »aber ich bin den Weg schon viele Male gegangen und sehe es in der Schwärze klar vor mir. Nehmt die Hauptstraße vom Marktplatz zum Hafen. Immer dem Fischgeruch nach. Biegt dann in die erste Gasse nach rechts ab, dann links, wieder rechts und noch mal rechts, neunhundert Fuß geradeaus, dann links, dreihundert Fuß halbrechts halten, geradeaus und schon wieder rechts. Ihr solltet an eine hohe Mauer kommen, die mit Schlingpflanzen berankt ist. Geht entlang der Mauer bis zum Haupttor Richtung Osten. Wie Ihr dann an den Wachen vorbeikommen wollt, kann ich Euch nicht beantworten.«

»Vielen Dank! Ob ich mir den Weg wohl merken kann?«, zweifelte Sapius.

»Nun, sollte Euch das zu schwierig sein … es gibt noch eine andere Möglichkeit«, meinte der Greis, »sucht nach dem größten und schönsten Haus in der Stadt. Prächtiger als der Kristallpalast selbst. Jedenfalls erzählen sich die Leute das. Ich kann Euch nur sagen, dass das Haus am besten von allen Gebäuden in Tut-El-Baya riecht. Es duftet herrlich nach frischen Blumen. Wenn ich Euch einen Rat mit auf den Weg geben darf, dann solltet Ihr vorher baden. Ihr … verzeiht … tragt einen sehr starken Geruch mit Euch herum. Habt Ihr in der Nähe der Kloake geschlafen oder seid gar hineingefallen?«

»Weder noch«, seufzte Sapius, »ich war nur sehr lange unterwegs und hatte keine Waschgelegenheit.«

Sapius machte sich auf den Weg, den ihm der Greis beschrieben hatte. Noch bevor er den Marktplatz überquert hatte, endete Jafdabhs Vision abrupt.

Der Magier blickte sich hektisch um. Sein Atem beschleunigte sich. Die Luft war besser als zuvor und der Schmutz an den Häusern wie von Zauberhand verschwunden. Trotzdem drückte eine unerklärliche Bedrohung auf sein Gemüt. Er wollte sofort fliehen, aber diesem Drang durfte er nicht nachgeben.

Der Marktplatz wirkte plötzlich wie ausgestorben. Nur gelegentlich huschten verhüllte Gestalten geduckt über den Platz. Sie hielten sich meist mit gesenktem Blick dicht an den Hauswänden auf, wirkten verängstigt und eilten über den Platz.

Die Klan vermieden es, sich zu lange an diesem Ort aufzuhalten. Niemand erhob die Stimme, wenn überhaupt, flüsterte man nur hinter vorgehaltener Hand miteinander. Sapius’ Herz begann wie wild zu klopfen. Er spürte Gefahr und hatte das Gefühl, es den vorbeieilenden Passanten sofort nachmachen und sich rasch vom Marktplatz entfernen zu müssen. Er nahm seine Beine in die Hand und hinkte, so schnell er konnte, in Richtung einer dunklen Nische am Rand des Marktplatzes zwischen zwei Häusern, in der er sich verbergen konnte.

Gerade noch rechtzeitig schaffte er den Sprung in das Versteck, bevor eine Gruppe Praister in ihren blutroten Gewändern aus einer Seitengasse auf den Platz marschierte. Sie führten in ihrer Mitte zwei Klan an Ketten mit sich. Einen Mann und eine Frau. Die Gefangenen waren nackt und wiesen an ihren Körpern zahlreiche blaue Flecken, Schwellungen und blutende Wunden auf.

»Halt!«, hörte Sapius den Anführer der Gruppe rufen und sah, wie dieser die Hand hob.

Sapius zuckte zusammen und hielt die Luft an, als er die bellende Stimme des Praisters vernahm. Erst als er merkte, dass er nicht gemeint war, atmetete er erleichtert durch.

Die Gefangenen wurden auf die Knie gezwungen. Der Praister nahm eine Lederpeitsche von seinem Gürtel ab und wickelte die Peitsche langsam vor den Augen der Gefangenen ab.

»Dreißig Hiebe für jeden von euch«, bellte der Praister, »ihr habt gegen das Gesetz der Kojos verstoßen. Was habt ihr dazu zu sagen?«

Der Gefangene hob den Kopf, blickte erst dem Praister in die Augen und sah dann die Mitgefangene an.

»Wir lieben uns«, sagte er leise, gerade noch für Sapius vernehmbar, »das ist kein Verbrechen.«

»Seid ihr einander versprochen oder habt ihr das Ehegelübde bereits abgelegt?«, wollte der Praister wissen.

»Nein … noch nicht. Wir haben uns erst vor einigen Wochen kennengelernt«, antwortete der Mann, »bitte … Tadder … wir haben uns doch nur geliebt. Einmal …«

»Dann seid ihr schuldig, alle beide«, sagte Tadder kalt, »du hast Thezael die Treue geschworen und wolltest ein Praister werden. Stattdessen teilst du mit dieser Schlampe das Lager. Ich hoffe, es hat sich wenigstens gelohnt.«

»Sie ist keine Schlampe … sie ist eine gute und treue Dienerin im Palast«, erwiderte der Mann, »Tadder, sei doch gnädig. Ich flehe dich an.«

»Wen interessiert das, was sie macht? Es zählt nur, ob sie sich von einem Mann besteigen ließ. Sie ist dir nicht versprochen und ihr habt auch nicht das Gelübde füreinander abgelegt. Das hast du bestätigt. Also ist sie eine Schlampe. Aber gut, ich will gnädig sein. Du bekommst vierzig Hiebe und sie nur zehn Stockschläge auf das Hinterteil. Danach wird sie aus dem Dienst entlassen, des Palastes verwiesen und im goldenen Horn arbeiten. Vorher reiten wir die Stute zu, das wird sie gefügig machen. Sie wird fortan Eigentum des Schankwirts und ihm und seinen Gästen stets in allen Bedürfnissen zu Diensten sein.«

Die Frau begann zu schluchzen. Sapius war sich nicht sicher, ob er eingreifen sollte. Dies war kein Traum. Es war die schreckliche Wirklichkeit in Tut-El-Baya. Die Schreckensherrschaft und Willkür der Praister. Er war hin- und hergerissen. Machte er sich bemerkbar und mischte sich ein, gefährdete er seine Ziele. Er durfte nicht auffallen und musste abwarten bis Jafdabh die nächste Vision aufrief.

»Sie soll eine Hure werden?«, die Stimme des Gefangenen überschlug sich vor Entsetzen, »Tadder, das kannst du nicht machen. Sie ist eine anständige, gute Frau!«

»Sie kommt mit dem Leben davon und wird das tun, was ihr doch offenbar Spaß gemacht hat. Hoffe ich für dich. Es wäre doch ein Jammer, für etwas zu büßen, was einem überhaupt nicht gefallen hat. Das nenne ich Gnade«, höhnte Tadder, »dreißig Hiebe hätte sie nicht überlebt. Du jedoch wirst an den vierzig Hieben sicher sterben. Für Verräter an dem obersten Praister Thezael gibt es als Strafe nur den Gang zu den Schatten.«

Der Gefangene ließ den Kopf hängen. Über sein Gesicht liefen Tränen. In der Mitte des Marktplatzes waren zwei Holzpfähle aufgestellt. Tadder wies die Praister an, den Gefangenen zwischen die Pfähle zu ketten. Während der Gefangene über den Platz geschleift und angekettet wurde, kümmerten sich die übrigen Praister um die Gefangene.

»Schlagt mit dem Prügel nicht zu fest zu!«, verlangte Tadder. »Sie soll schon bald im goldenen Horn arbeiten. Der Wirt und die Kunden schätzen es nicht, wenn die Liebesdienerinnen entstellt sind.«

»Aye«, antwortete einer der Praister, »aber spüren soll sie die Schläge schon, oder?«

»Natürlich«, fauchte Tadder zurück, »Schmerzen schaden ihr nicht. Lasst sie schreien und macht sie gefügig. Anschließend besteigen wir sie in der Gasse. Einer nach dem anderen, so lange und immer wieder, bis sie sich nichts anderes mehr vorstellen kann und mit Freuden im goldenen Horn arbeiten wird.«

»Sehr wohl, Tadder«, lachte der Praister, »es wird uns ein Vergnügen sein.«

Sapius war von den Praistern angewidert. Sie waren nicht würdig, den Kojos zu dienen. Es war eine Schande, was Thezael aus den Praistern und aus Tut-El-Baya gemacht hatte. Aber der Magier riss sich zusammen und duckte sich noch tiefer in seine Nische.

»Du darfst nicht eingreifen. Du darfst nicht eingreifen«, sagte er in Gedanken immer wieder zu sich selbst. »Beherrsche dich. Lass es geschehen, so grausam es auch sein mag. Das geht dich nichts an. Bleib ruhig. Du darfst nicht eingreifen.«

Bei jedem Schrei der jungen Frau zuckte Sapius zusammen. Er hielt sich die Ohren zu, aber die Schreie drangen zu ihm durch. Zum Glück waren die zehn Hiebe schnell vorbei, auch wenn ihm die Bestrafung wie eine halbe Ewigkeit vorgekommen war.

Sapius beobachtete, wie die Praister die Frau in eine nahegelegene Gasse schleppten. Sie wehrte sich mit Händen und Füßen. Zappelte, schlug um sich und schrie. Ihre Schreie wurden leiser und hörten schließlich ganz auf. Er wollte sich nicht ausmalen, was sie dort mit ihr anstellten. Lediglich Tadder, zwei Praister und der an die Pfähle gekettete Gefangene waren auf dem Marktplatz zurückgeblieben.

»Beeil dich«, sagte einer der beiden Praister zu Tadder und warf dabei einen sehnsüchtigen Blick Richtung Gasse, »wir wollen auch noch unseren Spaß haben.«

»Ihr bleibt so lange hier, bis ich mit dem Gefangenen fertig bin«, antwortete Tadder, »danach wird immer noch genug für uns alle übrig sein. Die Weiber sind zäh, das solltet ihr nicht vergessen.«

Die Bestrafung mit der Peitsche war schrecklich. Wieder und wieder knallte das Folterwerkzeug auf den Rücken des Opfers. Schon der erste Peitschenhieb riss eine tiefe Wunde quer über den Rücken des Gepeinigten, legte Fleisch und Knochen frei. Sapius schloss die Augen und zählte mit. Die Schreie des Opfers drangen dem Magier durch Mark und Bein. Nach zehn Schlägen wimmerte und stöhnte der Gefangene nur noch.

Klan kamen vorbei und blieben wie erstarrt in einiger Entfernung stehen.

»Geht weiter«, schrie Tadder, während er zwischen zwei Hieben kurz innehielt und Luft holte, »ihr verstoßt gegen die Ausgangssperre. Wollt ihr meine Peitsche zu spüren bekommen?«

Die Passanten zögerten keine Sardas und eilten weiter. Nach zweiundzwanzig Hieben fiel der Gefangene in Ohnmacht. Sein Rücken war eine einzige, offene Wunde. Sapius konnte trotz des vielen Blutes an einzelnen Stellen den blanken Knochen durchschimmern sehen. Diese Bestrafung konnte niemand überleben.

»Wasser und Salz!«, befahl Tadder den beiden Praistern. »Holt Wasser aus dem Brunnen. Salz gibt es dort hinten bei den geschlossenen Ständen. Wir müssen ihn aufwecken und wach halten.«

Tadder deutete auf einen Stapel mit Säcken, der sich ganz in der Nähe befand. Die Praister rannten los. Einer kümmerte sich um das Wasser, der andere schleppte einen großen Sack mit Salz an. Sie mischten dem Wasser eine gehörige Portion Salz bei. Überschütteten sie den Gepeinigten mit dieser Mischung, würde er aufwachen und vor Schmerzen schreien. Die Wunden würden wie Feuer brennen. Sapius hoffte, dass dem Angeketteten die Qualen erspart blieben und er bereits tot war. Die Hoffnung zerschlug sich rasch. Der Gefangene lebte. Sapius sah, wie der Körper, der bis zuletzt bei jedem Hieb gezuckt hatte, schwer atmete.

Die Praister schütteten ihrem Opfer Wasser ins Gesicht und über den Rücken. Prustend und zitternd kam der Gepeinigte wieder zu sich und schrie vor Schmerzen.

»Na endlich«, sagte Tadder, »machen wir weiter.«

Zur Antwort kam lediglich ein Stöhnen von dem angeketteten, gemarterten Körper, dem die Haut in Fetzen vom Rücken hing.

Plötzlich stellte Sapius ganz in seiner Nähe eine Bewegung fest, die aus dem Nichts zu kommen schien und sich verfestigte. Er spürte einen kalten Windhauch und fror. Da war etwas Dunkles, Lauerndes, das sich langsam aus dem Verborgenen näherte.

»Schatten!«, dachte Sapius erschrocken. »Die Schatten kommen, den Gefangenen zu holen.«

Die Schatten waren ganz nah. Er konnte ihr Zischen und Fauchen deutlich hören und sah sie schemenhaft auf den Marktplatz kriechen. Sapius fürchtete sich, er hatte die Schatten noch nie zuvor mit eigenen Augen gesehen und konnte ein Zittern nicht unterdrücken.

Die Praister schienen die Schatten überhaupt nicht zu bemerken. Jedenfalls zeigten sie keinerlei Reaktion auf die Neuankömmlinge, die Sapius weder leise noch unauffällig erschienen. Vielleicht waren die Praister den Umgang mit den Schatten gewohnt und wussten, dass sie von ihnen nichts zu befürchten hatten, dachte Sapius. Immerhin waren sie Praister, deren erste Aufgabe es war, die Sterbenden zu den Schatten zu geleiten.

»Oder ist es möglich, dass nur ich sie sehen kann?«, fragte sich Sapius.

Die Frage wurde schnell beantwortet. Das Zischen eines nahen Schattens alarmierte die übrigen. Sie kamen auf Sapius zu und versperrten ihm jeden Fluchtweg. Sie rückten weiter vor und waren bald so nah, dass sie ihn beinahe berühren konnten. Der Magier konnte einzelne Gesichter erkennen, die aber immer wieder vor seinen Augen verschwammen. Die Schatten wirkten auch aus der Nähe blass und undeutlich.

»Schattenbeschwörer, Totenerwecker«, hauchte ein Schatten, »was willst du?«

»Ich …?« Sapius bemühte sich möglichst leise zu sein und tonlos zu flüstern: »Ich habe euch nicht gerufen.«

»Wir sind hier, eine Seele ins Reich der Schatten zu holen«, fuhr der Schatten fort, »aber nun trafen wir dich. Was machst du an diesem Ort des Todes?«

»Ich verstecke mich«, antwortete Sapius ehrlich.

»Ein Schattenbeschwörer muss sich vor nichts und niemandem verstecken«, sagte der Schatten.

»Aber … ich bin kein Schattenbeschwörer«, meinte Sapius.

»Du bist ein Dunkler. Ein Meister der Magie, der Tote aus dem Reich der Schatten erwecken und zu sich rufen kann. Wir sehen es an deinen Augen und in deiner Seele. Tiefschwarz wie die Nacht. Wir folgen dir, wenn du es willst. Befiehl! Gib uns deine Führung, zeige uns den Weg. Wir werden ausführen, was du verlangst.«

Sapius glaubte, den Verstand zu verlieren. Das war zu viel für ihn. Er stolperte von einem Albtraum in den nächsten. Die Wirklichkeit spielte ihm gewiss einen Streich.

»Ich bin verrückt«, sagte Sapius zu sich selbst, »es musste so kommen. Diese ständigen Veränderungen machen mich wahnsinnig. Ich rede mit Geistern.«

»Du hast deinen Verstand nicht verloren, Schattenbeschwörer«, sagte der Schatten, »das alles geschieht wirklich. Wir warten auf deinen Befehl.«

Das Denken fiel Sapius in diesem Augenblick des Schreckens schwer. Was wollten die Schatten von ihm? Seine Führung? Aber wozu? Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Ein einziges Wort, das ihm durch den Kopf spukte. Es kam wie aus dem Nichts: ein Begriff aus der alten Sprache.

»Morta«, flüsterte Sapius.

»Einen Namen, sag uns einen Namen«, verlangten die Schatten.

»Morta Tadder«, ergänzte Sapius das Wort mit dem Namen des Praisters, ohne zu wissen, was er da eigentlich tat. »Morta Tadder!«

Die Schatten kreischten, wirbelten in einem wilden Tanz über den Marktplatz von Tut-El-Baya und stürzten sich begierig auf den Praister mit der Peitsche. Sapius beobachtete aus seinem Versteck, wie Tadder überrascht die Augen aufriss. Er schrie und schlug um sich, als ihn die Schatten berührten und mit sich zerrten. Die beiden anderen Praister sahen Tadder entgeistert an. Entsetzt suchten sie das Weite.

»Was wollt Ihr von mir?«, rief Tadder in seiner Verzweiflung. »Lasst ab von mir. Ich bin der Falsche! Nehmt den Gefangenen mit euch! Der ist schon halb tot.«

»Der Schattenbeschwörer befiehlt, die Schatten gehorchen«, fauchten die Schatten, »Tadder stirbt!«

»Nein, das kann nicht sein!«, flehte Tadder. »Ich bin ein Praister und Schattenmann. Thezael ist mein Meister und auch der eure. Das wird ihm nicht gefallen. Er wird euch zur Rechenschaft ziehen. Lasst mich in Ruhe!«

»Tadder stirbt«, wiederholten die Schatten, »der Schattenbeschwörer will es. Sein Wille ist uns Befehl.«

Tadder setzte sich zur Wehr, aber die Schatten krallten und bissen sich an ihm fest, umschlangen den Praister mit Armen und Beinen. Sie nahmen seinen Geist mit sich in ihr Reich.

Erst nachdem das Zittern nachgelassen hatte, wagte sich Sapius aus seinem Versteck. Vorsichtig lugte er um die Ecke. Der Marktplatz war bis auf den zwischen den Pfählen hängenden Gefangenen leer.

Sapius hinkte zu Tadders Leichnam, durchsuchte ihn, fand und nahm die Schlüssel für die Ketten an sich. Behutsam befreite er den Gefangenen von den Ketten, fing den zerschundenen Körper auf und legte den stöhnenden Mann auf den Bauch.

»Keine Angst, ich helfe Euch«, flüsterte ihm Sapius ins Ohr, »hier … kaut diese Blüte.«

Der Magier holte eine Blüte der Candallee aus seinem Beutel und schob sie dem Mann in den Mund. Zufrieden beobachtete Sapius, wie der Gefangene kaute und schließlich schluckte.

Die Wirkung der Blüte sollte reichen, um dem Schwerverletzten das Leben zu retten und seine Wunden zu schließen. Tatsächlich hatte sich Sapius nicht getäuscht. Er konnte bei der Heilung zusehen. Der Mann drehte sich plötzlich um und sah Sapius erstaunt und dankbar in die Augen.

»Wer … wer seid Ihr?«, fragte der Mann.

»Sapius«, antwortete der Magier knapp, »fühlt Ihr Euch besser?«

»Ihr habt mich gerettet«, antwortete der Mann immer noch verwundert, »ich war schon fast tot. Aber jetzt fühle ich mich gut und stark, als wäre nichts gewesen. Ich habe keine Schmerzen mehr.«

»Das ist gut«, meinte Sapius, »dann könnt Ihr also aufstehen und gehen. Wir sollten uns um Eure Frau kümmern.«

»Nachika … oh … meine Nachika. Bei den Kojos. Hoffentlich ist es noch nicht zu spät«, der Mann sprang auf, »helft mir, bitte. Noch einmal. Ich weiß, ich bin Euch schon zu tiefem Dank verpflichtet. Aber alleine und nackt wie ich bin, schaffe ich es nicht, sie aus den Klauen der Praister zu befreien. Diese Schweine … meine arme, geliebte Nachika.«

»Ich helfe Euch, sie zu befreien«, bot Sapius großzügig an, »aber wir sollten uns beeilen.«

»Ja, gehen wir«, sagte der Mann, »übrigens, ich heiße Kaldhrab.«

Sapius und Kaldhrab eilten in die Gasse, in die die Praister Nachika geschleppt hatten. Sie brauchten nicht weit zu gehen, bis sie auf die vier Praister stießen, die sich johlend und lachend über die junge Frau hermachten. Kaldhrab stiegen die Tränen in die Augen, als er Nachika in der Gasse auf dem steinigen Boden liegen sah und erkennen musste, wie sie vergewaltigt wurde.

»Los gib’s ihr«, rief einer der Praister, »ich war ihr noch lange nicht genug.«

Die Praister achteten nicht auf ihre Umgebung, sondern feuerten gierig und mit glasigen Augen ihren Gefährten an, der sich stöhnend und mit wilden, stoßenden Bewegungen zwischen Nachikas Beine geschoben hatte.

Sapius hielt Kaldhrab mit ausgestrecktem Arm zurück, der sich auf die Praister stürzen wollte.

»Wartet!«, sagte Sapius. »Lasst mich das für Euch erledigen. Ihr seid viel zu aufgebracht. Die Praister würden einen nackten Mann auf der Stelle töten, wenn er sie angreift.«

»Was habt Ihr vor?« Kaldhrab konnte seinen Zorn nur mit Mühe zurückhalten.

»Ich töte die Praister«, antwortete Sapius trocken.

»Aber … wie?«

Sapius antwortete nicht. Stattdessen hob er den Stab des Farghlafat und sprach einige Worte der Dunkelheit. Er experimentierte oft mit seinen Möglichkeiten, war sich jedoch sicher, dass er in dieser bedrohlichen Situation das Richtige tat. Die Wandlung hatte es ihm besonders angetan.

»Achmak asstar chalem so vai eldrago!«

Der Stab begann dunkel zu glühen und in der Hand des Magiers zu vibrieren. Ein tiefes Brummen erfüllte die Gasse.

»Achmak asstar chalem so vai eldrago!«

Die Praister ließen von der Frau ab und drehten sich um. Beim Anblick des Magiers erstarrten sie vor Entsetzen.

Sapius’ Augen wurden schwarz. Sein Gesicht veränderte sich zu einer monströsen, schuppigen Fratze des Grauens. Sein Kiefer schob sich nach vorne und wurde länger. Eine langgezogene Schnauze bildete sich. Der Magier riss den Mund auf und entblößte eine Reihe langer, gelber Reißzähne. Aus seinen Fingern wuchsen messerscharfe Klauen und aus seinem Rücken Drachenflügel, die sich mit ihren Stacheln durch den Stoff seines Gewands bohrten und entfalteten.

Der Magier bemerkte, dass Kaldhrab neben ihm furchtsam einige Schritte von ihm zurückwich.

»Bei den Kojos …«, rief Kaldhrab entsetzt, »Ihr seid ein Dämon der Dunkelheit.«

»Ich bin, was ich bin«, grollte Sapius mit erschreckender Stimme, »ich helfe dir, Klan.«

Kaldhrab drehte sich um und rannte schreiend weg. Davon durfte sich der Magier nicht beeindrucken lassen.

»Santaka sichsta«, rief er, »der Drache vermehrt sich.«

Die Gestalt des dunklen Drachendämons teilte sich in sechs gleich aussehende Kreaturen, die von einem einzigen Bewusstsein gesteuert wurden. Der magische Trick war mehr als nur eine Illusion, denn die Drachendämonen waren körperlich. Gleichzeitig stürzten sie sich auf die Praister, die keine Gelegenheit hatten, ihrem übermächtigen Feind zu entkommen. Sapius wütete und tobte, zerfleischte seine Gegner mit Klauen und Zähnen, bis er erneut die Gegenwart der Schatten spürte, die gekommen waren, die gefallenen Praister in ihr Reich der Schatten zu holen.

Sapius verwandelte sich in seine ursprüngliche Gestalt zurück und beugte sich über die junge Frau.

»Ihr seid Nachika, nicht wahr?«, sagte er mit sanfter, beruhigender Stimme und reichte ihr seine Hand. »Steht auf. Es ist vorbei. Ihr seid in Sicherheit.«

Nachika starrte den Magier aus großen Augen an. Sie machte keine Anstalten, nach seiner Hand zu greifen. Sie war verletzt. Ihr Gesicht war angeschwollen und die Augen rot umrändert. Sapius griff in seinen Beutel und holte ein einzelnes Blütenblatt der Candallee hervor.

»Kaut das Blütenblatt«, sagte er, während er es ihr in den halb geöffneten Mund schob, »das wird Euch helfen.«

Nachika tat wie ihr geheißen und kaute abwesend. Danach erholte sie sich zusehends von ihrem Schock und griff nach Sapius’ Hand. Er half ihr auf die Beine. Noch immer blickte sie ihn verwundert an.

»Ich … die Praister … haben mich …« Das Sprechen fiel Nachika schwer.

»Ich weiß«, sagte Sapius, »sie mussten dafür mit ihrem Leben bezahlen. Versucht zu vergessen, was geschehen ist und was Ihr gesehen habt. Es war nur ein böser Traum.«

»Es war kein Traum!«, antwortete Nachika.

»Natürlich nicht«, meinte Sapius, »aber es hilft Euch, das Erlebte zu vergessen.«

»Wo ist Kaldhrab?«, fragte Nachika leise. »Konntet Ihr ihn retten? Geht es ihm gut?«

»Es geht ihm den Umständen entsprechend gut«, antwortete Sapius, »er floh, als er sah wie ich Euch gerettet habe.«

»Er ließ mich im Stich?« Nachika wollte nicht glauben, was der Magier berichtete.

»Kaldhrab hatte Angst, das müsst Ihr verstehen.« Sapius versuchte, sich vorsichtig auszudrücken. »Er sah eine Kreatur, die nicht für seine Augen gedacht war.«

»Ich habe auch schreckliche Kreaturen gesehen. Sie sahen aus wie Drachen und ich hatte fürchterliche Angst. Er war feige!«, in Nachikas Augen flammte Zorn auf.

»Nein. Er wollte Euch retten, vermochte es jedoch nicht. Ihm liegt sehr viel an Euch. Er liebt Euch. Sucht ihn und redet mit ihm. Er kann noch nicht weit gekommen sein. Ich rate Euch, die Stadt gemeinsam so schnell wie möglich zu verlassen. Die Praister könnten Euch noch einmal fassen. Ich war nur zufällig zugegen und könnte Euch kein zweites Mal helfen.«

»Ich will Kaldhrab nicht mehr sehen. Er hätte mich den Praistern und diesen scheußlichen Kreaturen überlassen. Ihr könnt sagen, was Ihr wollt, Kaldhrab ist für mich gestorben.«

»Wie Ihr meint«, sagte Sapius, »ich muss jetzt gehen. Meine Pflichten rufen mich. Findet Ihr Euch alleine zurecht?«

»Eine nackte, gerade missbrauchte Frau in einer dunklen Seitengasse? Verfolgt von Praistern und hungrigen Kreaturen? Verlassen von ihrem Geliebten? Macht Ihr Witze?«, empörte sich Nachika. »Ich brauche Kleidung, Proviant, Anunzen und sicheres Geleit.«

»Dann sollten wir nachsehen, was die Praister in ihren Taschen haben«, schlug Sapius vor.

»Ihr wollt die Toten berauben?« Nachika klang entsetzt.

»Nun ja …«, Sapius begann bereits, seine Einmischung zu bereuen, »… mehr kann ich Euch nicht bieten.«

»Ich fasse keinen Toten an«, zierte sich Nachika.

Sapius seufzte und begann, die Taschen der Toten zu untersuchen. Er fand zwei Messer, einen kleinen Laib Brot, Trockenfleisch, ein Stück Käse, einen halb gefüllten Trinkbeutel und dreiundzwanzig Anunzen. Die übrigen Sachen mochten zwar für die Praister von Nutzen sein, nicht jedoch für ihn oder Nachika.

Dem kleinsten Praister zog er die Robe aus. Sie war weniger zerfetzt und blutbeschmiert als die Roben der anderen Kadaver. Außerdem würde sie Nachika noch am besten passen. Der Magier überreichte Nachika die Sachen, die ihn die ganze Zeit über misstrauisch und mit Abscheu beobachtet hatte.

»Ich kann das nicht anziehen!«, sagte Nachika ablehnend.

»Warum nicht?«, wollte Sapius wissen.

»Es ist die Robe eines Praisters. Sie ist zu groß und weist Blutflecke auf. Jeder wird wissen, dass sie einem Praister gehörte und mich verdächtigen, ich hätte sie gestohlen oder den Praister getötet. Außerdem steht sie mir überhaupt nicht. Ich mag die Farbe nicht. Besorgt mir etwas anderes.«

»Wisst Ihr was?«, ärgerte sich Sapius: »Lauft meinetwegen nackt durch Tut-El-Baya oder besorgt Euch selbst etwas zum Anziehen. Ich werde Euch nicht mehr helfen.«

»Feigling!«, verzog Nachika ihren Mund zu einem Schmollen. »Ihr seid keinen Deut besser als Kaldhrab.«

Tränen liefen über die Wangen der jungen Frau. Nachika sah so traurig und bemitleidenswert aus, dass es Sapius beinahe das Herz brach. Er dachte einen Augenblick nach, was er mit ihr anfangen sollte. Er konnte sie nicht einfach in der Gasse stehen lassen. Nun musste er sich ihrer annehmen und auch dafür sorgen, dass sie sicher in Tut-El-Baya leben oder die Stadt wenigstens unversehrt verlassen konnte.

»Hört auf zu weinen«, bat Sapius, »zieht die Robe an, wir sollten von hier wegkommen und uns verstecken. Ihr könnt bei mir bleiben, bis wir eine Lösung gefunden haben. Ich bringe Euch zu einem Mann, bei dem Ihr vorerst sicher seid. Wenn er erfährt, dass Ihr ein Opfer der Praister seid, wird er Euch in Schutz nehmen.«

»Oh, vielen Dank. Ihr seid wirklich ein guter Mann«, fiel ihm Nachika um den Hals.

Sapius machte sich nicht die Mühe, Nachika in seine Pläne, die Suche nach dem Buch der Macht und die ständigen Veränderungen durch Jafdabhs Visionen einzuweihen. Das war kompliziert, schwer zu erklären und er fragte sich, ob sie sein Handeln verstehen würde. Es genügte, wenn sie ihm vertraute und sein Vorhaben nicht noch mehr behinderte. Ein Versteck war bald gefunden und sie warteten gemeinsam bis zur Abenddämmerung.

*

Der Krolak erwachte aus einem unsanften Schlaf. Benommen erinnerte er sich daran, dass er gestürzt war. Die Holzfäller und ihre Wachen hatten ihn erschossen und ein fürchterliches Gemetzel unter den Tieren des Rudels angerichtet.

Er lag inmitten des Rudels, das sich zahlreich um ihn versammelt hatten. Seine Kinder schnüffelten neugierig an ihm. Etwas zu neugierig und vor allem zu hungrig, wie der Krolak fand.

Baijosto sprang auf und vertrieb sie mit einem drohenden Knurren. Sie waren wie Aasfresser, die nur auf einen passenden Augenblick warteten, eine Schwäche, die ihnen Gelegenheit bot, ihn zu überwinden und die Führung über das Rudel zu übernehmen. Hektisch untersuchte er seinen Körper auf Wunden. Er war unverletzt.

Baijosto blickte sich im Rudel um. Es war wie an den Tagen zuvor, nachdem die Veränderung geendet hatte. Die im Gemetzel gefallenen Baumwölfe waren alle wohlauf. Kein Tier war verloren gegangen. Der Krolak beschloss, die Jagd zu beenden. Es hatte keinen Zweck noch länger Geistern nachzujagen. Er würde das Rudel für eine Weile sich selbst überlassen und die Naiki in ihrer Siedlung aufsuchen. Dort wollte er Belrod aufsammeln und mit ihm nach Kartak reisen. Die Reise und die Suche nach dem Buch hatten Vorrang.

Eine düstere Vorahnung überkam ihn bei dem Gedanken an Kartak und das Buch. Sie würden sich von ihrem Volk verabschieden müssen. Vielleicht für immer. Er würde sich dennoch frohen Mutes seinem Schicksal stellen. Baijosto war bereit, jedes Opfer zu bringen. Wichtig war für ihn nur, dass die Verwirrung des Geistes und die ständige Veränderung der Umgebung endeten. Sein Volk und das Rudel sollten ungestört und sicher im Faraghad leben.

*

Noch bevor die Nacht vollständig über Tut-El-Baya hereingebrochen war, begann eine neue Vision. Sapius hatte eigentlich damit gerechnet, Nachika würde sich einfach in Luft auflösen. Aber sie war nach wie vor bei ihm, allerdings hatte sie sich verändert. Der Magier bemerkte, wie hübsch, frisch und gesund sie plötzlich aussah. Nachika wirkte fröhlich, als wäre überhaupt nichts geschehen. Die schrecklichen Erlebnisse mit den Praistern waren wie weggeblasen.

Nachika trug ein schönes, sauberes Kleid und neue Schuhe. Ihr Haar war frisch gewaschen und gekämmt. Ihr Duft nach Blumen und anderen Essenzen war betörend. Ihm wurde schwindelig und er musste darauf achten, seine plötzlich aufwallenden Gefühle zu kontrollieren.

»Ihr seid so geistreich und wisst so viel zu erzählen«, sagte sie freudestrahlend, »ich bin froh, dass wir uns auf dem Markt kennengelernt haben und Ihr mich eingeladen habt, mit zu Eurem Freund zu kommen. Ich habe nie zuvor einen Mann wie Euch getroffen.«

Sapius bemerkte, dass Nachika wegen ihrer Bemerkung leicht errötete.

»Was ist mit Eurem … Freund?«, fragte Sapius vorsichtig.

»Kaldhrab? Woher wisst Ihr überhaupt von ihm? Der kann mir gestohlen bleiben, dieser Feigling«, antwortete Nachika wütend. Auf ihrer Stirn hatte sich eine Zornesfalte gebildet, die Sapius anregend und süß fand. »Er wollte immer nur das eine von mir. Als er es nicht bekam, hat er mich wegen einer anderen sitzen lassen. Ich könnte ihr die Augen auskratzen. Und Kaldhrab … dem würde ich am liebsten … ach lassen wir das. Es lohnt sich nicht.«

Sapius schüttelte den Kopf. Die junge Frau brachte ihn an den Rand seiner Geduld. Es war merkwürdig, welche Blüten die Visionen Jafdabhs und das Buch der Macht trieben. Rein aus Interesse an den Auswirkungen seines Handelns in der Wirklichkeit wollte Sapius etwas auf dem Marktplatz überprüfen.

»Tut mir einen Gefallen und wartet hier auf mich«, sagte er zu Nachika, »ich bin bald wieder hier, dann suchen wir Jafdabh auf. Ihr kennt sein Haus und könnt mich dorthin führen.«

»Natürlich, jeder in der Stadt kennt doch Jafdabhs Haus«, antwortete sie freundlich lächelnd, »es ist nicht zu übersehen. Geht nur. Ich warte auf Euch.«

Zu vorgerückter Stunde war der Marktplatz noch immer überfüllt mit Ständen und Besuchern. Überall brannten Laternen und Fackeln und tauchten den Platz in ein Lichtermeer. Marktschreier preisten lautstark und teils heiser ihre Ware an.

Sapius sprach einige Bettler am Rande des Marktplatzes auf einen gewissen Tadder an. Doch kaum jemand schien mit dem Namen etwas anfangen zu können. Lediglich ein verkrüppelter, einarmiger Bettler erzählte ihm von einem Praister namens Tadder. Er sei einst Thezaels Handlanger und Vollstrecker gewesen. Ein überaus grausamer und brutaler Mann. Mit Thezaels Niedergang sei allerdings auch Tadder verschwunden. Erst kürzlich sei sein aufgedunsener Leichnam in der Kloake Tut-El-Bayas gefunden worden.

Sapius war mit der Auskunft zufrieden.

»Das bedeutet, dass sich der Tod in der Wirklichkeit auch auf die Vision auswirkt. Interessant wäre, ob das umgekehrt ebenfalls gilt«, dachte Sapius bei sich.

Er wusste nun, dass er den Visionen nicht hilflos ausgeliefert war, wenngleich das Ergebnis seines Handelns in der Wirklichkeit nicht vollständig vorhersehbar war. Sapius hinkte zu Nachika zurück. Sie machten sich gemeinsam auf den Weg zu Jafdabhs Haus.

*

Solras hatte den Krolak bereits erwartet. Sie empfing den Naiki-Jäger und Gestaltwandler mit offenen Armen hoch oben in den Baumwipfeln der Siedlung. Wie gewohnt war auch Belrod in der Nähe und freute sich wie ein kleines Kind über das Wiedersehen mit seinem Freund und Bruder.

Während andere seines Volkes den Krolak seit Beginn des Fluches mit Misstrauen und offener Abscheu betrachteten und ihn als Gefahr für ihre Sicherheit bezeichneten, war Solras ihm gegenüber immer offen und herzlich gewesen. Ihrem Einfluss und der Treue seines Bruders Taderijmon verdankte er es, dass er in der Siedlung zumindest geduldet wurde. Solras sah in ihm einen Mann, der zwar mit einem dunklen Fluch leben musste, aber die Bestie in sich beherrschte.

Solras hatte keine Angst vor ihm und den Baumwölfen. Mit Metahas uraltem Wissen brauchte sie sich vor nichts zu fürchten. Sie hätte jeden Krolak und Baumwolf mit Leichtigkeit besiegen können. Aber so dachte sie nicht einmal im Stillen, wusste Baijosto. Sie schätzte ihn und vertraute ihm.

»Wir werden uns nicht wieder sehen«, sagte Solras traurig, »das weißt du bereits, nicht wahr?«

»Ich ahne es«, antwortete Baijosto, »es ist ein Gefühl des endgültigen Abschieds.«

»Du hast recht. Das Ende ist nah«, fuhr Solras fort, »ich habe es in meinen Träumen gesehen. Tod und Zerstörung droht unserer Welt. Das Buch der Macht muss gefunden werden. Das Schicksal und die Prophezeiung müssen erfüllt werden. Es gibt kein Zurück. Gleichgültig welchen Preis du bezahlen musst, Baijosto, du darfst nicht zaudern und nicht zögern. Das Buch darf nicht in die falschen Hände geraten. Hilf dabei, es in Sicherheit zu bringen. Das ist unsere einzige Möglichkeit zu überleben.«

»Aber wie kann ich wissen, dass das Buch vor einem Missbrauch sicher ist. Wessen Hände sind die richtigen?«

»Es gibt nur einen einzigen Streiter, der das Buch ohne Gefahr für Kryson und das Gleichgewicht verwahren darf«, meinte Solras, »du weißt, von wem ich spreche. Vertraue deinem Gefühl.«

»Du meinst …«

»Ich denke an unseren gemeinsamen Freund, den Zweifler Sapius. Ja!«

»Weshalb gerade er?«

»Weil er an allem und jedem und am meisten an sich selbst zweifelt. Er trägt eine schwere Last und hat die Verpflichtungen seines eigenen und anderer Leben wieder und wieder angenommen. Sapius übernimmt Verantwortung. Ihn hat das Gleichgewicht dazu auserkoren, das Buch zu verwahren. Metaha wusste das. Ich weiß es. Vertrau mir, Baijosto. Sapius ist der Richtige. Er ist viel stärker und mächtiger, als er selbst glaubt. Er ist ein Altvorderer wie wir. Einer des alten Blutes. Die Drachen gehorchen und vertrauen ihm. Schlag dich auf seine Seite und hilf ihm.«

»Ich will auf dich hören, Solras. Aber wäre es nicht klug, das Buch für die Naiki zu erringen und dir zu bringen? Du bist weise. Ich vertraue dir mehr als Sapius. Immerhin sind Belrod und ich zu zweit, wir könnten es mit vereinten Kräften schaffen.«

»Nein, Baijosto. Du bist nicht stark genug, der Versuchung des Buches zu widerstehen, und ich … ich könnte es selbst mit den Kräften der Natur und der Hilfe des Waldes nicht lange genug beschützen. Belrod könnte es zwar gefahrlos mit sich herumtragen, aber er versteht den tieferen Sinn dahinter nicht. Er würde es vergessen und wieder verlieren. Ich habe auch dies in meinen Träumen gesehen. Sapius muss es bekommen, kein anderer, sonst sind wir alle verloren. Und nun geh, Baijosto. Nimm Belrod mit dir und gib auf ihn acht. Ihm darf kein Unheil geschehen. Er ist das Teuerste, das wir Naiki haben. Belrod hat das beste und treueste Herz von uns allen.«

»Ich weiß, Solras. Solange ich lebe, wird ihm nichts Schlechtes widerfahren. Das verspreche ich.«

»Versprich nichts, was du nicht halten kannst, Baijosto. Denk nur immer daran, wie wertvoll Belrod für uns ist.«

»Leb wohl, Solras. Ich liebe dich und habe dich immer geliebt.«

»Ich weiß«, flüsterte Solras.

Solras zog den Naiki-Jäger an sich, umarmte ihn und küsste ihn lange zum Abschied auf den Mund. Sie rief auch Belrod zu sich und drückte den Maiko-Naiki fest an sich. Als sie ihn wieder losließ, hatte sie Tränen in den Augen.

Baijosto und Belrod schnürten ihre Bündel und verabschiedeten sich noch von Taderijmon. Auch ihn würden sie in diesem Leben nicht wiedersehen, wie Baijosto annahm. Der Abschied fiel ihm schwer. Zum Glück wusste er Belrod an seiner Seite, der völlig unbekümmert war und sich auf eine weitere Reise und Abenteuer an der Seite Baijostos freute.

*

Der blinde Greis hatte die Wahrheit gesagt. Jafdabhs Haus duftete angenehm nach Blumen. Nachika hatte sie in kurzer Zeit zielsicher an den Haupteingang des hoch ummauerten Anwesens geführt.

»Haus ist die falsche Bezeichnung für diesen Palast«, dachte Sapius, als er das prächtige Gebäude erblickte »ich werde das Gefühl nicht los, dass Jafdabhs Haus den Kristallpalast an Schönheit und Kunstfertigkeit noch übertrifft.«

Jetzt galt es, an den Wachen vorbeizukommen. Sapius war froh, Nachika mitgenommen zu haben. Die junge, hübsche Frau erwies sich bei diesem Vorhaben äußerst nützlich. Sapius und Nachika hatten sich vorher abgesprochen, wie sie die Wachen überzeugen wollten.

»Wir werden von Praistern verfolgt. Sie trachten uns nach dem Leben. Bitte lasst uns durch. Wir müssen unbedingt mit Jafdabh sprechen«, sagte Nachika zu den Wachen am Haupttor. Sie machte dabei ein besorgtes und ängstliches Gesicht.

»Die Praister?«, der Wachposten zog zweifelnd eine Augenbraue hoch. »Wie kann das sein? Jafdabh hat die Praister schon vor einiger Zeit verjagt. Ihr Anführer Thezael verrottet in der Kloake und mit ihm seine engsten Vertrauten.«

»Dann hat er nicht alle erwischt«, behauptete Nachika frech, »sie sind entkommen, verstecken sich und handeln aus dem Verborgenen. Sie jagen unbescholtene Einwohner und Bettler wie diesen hier. Wir flehen Euch an, gewährt uns Schutz.«

»Hm …«, brummte die Wache, »ich weiß nicht, ob ich Euch glauben soll. Ich kann Euch nicht einfach passieren lassen. Wer weiß, was Ihr Übles im Schilde führt. Außerdem klingt Eure Geschichte wenig überzeugend.«

»O bitte«, Nachika sah geradezu bemitleidenswert verzweifelt aus, »Ihr könnt uns doch nicht einfach hier stehen lassen und unseren Verfolgern ausliefern. Das wäre Jafdabh bestimmt nicht recht!«

Nachika steigerte sich in ihre Geschichte und brachte es zustande, vor den Wachen Tränen fließen zu lassen. Sapius schwieg, spielte den armen, gebeugten Bettler und freute sich über das schauspielerische Geschick seiner Begleiterin, auf das er selbst hereingefallen war. Damit kochte sie jeden noch so hartherzigen Mann am Ende weich. Er hoffte nur darauf, dass es schnell genug ging, bevor die Vision wieder endete und sie in die Wirklichkeit zurückfielen.

»Na gut«, lenkte der Wachposten schließlich ein, »wartet hier. Ich werde Euer Anliegen melden und will zumindest im Haus fragen, was ich mit Euch machen soll. Ist an Eurer Geschichte tatsächlich was dran, müssen und werden wir dem nachgehen. So viel ist sicher.«

Die Wache verschwand. Sapius und Nachika warteten ungeduldig vor dem Tor, während sie sich von den übrigen Wachen argwöhnisch beobachten lassen mussten. Nach einer Weile kam die Wache zurück.

»Ihr könnt passieren. Jafdabh erwartet Euch«, sagte der Wachposten.

Sapius hätte einen Freudensprung machen können, als er die Nachricht der Wache hörte. So einfach hatte er sich das nicht vorgestellt. Er war auf den Einsatz seiner magischen Fähigkeiten vorbereitet. Als er gerade durch das Haupttor an der Wache vorbeigehen wollte, spürte er eine schwere Hand auf seiner Schulter.

»Halt!«, sagte die Wache. »In dieser Aufmachung wird Euch Jafdabh nicht empfangen. Ich habe ihm von Euch und Eurem erbärmlichen Zustand berichtet. Euer Gestank ist nicht zu ertragen. Eure Kleidung ist unangemessen. Ich bringe Euch zuerst ins Badehaus. Dort werdet Ihr gewaschen und auf Kosten unseres Herren neu eingekleidet.«

Sapius zuckte zum Zeichen seiner Zustimmung gleichgültig mit den Schultern und seufzte. Ihm blieb nichts anderes übrig, als den Anweisungen der Wache zu folgen, wenn er zu Jafdabh vorgelassen werden wollte. Nachika kicherte hinter vorgehaltener Hand. Sie begleitete Sapius und die Wache durch einen wunderschön angelegten Garten in das nahegelegene Badehaus. Sapius musste sich vor den Augen der Wache und Nachikas vollständig ausziehen.

»Ihr seid gar nicht mal schlecht gebaut«, flüsterte Nachika und errötete.

»Ihr könnt mit mir baden, wenn es Euch gefällt«, antwortete Sapius keck, der sich wunderte, dass sie sich offenbar nicht an seinen zahlreichen hässlichen Narben störte.

»Igitt … nein! Wo denkt Ihr hin? Ihr steht vor Dreck«, lehnte Nachika empört ab, »außerdem gehört sich das nicht.«

»Dann eben nicht«, brummte Sapius beleidigt.

Die Wache klatschte in die Hände. Sofort erschienen mehrere Dienerinnen mit heiß dampfenden Wassereimern, Schwämmen, Bürsten und Seife. Sie füllten eine große Steinwanne mit Wasser und baten Sapius, sich in die Wanne zu setzen. Der Magier gehorchte und ließ die Prozedur klaglos über sich ergehen: Zwei Dienerinnen stiegen zu ihm in die Wanne, wuschen ihm den Kopf und schrubbten den Dreck und Gestank von seinem Körper, bis seine Haut schließlich glühte und rot glänzte.

Er stieg aus der Wanne, ließ sich trocken reiben und den Körper mit einem wohlriechenden Staub einpudern. Perfekt passende Kleider wurden gereicht. Bequeme Unterwäsche, Socken, die bis zu den Knien reichten, eine Wollhose, Hemd und eine Jacke. Die Stoffe waren überaus edel, hochwertig verarbeitet und in gedeckten Farben gehalten. Lediglich die Jacke mit den goldenen Knöpfen war nachtblau. Die Stiefel waren schwarz und aus feinem, weichem Leder, das sich an seine Füße schmiegte. Frisch gebadet und in den neuen Kleidern sah Sapius völlig verändert aus. Er glich mehr einem reichen Händler oder Fürsten als einem Magier und Drachenreiter.

Nachika klatschte in die Hände, als der Magier angezogen war.

»Ihr seht wie ein Prinz aus!«, sagte sie bewundernd. »Richtig schön und begehrenswert.«

»Danke«, antwortete Sapius mit belegter Stimme, der nun seinerseits ein Erröten nicht unterdrücken konnte.

»Gehen wir!«, unterbrach sie die Wache. »Jafdabh wartet.«

Sapius bedankte sich höflich bei den Dienerinnen und folgte gemeinsam mit Nachika der Wache in das Hauptgebäude des Anwesens. Der Magier staunte nicht schlecht, was sich dort an Werten angesammelt hatte: Bilder, Artefakte und viele Kunstgegenstände. Kristalle beleuchteten an den Wänden und Decken Flure und Räume, die mit allerhand Zierrat, Gold, Silber und Edelsteinen ausgestattet waren. Sapius glaubte in den gläsernen Vitrinen den einen oder anderen seltenen, magischen Gegenstand zu entdecken. Wozu die Artefakte dienten, vermochte er nicht zu sagen. Sie wurden durch eine hohe Flügeltür in einen Raum geführt, der gemütlich und einladend aussah. Im Kamin brannte ein Feuer, und die mit rotem Stoff bezogenen Sessel luden zum Sitzen ein. Jafdabh stand neben dem Kamin. Sapius erkannte den Todeshändler sofort, obwohl der deutlich an Gewicht verloren hatte, seit er ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Sapius’ Blick wanderte von Jafdabh weg durch das Zimmer. Auf einem Tisch in der Nähe lag der Teil des Buches, der Sapius vor einiger Zeit geraubt worden war. Auf einen Wink Jafdabhs hin entfernte sich die Wache.

»Tja … hm … willkommen, willkommen in meinem bescheidenen Haus«, begrüßte Jafdabh seine Gäste, »… ich wusste, dass Ihr mich suchen, eines Tages finden und kommen würdet, mir meine kleine Freude wieder zu nehmen.«

»Ihr seid ein Dieb und Räuber, Jafdabh«, sagte Sapius.

»Tja … nun … schon. Aber vielleicht wollt Ihr mich zuerst anhören und mich erklären lassen, weshalb ich Euch das Buch der Macht abnehmen ließ?«

»Ich bin ganz Ohr«, meinte Sapius.

»Tja … sicher … sicher. Aber wollt Ihr mir Eure überaus schöne Begleiterin denn nicht vorstellen?«

»Natürlich«, sagte Sapius, »das ist Nachika. Eine junge Frau aus Tut-El-Baya, die den Praistern in die Hände fiel und Euch nun um Unterkunft, Arbeit und Schutz bittet. Nachika, das ist Jafdabh, der Todeshändler und ehemalige Regent der Klanlande.«

Nachika lächelte und verbeugte sich vor Jafdabh.

»Tja … hm … die Praister«, gab sich Jafdabh nachdenklich, »ich habe mich eigentlich darum gekümmert. Sie sind keine Gefahr mehr. Aber selbstverständlich kann Nachika in meinem Haus bleiben und für mich arbeiten. Ich biete Sicherheit, zahle sehr gut und belohne Fleiß und Treue.«

»Danke, Herr«, sagte Nachika, »ich werde Euch gewiss nicht enttäuschen.«

»Ihr habt Euch nur in Eurer Vision um die Praister gekümmert, Jafdabh«, erwiderte Sapius, »verwechselt nicht die Wirklichkeit mit Euren Träumen. In der wahren Welt treiben die Praister ihr barbarisches Spiel und verbreiten Angst und Schrecken unter den Nno-bei-Klan. Ihre Macht wird immer größer. Es ist gefährlich, sich in Tut-El-Baya aufzuhalten. Thezael scheint seine Finger, Augen und Ohren überall zu haben.«

»Tja … es ist eine Tragödie mit diesem Thezael«, seufzte Jafdabh, »er ist wie ein ruheloser Geist. Ein Schreckgespenst aus dem Reich der Schatten. Ein grausames Monster. Ich werde ihn einfach nicht los. Er hat es auf mich abgesehen und hetzt die Schatten auf mich. Ich kann seinem Rachedurst nur mithilfe des Buches entgehen und mich mit Visionen einer anderen Welt gegen seine Angriffe zur Wehr setzen. Solange meine Gedanken sein Dasein bestimmen, ist er machtlos gegen mich.«

»Aber Ihr müsst doch erkennen, dass das nicht wahr ist. Es ist nur eine Illusion, Jafdabh. Ein Traum, der niemals Wirklichkeit wird«, sagte Sapius.

»Tja … das ist ja das Schlimme«, meinte Jafdabh, »ich habe das wohl gemerkt. Das Buch ist nicht vollständig. Es ist nur ein kleiner Teil, wenige Seiten. Ich kann meine Vorstellung von einer besseren Welt nicht lange genug aufrechterhalten. Sie verschwindet immer wieder und mit jedem Mal kommen mir Thezaels Schatten näher.«

»Es sind nicht Thezaels Schatten«, verbesserte Sapius den Todeshändler, »es sind Schatten, die einem Schattenbeschwörer gehorchen. Jeder Schattenbeschwörer vermag, was Thezael kann. Und was Eure sogenannte bessere Welt angeht, so ist sie eine Katastrophe. Ell stirbt, wenn Ihr nicht sofort damit aufhört.«

»Tja … ich weiß nicht. Seht Ihr das wirklich so? Ich will nur das Beste. Arbeit, Brot und Wohlstand für die Klan. Keine böse Magie mehr. Technik und Fortschritt sind die Schlüssel für die Zukunft«, erklärte Jafdabh. »Wisst Ihr, ich war völlig verzweifelt, als Thezael und die Todsänger triumphierend in Tut-El-Baya einmarschierten. Kampflos … das müsst Ihr Euch vorstellen. Madhrab gab die Stadt und seine Regentschaft einfach auf. Unfassbar. Hätte ich das vorher gewusst, wäre ich niemals zurückgetreten. Dabei sah anfangs alles noch gut aus. Ein Sieg gegen die Rachuren. Aber dann … Madhrab kapitulierte. Thezael kam, sah und tötete meine Familie und viele meiner Freunde und Verbündeten. Ich musste Hals über Kopf fliehen. Ich brauchte einen Plan, ihm und seinen Häschern zu entkommen. Da erfuhr ich von dem Buch der Macht. Ich musste es haben. Es war die Lösung all meiner Probleme. Ich wollte Euch nicht schaden oder Euch verletzen. Das müsst Ihr mir glauben. Aber ich brauchte etwas, womit ich Thezael entgegentreten, den Frieden sichern und meine Träume verwirklichen konnte.«

»Mit dem Teil des Buches wird Euch das nicht gelingen«, behauptete Sapius, »der Preis für den Wohlstand ist zu hoch. Ihr müsst mir das Buch wieder überlassen, Jafdabh.«

»Tja … nun … das kann ich nicht«, lehnte Jafdabh ab, »ich wäre Thezael schutzlos ausgeliefert, würde ich Euch das Buch aushändigen. Die Schatten würden mich früher oder später finden und mich zu ihm zerren. Habt Ihr eine Vorstellung davon, zu welchen Grausamkeiten Thezael imstande ist?«

»Ungefähr, ja«, nickte Sapius.

»Tja … aber wie könnt Ihr dann von mir verlangen, dass ich Euch das Buch gebe?«

»Ich lasse Euch keine Wahl, Jafdabh. Ihr gebt mir das Buch aus freien Stücken oder ich nehme es mir notfalls mit Gewalt.«

»Tja … das dachte ich mir beinahe«, seufzte Jafdabh, »das ist höchst bedauerlich. Aber Ihr habt schon einmal gegen meine Getreuen verloren. Habt Ihr denn keine Angst, dass dies noch mal geschehen könnte? Habt Ihr die magischen Artefakte in den Vitrinen der Flure gesehen? Glaubt Ihr, gegen all das ein Mittel zu kennen?«

»Ja, das glaube ich. Ihr werdet mich nicht noch einmal überraschen und besiegen«, sagte Sapius, fest von seinen Fähigkeiten überzeugt.

»Tja … das ist eine schwierige Lage. Ehrlich gesagt, glaube ich Euch das sogar.« Jafdabh kratzte sich verlegen am Kopf. »Ich will nicht gegen Euch kämpfen. Ich sehe es ein, das ergibt keinen Sinn. Machen wir also einen Handel. Ich überlasse Euch den Teil des Buches und Ihr sorgt im Gegenzug für meinen Schutz. Kümmert Euch um Thezael und die Praister. Erledigt sie ein für allemal. Gelingt Euch das, wäre das ein unschätzbarer Beitrag zu einer besseren Welt. Das ist mein Angebot. Was sagt Ihr dazu? Schlagt ein und gebt mir Eure Hand darauf!«

Jafdabh hielt Sapius wartend die ausgestreckte Hand hin. Sapius musste erst nachdenken. Thezael war kein leichter Gegner. Die Aufgabe war gefährlich und würde ihn Zeit kosten. Zeit, die er nicht hatte. Warum sollte er auf Jafdabhs Vorschlag eingehen? Was kümmerte ihn der Todeshändler, der ihn ausgeraubt und im Staub liegen gelassen hatte? Je mehr er allerdings darüber nachdachte, desto mehr kam er zu der Überzeugung, dass Jafdabh kein schlechtes Herz hatte. Sapius glaubte ihm, dass er eine bessere Welt schaffen wollte. Jafdabh war nur über sein Ziel hinausgeschossen. Und Thezael war ein echtes Übel. Sapius schlug ein.

»Unter zwei Bedingungen«, sagte Sapius, während er Jafdabhs Hand drückte.

»Tja … ähm … und die wären?«

»Ihr verratet mir, wer Euch dabei geholfen hat, im Buch der Macht zu lesen und zu schreiben. Die zweite Bedingung lautet: keine Visionen mehr, solange ich Thezael und die Praister jage und zur Strecke bringe.«

»Tja … hm … schwierig … hm … was soll ich machen … einverstanden!«

»Gut«, nickte Sapius, »wer hat Euch geholfen?«

»Tja … glaubt es oder glaubt es nicht. Es war ein Narr. Er ist von kleinerer Statur und trägt eine Flickenkappe mir Glöckchen auf dem Kopf. Sein Name ist Tarratar. Wisst Ihr, er ist sehr begabt.«

Sapius klappte vor Schreck der Mund auf. Die Farbe wich ihm aus dem Gesicht und seine Augen wurden groß. Tarratar? Nur langsam gelang es Sapius, sich wieder zu fassen.

»Das … das … das glaube ich Euch auf der Stelle«, stammelte der Magier, »Ihr sprecht gewiss die Wahrheit. Ich bin nur … wie soll ich sagen … überrascht und … enttäuscht. Ich weiß nicht, ich fühle mich verraten.«

»Tja … oh … das wollte ich nicht. Es tut mir leid.«

»Nein, nein«, antwortete Sapius, »das ist nicht Euer Problem. Ich muss nur in Ruhe nachdenken, was das zu bedeuten hat.«

Sapius war drauf und dran, die Suche aufzugeben und Jafdabh das Buch der Macht zu überlassen. Der Narr spielte ein falsches Spiel. Erst überließ er ihm das Buch, dann sorgte er dafür, dass es in Jafdabhs Hände geriet und half ihm dabei, die Vision einer technischen, ausgebeuteten Welt umzusetzen. Danach wiederum verlangte der Wächter von Sapius, Jafdabh zu suchen und das Buch zurückzugewinnen. Wozu sollte das gut sein? Tarratar hätte das Buch selbst an sich nehmen können. Stattdessen ließ er Sapius und die Streiter im Ungewissen. Der Magier kam sich betrogen vor. Er hatte Tarratar vertraut. Dennoch wollte sich Sapius nicht von seinem Vorhaben abbringen lassen. Er war weit gekommen. Tarratar handelte nicht ohne Grund. Dessen war sich Sapius sicher. Der Magier hatte nur noch nicht herausgefunden, wofür der erste Wächter einstand. Was trieb ihn um und welches waren seine Ziele? Es hatte keinen Zweck, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Er würde ihn persönlich fragen und auf eine verständliche Antwort hoffen müssen.

»Tja … eines noch«, unterbrach Jafdabh die Gedanken des Magiers, »ich möchte Euch gerne etwas zeigen. Wie gesagt, es tut mir leid, was Ihr meinetwegen durchmachen musstet. Meine Leute waren … nun … tja … etwas unsanft zu Euch, als sie Euch das Buch raubten. Das lag nicht in meiner Absicht. Ich möchte Euch gerne dafür entschädigen.«

»Das ist nicht nötig«, sagte Sapius, »wir haben einen Handel. Ihr überlasst mir das Buch und ich kümmere mich um Thezael.«

»Tja … nein … das meine ich nicht«, antwortete Jafdabh, »Ihr dürft mir das nicht abschlagen. Sobald die Vision endet, steht Ihr mitten in Tut-El-Baya mit nur noch sehr wenig da. Selbst die Kleider, die ich Euch geschenkt habe, werden verschwunden sein. Folgt mir, ich zeige Euch meine geheimen Kammern, in denen ich meine Schätze und einen Teil meines Vermögens aufbewahre. Die Kammern und die dort aufbewahrten Gegenstände existieren in der Wirklichkeit genauso wie in meinen Träumen. Ich habe sie nicht angetastet und sie verschwinden nicht, sollte die Vision enden. Niemand hat sich je dafür interessiert oder vermutet, dass sich unterhalb eines alten, schäbigen Lagerhauses mitten in der Stadt Jafdabhs geheime Kammern befinden würden. Das Lagerhaus liegt in der Wirklichkeit genau an derselben Stelle wie dieses Haus. Ich möchte, dass Ihr Euch dort umseht und Euch angemessen ausstattet. Nehmt Euch, was immer Ihr braucht. Kleidung, Rüstung und Waffen, die Eurer würdig sind. Magische Artefakte. Ich zeige Euch gerne die Rüstung eines Drachenreiters. Sie gehört Euch, wenn sie Euch gefällt und passen sollte. Nachika darf uns begleiten. Auch für sie finden wir bestimmt etwas Nützliches.«

»Nun gut«, stimmte Sapius zu, »wenn Ihr darauf besteht. Zeigt mir die Kammern.«

Jafdabh führte Sapius und Nachika durch sein Haus. Er zeigte und erklärte ihnen auf dem Weg Dinge, die sie nie für möglich gehalten hätten. Es handelte sich um erstaunliche, nützliche, aber auch gefährliche Erfindungen, die Sapius lieber unter Verschluss gewusst hätte. Manche der seltenen Artefakte waren selbst für Wesen ohne Magiebegabung verwendbar. Auf den ersten Blick rief all der Prunk Staunen hervor. Überall glitzerte und funkelte es von den Decken und Wänden. Aber irgendwann empfand der Magier das viele Gold, die Kristalle und Edelsteine nur noch erdrückend und ermüdend.

»Tja … vielleicht haben wir Glück und treffen Tarratar in den Kammern«, meinte Jafdabh beiläufig, »er hält sich gerne dort auf, stöbert mit Leidenschaft in meinen Sachen und schmökert in alten, längst vergessenen Schriften. Er müsste bald auftauchen. Die Vision vergeht in den nächsten Horas und müsste erneuert werden.«

»Worauf wir verzichten wollten, falls Ihr Euch an unsere Abmachung erinnert«, ermahnte Sapius den Todeshändler. »Ob es ein Glück wäre, den Narren zu treffen, darüber lässt sich streiten.«

»Tja … natürlich, natürlich«, nickte Jafdabh und eilte weiter.

Tief unter dem Hauptgebäude befanden sich die geheimen Kammern Jafdabhs. Versteckt hinter Mauerwerk lagen die schweren Eisentüren. Sie waren viele Stufen hinabgestiegen, bevor der Todeshändler endlich einen Schlüsselbund aus seinem Gewand hervorzog und die erste Kammer mit fünf Schlüsseln aufschloss. Hin und wieder klickte es, sobald der Todeshändler einen Schlüssel in eine bestimmte Richtung drehte, an Rädchen kurbelte und verschiedene Hebel des überaus komplizierten Schließ- und Öffnungsmechanismusses betätigte. Schließlich hatte es der Todeshändler geschafft und die mindestens fünf Fuß dicke Eisentür öffnete sich zu Sapius’ Erstaunen nahezu geräuschlos. Lediglich ein leichter Luftzug war zu hören und zu spüren, als die Tür nach außen aufschwang.

Jafdabh hatte nicht zu viel versprochen. Alleine in dieser geräumigen Kammer sah er ein Vermögen, das für den Unterhalt eines ganzen Königreiches ausgereicht hätten.

»Wie viele Kammern dieser Art gibt es?«, wollte Sapius wissen.

»Tja … es gibt sieben Kammern«, gab Jafdabh offen zu.

»Ihr seid wahrlich ein schwerreicher Mann«, staunte Sapius nicht ohne Bewunderung.

»Tja … im Laufe eines Lebens sammelt sich so manches an.«

»Nicht bei jedem von uns«, meinte Sapius.

»Tja … das stimmt wohl. Beim einen mehr, beim anderen weniger.«

Sapius’ Blick fiel sofort auf einen Rüstungsständer, der gleich neben dem Eingang an der Wand stand. Darauf befand sich eine Rüstung, die Sapius in echtes Erstaunen versetzte. Der Magier pfiff leise durch die Zähne. Das war zweifellos die Rüstung eines Yasek. Sie war zwar alt, aber gut erhalten. Die Rüstung musste ein Vermögen wert sein.

»Wo habt Ihr die her?«, wollte Sapius wissen.

»Ach die? Tja … nun … das ist schon eine Weile her. Ich fand sie in den Ruinen der Drachenreiterstadt, kurz nachdem diese zerstört worden war. Vieles von dem, was Ihr hier seht, habe ich nach geschlagenen Schlachten aufgesammelt oder an längst vergessenen und gefährlichen Orten gefunden. Wollt Ihr sie anprobieren?«

Sapius schluckte und bekam glänzende Augen. Natürlich wollte er die Rüstung des Yasek anlegen. Er brannte darauf. Das gute Stück hatte sich einst im Besitz seines Vaters Calicalar befunden. Ein Familienerbstück, das bereits Sapius’ Urahnen getragen hatten.

Nachika und Jafdabh halfen Sapius, die Rüstung anzulegen. Sie passte wie für ihn gemacht und trug sich leicht und bequem. Er fühlte sich rundum wohl und sicher darin.

»Tja … das nenne ich einen Glücksgriff. Perfekt. Die Rüstung steht Euch ausgezeichnet«, meinte Jafdabh, »was denkt Ihr Nachika?«

»Unglaublich«, sagte Nachika bewundernd, »Ihr müsst die Rüstung behalten, Sapius.«

»Allerdings«, antwortete Sapius, »ich werde sie nie wieder ablegen.«

»Tja … Ihr solltet nicht übertreiben und es so weit kommen lassen wie zuletzt. Ein Bad zwischendurch kann niemandem schaden und ich denke nicht, dass Ihr in der Rüstung schlafen solltet. Aber das ist Eure Sache. Sie gehört Euch!«

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, Sapius klang beschämt, »vielen Dank.«

Jafdabh zeigte dem Magier noch einige andere Kleidungsstücke. Darunter waren neben bequemen Hosen, Hemden, Jacken und Stiefeln ein besonders praktischer und hochwertiger Kapuzenmantel mit zahlreichen, eingenähten Innentaschen. Sapius konnte nicht Nein sagen. Er musste den Mantel einfach haben. Ein Dolch wanderte ebenfalls in seinen Besitz.

»Tja … ich bin froh, dass wir etwas Passendes für Euch gefunden haben«, sagte Jafdabh. »Ich hätte noch einen besonderen Sack mit Lederriemen anzubieten. Ihr könnt ihn auf dem Rücken tragen. Das Besondere daran ist, dass Ihr das Gewicht kaum spüren werdet, gleichgültig wie viel Ihr hineinpackt. Außerdem bietet er fast unbegrenzt Platz. Wir werden alles darin verstauen können, was Ihr Euch ausgesucht habt.«

»Dann muss der Sack magisch sein«, stellte Sapius fest.

»Tja … ich denke schon. Ich habe ihn schon vor langer Zeit von einem Magier erworben. Er sieht unscheinbar und abgetragen aus, aber er hat mir auf meinen Reisen stets gute Dienste geleistet.«

Sie packten die Geschenke gemeinsam in den Sack. Die Rüstung des Yasek behielt Sapius gleich an. Für Nachika fanden sich einige wunderschöne Kleidungsstücke und Schmuck, den ihr Jafdabh gerne überließ. Nachika hatte jedoch darauf verzichtet, die Kleidungsstücke anzuziehen.

Beim Stöbern in Jafdabhs Schätzen und der Freude über die Großzügigkeit des Todeshändlers hatten sie die Zeit vergessen. Die Wirklichkeit holte sie ein, was in Jafdabhs Schatzkammer nicht sofort zu merken war. Sapius fiel die Veränderung auf, als er in Nachikas Gesicht blickte. Ihre Fröhlichkeit war verflogen. Sie wirkte angespannt und traurig. Er konnte ihr an ihrer Haltung ansehen, dass sie gedemütigt und vergewaltigt worden war. Die äußeren Wunden hatte Sapius zwar heilen können, nicht jedoch die Verletzungen in ihrer Seele. Außerdem trug sie das blutbefleckte und teils zerrissene Gewand eines Praisters am Leib. Sie war schmutzig und ihr Haar war zerzaust.

Jafdabh hingegen war plötzlich verschwunden. Sapius drehte sich um und suchte den Todeshändler in der Kammer. Dabei stellte er fest, dass die Tür verschlossen war. Sie waren in der Kammer gefangen.

»Hoi, hoi, hoi … Sapius!«, hörte Sapius eine bekannte Stimme durch die Kammer hallen.

»Tarratar!«, rief der Magier erschrocken und verärgert.

Der Narr saß breit grinsend auf einem Stapel von Kisten und blickte auf den Magier und Nachika herab. Er schüttelte den Kopf, und die Glöckchen an seiner Kappe klingelten hell und laut. In einer Hand hielt er den Teil des Buches der Macht, der zuvor in Jafdabhs Haus gewesen war. Das Buch war aufgeschlagen. In der anderen Hand hielt er einen Federkiel, bereit zum Schreiben.

»Ihr kommt mir gerade recht«, sagte Sapius, »wohin ist Jafdabh verschwunden?«

»Oh … der Todeshändler ist wieder in seinem Versteck. Verborgen irgendwo in den Wäldern des Faraghad. Dort gibt es viele Höhlen. Wenn Ihr ihn sehen wollt, muss ich seine Vision erneuern.«

»Untersteht Euch, Tarratar«, sagte Sapius zornig, »Ihr habt mich und die Streiter an der Nase herumgeführt. Ihr steckt hinter alledem. Was soll das?«

»Das ist Teil Eurer Prüfung, Sapius«, versuchte der Narr, den Magier zu beschwichtigen, »das Buch verlangt es. In den Prüfungen hat sich keiner von Euch als würdig erwiesen. Aber das wisst Ihr ja bereits. Ich musste sichergehen, dass Ihr wirklich würdig seid. Ihr habt Euch Gefahren ausgesetzt und durch eine fremd anmutende Welt durchgeschlagen, um in die Nähe des Buches zu kommen. Die Veränderungen haben Euch nicht abgeschreckt, Ihr habt einen Weg gefunden, mit Ihnen umzugehen. Ihr seid weit gekommen.«

»Weshalb Jafdabh?«, wollte Sapius wissen. »Warum habt Ihr ausgerechnet ihn unterstützt?«

»Ich habe selten jemanden getroffen, der so wenig magische Begabung besitzt wie der Todeshändler. Aber – und das zeichnet ihn in meinen Augen aus –, er besitzt ein gutes Herz und einen kreativen, klugen und überaus wachen Geist. Er ist es wert, beschützt zu werden. Jafdabh schwebt in großer Gefahr. Ich bin fasziniert von seinen Ideen und Träumen. Ich wollte sehen, wie sie sich entwickeln, wohl wissend, dass sie nicht von Bestand sein können. Außerdem brauchtet Ihr eine echte Herausforderung, Sapius. Die Prüfungen dürfen nicht zu leicht sein. Wer wäre besser geeignet gewesen, Euch und die übrigen Streiter zu verwirren, als dieser visionäre Kopf? Gebt es zu, Ihr habt zuweilen an Eurem Verstand gezweifelt.«

»Gewiss, was wohl kein Wunder sein dürfte bei den Träumen eines Spinners!«

»Er ist kein Spinner, Sapius«, tadelte Tarratar den Magier, »Jafdabh ist ein fortschrittlicher Denker, auch wenn seine Ideen gefährlich anmuten. Er besitzt selbst ohne Magie oder das Buch genug Mittel, seine Ideen umzusetzen. Seine Visionen könnten schon bald Wirklichkeit werden. Vielleicht muss man ihn nur in die richtige Richtung lenken und seine Vorstellungen etwas zügeln. Ihr wärt gewiss in der Lage dazu, ihn immer wieder zur Vernunft zu rufen. Aber zuvor muss die Gefahr beseitigt werden, die sein Leben bedroht. Thezael will sich an Jafdabh rächen.«

»Eine weitere Prüfung für mich, nicht wahr?«

»Hoi, hoi, hoi … Ihr lernt schnell, Sapius«, lächelte der Narr, »eine schwere Prüfung, ja. Ihr habt Jafdabh bereits versprochen, dass Ihr Euch um Thezael kümmern werdet, auch ohne dass ich Euch diese Aufgabe stellen muss. Das ist gut. Ihr seid auf dem richtigen Weg.«

»Ich weiß nicht, ob ich Euch noch einmal vertrauen kann.«

»Vertrauen? Weshalb solltet Ihr mir vertrauen? Ich bin der erste Wächter. Ihr müsst mir nicht vertrauen. Habe ich Euch meine Freundschaft angeboten? Ich kann mich nicht erinnern. Meine Aufgabe ist es, das Buch der Macht zu beschützen und die Streiter zu prüfen. Das alles geschieht zur Wahrung des Gleichgewichts. Scheitern die Streiter an den Prüfungen, werde ich nicht zögern, sie von den weiteren Prüfungen auszuschließen und, wenn es sein muss, sie zu töten, Euch eingeschlossen.«

»Schön, wenigstens weiß ich jetzt, woran ich bin und was ich von Euch erwarten darf«, meinte Sapius, »aber vielleicht könnt Ihr mir helfen, aus der Kammer herauszukommen.«

»Was würdet Ihr vorschlagen? Die Tür aufbrechen? Einen Tunnel graben oder durch Wände gehen?« Tarratar wackelte mit dem Kopf und ließ die Glöckchen erklingen.

»Ihr kennt bestimmt einen besseren und schnelleren Weg«, Sapius war genervt vom Verhalten des Narren und sein Tonfall war barsch.

»Hoi, hoi, hoi … habe ich Euch verärgert? Das wollte ich nicht. Ich kenne einen Weg, den Ihr nicht gehen könnt. Mein Vorschlag wäre deshalb, wir beschwören Jafdabhs Vision ein weiteres Mal herauf, dann könnt Ihr mit seiner Hilfe die Schatzkammer ungehindert verlassen. Diesen Weg empfehle ich Euch dringend. In unserer unveränderten Welt schickt Thezael die Schatten nach Jafdabh aus. Solltet Ihr den Praister finden, könnte es für Jafdabh bereits zu spät sein. Die Vision hindert Thezael an der Verwirklichung dieses Vorhabens, zumindest, solange sie wirkt, Ihr würdet also Zeit gewinnen. Nutzt Eure Möglichkeiten, Sapius. Ich habe gesehen, was Ihr inzwischen gelernt habt. Die Schatten gehorchen Euch. Das ist gut.«

Sapius ließ sich überzeugen und stimmte zu, obwohl es ihm überhaupt nicht gefiel, sich noch ein weiteres Mal in der Welt des Todeshändlers zu bewegen. Tarratar kritzelte einige Zeilen in die Seiten, klappte das Buch wieder zu und warf es Sapius zu. Der Magier wurde von dem Wurf überrascht, fing es jedoch gerade noch auf, bevor es auf den Boden fallen konnte. Tarratar sprang von den Kisten herab und baute sich dicht vor Sapius auf. Der Blick des Narren war ernst und durchdringend.

»Guter Fang«, meinte Tarratar, »das Buch gehört Euch. Passt dieses Mal besser darauf auf und verliert es nicht wieder. Meine Aufgabe hier ist vorerst erledigt. Die Pflichten des ersten Wächters rufen mich nach Eisbergen. Ihr wisst, was Ihr zu tun habt. Wir sehen uns bald wieder, Sapius. Enttäuscht mich nicht!«

Mit diesen Worten drehte sich der Narr im Kreis und verschwand. Wenig später erschien Jafdabh in der Kammer, als wäre er niemals weg gewesen. Die Vision des Todeshändlers hatte sich erneuert. Die Tür zur Kammer stand offen.

»Wisst Ihr wo ich Thezael finde?«, fragte Sapius.

»Tja … oh … Thezael … hm … das ist nicht schwer. Ich habe ihn in der Kloake anbinden lassen. Dort soll er verrotten. Die Krebse und Ratten sollen sich an seinem Fleisch laben.«

»Jafdabh! Ich will nicht wissen, wo er sich in Eurem Traum aufhält. Dort kann ich nichts gegen ihn ausrichten.«

»Tja … ach so? Träume oder wache ich? Nun, wenn er nicht in der Kloake von Tut-El-Baya ist, dann trefft Ihr ihn für gewöhnlich im Kristallpalast. Sucht in den Folterkammern der Praister nach ihm. Er liebt es, andere Geschöpfe zu quälen. Dort werdet Ihr ihn bestimmt finden, solltet Ihr es bis dahin schaffen.«

»Weshalb sollte ich es nicht bis in die Folterkammern schaffen?«, wollte Sapius wissen.

»Tja … bedauerlich … ich vermute, die Vision wird höchstens so lange anhalten, bis Ihr im Palast angekommen seid. Thezael ist nicht allein. Es gibt Diener, Wachen, Praister und die Schatten der Toten. Sie werden Euch nicht wohlgesonnen sein und Euch nicht freiwillig zu ihm vorlassen.«

»Danke«, meinte Sapius, »dann muss ich mich eben zu ihm durchkämpfen. Die Kojos mögen mir beistehen. Aber ich verlasse mich lieber auf meine Macht. Lebt wohl, Jafdabh. Ich sollte mich besser beeilen.«

»Ich komme mit Euch«, sagte Nachika, sprang sofort an Sapius’ Seite und packte seinen Arm.

»Das ist keine gute Idee«, meinte Sapius, »ich möchte nicht, dass Ihr in Gefahr geratet. Ihr wärt mir keine Hilfe gegen Thezael.«

»Aber ich könnte Euch Gesellschaft leisten, Euch aufmuntern. Ihr seid mein Held und werdet mich bestimmt vor den Praistern beschützen.«

»Nein«, lehnte Sapius ab, »Ihr bleibt bei Jafdabh. Sollte ich erfolgreich sein, seid Ihr bei ihm sicher.«

»Und wenn nicht?« Nachika blickte Sapius mit ihrem schönsten Schmollmund traurig an.

»Nun … ähm … also, daran wollen wir erst gar nicht denken«, meinte der Magier irritiert, der froh war, Nachika endlich loszuwerden.

Nachika akzeptierte schweren Herzens. Bevor sie den Magier gehen ließ, zog sie ihn fest an sich und umarmte ihn. Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange und hauchte in sein Ohr: »Wir sehen uns doch wieder, nicht wahr? Das müsst Ihr mir versprechen. Meine Tür steht immer für Euch offen. Ich warte auf Euch, Sapius.«

»Nachika, bitte. Ihr gefallt mir und ich mag Euch. Ihr seid eine schöne und begehrenswerte Frau. Ihr werdet gewiss bald einen jungen Mann finden, der Euch ganz alleine gehört. Aber ich habe eine Familie, die auf mich wartet.«

»Das macht doch nichts«, seufzte Nachika, »Ihr seid ein Held und könnt viele Frauen und Kinder haben, auch mit mir. Ich störe mich nicht daran.«

»Ich habe verstanden. Aber ich muss jetzt gehen«, lächelte Sapius verlegen und schob die junge Frau sanft von sich, »vielleicht sehen wir uns eines Tages wieder. Bis dahin, lebt wohl.«

Sapius verließ die Schatzkammer und Jafdabhs Haus gut gerüstet. Der Weg zum Kristallpalast war nicht weit. Als der Magier die Terrassen des Palastgartens gerade Ebene für Ebene erklommen hatte und durch einen Nebeneingang eintreten wollte, merkte er, dass er sich wieder in der Wirklichkeit befand. Er tastete nach dem Buch, das er sich erneut an die Brust gebunden hatte. Sapius atmete hörbar erleichtert auf. Es war noch da. Das Buch der Macht. Dies war das letzte Mal, dass Jafdabhs Vision gewirkt und alles durcheinandergebracht hatte. Sapius wusste, er musste sich beeilen. Thezael würde keinen Augenblick zögern, die Schatten zu rufen.