Im Auge des Wächters

Inmitten eines gigantischen Netzes hauste der vierte Wächter des Buches. Er teilte sich das Netz mit einer Riesenspinne namens Peeva und vielen anderen Wesen. In einem großen, aus seidenen Fäden gesponnenen Kokon, hatte er sich zusammengerollt und wartete. Lauerte regungslos. Auf was er lauerte, wusste nur der Wächter selbst. Der vierte Wächter war ein uraltes Wesen, das in seiner einzigartigen Gestalt zwar einfach zu beschreiben aber nur schwer zu begreifen war. Er gehörte neben der Mutter aller Drachen und Tarratar zu den ältesten Geschöpfen Krysons. Sein Name lautete Grenwin und er war einer der letzten seiner Art. Aber was genau war der vierte Wächter? Ein monströser Wurm, eine Raupe, eine Spinne, ein Klan oder eine Mischung aus allen vier? Seinem Äußeren nach war er nichts weiter als ein fleischiges, hautfarbenes Wesen mit einem übergroßen, kahlen Kopf und acht Tentakeln, die mit zahlreichen Saugnäpfen und Drüsen besetzt waren und Hände zum Greifen aufwiesen. Grenwin war abstoßend, furchterregend und abgrundtief hässlich. Doch jeder, der die Höhle betrat, konnte die ungeheure Macht spüren, die von ihm ausging.

Der Körper ähnelte dem einer fetten Raupe mit einer Vielzahl dicht aneinandergereihter Einzelsegmente und war am Hinterleib mit Spinndrüsen ausgestattet, aus denen noch dicke, klebrige Fäden hingen. Was würde aus ihm werden, sollte er sich eines Tages verpuppen? Ein riesiger Schmetterling, eine Spinne oder gar ein Drache? Tausend dunkle Augen waren vorne, an den Seiten und hinten über seinen Körper verteilt. Sie schimmerten im fahlen Licht der Höhle gelb, gefährlich und aufmerksam. Der vierte Wächter sah vieles, was sich auf Kryson ereignete. Sein Wissen war groß. Größer als das der meisten Wesen.

Grenwin wartete auf die sieben Streiter, die zu ihrer letzten Prüfung aufgebrochen waren. Er wusste, sie würden bald kommen, und beobachtete sie. Jeden ihrer Schritte verfolgte er genau. Grenwin wunderte sich über so manchen Streiter und schüttelte sich vor Lachen über ihre Ungeschicklichkeiten oder vor Abscheu über eine begangene Grausamkeit. Die sieben Streiter befanden sich mitten im Auge des Wächters.

*

Der Ruf der Streiter hatte die Gruppe um Tomal erreicht, als sie in der Nähe des Flussufers des Rayhin unter einem alten Baum lagerten, wo sie die Nacht verbringen wollten. Tomal, Malidor und Kallya hatten sich gemeinsam auf den Weg nach Tut-El-Baya gemacht. Der Lesvaraq hatte noch eine Rechnung mit den Praistern offen, die seinen Vater Corusal getötet hatten. Aber im Grunde seines Herzens ging es Tomal nicht darum, Rache für den Tod des Fürsten zu üben. Corusal war ihm gleichgültig, so wie ihm auch die Fürstin Alvara, seine leibliche Mutter Elischa und Madhrab egal waren. Was kümmerte einen Lesvaraq ihr Schicksal? In seiner Vorstellung waren sie nicht wichtig, ihr Leben ohne jede Bedeutung. Der Einzige, der ihm wirklich – mit Ausnahme der Königin der Nno-bei-Maya, die er begehrte, vielleicht sogar liebte und zugleich hasste – etwas bedeutet hatte, war Sapius. Der Magier hatte ihn aufgezogen und ihm viele Dinge beigebracht. Er hatte ihn gelehrt die Magie zu kontrollieren, bis er ihm nichts mehr beibringen konnte und der Lesvaraq ihm überlegen wurde. Sapius’ Wissen und Können war auch Tomals Wissen, nur dass er als Lesvaraq mächtiger war und inzwischen mehr konnte und wusste als sein Lehrer.

Aber ausgerechnet Sapius hatte ihn verlassen. Tomal fühlte sich von seinem einstigen Magier verraten. Er hatte ihm nie verziehen, dass sich Sapius befreit und den Zyklus des Lesvaraq beendet hatte. Wie hatte er ihm das antun können? Er gab dem Magier die Schuld an seinem geistigen Verfall und dem Ende der Dunkelheit in sich selbst, die ihn langsam, aber sicher in den Wahnsinn trieb. Dabei hatte sich Tomal immer als den Lesvaraq der Nacht angesehen und diese Seite des Gleichgewichts eindeutig bevorzugt. Aber Madhrab, sein leiblicher Vater, hatte ihm diese Seite der Macht endgültig genommen. Es war ein Fehler, sich dem Bewahrer zu stellen und gegen ihn anzutreten. Tomal fand, Sapius hätte ihn unbedingt davon abhalten müssen. Aber er hatte ihm in diesem alles entscheidenden Moment nicht zur Seite gestanden.

»Soll Madhrab doch in den Flammen der Pein schmoren«, dachte Tomal gehässig, »er war als Vater ohnehin nie für mich da und am Ende hat er noch mein Leben vernichtet. Was hat es mir gebracht? Ich trage sein Schwert Solatar bei mir. Doch die Hoffnung, auch die Gabe des Kriegers von ihm zu erben, wird schwächer und schwächer. Das Blutschwert wird mit jedem Tag schwerer. Ich kann es kaum noch tragen. Ausgeschlossen, Solatar in einem Kampf einzusetzen. Die verdammte Waffe würde mir den Dienst verweigern. Ich sollte es bald loswerden.«

Tomal stand der Sinn nach Zerstörung. Er musste seine unbändige Wut freilassen. Anderes Leben vernichten. Danach stand ihm der Sinn. Die Praister in Tut-El-Baya wären ein passendes Ziel gewesen. Aber selbst diese Möglichkeit hatte ihm Sapius genommen. Auf ihrem Marsch Richtung Hauptstadt hatten sie von einem fahrenden Händler erfahren, dass die Schreckensherrschaft der Praister unter der Führung Thezaels ein überraschendes Ende gefunden hatte. Thezael war tot, der Todeshändler und ehemalige Regent Jafdabh mit seinen Getreuen in die Stadt zurückgekehrt, um wieder Ordnung zu schaffen. Den Berichten des Händlers zufolge war es Jafdabh gelungen, die im Kristallpalast verbliebenen Praister zu vertreiben und sogar einige von Nalkaar zurückgelassene Todsänger zu überwinden und in die Flammen der Pein zu schicken. Letztere Nachricht war allerdings nicht mehr als ein unbestätigtes Gerücht. Aber auch das war ohne Bedeutung. Tomal konnte Tut-El-Baya nicht mehr angreifen und seiner Wut freien Lauf lassen.

Zu allem Überfluss hatte ihn noch der Ruf der Streiter ereilt, der sie nach Kartak, auf die Insel der Nno-bei-Maya rief. Dort sollte die Suche nach dem Buch der Macht ein Ende finden. Dabei hatte er mit diesem unrühmlichen Kapitel seines Lebens bereits abgeschlossen. Aber vielleicht eröffnete es ihm auch neue Möglichkeiten, den Wahnsinn und das Chaos in seinem Kopf in den Griff zu bekommen. Er würde Saykara wiedersehen. Das war gut, denn die Königin ging ihm nicht mehr aus dem Kopf, seit er mit ihr das Lager geteilt hatte. Aber er würde mit leeren Händen kommen, was ihr gewiss nicht gefallen würde. Sein Versagen, der heiligen Mutter die Artefakte abzunehmen, nagte an seinem Selbstbewusstsein. Eine sehr alte Ordensschwester hatte ihn niedergeschlagen und er war erst in der Grube wieder aufgewacht.

Und dann waren da noch seine beiden Begleiter, Kallya und Malidor. Kallya nervte den Lesvaraq, seit sie sich selbst und ihre Macht als Lesvaraq nach ihrem Duell aufgegeben und sich ihm als seine Magierin des Lichts angeboten hatte. Er hatte nie verstanden, warum sie sich ihm lieber unterworfen und nicht stattdessen den Tod gewählt hatte.

Von Malidor hielt der Lesvaraq überhaupt nichts. Er mochte ihn nicht und nahm an, dass sich der Magier, der durch Kallyas Entscheidung von seinem Zyklus des Lesvaraq entbunden worden und nun frei war, ihm nur deshalb angeschlossen hatte, weil er Tomal für mächtig hielt. Wahrscheinlich erhoffte er sich Ruhm und Vorteile an der Seite des Lesvaraq. Und er war auf das Buch der Macht aus.

»Er will sich in meinem Glanz sonnen und erwartet, dass etwas für ihn dabei abfällt«, dachte Tomal verächtlich, »Malidor ist ein widerlicher Opportunist und ein Feigling, der sich niemals selbst die Hände schmutzig machen würde. Er würde sich jedem anschließen, der ihm hilft, seine eigenen Ziele zu erreichen. Malidor würde nicht zögern, das Buch der Macht an sich zu reißen und mir dafür einen Dolch in den Rücken zu jagen. Schon die Wahl Kallyas, Malidor als ihren Magier des Lichts anzunehmen, zeigt, wie schwach sie als Lesvaraq eigentlich war.«

Aber Tomal wusste wohl, dass er auf Gedeih und Verderb auf Kallya angewiesen war. Sie war seine einzige Möglichkeit, die Macht des Lichts zu behalten und zu beherrschen. Ohne sie würde er verwundbar werden und am Ende nicht viel mehr sein, als ein normales Wesen ohne besondere magische Begabung. Die Vorstellung ließ ihn erschaudern. Das durfte nicht geschehen. Er musste Kallya gut behandeln und sie beschützen. Sie dankte es ihm meist mit einem wissenden Lächeln, auch wenn er sie in diesen Momenten am liebsten dafür umgebracht hätte. Tomal mochte es nicht, von jemandem abhängig zu sein.

Der Lesvaraq hatte die erste Wache übernommen und strich leise um das Lager herum. Kallya und Malidor hatten sich auf Fellen und in Wolldecken eingewickelt schlafen gelegt. Malidor war schnell eingeschlafen und schnarchte leise. Das war kein Wunder, hatten sie doch während des Tages einen langen und strammen Marsch hinter sich gebracht. Die ständigen Veränderungen hatten ihr Übriges dazu beigetragen, die Gefährten schnell zu ermüden. Sie waren zwar nicht unmittelbar davon betroffen gewesen und dank seiner Fähigkeiten hatte Tomal stets zwischen Wirklichkeit und Illusion unterscheiden können, aber lästig und irritierend waren sie dennoch. Zum Glück hatte es nun schon seit längerer Zeit keine Veränderung mehr gegeben. Die Lage schien endlich stabil zu sein. Tomal wusste wohl, woher die Veränderungen rührten. Irgendjemand hielt das Buch der Macht in den Händen und nutzte die ihm dadurch verliehenen Möglichkeiten.

Sie waren von Tarratar und Sapius getäuscht worden. Das war ihm schnell klar geworden, als die ersten Veränderungen aufgekommen waren. Das war mehr als nur ärgerlich. Ein zweites Mal würde sich der Lesvaraq nicht täuschen lassen. Aber die Veränderungen passten nicht zu Sapius. Ein anderer musste das Buch benutzt und diese kranken Ideen auf Ell losgelassen haben. Er konnte sich gut vorstellen, dass Jafdabh seine Finger dabei im Spiel hatte. Wer sonst hätte sich eine solche Welt ausgedacht?

Es war eine besonders dunkle Nacht. Das Licht des gigantischen, silbernen Mondes drang nicht durch die dichte Wolkendecke bis zu ihrem Lager. Die Luft roch nach einem schweren Gewitter und Regen.

»Könnte ungemütlich werden«, dachte Tomal bei sich, »der Baum wird uns nur wenig Schutz geben, sollte das Unwetter losstürmen. Wir sollten schnell weiterziehen und uns einen Hof, Stall oder eine Höhle als Unterschlupf suchen.«

Trotz seiner Bedenken entschied sich Tomal gegen den Abbruch ihres Lagers und ließ die Gefährten ruhen.

»Blitze, Sturm und Wasser können uns nichts anhaben. Es gibt Schlimmeres, als nass zu werden«, redete er sich zur Beruhigung ein.

In der Ferne konnte der Lesvaraq ein Wetterleuchten am Himmel sehen. Ein faszinierendes Schauspiel, das die Nacht ihm während seiner Wache bot. Das Wetterleuchten war noch weit genug entfernt. Das Donnergrollen des Gewitters drang nicht bis zu ihrem Lager vor.

Tomal setzte sich auf einen umgestürzten Baum in der Nähe der Schlafenden. Von hier aus konnte er das kleine Lagerfeuer sehen und den Fluss in der Nähe rauschen hören. Er hatte allerdings Mühe, die Umgebung im Auge zu behalten, weil sein Blick nicht weit genug durch die Dunkelheit drang und ein Licht wollte er nicht herbeirufen. Also beobachtete er weiter das Wetterleuchten, das sich langsam näherte. Nach einer Horas häuften sich die Blitze über dem Lesvaraq und nun war auch mit einiger Verzögerung Donner zu vernehmen.

»Nicht mehr lange und es geht los«, dachte Tomal.

Plötzlich durchlief ein Prickeln seinen Körper, als hätte in der Nähe der Blitz eingeschlagen. Aber es war kein Blitz. Den hätte er gesehen und gehört. Tomal sprang auf und blickte sich um. Irgendetwas hatte sich verändert. Er spürte eine Gefahr. Etwas hatte sich in die Nähe des Lagers geschlichen und lauerte nun auf eine Gelegenheit, eine Unaufmerksamkeit des Lesvaraq.

Tomal war hellwach, all seine Sinne waren geschärft, die Muskeln und Nerven aufs Äußerste angespannt.

»Ich bin hier drüben«, hörte Tomal eine heisere Stimme flüstern.

»Wer ist da? Zeig dich sofort!«, antwortete Tomal.

»Ich bin es. Blyss!«

»Blyss? Was habt Ihr hier zu suchen?«

Das Gefäß war also der nächtliche Besucher, der sich wie ein Attentäter lautlos angeschlichen, versteckt und gelauert hatte. Tomal erinnerte sich sinngemäß an ein Gespräch mit dem Schattenwesen und erschrak bis ins Mark. Daran hatte er überhaupt nicht mehr gedacht. Kallya und er schwebten in einer fürchterlichen Gefahr. Blyss war eine Bedrohung. Die Worte ihres Gesprächs kamen Tomal wieder in den Sinn.

»Dann werde ich es tun. Kallya ist schon so gut wie tot. Ihr könntet mich schon heute freigeben«, hatte Blyss damals auf das unbedachte Ansinnen des Lesvaraq gesagt.

»Ihr werdet Euch um Kallya kümmern. Habt Ihr das zu meiner Zufriedenheit erledigt, werde ich mein Versprechen erfüllen«, hatte er Blyss sein Versprechen gegeben.

Was hatte er nur getan? Er hatte Blyss beauftragt, Kallya zu töten, und dem verrückten Geist dafür die Freiheit versprochen.

»Wie dumm von mir«, dachte Tomal, »wie konnte ich das nur vergessen? Ich wollte Kallya loswerden. Das habe ich nun davon. Einen gedungenen Mörder, der nicht von seinem Auftrag abzubringen ist. Der Preis, den ich ihm versprach, ist zu wertvoll für ihn. Ich kann ihm nichts anderes anbieten.«

»Sie ist hier, nicht wahr?«, fragte Blyss.

»Wer ist hier, von wem sprecht Ihr?«, stellte sich Tomal unwissend.

»Kallya, Herr«, antwortete Blyss, »ich kann sie riechen. Sie ist ganz in der Nähe. Bald werde ich frei sein.«

»Blyss. Hört mir zu!«, sagte Tomal. »Ihr dürft sie nicht töten. Ich habe mich geirrt und brauche Kallya.«

»Das geht nicht, Herr!«, empörte sich Blyss. »Ihr habt es mir versprochen. Ich muss sie töten, um frei zu sein. Ich werde verrückt ohne einen anderen Geist und Körper. Fast schon zu lange verfolge ich Euch in einem Zustand, der nicht gut für mich ist.«

»Ich ziehe den Auftrag zurück«, meinte Tomal.

»Nein, Herr«, widersprach das Gefäß, »das dürft Ihr nicht. Es ist ein Auftrag des Blutes, an den mein persönliches Schicksal geknüpft ist. Ihr selbst habt ihn mir erteilt. Ihr könnt Ihn nicht zurücknehmen.«

»Lasst ab von ihr«, bat Tomal, »ich schenke Euch auch so die Freiheit.«

»Ihr wisst, dass das nicht möglich ist«, antwortete Blyss, »das Blutopfer muss vollbracht werden, damit ich mich von Euren Ketten befreien kann und fortan nicht mehr an einen anderen Geist und Körper gebunden bin. Ich muss es tun.«

»Das werde ich nicht zulassen, Blyss«, drohte Tomal.

»Das ist eigenartig und ungerecht, aber ich wusste, Ihr würdet mich täuschen und das Versprechen nicht halten. Ich wäre auf ewig an Euch gebunden«, beschwerte sich das Gefäß.

»Ich warne Euch, Blyss. Kommt ihr Kallya auch nur einen Schritt zu nahe, schicke ich Euch ins Verderben.«

»Ja, droht mir nur, Lesvaraq«, entgegnete Blyss, »ich bin stärker, als Ihr denkt. Ihr habt mich nur mit Glück an Euch binden können.«

Was hatte das Gefäß vor? Wollte er den Lesvaraq angreifen? Das war unmöglich, solange das Wesen an Tomal gebunden war und ihm gehorchen musste. Blyss war ein Sklave. Allerdings ein äußerst gefährlicher und unberechenbarer Diener.

»Es gibt einen Weg«, meinte Blyss.

»Ach ja?«, erwiderte Tomal. »Ich bin gespannt. Wollt Ihr mich etwa töten?«

»O nein«, antwortete das Gefäß, »das vermag ich nicht. Für wie vermessen haltet Ihr mich? Ich bin weder dumm noch dreist. Aber wir können eins werden. Ihr und ich. Tomal und Blyss, so wie Tag und Nacht. Ich spüre, dass Ihr die Dunkelheit verloren habt. Das ist höchst bedauerlich, denn sie machte Euch stark und unbesiegbar. Ich kann Euch etwas von dem Verlorenen zurückgeben. Nicht alles, aber einen Teil der Nacht. Nicht so viel, wie Ihr bereits in Euch hattet. Aber immerhin genug, um Euch über den Verlust hinwegzutrösten und den Schmerz zu lindern, der Euch langsam in den Wahnsinn treibt.«

»Ihr wollt ein Teil von mir werden? Mein zweites Ich?«, fragte Tomal überrascht.

»Ja, es hilft mir zu überleben und Euch, den Wahnsinn abzuwenden. Ich werde dadurch zwar nicht frei, aber es wäre eine Lösung unseres Konflikts, aus der wir beide einen Vorteil ziehen. Glaubt mir, es gibt kein dunkleres oder boshafteres Wesen als mich.«

»Aber die Dunkelheit ist nicht gleichzusetzen mit dem Bösen. Das solltet Ihr doch wissen, Blyss.«

»Das weiß ich wohl«, erwiderte Blyss, »aber das Böse ist ein Teil der Dunkelheit. Ein Stück der Nacht, das Euch fehlt. Etwas anderes kann ich Euch nicht anbieten. Ich schenke es Euch, wenn Ihr Euren Geist für mich öffnet und mich aufnehmt.«

»Das ist verrückt.«

»Nicht verrückter, als Ihr bald sein werdet«, meinte Blyss. »Fühlt Ihr denn nicht, dass Ihr einen Ausgleich zu Eurem Tag braucht, um Euer inneres Gleichgewicht und den Frieden wiederzufinden?«

»Natürlich! In jeder verdammten Sardas bedauere ich meinen Entschluss, gegen Madhrab anzutreten und einen Teil von mir selbst von ihm töten zu lassen.«

»Ihr wähltet den falschen Zeitpunkt, Tomal«, sagte Blyss, »Ihr hättet fühlen können, dass das Gleichgewicht zugunsten der Dunkelheit verschoben war, als Ihr den Kampf mit Eurem Vater suchtet. Ihr konntet damals nur die Nacht verlieren und den Tag gewinnen. Das hätte Euch bewusst sein müssen. Aber was hilft es Euch, noch darüber zu jammern? Ich kann Euch nicht zu Eurem Glück zwingen. Ihr müsst Euch mir freiwillig öffnen. Ich mache Euch ein einmaliges Angebot. Nehmt es an! Ihr könnt dadurch nur gewinnen.«

»Ihr werdet meinen Geist nicht beherrschen!«, sagte Tomal. »Sosehr Ihr Euch auch bemühen werdet, das lasse ich nicht zu.«

»Ihr seid der Stärkere. Das weiß ich. Vertraut mir, es wird nicht zu Eurem Nachteil sein. Ich ordne mich dem Lesvaraq unter und werde keinen Kampf führen, den ich nicht gewinnen kann«, meinte Blyss.

Tomal zögerte. Die Worte des Gefäßes klangen überzeugend und verlockend. Aber durfte er dem Schattenwesen wirklich vertrauen? Welche Folgen würde es für ihn haben, wenn er Blyss in sein Innerstes blicken ließe und mit ihm eins würde? Was wäre, wenn das Gefäß am Ende doch stärker wäre und ihn übernehmen würde? Würde er sich dagegen wehren können oder lauerte der böse Geist nur auf eine Gelegenheit, einen Augenblick der Ablenkung und Unachtsamkeit, ihn zu kontrollieren?

»Die Dunkelheit. Ich vermisse sie. Ich brauche sie«, ging es Tomal durch den Kopf, »wie ein Fisch das Wasser und wie wir die Luft zum Atmen. Ohne die Nacht bin ich nichts. Blyss hat recht. Ich werde mir diese Gelegenheit nicht entgehen lassen.«

Der Lesvaraq sah sich im Lager um. Kallya und Malidor schliefen, sie hatten offenbar noch nicht gemerkt, dass ein Unwetter aufzog. Die Gelegenheit war günstig, niemand würde etwas davon bemerken, sollte er auf Blyss’ Vorschlag eingehen und das Schattenwesen in sich aufnehmen.

»Einverstanden«, stimmte Tomal schließlich zu, »schenke mir die Dunkelheit und sei ein Teil meiner selbst.«

Tomal hörte das dreckige Gelächter des Gefäßes, nachdem er den Vorschlag angenommen hatte. Rasend schnell stürzte Blyss aus seinem Versteck hervor und sprang auf Tomal zu. Es gab kein Zurück mehr. Blyss schlüpfte in den Lesvaraq und verband sich mit seinem Geist.

Sofort spürte Tomal die Dunkelheit in seinen Gedanken. Aber es war nicht wie zuvor, als er die Nacht noch in sich hatte. Es war eine trügerische, hinterlistige Dunkelheit. Sie war böse und in der Lage, sein Wesen zu verändern, ohne dass er dies gewollt hätte. Blyss war mächtiger, als der Lesvaraq angenommen hatte. Es würde ihm schwerfallen, sich der Boshaftigkeit des Gefäßes zu entziehen. Kaum steckte Blyss in ihm, begann er bereits den Geist des Lesvaraq zu vergiften.

»Du brauchst Kallya nicht mehr«, sagte eine Stimme in Tomal, »du hast jetzt mich.«

Als wäre die Stimme ein Teil seiner selbst, die zu ihm sprach. Tomal war wohl bewusst, dass sie zu Blyss gehörte und doch konnte er sie nicht unterdrücken. Er musste einen Weg finden, ihr zu widerstehen und sie zu beherrschen. Ließ er es zu, dass sie ihn beeinflusste, würde er ihr womöglich unterliegen und Blyss gewänne die Oberhand über seinen Geist. Unvorstellbar, über welche Macht das Gefäß verfügen würde.

»Töte Kallya! Mach ein Ende und gib dich der wahren Macht hin. Die Nacht ist dein!«

Mordlust raste durch seine Gedanken. Tomal sah, wie er Kallya tötete, und das Bild gefiel ihm erschreckend gut. Er schüttelte sich, um den Gedanken und die Bilder loszuwerden.

»Nein!«, sagte er. »Sei still! Ich habe dir gesagt, ich werde nicht zulassen, dass du meinen Geist übernimmst. Kallya ist meine Magierin des Lichts und sie wird mir zur Seite stehen, wie es der Magier eines Lesvaraq immer schon getan hat.«

»Das ist schade«, meinte Tomals zweites Ich, »das Licht blendet uns und es hindert uns daran, die Dunkelheit vollständig zu entfalten. Willst du nicht wenigstens versuchen, deine alte Stärke wiederzuerlangen?«

»Du versuchst mich zu täuschen, Blyss«, antwortete Tomals Geist, »töte ich Kallya, wirst du frei sein, wie du es dir gewünscht hast. Ich bin nicht dumm. Also lass das oder ich verbanne dich wieder aus meinem Körper und aus meinem Geist.«

»Tut mir leid«, gab Blyss klein bei, »aber ich habe nur ausgesprochen, was ich in deinem tiefsten Inneren gesehen habe. Ich werde es nicht noch einmal versuchen. Tötest du Kallya dennoch, gib nicht mir die Schuld an ihrem Tod! Es wäre dann dein eigener Geist, der dich zu so einer Tat verleiten würde.«

Tomal fasste sich an den Kopf und verzog das Gesicht zu einer Grimasse des Schmerzes, als hätte er plötzlich fürchterliche Kopfschmerzen. Er war nicht in der Lage zu unterscheiden, welche Gedanken von ihm und welche von Blyss kamen. Sie fühlten sich völlig gleich und selbstverständlich an. Hätte Blyss ihn heimlich besetzt, er wüsste noch nicht einmal von seiner Gegenwart und könnte ihn auch nicht in seinen Gedanken ausmachen.

»Was willst du, Blyss?«, fragte Tomal.

»Das weißt du genau! Die Freiheit, ein eigenes Leben, das du mir verweigerst. Aber ich will mich nicht beschweren und gebe mich auch mit weniger zufrieden. Ich will von deiner Macht kosten, Lesvaraq, von der Kraft der Zerstörung und der Schöpfung. Lass mich teilhaben an dem, was du bist. Das soll mir genügen. Dein Sieg ist mein Sieg, deine Niederlage die meine. Tag und Nacht, Tomal!«

Plötzlich frischte der Wind auf und wurde binnen weniger Sardas zu einem tosenden und tobenden Sturm. Ein ungewöhnlich heftiges Gewitter erreichte die Gefährten. Malidor und Kallya sprangen von ihrem Lager auf, als wären sie von einem giftigen Tier gestochen worden.

»Tomal! Wo bist du?« Kallyas Stimme wurde vom Sturm beinahe verschluckt. »Warum hast du uns nicht geweckt und vor dem Unwetter gewarnt? Wir hätten uns längst ein besseres Lager suchen können und wären jetzt im Trockenen.«

Es regnete in Strömen, blitzte und donnerte in kurzen Abständen. Dazwischen hagelte es faustgroße Körner aus den dunklen und schweren Wolken. Tomal trat zu seinen Gefährten.

»Setz deine Magie ein, Kallya«, befahl er, »wir brauchen einen Schutz, der uns über die Nacht warm und trocken halten wird.«

»Du bist unverbesserlich, Tomal«, schüttelte Kallya den Kopf, »wegen eines Sturms verschwendest du meine Kräfte. Es wäre besser gewesen, wir hätten uns rechtzeitig einen Unterschlupf gesucht. Aber gut, jetzt ist es zu spät für einen Aufbruch. Ich lege einen Schild um und über unser Lager. Der Schild wird Regen, Hagel und Blitze abhalten.«

Tomal nickte zustimmend. Nachdem Kallya den Schild aufgebaut hatte, zogen sie ihre nassen Sachen zum Trocknen aus und legten sich wieder an das Lagerfeuer.

»Du siehst verändert aus, Tomal«, sagte Kallya, »was ist mit dir?«

»Nichts«, antwortete der Lesvaraq, »mir geht es gut. Ich erhole mich von meinem Verlust und gewinne langsam meine ursprünglichen Kräfte zurück.«

»Wirklich?«, staunte Kallya. »Das ist gut. Ich hoffe, dass auch das Chaos in deinem Kopf aufhört.«

»Es sieht ganz danach aus«, nickte Tomal.

»Das freut mich für uns alle«, lächelte Kallya, »ich bin wirklich froh, dass ich dir so wunderbar helfen konnte.«

»Mmh …«, brummte Tomal zur Antwort und rollte sich auf die Seite.

Tomal träumte, wie er Kallya das Gesicht zu einer hässlich grotesken Fratze zerschnitt und ihr anschließend die Kehle durchtrennte. Er lächelte im Schlaf. Es war ein wunderbares und befriedigendes Gefühl.

*

Yilassa und Renlasol waren ins Land der Bluttrinker geflohen. Dort hatten sie sich im Riesengebirge eine Höhle gesucht, in der sie beide mit dem Fluch leben wollten. Die Höhle war geräumig und reichte mit vielen Ausläufern und verzweigten Gängen weit und tief in das Innere der Berge. Niemand – so nahmen sie an – würde es wagen, die Bluttrinker dort zu stören.

»Denkst du, es gibt noch andere, zu denen der Fluch zurückkam?«, fragte Yilassa.

»Du meinst die Bluttrinker, die nicht von Madhrab zu Tode gemetzelt und in die Flammen der Pein verbannt wurden?«

»Ja«, nickte Yilassa betrübt.

»Nur wenige haben den Zorn des Bewahrers überlebt«, meinte Renlasol, »einige Kriecher vielleicht und ein paar Bluttrinker, die du an zwei Händen abzählen kannst. Ich glaube schon, dass sie der Fluch früher oder später gefunden hat. Ich bin mir sicher, sie werden kommen. Wir sind eine Familie und der Fluch hält uns zusammen.«

»Was sollen wir tun?«, wollte Yilassa wissen. »Wollen wir uns für alle Zukunft vor dem Rest der Welt verstecken? Wir brauchen frisches Blut, um zu überleben.«

»Quadalkar hat es vorgemacht. Sein Versteck war ein gut gehütetes Geheimnis, das nur die Bluttrinker und einige Händler kannten. Du erinnerst dich, wie schwer es zu finden war. Über Tausende von Sonnenwenden gelang es ihm, sich und seine Kinder zu verbergen. Er verbreitete Angst und Schrecken unter den Sterblichen. Nur die Tapfersten wagten einen Vorstoß in sein Land, das nun unser Land ist. Sie kehrten nicht zurück. Wir werden es wie Quadalkar machen, Helfer und Händler finden, die uns hin und wieder mit Blutsklaven versorgen. Bis dahin ziehen wir in der Nähe der Grenze zu unserem Land umher und suchen Blut in den Dörfern und Städten der Klan. Sollten wir in nächster Zeit kein Blut finden, werden wir uns solange von den Tieren nähren. Wir müssen unsere Familie vergrößern, sollten dabei jedoch vorsichtig vorgehen. Es wäre nicht gut, wenn wir Aufsehen erregen.«

Der Ruf der Streiter erreichte Renlasol wenige Tage nach ihrer Ankunft in der Höhle. Auch Yilassa und Renlasol litten unter Jafdabhs Veränderungsvisionen. Gigantische Monster rissen die Erde mit ihren Schaufeln auf, andere bohrten sich durch blanken Fels und kamen den Bluttrinkern immer näher. Die beiden fürchteten sich davor, entdeckt und verjagt zu werden. Aber schließlich hörten die Veränderungen auf und sie waren wieder in der Wirklichkeit angekommen.

»Die Streiter rufen mich nach Kartak«, gestand Renlasol, »die Steine flüstern mir diese Nachricht zu. Ich weiß nicht, warum. Aber die Suche nach dem Buch der Macht ist noch nicht zu Ende.«

»Was?« Yilassa klang entsetzt. »Du willst mich alleine in der Höhle zurücklassen?«

»Ich muss gehen«, sagte Renlasol, »die Prophezeiung verlangt es. Das Buch ist zu wichtig, es den anderen Streitern einfach zu überlassen.«

»Damit sie es uns wieder abnehmen, wie beim letzten Mal?«

»Sollte ich das Buch in die Hände bekommen, werde ich es nicht mehr hergeben.«

»Ich habe kein gutes Gefühl dabei, Renlasol«, meinte Yilassa, »Sapius und die anderen Streiter sind in der Lage, dich zu töten.«

»Das ist mir bewusst, Yilassa. Dennoch muss ich dem Ruf folgen. Ich glaube nicht, dass die Prüfungen dieses Mal allzu lange dauern werden. Wir haben einen Vorteil, wir kennen den Aufenthaltsort des Buches. Ich war noch nie auf Kartak. Die Insel soll sehr schön sein.«

»Wer behauptet das?«, erwiderte Yilassa. »Eine geheimnisumwobene Insel des verlorenen Volkes, das seinen Weg aus den Schatten zurückgefunden hat? Das ist kein Ort, den ich freiwillig betreten würde.«

»Tomal war bereits dort«, sagte Renlasol, »er kam zurück und konnte von seinen abenteuerlichen Erlebnissen bei den Nno-bei-Maya und ihrer Königin Saykara berichten. Vielleicht bekomme ich dort frisches Blut.«

»Das Blut der Altvorderen ist giftig für uns«, warnte Yilassa, »wir dürfen es keinesfalls trinken. Verstehst du? Solltest du es doch tun, werden die Krämpfe und Schmerzen unerträglich sein. Quadalkar trank einmal das Blut eines Altvorderen und wäre dabei beinahe um sein Bluttrinkerleben gekommen. Jedenfalls hat es ihn geschwächt und angreifbar gemacht.«

»Keine Sorge«, beruhigte Renlasol seine Gefährtin, »ich werde keinem Maya, Naiki, Felsgeborenen, Tartyk oder Rachuren Blut abnehmen. Ich habe auch nicht vor, einen Magier oder Praister auszusaugen, deren magische Begabung sie womöglich vor dem Fluch des Bluttrinkers schützt.«

»Gut«, beruhigte sich Yilassa, »bevor du gehst und du dich erneut mit den Streitern auf die Suche nach dem Buch machst, muss ich dir etwas gestehen.«

Renlasol horchte auf. Was könnte Yilassa ihm gestehen wollen? Vielleicht, dass sie dieses Leben in der Höhle doch nicht mit ihm führen wollte? Er hatte schon immer befürchtet, sie würde sich nicht von ihren Pflichten im Orden lösen können. Immerhin war sie der hohe Vater und ein Bewahrer. Oder wollte sie ihn gar mit auf die Suche begleiten? Hatte sie heimlich Bluttrinker geschaffen, die sie vor ihm versteckt hielt? Er hatte Gerüchte gehört, in den Verliesen unter dem Haus des hohen Vaters seien Kriecher gefangen.

»Es tut mir leid«, fing Yilassa an, »aber ich muss dringend in das Ordenshaus zurück.«

»Aber da kommen wir doch gerade erst her«, wunderte sich Renlasol.

»Du darfst nicht vergessen … ich bin der Overlord über das Haus der Sonnenreiter und Bewahrer, der heiligen Mutter der Orna im Rang gleichgestellt. Ich habe einen Eid abgelegt, dem ich bis zu meinem Tod treu sein muss.«

»Aber weshalb bist du dann mit mir geflohen und hast deinen Orden im Stich gelassen?«

»Ich habe den Orden nicht aufgegeben. Das werde ich niemals. Die Sonnenreiter sind mein Leben. Ich weiß es nicht, aber ich glaube, der Fluch hat dafür gesorgt, dass mein Verstand ausgesetzt hat. Ich hätte auf jeden Fall in den Orden zurückkehren müssen. Ich dachte, ich würde beides meistern können. Den Orden zu führen und mit dir im Land der Bluttrinker eine Familie aufzubauen.«

»Dann wirst du also deinen Treueeid nicht brechen?«

»Nein, das werde ich nicht. Ich erfülle meine Pflicht«, seufzte Yilassa. »Du musst wissen, etwas stimmt nicht in den Ordenshäusern. Ich habe die Bedrohung meines Ordens in Gedanken gesehen. Das Ende beider Orden. Unser Band ist stark, die Brüder und Schwestern schicken mir Nachrichten und Hilferufe. Es gab bereits viele tote Schwestern und Brüder. Sie brauchen mich. Es ist eigenartig, aber ich sehe es klar in meinen Gedanken vor mir. Ein Angriff auf die Mauern der Ordenshäuser wurde zwar abgewehrt, aber dahinter steckt mehr. Ich habe ständig das Gefühl, Schwestern der Orna töten zu müssen.«

»Das ist eine beängstigende Vorstellung«, meinte Renlasol, »was hast du noch gesehen?«

»Meinen Tod.«

Renlasol senkte den Kopf und sah für einen Moment auf den Boden, um sich zu sammeln. Yilassas Worte bereiteten ihm große Sorgen. Ein schwerer Seufzer füllte den Raum, als sich Renlasol wieder aufrichtete und Yilassa lange schweigend in die Augen blickte.

»Gehst du zurück, wirst du sterben«, sagte Renlasol leise.

»Ja«, antwortete Yilassa, »ich und all die anderen Sonnenreiter, Bewahrer und Orna. Niemand wird überleben. Ich weiß es. Es ist das Ende der Orden. Die Artefakte wurden gestohlen. Ginge ich nicht und stünde meinen Brüdern und Schwestern in den letzten Horas nicht bei, werden sie mich suchen und finden. Sie töten mich, bevor sie sich selbst das Leben nehmen. Das ist sicher. Ich darf nicht bei dir bleiben, Renlasol. Das brächte dich und alles, was wir uns vorgestellt haben, in Gefahr. Es wäre auch dein Ende.«

»So habe ich mir unsere gemeinsame Zukunft als Bluttrinker nicht vorgestellt«, seufzte Renlasol.

»Ich auch nicht«, antwortete Yilassa, »das musst du mir glauben. Es tut mir aufrichtig leid. All unsere Träume und Hoffnungen zerplatzen.«

»Dann geh!«, sagte Renlasol und drehte sich weg.

Renlasol konnte Yilassas Anblick nicht länger ertragen. Die Enttäuschung saß tief und war ihm deutlich anzusehen. Er hatte Tränen in den Augen.

Was er Yilassa allerdings verschwiegen hatte, war seine Befürchtung, die Suche nach dem Buch könnte auch seine letzte Reise sein. Eine Vorahnung, die ihn schon, seit er den Ruf vernommen hatte, bedrückte. Obwohl er mit seinem Tod rechnete, ließ er Yilassa über seine Gefühle im Ungewissen. Er wollte sie nicht damit belasten. Es war schon schwierig genug, den eigenen Tod vorauszuahnen und damit umzugehen.

Yilassa nahm ihr Bündel und ging.

Sie rief ihm noch »Leb wohl und viel Glück« zu, aber Renlasol schwieg und drehte sich nicht mehr um, ihr nachzusehen oder sich zu verabschieden. Sie hatten keine gemeinsame Zukunft. Das Schicksal hatte es nicht gut mit ihnen gemeint.

Renlasol blieb noch eine Weile alleine in der Höhle, bevor er sein Bündel packte und sich auf die lange Reise nach Kartak machte. Er wählte eine Route entlang der Küste des Ostmeers, allerdings abseits der größeren Siedlungen, Burgen und Städte. In den kleineren Dörfern und Gehöften würde er während der Nacht bestimmt Nahrung finden. Er konnte keine Rücksicht darauf nehmen, was aus seinen Opfern werden würde, hatte er erst ihr Blut getrunken. Bluttrinker oder Kriecher. Es war ihm gleichgültig.

Ganz in der Nähe der Höhle, in die sich Renlasol und Yilassa geflüchtet und wo sie sich kurz darauf wieder getrennt hatten, befand sich inmitten des Riesengebirges die Burg der Felsgeborenen, die einst Quadalkar mit seinen Kindern besetzt hatte.

Prinz Vargnar hatte seinen Vater, König Saragar, lange nicht mehr gesehen. Die meiste Zeit war Vargnar auf Reisen gewesen und sie hatten sich nur über die Steine Nachrichten zukommen lassen. In der Halle des Königs waren sie gleich nach ihrer Ankunft auf der Burg zu einer Unterredung mit Saragar geladen worden. Die Freude über das Wiedersehen war groß und Saragar ließ es sich nicht nehmen, ein Fest zu Ehren seines Sohnes auszurichten.

»Es wird Zeit, dass du dir eine Eisprinzessin aussuchst und sesshaft wirst«, meinte Saragar ernst.

»Was soll ich mit einer Eisprinzessin anfangen, Vater?«, lehnte Vargnar ab. »Sie sind kalt und herzlos. Sollte ich mich eines Tages für eine Frau entscheiden, wähle ich eine Felsgeborene. Vielleicht eine aus dem Süden. Was denkst du darüber?«

»Sei nicht dumm, Sohn. Und vergiss nicht, du hast auch nur ein Herz aus Stein«, tadelte ihn der König. »Die Eisprinzessinnen können dir großes Vergnügen bereiten. Ich schätze ihre Liebeskünste sehr. Das prickelt und geht dir durch Fels und Stein. Aber natürlich wirst du eine Felsgeborene zu deiner wahren Prinzessin machen. Wir brauchen einen Erben. Eine Felsgeborene aus dem Süden? Nein, das wäre gegen unsere Tradition. Vergiss nicht, du bist ein Königssohn und wirst mir eines Tages auf dem Thron nachfolgen. Sie muss aus unserem Stamm kommen. Hier in der Burg gibt es einige sehr ansehnliche Felsgeborene, die deiner würdig wären.«

»Im Augenblick wüsste ich nicht, von wem du sprichst.«

»Vargnar!« Saragar sah seinen Sohn ärgerlich an. »Du hast dir nicht einmal die Mühe gemacht, dich in der Burg umzusehen, dich zu zeigen und einige Worte mit unserem Volk auszutauschen. Ich nehme an, du kennst noch nicht einmal alle Namen und kannst dich an keines der Gesichter erinnern. Das gehört sich nicht für einen zukünftigen König.«

Der König wandte sich an den Felsenfreund.

»Du wirst mir Sorge dafür tragen, dass Vargnar schnell lernt, was es für einen Königssohn zu lernen gilt. Du bist sein Felsenfreund, Vertrauter und Ratgeber, Rodso. Ich mache dich persönlich dafür verantwortlich, sollte er bis zum Fest nicht alle wichtigen Namen und die infrage kommenden Töchter der Felsgeborenen kennen. Keine Ausflüchte und Entschuldigungen.«

»Sehr wohl, Majestät«, antwortete Rodso, »ich werde Prinz Vargnar alles Notwendige beibringen. Ihr könnt Euch auf mich verlassen.«

»Vater! Wir haben keine Zeit für diese Spielchen«, beschwerte sich Vargnar.

»Das sind keine Spielchen, mein Sohn«, zürnte Saragar lautstark, »ich rede vom Ernst des Lebens und verlange, dass du ihn annimmst. Als mein Sohn und Thronfolger hast du Pflichten zu erfüllen. Ich habe dich viel zu lange gewähren lassen. Du hast getan, was immer du wolltest, und kanntest scheinbar keine Grenzen. Natürlich wollte ich, dass du Erfahrungen sammelst und auf deinen eigenen Füßen stehst. Aber diese Zeit ist nun vorbei.«

Die gute Stimmung verflog sofort. Saragar war bekannt für sein aufbrausendes Wesen und seinen Jähzorn.

»Wir müssen das Buch der Macht finden. Die Prophezeiung der Streiter. Es ist noch nicht vorbei. Ich werde mit Rodso nach Kartak gehen müssen, um es gemeinsam mit den Streitern zu suchen.«

»Ich erinnere mich, ja«, seufzte Saragar. »Du wirst dich der Suche nicht entziehen. Über die Streiter haben wir bereits gesprochen. Du musst derjenige sein, der das Buch in Besitz nimmt. Vertraue nur dir selbst. Ich erlaube dir, die Burg nach dem Fest wieder zu verlassen, um dich dieser Aufgabe zu widmen. Danach wirst du ohne Umwege zu mir zurückkehren.«

»Natürlich, Vater«, verneigte sich Prinz Vargnar vor dem König. »Da wäre noch etwas.«

»Was denn noch?«, wollte Saragar wissen. Der König wurde langsam ungeduldig.

»Wir brauchen deinen weisen Rat«, meinte Vargnar.

»In welcher Angelegenheit? Nun rede schon.«

»Das Ende ist nah. Wir alle können es spüren. Zuerst waren es nur die ständigen Veränderungen, ein steter Wechsel zwischen Illusion und Wirklichkeit, der das wahre Bild und die Gefahr verzerrte. Wir kennen den Grund der Visionen. Jafdabh trug die Schuld daran. Aber nachdem die Veränderungen endlich aufgehört habe, was bedeuten muss, Sapius war erfolgreich, fühle ich es wieder deutlicher. Es ist wahr, was ich gehört habe.«

»Wovon sprichst du?«, fragte Saragar beiläufig.

»Du weißt genau, wovon ich spreche, und hast längst die Steine und Eisprinzessinnen befragt, wenn sie dir mal gerade nicht den Rücken, deinen Wanst und das Kinn kraulten.«

»Ich warne dich! So redest du nicht mit deinem König«, brauste Saragar auf und sprang von seinem Thron in einem Satz auf Vargnar zu.

Der König packte seinen Sohn am Hals und hob ihn mit einem Arm hoch. Vargnars Beine zappelten in der Luft.

»Ich bin immer noch so stark wie drei Felsgeborene zusammen«, donnerte Saragar, »das ist der Grund, warum ich König der Felsgeborenen bin. Niemand spricht so mit mir. Auch du nicht, mein Sohn.«

»Es tut mir leid, Vater«, entschuldigte sich Vargnar, »ich habe mich vergessen und entschuldige mich dafür. Du kannst mich wieder runterlassen. Bitte!«

Saragar ließ seinen Sohn los, der schwerfällig auf den Boden krachte. Saragar sah auf ihn herab.

»Schon gut, mein Junge«, sagte Saragar, »natürlich habe ich davon gehört und ich werde dir sagen, was ich davon halte. Es ist wahr. Das Ende ist nah. Aber wir wissen nicht genau, wie es aussehen wird und was es bedeutet. Es kann das Ende unserer Welt oder von Tag und Nacht sein. Vielleicht geht nur ein Zeitalter zu Ende, ein Volk oder mehrere sterben aus. Ein Erdbeben könnte Ell bedrohen. Womöglich wird das Gleichgewicht verschoben und das Chaos bricht aus. Niemand vermag vorauszusagen, was sein wird. Ich weiß nur, dass die Zeit unendlich ist und immer weiter voranschreitet. Egal was geschieht, das Ende ist nichts im Vergleich zur Ewigkeit und vielleicht ist es ein Anfang.«

»Aber was ist, wenn wir sterben?«, fragte Vargnar.

»Dann sterben wir und gehen zurück in den Stein. Unser Geist verbindet sich mit dem Fels und ruht, bis er wieder gerufen wird. Ist es nicht so, Rodso?«

»Doch, mein König«, bestätigte Rodso eifrig, »es ist genau, wie Ihr es beschrieben habt, wenngleich ich das Ende von dem Prinz Vargnar sprach, als eine echte Bedrohung für Ell und unser aller Leben betrachte. Ich glaube fest daran, dass es mit dem Buch der Macht zu tun hat.«

»Ganz bestimmt hat es das«, brummte Saragar, »wahrscheinlich auch mit diesem machthungrigen Lesvaraq. Du solltest ihn beseitigen, wenn du ihn triffst, Vargnar.«

»Ich weiß nicht, ob ich stark genug wäre, gegen ihn anzutreten und zu besiegen«, erwiderte Vargnar.

»Du bist ein Felsgeborener, Vargnar«, sagte Saragar vorwurfsvoll, »du musst vor nichts und niemandem zurückweichen. Du darfst keine Angst haben. Doch solltest du dich tatsächlich einmal fürchten, zeige deine Furcht nicht. Selbst vor einem Lesvaraq nicht. Nutze deine Stärken, die ich dir als Vater mitgegeben habe.«

»Ich habe keine Angst, Vater«, sagte Vargnar, »doch kenne ich meine Grenzen. Es gibt Gegner, denen ich alleine nicht gewachsen bin.«

»Natürlich gibt es die«, gab Saragar zu, »aber du bist hoffentlich klug genug, dir starke Verbündete zu suchen und dich auf einen Kampf gut vorzubereiten. Dann kannst du jeden Feind überwinden.«

»Genau darum geht es mir«, meinte Prinz Vargnar, »ich würde mich wohler fühlen, wenn wir uns gegen ein Ende – wie immer es auch sein wird – wappnen.«

»Na gut«, nickte Saragar, »meinetwegen können wir gleich damit anfangen. Was schlägst du vor?«

»Golems! Wir schaffen eine Armee von Golems zu unserem Schutz.«

Saragar ließ sich auf seinen Thron fallen und stützte den steinernen Kopf mit der Hand. Er blickte seinen Sohn nachdenklich an.

»Die Steingolems sind schwer zu erschaffen«, meinte Saragar schließlich, »besonders wenn sie in der Lage sein sollen, zu kämpfen und durchzuhalten. Wir bräuchten Hunderte, wenn nicht gar Tausende, um uns angemessen von ihnen beschützen zu lassen und eine Gefahr von unserem Volk abzuwenden. Weißt du, was das bedeutet?«

»Nein, nicht genau«, schüttelte Vargnar den Kopf.

»Rodso, erkläre es ihm«, befahl der König.

»Mein Prinz, Ihr erinnert Euch daran, wie Ihr die Golems in der verlorenen Stadt Gafassa geschaffen habt. Es hat Euch viel Kraft und Zeit gekostet, die singenden Gräber von Gafassa von ihnen bewachen zu lassen. Ihr hättet dabei Euer Leben verlieren und im Stein bleiben können. Ihr sprecht von einer Golemarmee. Dafür müsste das ganze Volk der Felsgeborenen über mehrere Wochen an der Erschaffung arbeiten. Sie dürften nicht ruhen, bis die Armee steht. In dieser Zeit wären die Felsgeborenen sehr angreifbar. Ihre Felsenhaut wird dünner und ihr Geist ist abgelenkt. Eine solch große Armee würde auch bedeuten, dass zwei oder drei größere Berge des Riesengebirges geopfert werden müssten. Ein schwerer Eingriff im Norden Ells, der gegen die Verträge mit den magischen Völkern der Altvorderen verstößt. Uralte Verträge, an die sich kaum noch jemand erinnert – aber es gibt sie, und die darin getroffenen Vereinbarungen gelten noch. Was Ihr vorschlagt, wäre ein Vertrags- und Vertrauensbruch. Es könnte einen Krieg zwischen den Altvorderen auslösen. Keines der anderen Völker wäre mit einer solchen Armee und dem schweren Eingriff in die Natur einverstanden. Die Armee würde die Existenz der anderen Völker gefährden.«

»Verstehst du, warum ich zögere?«, fragte Saragar.

»Ja, das verstehe ich. Aber wir sollten uns schützen, was auch immer uns erwartet«, antwortete der Felsenprinz.

»Weißt du was?«, sagte Saragar mit einem Lächeln auf den Lippen. »Es ist mir völlig gleichgültig, was die anderen Völker denken. Wir erschaffen deine Golemarmee. Soll Ell vor ihnen erzittern und sich fürchten. Wir werden uns nicht einfach in das Ende ergeben. Wir kämpfen bis zum Schluss, und wenn es nichts zu kämpfen mehr gibt und wir sterben müssen, dann sollen die Golems unsere Gräber bewachen.«

Saragar stand auf, ging einige Schritte auf Vargnar zu und nahm seinen Sohn fest in die Arme. Schließlich schob er ihn wieder von sich und klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter.

»Zufrieden?«, fragte Saragar und wartete die Antwort gar nicht erst ab, bevor er fortfuhr: »Gut! Und nun geh und lerne mit Rodso, wie ich es euch aufgetragen habe. Wir sehen uns bei dem Fest, und wehe Euch beiden, ich muss feststellen, dass Vargnar einen Namen unserer Gäste nicht kennt.«

Vargnar und Rodso verließen die Halle des Königs und bereiteten sich – wie ihnen befohlen worden war – auf das Fest der Felsgeborenen vor. Im Grunde seines Herzens freute sich Vargnar auf das Fest und war gespannt darauf, ob er tatsächlich seine zukünftige Gemahlin und Königin kennenlernen würde. Wenn nicht blieben ihm immer noch die wunderschönen, verführerischen und gefährlichen Eisprinzessinnen, die für jedes andere Wesen außer den Felsgeborenen tödlich waren. Sie waren für den Felsenprinzen eine Versuchung, wie es sein Vater gesagt hatte. Vor Saragar hätte Vargnar das allerdings niemals zugegeben.

*

Der Flug nach Kartak war weit. Sapius saß nachdenklich auf dem Rücken des Drachen und ließ sich lange schweigend über Ells Landschaften tragen. Der Magier bekam nur wenig von dem Flug mit, obwohl sie nicht sehr hoch flogen und die Sicht gut war. Haffak Gas Vadar zeigte Verständnis und ließ Sapius in Ruhe.

Ein gutes Stück der Strecke legten sie über den Wäldern des Faraghad zurück. Als die Sonnen Krysons untergingen, die Abenddämmerung hereinbrach und der silberne Mond aufging, brach Sapius endlich das Schweigen und sprach den Drachen an.

»Ich habe etwas Schreckliches getan.«

»Nach dem, was ich gesehen habe, muss es wirklich schlimm gewesen sein«, meinte der Drache, »willst du darüber reden?«

»Ich denke schon, sonst zerfrisst es meine Seele.«

»Ich höre dir zu, Sapius.«

»Es ist nicht der Fluch der Stille, der mich bedrückt«, begann Sapius mit seiner Beichte, »ich habe das Schicksal der Ordenshäuser besiegelt. Ich verlangte von Elischa die Artefakte, die den Orden ihre Macht verliehen. Natürlich konnte ich sie nicht davon überzeugen, sie mir freiwillig zu überlassen. Aber sie hat mich verstanden und mir den Weg zum Herz des Kriegers und zu seinem Gehirn gezeigt. Weißt du, was sie von mir verlangt hat?«

»Ich habe keine Ahnung«, meinte der Drache, »aber du wirst es mir sicher gleich sagen.«

»Sie wollte, dass ich sie töte.«

»Was du natürlich abgelehnt hast.«

»Sicher … ich weigerte mich, war empört und entsetzt.«

»Und was geschah dann?«

»Ich … ich … konnte Ihr den Wunsch nicht abschlagen und habe sie … erschlagen! Verstehst du, ich habe Elischa getötet. Haffak, bei den Kojos, hilf mir. Ich bin am Verzweifeln. Ich habe die Frau getötet, die ich liebe. Ich weiß nicht mehr weiter. Das alles fühlt sich so furchtbar falsch an. Ich bin drauf und dran, mich von deinem Rücken in die Tiefe zu stürzen, damit das alles endlich ein Ende hat.«

»Wie konntest du das nur tun? Wie soll ich dir dabei helfen? Welcher Dämon steckte in deinem Kopf, als du Elischa erschlugst?«, grollte der Drache. »Vielleicht wäre es sogar besser, wenn ich dich selbst von meinem Rücken werfe. Ich habe dich gewarnt. Wieder und wieder. Bist du vom Bösen beseelt?«

»Nein, Haffak«, verteidigte sich Sapius, »Elischa wollte, dass ich sie töte. Sie konnte das Ende der Orden nicht ertragen und nicht dabei zusehen, wie ihre Schwestern von den Bewahrern abgeschlachtet werden. Auch Tarratar sagte mir, dass ich sie wohl töten muss, um an die Artefakte zu kommen.«

»Du machst es dir zu leicht, Yasek«, zürnte der Drache, »Elischa hatte die Wahl, der Ermordung ihrer Schwestern zuzusehen und danach getötet oder gleich von dir umgebracht zu werden. Was hättest du an ihrer Stelle gewählt? Hättest du Ihr die Wahl zwischen einem Leben in ihrem Orden unter ihren Schwestern und dem Tod gelassen, sie hätte das Leben im Orden gewählt. Das war keine Wahl, Sapius. Das war eine sehr böse und folgenreiche Tat. Und verteidige dich nicht mit den Worten des Narren vor einem Drachen! Du weißt, was ich von Tarratar halte. Du bist besessen von ihm und diesem verdammten Buch. Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst deinen eigenen Weg gehen und dich für die Drachen entscheiden. Du bist der Yasek.«

»Aber Haffak …«, wollte Sapius widersprechen.

»Nein, jetzt rede ich«, unterbrach ihn der Drache, »für das, was du getan hast, gibt es keine Vergebung. Du hast dich schuldig gemacht und wirst damit leben müssen. Weder das Buch der Macht noch Tarratar können dir dafür eine Rechtfertigung bieten. Es war alleine deine Entscheidung. Und sie war anmaßend und schlecht. Sobald ich unser Volk nach Fee in Sicherheit gebracht habe, werde ich die Mutter aller Drachen um Rat bitten. Sie soll entscheiden, ob dein Handeln verziehen wird und du weiter Yasek bleibst. Du kennst ihre Einstellung. Mach dir also keine allzu großen Hoffnungen. Es wäre möglich, dass du bald auf dich allein gestellt bist.«

»Haffak, mein Freund!«, sagte Sapius erschrocken. »Das kannst du nicht ernst meinen. Ich habe dir das Leben gerettet und dich aus der Gefangenschaft befreit.«

»Das werde ich dir auch nie vergessen, Sapius«, brummte der Drache, »aber das ist ohne Bedeutung für die Zukunft der Tartyk und des Yasek. Sag mir, wie ich dir vertrauen kann. Würdest du dein Volk verraten und deinen Drachen töten, wenn es der Narr von dir verlangen würde?«

»Nein, niemals!«, empörte sich Sapius.

»Nein?«, antwortete der Drache. »Wie kann ich mir dessen sicher sein? Was wäre, wenn dies ein Teil der Prüfung wäre, die du bestehen müsstest, das Buch der Macht zu erlangen?«

»Niemals!«, wiederholte Sapius.

»Ich glaube dir das nicht, mein Freund«, seufzte Haffak Gas Vadar, »du würdest gewiss zweifeln und zögern. Für eine Weile. Du würdest dir Vorwürfe machen. Aber schließlich würdest du es für das Buch der Macht tun, weil es deine Überzeugung ist. Du würdest mich töten, die Tartyk und deine eigenen Kinder verraten.«

»Aber wie kannst du das nur von mir denken? Du kennst meine Gedanken. Ich habe dir nie etwas verheimlicht. Ich bin wie ein offenes Buch für dich, Haffak«, Sapius war verzweifelt, »ich bin weder ein Verräter noch ein Mörder.«

»Tarratar sagt, du sollst Elischa töten, um an die Artefakte zu kommen, die dich in die Nähe des Buches bringen. Elischa war deine große Liebe, wie du selbst sagtest. Du hast deine Liebe getötet, wie er es dir auftrug. Die Orden waren die Hüter des Gleichgewichts. Sie haben Großes geleistet. Ihr Ende bedeutet den Tod vieler unschuldiger Leben und ist eine Bedrohung für die Sicherheit ganz Ells. Das alles hast du in Kauf genommen, um an das Buch der Macht zu kommen, weil du auf Tarratar gehört hast. Ein hoher Preis. Es steht dir nicht zu, über das Leben und Sterben anderer zu entscheiden. Wer bist du, Sapius. Ein Kojos? Ich kann dir nicht mehr vertrauen und muss die Mutter der Drachen fragen, was geschehen soll. Erst wenn sie sagt, dein Handeln war richtig und notwendig, werde ich dir wieder vertrauen können. Auf Kartak trennen sich unsere Wege vorerst. Verzeih mir, aber ich kann dir nicht weiter dienen. Die Drachenmutter wird über den Yasek entscheiden.«

Sapius schwieg und trauerte. Er machte sich keine Hoffnung, dass sich die Mutter aller Drachen nach allem, was geschehen war, für ihn als Yasek entscheiden würde. Hatte er tatsächlich einen schweren Fehler begangen und alles, was ihm wichtig und von Bedeutung war, aufs Spiel gesetzt, weil er auf den Narren gehört hatte? Schätzte ihn der Drache wirklich richtig ein? War er bereits so von dem Gedanken an das Buch verblendet, dass er nicht mehr klarsehen konnte? Was war nur aus ihm geworden? Ein freier Magier, der sich mit nicht umkehrbaren Flüchen verteidigte, Tausende von Sonnenwenden alte, friedensstiftende Orden mit einem Schlag auslöschte und darüber hinaus die Schatten für seine Zwecke einsetzte. Es fehlte nur noch, dass er Tote zum Leben erweckte.

»Haffak hat recht. Ich wurde zu einem Werkzeug des Bösen«, dachte Sapius, »eines Yasek nicht würdig. Ich habe den Tod verdient und sollte in den Flammen der Pein schmoren. Das Ende ist nah und ich bereite es tatkräftig vor. Ich kann es mit jeder Faser meines Körpers fühlen, je näher wir Kartak kommen.«

Haffak Gas Vadar und der Magier hingen jeder ihren Gedanken nach. Der Drache war wütend und enttäuscht. Sapius verstand ihn nur zu gut, wagte es jedoch nicht, ihn noch einmal darauf anzusprechen. Der Magier war schon zu weit gegangen. Es gab kein Zurück mehr. Er musste die Suche zu Ende bringen.

Nachdenklich blickte er sich um und entdeckte vor ihnen am Waldrand eine Bewegung. Sapius reckte seinen Hals, um besser sehen zu können. Ein unangenehmer Geruch stieg zu ihm herauf.

»Was ist das da vorne unter uns?«, fragte er den Drachen.

»Klan, nehme ich an«, antwortete der Drache, »eine sehr große Menge. Ihre Zahl würde ich auf eintausend oder mehr schätzen.«

»Sie laufen geradewegs auf ein Dorf zu. Aber sie bewegen sich sehr eigenartig. Irgendwie steif und ungelenk«, sagte Sapius, der unweit der Menge einige Dächer entdeckt hatte. »Riechst du das auch? Nach was stinkt es denn hier?«

»Es stinkt nach Tod und Verwesung«, stellte der Drache fest, »wo du es sagst … sie bewegen sich tatsächlich merkwürdig. Wankend und schlurfend, als hätten sie zu viel Bräu getrunken oder wären verletzt. Vielleicht ist es eine Gruppe Verwundeter oder Kranker, die in dem Dorf nach Hilfe suchen. Soll ich weiter runter gehen und eine Runde über ihre Köpfe fliegen, damit wir sie besser sehen können?«

»Ja, aber gib acht, dass wir nicht zu dicht über sie hinwegfliegen und in die Reichweite ihrer Waffen kommen. Wir wissen nicht, was sie im Schilde führen und ob oder wie sie bewaffnet sind.«

Haffak sank auf eine Höhe von dreißig Fuß über dem Boden und flog dicht über die Menge der Klan hinweg. Der Geruch wurde intensiver. Plötzlich entdeckte Sapius an der Spitze der Menge zwei Gestalten, die ihm bekannt vorkamen, und erschrak bis ins Mark. Sie hatten den Drachen entdeckt und deuteten mit den Fingern auf Haffak und Sapius. Manche duckten sich oder warfen sich ungeschickt auf den Boden. Ein Paar gelbe und ein weiteres Paar rotglühende Augen fixierten den Drachen und seinen Reiter. Warnrufe hallten durch den lichten Wald.

»Bei den Kojos«, sagte der Magier entsetzt, »das sind die Leibwächter der magischen Brüder. Haisan und Hofna. Sie führen die Menge an. Hast du die Gesichter gesehen? Das waren keine Lebenden, Haffak. Sie führen eine Armee von Toten über Ell. Lebende Tote.«

»Das erklärt den Gestank«, fauchte der Drache, »Schattenbeschwörung, Totenerweckung. Oh, wie ich diese dunkle Magie hasse! Es wird wirklich Zeit, dass wir Ell verlassen. Dieser Kontinent verfällt in Dunkelheit und Verderbnis. Todsänger, untote Wiedergänger, Schatten. Das ist nicht mehr die Welt der Drachen.«

»Wir müssen etwas unternehmen«, befand Sapius, »ich glaube zu wissen, wer sie sind.«

»Du warst einst ein Saijkalsan … also sprich!«, verlangte der Drache.

»Die Saijkalrae haben die Gescheiterten entfesselt.«

»Das musst du mir näher erklären.«

»Die Gescheiterten sind ehemalige Saijkalsan, die zur Strafe für das Scheitern eines Auftrags oder für ihren Tod während der Inquisition ihr Dasein in der Finsternis der heiligen Hallen verbringen mussten und dort langsam verrotteten. Sie sind eine starke Waffe im Kampf um das Buch der Macht. Saijrae und Saijkal müssen die Körper der Toten mittels eines Rituals mit dem Geist der Gescheiterten beseelt und sie dadurch entfesselt haben. Sie besitzen noch immer ihre magischen Fähigkeiten, aber nur für eine begrenzte Zeit, bis sie verwesen und schließlich mit dem verfallenden Fleisch auch ihr Geist vergeht und im Nichts verschwindet. Die Beseelung der Toten ist ein böser Fluch. Sie tragen ihn wie eine Seuche über das Land und jeden, den sie verletzen, infizieren sie mit der Seuche. Die infizierten Toten werden sich erheben und zu blutgierigen Wiedergängern werden. Es ist die Verderbnis, die wir unter uns sehen.«

»Ich verbrenne sie«, schwor der Drache, »meinem Drachenfeuer werden sie nicht widerstehen.«

»Es sind zu viele«, warnte Sapius den Drachen, »außerdem werden sie von Haisan und Hofna geschützt oder sie schützen sich mit ihrer Magie selbst. Das Feuer wird sie nicht erreichen. Wir müssen uns etwas anderes einfallen lassen und die Bewohner des Dorfes warnen.«

»Was hast du vor?«, wollte der Drache wissen.

»Ohne die Saijkalrae können wir nichts gegen die Entfesselten ausrichten«, antwortete Sapius, »ich werde meinen Zugang nutzen und mich den magischen Brüdern stellen. Das ist schon lange fällig. Ich habe es immer wieder aufgeschoben, weil ich annahm, ich wäre noch nicht bereit. Ich muss sie dazu bringen, die Entfesselten zurückzurufen und den Fluch aufzuheben.«

»Das ist Wahnsinn«, meinte der Drache, »du kannst dich ihnen nicht alleine stellen. Du wirst nicht mehr aus den heiligen Hallen zurückkehren. Sie töten dich und am Ende entfesseln sie dich, wie diese Gescheiterten dort unten.«

»Das könnte geschehen, ja«, gab Sapius zu, »aber ich bin ihnen vielleicht gewachsen und muss es versuchen. Wir dürfen nicht zulassen, dass sie die Seuche über Ell bringen und das Buch der Macht in die Hände bekommen. Zuerst warnen wir das Dorf. Danach fliegst du an einen sicheren Ort. Ich öffne den Zugang zu den Saijkalrae und statte ihnen einen Besuch in den heiligen Hallen ab. Wir werden sehen, was geschieht. Kehre ich nicht zurück, wirst du unser Volk in Sicherheit bringen, wie wir es besprochen haben.«

»Wie der Yasek befiehlt«, stimmte der Drache zu.

Der Drache drehte ab und flog in Richtung des Dorfes. Viel Zeit blieb ihnen nicht, die Einwohner zu warnen. Die Entfesselten waren höchstens noch eine Horas von den äußersten Gebäuden des Dorfes entfernt.

*

Grenwin drehte sich in seinem Kokon, breitete seine Tentakeln aus und zog sich aus dem Kokon in sein Netz. Geschickt hangelte er sich durch die vielen miteinander verknüpften, klebrigen Fäden zu einer verborgenen Stelle in seinem Netz. In einer Nische unter der Höhlendecke, unerreichbar für Eindringlinge, hingen unzählige verpuppte Raupen in ihren Kokons: Grenwins Brut, die er gemeinsam mit der Spinne Peeva züchtete und die zugleich seine Dienerschaft und Nahrung war.

Die Puppen waren nicht annähernd so groß und fett wie Grenwin. Sie waren allenfalls so groß wie der Handteller eines erwachsenen Nno-bei-Klan. Sie stammten zwar allesamt von Grenwin und Peeva ab, waren aber doch nicht wie der vierte Wächter. Vorsichtig betastete er die Puppen mit seinen Händen und knurrte zufrieden. Einige waren reif zum Schlüpfen.

Grenwin trennte vier Puppen ab und nahm sie mit in seinen eigenen Kokon. Über eine der Puppen machte er sich sofort her, öffnete den Kokon, stülpte sein Raupenmaul über die Öffnung und saugte den Inhalt schmatzend aus. Den übrigen drei Puppen half er beim Schlüpfen, indem er in einem gleichmäßigen Rhythmus mit den Tentakeln an die Hülle klopfte und ein melodisches Lied dazu summte. Er konnte durch die Hülle sehen, wie sich die Puppen im Kokon bewegten, und grunzte freudig.

Grenwin begann die Hüllen aufzuwickeln und fraß sie Stück für Stück auf, bis nur noch die nackte und frisch geschlüpfte Puppe vor ihm lag, die nun ein fertiges und verwandeltes Wesen war, das nur noch seine Flügel entfalten und trocknen lassen musste. Während sich die frisch Geschlüpften neugierig umsahen und ihre Körper putzten, redete Grenwin auf sie ein und erteilte ihnen Befehle. Sie sahen aus wie dicht behaarte Spinnen mit zahlreichen Augen, acht Beinen und Flügeln, die denen einer Fledermaus oder eines Drachen ähnelten.

»Fliegt zu Tarratar und den übrigen Wächtern«, sagte Grenwin, »sagt ihnen, dass die Streiter auf dem Weg sind und bald in Kartak eintreffen werden. Die Wächter sollen sich für die Prüfungen bereithalten, sonst werde ich die Streiter alleine in Empfang nehmen und mich von ihrem Fleisch nähren. Das wird ein Festmahl für mich und meine Kinder werden. Tarratar weiß, wie hungrig sie sind. Richtet ihnen aber auch aus, dass die Gescheiterten entfesselt wurden. Jemand von den Wächtern sollte sich darum kümmern. Sie können viel Unheil anrichten.«

Die Boten klopften jeweils viermal mit den Vorderbeinen an die Wand des Kokons. Das war das Zeichen, dass sie Grenwin verstanden hatten. Ihre Flügel waren getrocknet und sie zogen sofort los, den Wächtern des Buches Grenwins Botschaft zu überbringen.

Grenwin knurrte, als die Boten davongeflogen waren, und rollte sich wieder in seinem Kokon zusammen, um die Streiter weiter zu beobachten.

*

Tarratar hatte sich nach Eisbergen begeben. Sosehr er die Fürstin Alvara und die gemeinsamen Unterredungen mit ihr auch schätzte – sie war in seinen Augen einfach klug, schön und liebreizend –, reiste er nicht gerne in den Eispalast. Ihm war es dort zu kalt und er fror trotz vieler wärmender Felle erbärmlich. Außerdem hasste er Fisch, der in Eisbergen leider nur zu oft unter den gereichten Speisen zu finden war. Zum Glück gelang es der Fürstin immer wieder, ihn von der Kälte, dem Fisch und eisigen Gedanken abzulenken. Tarratar genoss die Gastfreundschaft der Fürstin und hatte viele Privilegien im Eispalast. Alvara mochte den kleinen Narren und sie war stets freundlich zu ihm. Es war ein offenes Geheimnis, dass sie seit dem Tod ihres Gatten und dem Ende der Trauerzeit das Lager mit ihm teilte, wenn er zu Besuch war. Alvara wusste genau, was Tarratar gefiel. Sie hatte den Narren auch dieses Mal sofort in ihren privaten Gemächern empfangen, nachdem er den Palast betreten und um eine Unterredung gebeten hatte.

»Tarratar! Welche Ehre«, begrüßte die Fürstin den Narren, »was führt Euch dieses Mal zu mir in den eisigen Norden? Es ist noch nicht viel Zeit vergangen seit ich Euch den Schlüssel zur Macht ausgehändigt habe. Aber ich freue mich natürlich, Euch zu sehen. Ihr wisst, wie sehr ich Eure Gesellschaft vermisse, wenn Ihr nicht bei mir seid.«

»Hoi, hoi, hoi … meine edle, schöne Fürstin«, antwortete der Narr und ließ die Glöckchen an seiner Kappe hell erklingen, »Eure Worte wärmen mein Herz. Einen solch wundervollen Empfang habe ich nicht verdient. Es tut gut, Euch wohlauf zu sehen. Leider ist der Anlass meines Besuches wenig erfreulich.«

Die Fürstin wurde sehr ernst. Angespannt richtete sie sich in ihrem Sessel auf und blickte den Narren erwartungsvoll an. Der Narr sprach Gefahren und Schwierigkeiten stets unverblümt an. Und wenn er sagte, sein Besuch sei nicht erfreulich, dann war das genug, ihre Neugier und volle Aufmerksamkeit zu wecken.

»Was ist los, Tarratar?«, fragte sie. »Spannt mich bitte nicht auf die Folter.«

»Das hatte ich nicht vor«, meinte der erste Wächter, »ich möchte, dass Ihr Eisbergen verlasst und zwar so schnell wie möglich.«

»Weshalb sollte ich Eisbergen verlassen?«, wollte Alvara wissen. »Die Klan vertrauen meiner Führung. Der Eispalast und diese Stadt sind mein Heim. Ich bin die Fürstin des Hauses Alchovi. Das Erbe meines verstorbenen Gemahls lastet zwar schwer auf meinen Schultern, aber ich habe es im Lauf der Sonnenwenden und trotz der Einsamkeit und Kälte in meinem Herzen auch ohne ihn geschafft, den Eisbergenern das zu geben, was sie von ihrem Fürstenhaus erwarten und brauchen. Eisbergen geht es gut. Der Handel blüht. Wir haben die Stadt wiederaufgebaut, nachdem sie beinahe zur Hälfte zerstört worden war. Die Nno-bei-Klan von Eisbergen aus zu führen, für ihr Wohl zu sorgen, sie zu schützen und Gerechtigkeit walten zu lassen, ist meine erste Pflicht. Eisbergen will meine Führung. Ich würde sie enttäuschen, wenn ich ginge.«

»Das Eis wird schmelzen«, sagte Tarratar frei heraus, »bald wird es weder das ewige Eis noch Eisbergen oder Euren Palast geben. Das Ende ist nah.«

»Das wäre eine furchtbare Katastrophe. Ich müsste ganz Eisbergen warnen und in Sicherheit bringen lassen. Aber wie kommt Ihr darauf?«, fragte Alvara überrascht. »Es gibt keinerlei Anzeichen einer Erwärmung. Der letzte Winter war härter und frostiger denn je. Das Eis blieb stark und dick. Es hat sich sogar eine neue Schicht gebildet.«

»Das mag sein«, entgegnete Tarratar, »aber Eis schmilzt schneller als Stein. Es wird nicht allzu lange dauern. Und was die Anzeichen für das nahende Ende angeht, habt Ihr gewiss schon vom Schicksal der Ordenshäuser gehört.«

»Ehrlich gesagt, nein«, sagte Alvara.

»Nun … dann sind die Boten wohl noch nicht eingetroffen«, meinte Tarratar. »Flieht, Alvara. Das ist die einzige Möglichkeit, der Katastrophe zu entkommen.«

»Und wohin soll ich Eurer Meinung nach mit meinem Volk und den Eiskriegern gehen?«, fragte Alvara. »Etwa in den Süden über das Riesengebirge? Wie stellt Ihr Euch das vor? Wer wird uns aufnehmen und in seinen Ländereien siedeln lassen. Das wäre in der Tat unser Ende.«

Tarratar schüttelte den Kopf. Die Glöckchen seiner Kappe klingelten erneut, aber nur sehr leise. Alvara war schwer zu überzeugen. Was durfte er ihr erzählen? Der Narr wollte nicht, dass ganz Eisbergen sein Heil in der Flucht suchte. Aber er verstand auch, dass die Fürstin ihr Volk nicht einfach im Stich lassen konnte. Er sah sie lange grübelnd an.

»Ich hatte mir für Euch einen anderen Kontinent als neues Zuhause vorgestellt. Fee lautet der Name des magischen Kontinents. Dort wärt Ihr in Sicherheit«, sagte der Narr schließlich.

»Ihr macht wohl Späße, Tarratar«, erwiderte Alvara, »gibt es diesen sagenumwobenen Kontinent überhaupt? Hat ihn je ein Klan erreicht oder entdeckt? Ich habe nur Gerüchte und Märchen davon gehört.«

»Es gibt ihn«, antwortete Tarratar, »ich habe ihn mit eigenen Augen gesehen. Er ist sehr viel größer und völlig anders als Ell. Und er ist magisch und faszinierend. Ich weiß, dass Ihr Euch dort wohlfühlen würdet.«

»Ach Tarratar, ich bin nicht auf Abenteuer aus. Seht mich an! Ich bin nicht mehr die Jüngste und ich weiß genau, wohin ich gehöre. Ich bleibe und werde wie Corusal zu den Schatten gehen, sobald mein Ende gekommen ist. Das ist der Lauf des Lebens und des Gleichgewichts, Tarratar. Weshalb sollte ich das ändern wollen?«

»Verzeiht«, erwiderte Tarratar händeringend, »aber Ihr seht blendend aus. Ich bitte Euch, ich flehe Euch an … Ihr müsst mir vertrauen und Eisbergen verlassen. Ihr könnt noch viele wunderbare Sonnenwenden auf Fee verbringen.«

»Nein«, lehnte Alvara mit einer Bestimmtheit ab, die keinen Widerspruch mehr zuließ, »Ihr könnt dieses Fee mit den schönsten Farben, Bildern und Geschichten für mich ausmalen. Ich werde Eisbergen niemals verlassen. Unsere Unterredung ist beendet. Wir sehen uns beim Essen. Es gibt frischen, rohen Eisfisch. Ihr werdet dieses Thema nicht wieder vor mir ansprechen. Ich nehme an, Ihr wollt mir nicht bis zum Essen Gesellschaft leisten. Nein? Ihr dürft gehen.«

Tarratar stand auf, verbeugte sich und verließ die Gemächer der Fürstin wortlos, wobei er bis zur Tür rückwärts ging. So hatte er Alvara selten erlebt. Er war verärgert. Auch wenn er mit seinem Vorschlag bei Alvara auf wenig Gegenliebe gestoßen war, wusste der Narr nun, was er zu tun hatte. Er würde nicht so schnell aufgeben. Alvara war ihm ans Herz gewachsen. Sie zu verlieren, würde ihn schmerzen, mehr als er sich im Augenblick eingestehen wollte.

Der Weg von Alvaras Gemächern zu seiner Gästekammer war kurz. Er schlitterte über den Eisboden, bog einmal um eine Ecke und stand vor der Tür, die zu seiner Kammer führte. Als er die Tür öffnete, entdeckte er sofort das seltsame Tier, das auf seinem Tisch saß und auf ihn gewartet hatte.

»Hoi, hoi, hoi … sieh an, sieh an«, sagte der Narr lächelnd, »wer hat dich hässliches Ding denn zu mir geschickt? Das kann doch nur Grenwin gewesen sein.«

Der Narr betrat die Kammer, schloss die Tür hinter sich und ging zum Tisch, wo er das geflügelte Spinnentier auf seine Hand krabbeln ließ.

»Es ist ganz schön kalt hier im Eispalast, nicht wahr?«, sagte Tarratar, während er das Wesen beobachtete, wie es sich mit steifen Gliedern langsam bewegte. Er hauchte seinen warmen Atem auf den dicken Körper, was sofort Wirkung zeigte. Das Spinnentier krabbelte schneller.

»Nun? Was gibt es aus Kartak zu berichten?«, fragte Tarratar das Wesen.

Das Spinnentier wisperte in hellen, piepsenden Tönen. Tarratar konnte die Worte verstehen, die für die meisten anderen Wesen völlig unverständlich und viel zu hoch waren. Grenwins Botschaft überraschte den Narren nicht sonderlich. Er hatte damit gerechnet, dass sich die Streiter bereits auf den Weg gemacht hatten und Sapius erfolgreich war.

»Fliege zurück nach Kartak und sag deinem Vater, er soll sich gedulden und seinen riesigen Raupenhunger an anderen Leckerbissen stillen. Es ist noch Zeit. Die Streiter haben auf ihrem Weg noch manche Prüfung zu bestehen. Ich werde aber schon bald nach Kartak kommen«, trug er dem Wesen zur Antwort an Grenwin auf. Das Wesen piepste noch einmal, schlug wild mit den Flügeln und verschwand durch das offene Fenster.

Tarratar warf sich seufzend auf das Lager und dachte daran, was er tun konnte, damit Alvara den Eispalast und Eisbergen Richtung Fee verlassen würde. Es gab nur eine Möglichkeit. Er musste ihren Leibwächter Baylhard davon überzeugen, Alvara in Sicherheit zu bringen. Der Anführer der Eiskrieger war ein beinharter Mann und für das Leben der Fürstin verantwortlich. Alvaras Pflichten durften ihn an der Erfüllung seiner Aufgabe nicht hindern. Notfalls musste er sie mit Gewalt in Sicherheit bringen. Tarratar lächelte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Baylhard ablehnen würde. Es musste dem Narren nur gelingen, ihm die Bedrohung vor Augen zu führen.

Die Idee war gut und Baylhard wäre darüber hinaus ein starker Weggefährte, der die Fürstin auf der Flucht beschützen konnte. Diesem ehemaligen Moldawarjäger traute er – mit seiner Unterstützung und dem einen oder anderen nützlichen magischen Gegenstand – zu, Fee auf dem Seeweg sicher zu erreichen und den vielen Gefahren trotzen zu können.

Tarratar nahm sich vor, nach dem gemeinsamen Essen mit dem Eiskrieger zu sprechen.

*

Bis an den südöstlichen Waldrand waren Baijosto und Belrod vom Rudel der Baumwölfe begleitet worden. Der Naiki-Jäger hatte Belrod zuliebe darauf verzichtet, in der Gestalt des Krolak über die Baumwipfel zu jagen. Stattdessen waren sie wie zu alten Zeiten durch den Wald gerannt, hatten sich durch Dickicht und Gestrüpp geschlagen, waren Hügel hinauf- und wieder hinabgehetzt, durch Bäche gewatet und über Gräben gesprungen. Das Rudel war ihnen immer dicht auf den Fersen geblieben. Es war wie das Spiel ihrer Kindheit und Jugend, unbeschwert und fröhlich. Sie hatten ihre helle Freude daran. Die Baumwölfe spürten, dass der baldige Abschied von ihrem Rudelführer endgültig sein könnte, und hielten sich zurück. Baijosto wusste nicht, ob sie um ihn trauern würden. Die Gefühle eines Baumwolfs waren schwer zu ergründen, obwohl er so lange unter ihnen gelebt hatte. Als Krolak fühlte und dachte er ähnlich, dennoch hatte er die wilde Kreatur in all der Zeit nie ganz die Oberhand gewinnen lassen. Stets hatte er den Krolak in sich kontrolliert. Seine Empfindungen und Wahrnehmungen unterschieden sich daher von denen der Baumwölfe. Vielleicht würden sie ihren Anführer eine Zeit lang vermissen. Baijosto nahm allerdings an, dass sie ihn rasch wieder vergaßen, sobald sich in den Rangkämpfen ein neuer Anführer hervorgetan hatte. Es war sehr wahrscheinlich, dass einige Tiere ihr Leben bei den Kämpfen um die Führung lassen mussten. Noch wahrscheinlicher war es, dass sich das Rudel spaltete. Er machte sich aber keine Sorgen deswegen, die Zahl der Tiere war groß genug, um in vier oder fünf Rudeln durch die Wälder zu ziehen und zu überleben. Der Faraghad war auch weiträumig genug, um jedem Rudel ein eigenes Revier zu bieten, ohne dass sich mehrere Rudel gegenseitig ins Gehege kommen mussten. Es war Platz und Beute genug für alle da.

Ein letztes Mal schlugen sie ihr Lager im Wald auf und erlaubten sich, ein Feuer zu entzünden, um das während der Jagd erlegte Waldschwein zu braten. Ein Leckerbissen, den sie sich nur selten gönnten. Für das Rudel war die Jagd ebenso erfolgreich ausgefallen. Es war ihnen gelungen, eine ganze Herde Waldschweine zu erbeuten, die alle Tiere des Rudels sättigte.

Die Baumwölfe und die beiden Naiki versammelten sich auf einer großen Lichtung. Das Rudel verteilte sich auf die umstehenden Baumwipfel und legte sich auf von den Sonnen erwärmte Steine und Felsen, die die Lichtung säumten.

»Schwein gut«, brummte der Maiko-Naiki zufrieden und rieb sich mit einer Hand den Bauch, während er an einer großen, gebratenen Keule nagte.

»Genieß es«, meinte Baijosto, »es wird für lange Zeit unser letztes Waldschwein sein. Schon morgen verlassen wir den Wald, verabschieden uns vom Rudel und ziehen weiter zur Küste ans Ostmeer. Mit etwas Glück fangen wir Fische und finden Muscheln.«

»Nicht mag Fisch und Muschel«, verzog Belrod angewidert das Gesicht, »stinkt nach Meer.«

»Ich weiß, aber es wird dir schon schmecken, wenn du richtig Hunger hast«, lachte Baijosto.

Ihre Stimmung war ausgelassen und heiter. Die letzten Tage im Wald hatten ihnen beiden gutgetan. Als die Sonnen untergegangen waren und es im Faraghad stockdunkel wurde, legten sie sich neben der Glut ihres Feuers zum Schlafen. Die Baumwölfe wachten.

*

Das Essen mit Alvara war kurz und fand in eisiger Stimmung statt.

»Passend zur Umgebung«, dachte der Narr, »es wäre besser gewesen, wir hätten auf das gemeinsame Essen verzichtet, uns unter einen Haufen Felle gekuschelt und gegenseitig gewärmt.«

Tarratar und die Fürstin hatten sich an diesem Abend nur wenig zu sagen und der Eisfisch mundete dem Narren überhaupt nicht. Er wurde roh auf Salz und Eis mit eigenwilligen, bitter schmeckenden Kräutern serviert. Als Beilage gab es Berge an schleimigen und haarigen Meeresalgen, die für Tarratar widerlich rochen und noch viel schlimmer schmeckten.

Nachdem der Narr seinen Teller aus Freundlichkeit gegenüber seinen Gastgebern geleert hatte, verabschiedete er sich rasch und gab vor, von der langen Reise müde zu sein. Vor der Tür zu Alvaras Gemächern traf er Baylhard, der es sich nicht hatte nehmen lassen, während des Essens selbst Wache zu stehen.

»Auf ein Wort«, sagte der Narr zu Baylhard.

Baylhard blickte Tarratar misstrauisch und von oben herab an. Der Anführer der Eiskrieger war beinahe drei Köpfe größer und mindestens doppelt so breit wie der Narr.

»Was wollt Ihr von mir, Tarratar?«, fragte Baylhard mit donnernder Stimme. »Genügt es Euch nicht, die Fürstin des Hauses mit Euren Späßen zu belästigen?«

»Bitte … sprecht doch nicht so laut«, bat Tarratar mit den Händen fuchtelnd, »die Fürstin könnte uns hören.«

»Wieso? Habt Ihr etwas vor Alvara zu verbergen?«

»Nein. Aber ich möchte mich mit Euch unter vier Augen unterhalten. Die Situation ist … sagen wir … prekär und nicht für jedermanns Ohren gedacht.«

»Na gut«, nickte Baylhard, »dann gehen wir in meine Gemächer. Ich lade Euch zu einem Bräu, Trockenfleisch, Käse und Kräuterbrot ein. Einfach, zünftig und gut. Ich denke, das wird Euch eher schmecken als das Mahl, das Ihr in Alvaras Gesellschaft genießen durftet.«

»Oh … ja!«, freute sich der Narr aufrichtig. »Das ist sehr … aufmerksam und freundlich von Euch.«

Während ihres Gesprächs wurde Tarratar schnell bewusst, dass Baylhard Madhrabs Kapitulation Tut-El-Bayas vor Nalkaar und den Rachuren noch nicht verwunden hatte. Er erwähnte das Schicksal der Hauptstadt und Madhrabs Tod beiläufig. Baylhards Reaktion war heftig.

»Ich kenne weder eine Stadt dieses Namens noch diesen Mann, der sich Madhrab nannte. Wo liegt dieses Tut-El-Baya? Und außerdem … was interessiert mich der Tod eines Unbekannten? Jeden verdammten Tag gehen unzählige Frauen und Männer zu den Schatten«, grollte Baylhard, »er wird es verdient haben.«

»Vielleicht hat er das sogar«, meinte Tarratar nachdenklich, »dennoch hat er auch Großes vollbracht und war sehr gut mit Fürst Corusal und den Eiskriegern befreundet. Habt Ihr nicht bemerkt, dass er zu einem Todsänger gewandelt worden war, bevor er kapitulierte und Tut-El-Baya Nalkaar und dessen Statthalter Thezael überließ?«

»Ich weiß nicht, wovon Ihr redet«, blieb Baylhard stur, »ich kannte ihn nicht.«

»Und was ist mit Tomal? Erinnert Ihr Euch vielleicht an ihn?«, fragte Tarratar verschmitzt.

»Das muss ich wohl. Immerhin ist er doch ein Alchovi oder nicht? Wie immer man das auch sehen will. Ich hoffe nur, der Bastard kehrt nie zurück, um seinen Anspruch auf das Fürstenhaus geltend zu machen. Ich wüsste nicht, was ich täte, sollte er in den Eispalast kommen und Alvaras Platz einnehmen.«

»Ihr seid sein Leibwächter gewesen, Baylhard, und er mochte Euch«, behauptete Tarratar.

»Wie schön für ihn«, brummte Baylhard, »mir kann er gestohlen bleiben. Gegen die Rachuren und die Todsänger hat er nichts unternommen. Die einzige Ausnahme war, dass er dem Regenten die Eiskrieger abstellte, um seiner fürstlichen Verpflichtung nachzukommen. Reichlich wenig für einen so mächtigen Mann. Die Nno-bei-Klan waren und sind dem Lesvaraq scheinbar nicht wichtig.«

»In diesem Punkt stimme ich Euch zu, Baylhard«, nickte Tarratar, »der Lesvaraq geht seine eigenen Wege. Die Sorgen und Nöte anderer interessieren ihn nicht. Ich muss Euch aber leider sagen, dass Tomal sich an einem Scheideweg befindet. Er ist dem Wahnsinn sehr nahe und brandgefährlich.«

»Wolltet Ihr deshalb mit mir sprechen?«

»Nein, aber es gibt einen … sagen wir … gewissen Zusammenhang zwischen Tomals Entwicklung und der Sorge, über die ich mit Euch sprechen will. Ich muss gestehen, dass ich schon mit Alvara darüber gesprochen habe. Sie war wenig begeistert von meinem Vorschlag. Das ist der Grund, warum ich zu Euch komme.«

»Was verlangt Ihr von mir? Ich soll mich gegen die Fürstin stellen?«, brauste Baylhard auf. »Das hättet Ihr Euch sparen können.«

»Auch wenn es um ihr Leben geht?«, meinte Tarratar unbeirrt.

»Was meint Ihr damit?«, wollte Baylhard wissen. »Ist Alvara in Gefahr?«

»In gewisser Weise«, nickte Tarratar, »ich kann es nicht mit Sicherheit sagen. Aber es gibt Vorzeichen, die darauf hindeuten und die sich in letzter Zeit häufen. Das ist schwer zu erklären. Das Gleichgewicht schwankt. Ich will Euch eine Frage stellen. Nehmen wir den unwahrscheinlichen Fall an, der Eispalast brenne. Alvara gäbe Euch den Befehl, sie in den lichterloh brennenden Gemächern zurückzulassen und stattdessen die Bediensteten aus dem Palast zu führen. Ihr wisst, sie würde verbrennen und sterben, solltet Ihr den fürstlichen Befehl befolgen. Was würdet Ihr tun?«

»Das ist eine schwere Frage«, Baylhard kratzte sich am Kinn, »aber ich glaube, dass ich mich an meinen Eid erinnern würde, den ich vor Fürst Corusal ablegen musste. Ich musste schwören, Alvaras Leben um jeden Preis zu beschützen, auch um den Preis seines und meines eigenen Lebens. Die Antwort ist, ich würde Alvara retten und die Bediensteten zurücklassen.«

»Und wenn sie sich weigern sollte?«

»Müsste ich zu meinem Bedauern Gewalt anwenden«, sagte Baylhard nachdenklich, »was soll diese Frage, Tarratar? Der Eispalast wird niemals brennen.«

»Nein, wird er nicht«, der Narr bewegte seinen Kopf und klingelte mit den Glöckchen, »aber er kann schmelzen und mit ihm Eisbergen und das ewige Eis. Ich bitte Euch, flieht mit Alvara nach Fee. Das ist der magische Kontinent. Segelt über das Meer immer nach Osten. Es ist eine lange und gefährliche Reise. Die meisten würden scheitern. Aber Ihr könnt es schaffen.«

»Ich soll mit der Fürstin auf meinem Boot zu einem Land reisen, das es nur in Ammenmärchen gibt? Nur weil Ihr behauptet, das Eis könnte schmelzen? Das ist verrückt. Tarratar, das Meer und mein Boot sind kein Ort für eine Fürstin wie Alvara. Es stinkt nach Fisch; Blut und Meer. Ich war Moldawarjäger und oft einige Monde auf See, umgeben von hungrigen Moldawars, ohne auch nur einmal Land zu sehen. Wie lange soll die Reise zu diesem Kontinent überhaupt dauern?«

»Baylhard, das Ende ist nah. Ihr müsst mir vertrauen, das Leben der Fürstin ist in großer Gefahr. Ihr würdet Euch später schwere Vorwürfe machen, wenn Ihr nicht auf mich hört. Mit dem Schiff dauert die Reise übers Meer höchstens zwei Sonnenwenden, allerdings ohne eine Gelegenheit, zwischendurch frisches Wasser und Vorräte aufzunehmen. Ab einer gewissen Grenze gibt es kein Land und keine Inseln zwischen Ell und Fee, auf denen Ihr Eure Vorräte auffrischen könntet.«

»Das dauert zu lange. Niemand überlebt eine solche Reise«, gab Baylhard zu bedenken.

»Ich weiß, aber Ihr könnt es schaffen.«

»Wie denn? Das Wasser wird uns schon nach einigen Monden ausgehen und das Wasser des Ostmeeres lässt sich nicht trinken. Die Lebensmittelvorräte werden verbraucht sein oder schlecht werden.«

»Ich würde Euch ein paar nützliche Artefakte mit auf die Reise geben. Magisches Werkzeug, wenn Ihr so wollt«, schlug Tarratar vor.

»Was soll das sein und was kann das Werkzeug?«, wollte Baylhard wissen. »Ich besitze keine magische Begabung und Alvara auch nicht.«

»Hoi, hoi, hoi … bei Alvara wäre ich mir an Eurer Stelle nicht so sicher«, entgegnete der Narr, »aber das ist nicht von Bedeutung. Die Artefakte lassen sich auch von Nichtmagiebegabten nutzen. Ich hätte einen handlichen Wasseraufbereiter, der aus Meerwasser trinkbares Wasser macht. Das Salz gibt es gleich umsonst mit dazu. Außerdem befinde ich mich im Besitz eines Lederbeutels, der sich auf wundersame Weise immer wieder mit essbaren Vorräten füllt und dabei auch noch Abwechslung bei den Speisen bietet. Ihr müsst Euch etwas wünschen oder fest an etwas denken, dann kann es sein, dass der Wunsch in Erfüllung geht. Ihr dürft den Beutel aber niemals vollständig leer essen. Er ist eigenwillig und es kann sein, dass er tagelang keine Speisen hat oder nur sehr wenig gefüllt ist. Wurde er einmal vollständigt geleert, bleibt er für immer leer.«

»So etwas gibt es nicht, Tarratar«, grollte Baylhard, »die Mütter der Eiswüste erzählen ihren Kindern in langen, eisigen Nächten solche Geschichten zum Trost. Ihr wollt mich auf den Arm nehmen.«

»Keineswegs«, antwortete Tarratar, »ich überlasse Euch beide Artefakte mit Freuden, solltet Ihr Alvara nach Fee in Sicherheit bringen.«

Baylhard nahm einen großen Schluck Bräu, stellte den Krug ab, wischte sich den Schaum mit dem Handrücken vom Bart ab und kratzte sich nachdenklich am Kinn. Der Narr fühlte sich unter den strengen und durchdringenden Blicken des Eiskriegers unbehaglich. Aber er hielt stand und versuchte nicht, sich abzuwenden, während er von oben bis unten gemustert wurde.

»Ihr seid ein höchst eigenartiger Mann, Tarratar«, brummte Baylhard. Seine Augen blitzten gefährlich, als er ruhig und gelassen weitersprach: »Es ist mir nie gelungen, Euch ganz zu durchschauen. Aber ich muss zugeben, Ihr habt mich neugierig gemacht. Zwei Sonnenwenden mit Alvara auf hoher See, ohne Hunger und Durst zu leiden, das hat auch seine Vorzüge für einen alten Moldawarjäger. Ein unentdeckter, magischer Kontinent weckt die Abenteuerlust in meinen Knochen. Alvara wird mich umbringen, wenn ich sie von Eisbergen wegbringe. Aber dieses Risiko muss ich wohl eingehen. Ich willige unter einer Bedingung ein.«

»Das ist doch ein Anfang«, lächelte Tarratar, »wie lautet die Bedingung?«

»Ich steche mit Alvara noch diese Woche in See«, sagte Baylhard, »sie wird mich bestimmt gerne zu einer Moldawarjagd begleiten. Das wollte sie schon immer mal machen. Das wird unser Vorwand sein. Ihr überlasst mir die Artefakte aber ein paar Tage vorher. Ich will prüfen, ob Ihr die Wahrheit gesagt habt, bevor ich das Wagnis eingehe und Alvara mit auf mein Boot nehme.«

»Das ist umsichtig von Euch. Ich hatte nichts anderes erwartet«, stimmte Tarratar zu. »Holt sie Euch gleich in meinen Gemächern ab.«

»Und noch eines solltet Ihr wissen«, Baylhard hob bedrohlich eine Augenbraue, »solltet Ihr mich belogen haben, ziehe ich Euch die Haut eigenhändig ab und verfüttere Euch an die Moldawars. Ihr wärt nicht der Erste, dem es so erginge.«

»Ich weiß«, lächelte Tarratar verlegen, »ich kenne die rauen Sitten der Eiskrieger und Moldawarjäger. Ich lüge nicht. Holt und prüft die Artefakte. Ihr werdet sehen und staunen.«

Tarratar war zufrieden. Er hatte erreicht, was er sich erhofft hatte, und könnte sich nun mit ruhigerem Gewissen seinen weiteren Aufgaben und vor allem den Prüfungen der Streiter widmen. Es war nicht gut, Grenwin in seiner Ungeduld und seinem Hunger lange warten zu lassen. Der vierte Wächter war eigenwillig und neigte dazu, Tarratars Anweisungen zu missachten.

Baylhard hatte nur wenig später – mit den glänzenden Augen eines kleinen Jungen, der ein überraschendes Geschenk erhält – die Artefakte in Empfang genommen.

*

Die Warnung des Dorfes vor der sich nähernden Gefahr durch die Entfesselten war missglückt. Die Einwohner hatten den großen Drachen gesehen und waren sofort in Panik geraten. Die meisten der Klan sahen in ihm eine gefährliche, feuerspuckende und fleischfressende Kreatur. Erinnerungen an die Drachenchimären der Rachuren wurden wach. Sämtliche Beschwichtigungsversuche scheiterten. Der Magier wurde schlicht nicht gehört.

»Ich habe es wenigstens versucht«, dachte Sapius und zuckte mit den Schultern, »mehr kann ich im Augenblick nicht für sie tun. Bleiben sie hier im Dorf, sind sie verloren. Schicksal!«

»Bring uns an einen sicheren Ort«, sagte er zum Drachen, »wir dürfen nicht gestört werden, während ich den Zugang öffne und in die heiligen Hallen der Saijkalrae eindringe.«

Der Drache erhob sich mit Sapius auf dem Rücken wieder in die Lüfte und suchte die Umgebung nach einem geeigneten Landeplatz ab. Dabei stellten sie fest, dass die Entfesselten dem Dorf schon deutlich näher gekommen waren.

Haffak Gas Vadar landete auf einer Bergkuppe, deren Hänge und Felsen, die nur bis zur halben Höhe dicht bewaldet waren, er zu allen Seiten gut einsehen konnte, sollte sich jemand nähern.

Sapius rutschte vom Rücken des Drachen und legte sich auf den felsigen Boden, der mit Moosen bewachsen und noch warm vom Licht der Sonnen war. Den Stab des Farghlafat legte er griffbereit neben sich ab.

»Es wird nicht lange dauern«, versprach Sapius, »die Zeit steht in den heiligen Hallen beinahe still. Sollte sich mein Körper plötzlich verändern, zucken oder sonst irgendwie auffällig verhalten, versuch bitte sofort, mich aufzuwecken und zurückzuholen. Jede Veränderung ist ein schlechtes Zeichen.«

»Pass auf dich auf, Yasek«, sagte der Drache, »auch wenn ich dir im Augenblick nicht vertrauen kann und wir uns gestritten haben, sollst du wissen, dass du noch immer mein Freund bist und ich mich um dich sorge. Die magischen Brüder sind mächtig und gefährlich.«

»Ich danke dir, Haffak«, meinte Sapius, »ich kenne die Saijkalrae gut und werde vorsichtig sein.«

Sapius schloss die Augen, konzentrierte sich und fand seinen Zugang schneller, als er angenommen hatte. Ein magischer Wirbel zog ihn mit sich fort, bis er sich in den heiligen Hallen befand, die er so lange gemieden hatte. Er erinnerte sich nur ungern daran, dass er bei seinem letzten Besuch in den heiligen Hallen zu den Gescheiterten geworfen worden und nur durch seinen Tod wieder entkommen war.

Der Magier kannte den Weg vom Eingang entlang der Säulen und vorbei an den flüsternden Schatten bis zur Haupthalle hinter der mächtigen Eisentür, in der sich die Saijkalrae für gewöhnlich aufhielten, ihre Diener zu sich riefen und die Versammlungen mit den Saijkalsan abhielten.

Dort befand sich auch das magische Auge, mit dem die Brüder jederzeit das Geschehen auf Ell verfolgen konnten. Sie mochten also durchaus bereits wissen, dass Sapius zu ihnen unterwegs war und sich Zugang zu ihrem Heim verschafft hatte. Wie würden sie ihn empfangen?

Im Gegensatz zu seinem letzten Aufenthalt waren der dunkle Hirte und der weiße Schäfer wach. Sapius war ihnen bislang immer nur schlafend begegnet und hatte bei Bedarf von ihrer Magie gekostet und einen Preis dafür entrichtet, den ihm Haisan und Hofna auferlegt hatten. Doch dieses Mal würde es anders sein. Er brauchte ihre Macht nicht. Sapius hatte befürchtet, seine Fähigkeiten könnten in der Gegenwart der Saijkalrae begrenzt oder gar verschwunden sein. Stattdessen hatte er das Gefühl, seine Magie habe sich, seit er die Hallen betreten hatte, noch verstärkt.

Vor dem Tor angekommen, hielt er einen Augenblick inne. Er vernahm weder ein verdächtiges Geräusch noch Stimmen.

Das Herz schlug ihm plötzlich bis zum Hals und seine Ohren rauschten. Seine Beine wollten ihn nicht mehr tragen. Seine Handinnenflächen und die Stirn wurden schweißnass. Kalter Schweiß. Sapius verfluchte sich selbst ob der plötzlichen Schwäche. Hatte ihn der Mut verlassen?

»Verdammt, was ist los mit dir«, sagte er zu sich selbst, »es sind doch nur die magischen Brüder. Nur? Verflucht … wie konnte ich bloß so ein Narr sein, sie in ihrem eigenen Heim herauszufordern?«

Sapius ging in die Knie und atmete einige Male tief durch. Er brauchte einige Wimpernschläge, bis er sich wieder gesammelt hatte und auf zittrigen Beinen aufrecht stehen konnte.

»Du bist der Yasek und ein freier Magier«, machte er sich selbst Mut, »ein Schattenbeschwörer noch dazu. Du kennst die alte Sprache der Altvorderen und die Magie der Drachen. Du warst tot und bist aus dem Land der Tränen wiederauferstanden. Du bist in die Brutstätten der Rachuren gestiegen und hast ihre Brut vernichtet. Du hast Rajuru, die Saijkalsan-Hexe, besiegt und den Drachen befreit. Du hast Thezael geschlagen und Nalkaar den Todsänger zur Flucht gezwungen. Du hast das Schicksal der Ordenshäuser der Sonnenreiter und Orna besiegelt. Wovor fürchtest du dich? Ich bin Sapius und den magischen Brüdern ebenbürtig.«

Sapius nahm all seinen Mut zusammen und stieß das Tor zur Haupthalle der Saijkalrae weit auf.

*

Bis in die frühen Morgenstunden, kurz vor Aufgang der Sonnen Krysons, hatten die Felsgeborenen ausgelassen in der Halle König Saragars die Rückkehr und den baldigen Abschied ihres Felsenprinzen gefeiert. Lange hatte es kein solches Fest mehr bei den Burntern gegeben, bei dem viel gelacht, gemeinsam gesungen, getanzt, getrunken und gespeist wurde.

Erst als die Mittagsdämmerung Tsairu eine der beiden Sonnen verdeckte, wachte Vargnar in den kalten Armen einer Eisprinzessin auf. Zärtlich hauchte sie ihm einen Kuss auf die Wange. Vargnar schlug die Augen auf. Ein Schauer lief durch seinen Körper, als er den Frost in seinem Gesicht spürte. Ein wunderbares und erregendes Gefühl.

»Vater hatte recht«, dachte Vargnar satt und befriedigt, »die Eisprinzessinnen sind außergewöhnliche Liebhaberinnen. Niemand außer uns Felsgeborenen kann ihre Kunst der Liebe genießen, ohne an ihrem Kuss zu sterben. Und das ist gut so.«

Rodso kam auf das Lager des Felsenprinzen geklettert, nachdem er gemerkt hatte, dass Vargnar wach lag. Der Felsenfreund blickte seinen Herren an und seufzte.

»Das war ein schönes Fest, mein Prinz«, sagte Rodso.

»Ja, wirklich«, gähnte Vargnar und streckte ausgiebig seine steinernen Glieder, »ich habe meinesgleichen vermisst, das wurde mir erst wieder während unseres Festes so richtig bewusst. Schade, dass es schon wieder zu Ende ist.«

»Und … habt Ihr Eure künftige Gemahlin kennengelernt?«, fragte Rodso neugierig.

»Wer weiß?«, antwortete Vargnar. »Ich habe unsere jungen Frauen zum ersten Mal bewusst wahrgenommen und war erstaunt, wie viele es waren und wie hübsch sie doch sind. Eine würde ich gerne näher kennenlernen. Sie hat auf mich einen starken, verwegenen und klugen Eindruck gemacht.«

»Oh … ich weiß schon, welche Ihr meint, mein Prinz«, grinste Rodso, »Valera Tacha, nicht wahr? Sie ist schön und kommt aus gutem Hause. Sie wäre in der Tat eine passende Wahl, die Eurem Vater durchaus genehm wäre. Aber ich würde sie nicht unbedingt klug nennen … eher draufgängerisch. Sie kann es mit Eurem Temperament und Eurer Abenteuerlust aufnehmen. Ihr Felsenfreund jedoch ist ausgesprochen weise. Die Klugheit hat sie von ihm, so wie Ihr die Eure von mir habt.«

»Was willst du mir damit sagen?«, empörte sich Vargnar. »Hältst du mich etwa für dumm?«

»Aber nein … unüberlegt vielleicht, aber nicht dumm«, antwortete Rodso spöttisch, »ich bin Euer Wissen, Gewissen und die Vernunft. Das ist unsere Aufgabe. Dafür habt Ihr uns geschaffen. Natürlich seid Ihr klug mein Herr, na ja … an guten Tagen. Doch manchmal muss ich Euch erst auf den richtigen Weg führen.«

»Runter von meinem Lager … du … du dreiste Pelzechse«, ärgerte sich Vargnar und fegte den Felsenfreund mit der Hand von seiner Pritsche, »du störst mich beim Liebesspiel.«

»Mit der Eisprinzessin«, höhnte Rodso, »das wird Eurer neuen Bekanntschaft nicht gefallen. Valera Tacha ist aufbrausend und sie kann sehr eifersüchtig sein, habe ich gehört. Sie wird sich gut überlegen, ob sie eine Felsenprinzessin werden will. Ich will nicht drängeln, aber wir sollten uns auf den Weg nach Kartak machen. Der Weg ist weit und Ihr wälzt Euch noch immer mit der Schönen auf Eurem Lager herum.«

»Ach komm schon, Rodso«, stöhnte Vargnar, »wir sind doch im Nu im Süden und auf Kartak. Oder kennst du jemanden, der sich schneller über Steine und Felsen bewegen kann als ich?«

»Zugegeben, Ihr seid flott unterwegs. Aber ein Drache fliegt schneller, als Ihr laufen und springen könnt.«

»Na schön. Ich stehe auf, wir packen unsere Bündel, verabschieden uns von Saragar und rasen Richtung Süden.«

Vargnar küsste die Eisprinzessin zum Abschied lange und innig. Anschließend wischte er sich mit steifen Gliedern den Frost von den Lippen. Es würde noch einen Augenblick dauern, bis er von den wärmenden Sonnenstrahlen wieder vollständig aufgetaut war und sich uneingeschränkt bewegen konnte. Der eisige Hauch der Eisprinzessinnen sorgte bei den Felsgeborenen für eine angenehm prickelnde Lähmung. Sie konnten sich danach bis zur Erwärmung ihres Körpers allerdings eine Zeit lang nur langsam bewegen, ansonsten mussten sie befürchten, dass ihre steinerne Haut und Gliedmaßen durch den Frost zersprangen und sie Verletzungen davontrugen.

Der Abschied von Saragar fiel Vargnar schwer. Kaum war er zu Hause angekommen, musste sich der Felsenprinz erneut auf die Reise machen. Saragar versprach ihm noch einmal, dass er sich um den Aufbau der Golemarmee und den Schutz der Felsgeborenen kümmern würde und alle Kräfte dafür aufbringen würde, die er abstellen konnte.

»Sobald du aus Kartak mit dem Buch der Macht zu uns zurückkehrst, wird die Armee wie ein Berg im Sturm stehen, die Felsgeborenen zu verteidigen«, sagte der König mit breiter Brust, »mit den Golems und den Eisprinzessinnen an unserer Seite brauchen wir nichts und niemanden zu fürchten. Das Ende kann kommen.«

»Ich verlasse mich auf dich, Vater«, sagte Vargnar.

»Und wir vertrauen dir, dass du erfolgreich sein wirst und den Felsgeborenen keine Schande bereitest«, antwortete Saragar, »pass auf dich auf, mein Sohn. Auf Kartak lauern viele Gefahren, die auch für einen Felsgeborenen tödlich sein können.«

»Ich habe doch Rodso bei mir«, erwiderte Vargnar, »was soll mir mit ihm schon zustoßen?«

»Wie konnte ich das nur vergessen«, meinte Saragar und zwinkerte dem pelzigen Felsenfreund auf Vargnars Schulter freundlich zu.

Wenig später waren Prinz Vargnar und Rodso auf dem Weg nach Kartak. Sie waren tatsächlich schnell unterwegs. Rodso hatte es sich auf der Schulter des Felsgeborenen bequem gemacht und hielt sich an einem Ledergurt fest, während sie von Stein zu Stein sprangen. Nach nur einer halben Hora hatten sie das Riesengebirge hinter sich gelassen und sahen das Ufer des Rayhin vor sich.

*

Tomal, Kallya und Malidor hatten einen Bogen um Tut-El-Baya gemacht und waren dann immer entlang der Ostküste Ells nach Süden gewandert. Auch die von den Rachuren geschliffene Trutzburg Fallwas hatten sie umgangen.

Den Weggefährten fiel Tomals düstere Schweigsamkeit unangenehm auf. Er hatte sich verändert, seit sie am Flussufer des Rayhin ihr Lager aufgeschlagen hatten. Tagelang hing er düsteren Gedanken und Tagträumen nach, was auch seine Begleiter bedrückte.

Blyss arbeitete in seinem Kopf und beeinflusste – mal bemerkt, mal unbemerkt – den Lesvaraq. Dunkle Gedanken und Bilder trieben dem Lesvaraq die Mordlust in die vor Müdigkeit rot geränderten Augen. Tomal fand keinen Schlaf, seit sich das Gefäß mit ihm verbunden und er das Gefühl hatte, unbedingt wach bleiben zu müssen, um nicht die Beherrschung über sein eigenes Wesen und Blyss zu verlieren. Er wusste, Blyss war gerissen und würde jede Gelegenheit nutzen, ihn zu überlisten. Aber die neue Dunkelheit fühlte sich so gut an, dass er sie nicht mehr missen wollte.

»Wie kommen wir nach Kartak?«, wollte Kallya wissen.

»Mit einem Boot, dummes Ding«, grollte Tomal.

»Ach ja? Und ich dachte wir fliegen oder schwimmen«, konterte die Magierin verärgert, »die Boote liegen bestimmt überall an der Küste rum und warten nur darauf, dass wir uns bedienen.«

»Es gibt genügend Fischerdörfer an der Südostküste Ells«, meinte Tomal, »es sollte also keine Schwierigkeit sein, ein geeignetes Boot zu finden, das uns nach Kartak bringt.«

»Eines, das hoffentlich groß genug ist, uns die Moldawars vom Hals zu halten und nicht irgendeine kleine Nussschale, die wir rudern müssen«, mischte sich Malidor ein, »ich habe gehört, Kartak liege ein gutes Stück von der Küste entfernt. Mitten im Ostmeer, auf hoher See. Es soll dort vor gefräßigen Raubfischen nur so wimmeln. Außerdem soll es dort häufig Stürme geben.«

»Das stimmt«, brummte Tomal, »und nicht nur das. Auf der Insel selbst gibt es eine Menge hungriges Getier, Riesenspinnen und Schlangen, die einen ausgewachsenen Klan mit einem Biss verschlingen können. Nicht zu vergessen die Nno-bei-Maya, die Fremden gegenüber misstrauisch sind und sehr grausam sein können. Ihre Königin und die Krieger der Maya sind berüchtigt. Vielleicht solltet Ihr beide einfach umkehren und ich gehe alleine weiter. Seid Ihr Magier oder Memmen?«

»Der Ruf hat mich ebenso erreicht wie Euch«, beschwerte sich Malidor, »ich werde nach Kartak gehen und mich den Prüfungen stellen, gleichgültig wie schwierig oder tödlich sie auch sein sollten.«

»Solltet Ihr es bis dorthin überhaupt schaffen und nicht vorher von einem Moldawar gefressen werden«, lächelte Tomal, »vielleicht haben wir Glück und finden eine große Galeere. Dort wären wir für den Preis von Sklavenarbeit wenigstens vor den Moldawars sicher. Die Peitsche des Rudermeisters würde uns gewiss die dummen Gedanken austreiben. Eines Tages, wenn wir alt und schwach sind, würden sie uns vielleicht aus Gnade auf Kartak aussetzen. Aber es könnte Sonnenwenden dauern, bis auch nur eine Galeere aufkreuzt. Die Sklavenarbeit auf Ell hat doch stark nachgelassen, seit Sapius in den Brutstätten der Rachuren gewütet hat und sich die Altvorderen von der Macht zurückgezogen haben.«

»Ihr seid zynisch und gemein, Tomal«, meinte Malidor, »das steht Euch nicht gut zu Gesicht. Ihr habt mir besser gefallen, als Ihr noch den Wahnsinn in Euren Augen hattet. Aber seit jener Gewitternacht am Rayhin scheint die Verrücktheit plötzlich wie verflogen und einer Dunkelheit gewichen, die ich ehrlich gesagt als bedrohlich empfinde.«

»Kein Wunder, Ihr und Kallya habt Euch dem Licht verschrieben«, meinte Tomal.

»Was bei dir nicht anders ist oder täusche ich mich?«, wollte Kallya wissen.

»Wer weiß? Es wäre doch möglich, dass Madhrab nicht die gesamte dunkle Seite in mir getötet hat und sie allmählich wieder erstarkt.«

»Das bildest du dir ein, Tomal«, sagte Kallya, »hör auf, dir Hoffnungen zu machen, die niemals eintreten werden. Ich habe gesehen und gefühlt, dass nichts von der Nacht in dir zurückgeblieben ist. Madhrab hat deine dunkle Seite vollständig vernichtet.«

»Höchst bedauerlich«, stöhnte Tomal, »wäre es anders gekommen, müsste ich mich nicht mit einem hohlen Weib und ihrem Geschwätz und einem unfähigen Magier abgeben, die mir den Tag versüßen wollen.«

»Malidor hat recht, du hast dich verändert«, stellte Kallya fest. »Was ist geschehen? Wurdest du vom Blitz getroffen?«

»So etwas Ähnliches könnte es wohl gewesen sein«, grummelte Tomal in seinen Bart.

Tomal vernahm das höhnische Gelächter des Gefäßes in seinem Kopf.

»Ha, ha … wie passend. Ihr wurdet vom Blyss getroffen. Wirklich amüsant. Ihr müsst sie loswerden. Alle beide. Je früher, umso besser.«

»Halte du dich da raus«, antwortete Tomal in Gedanken, »wenn es sein muss, werde ich es tun. Aber im Augenblick brauche ich sie noch und Malidor gehört zu den sieben Streitern. Es wäre ein Fehler, ihn auszuschalten, bevor wir zur letzten Prüfung antreten und das Buch der Macht in den Händen halten.«

»Wie Ihr meint«, lachte Blyss gehässig, »Ihr seid der Anführer.«

»Wir kommen zu langsam voran und verlieren Zeit«, sagte der Lesvaraq zu den Weggefährten, »habt Ihr beide inzwischen geübt, wie Ihr über die Steine springen könnt?«

»Wir können es versuchen«, antwortete Kallya.

»Dann los!«, zischte der Lesvaraq und sprang.

Schon mit dem nächsten Wimpernschlag stand er zweitausend Fuß von seinen Gefährten entfernt und winkte ihnen hämisch grinsend zu. Er wusste genau, dass weder Kallya noch Malidor geübt genug waren, um ihm einen solchen Sprung nachzumachen. Sie brauchten drei Sprünge, bis sie schließlich bei ihm waren. Das kostete sie Kraft und war ermüdend, was Tomal gelegen kam. Sowohl Kallya als auch Malidor würden während ihrer nächsten Rast erschöpft in einen tiefen Schlaf fallen.

*

In den heiligen Hallen war es so dunkel und kalt, wie Sapius sie in Erinnerung behalten hatte. Seit seinem letzten Besuch hatte sich nichts verändert. Und doch spürte er beim Betreten der Haupthalle sofort die Präsenz der magischen Brüder. Sie beobachteten ihn. Er konnte ihre Blicke spüren. Und sie waren nicht allein. In der Halle fand eine Versammlung statt. Stimmen flüsterten und drückten ihre Verwunderung über den ungebetenen Gast aus. Die Saijkalsan hatten sich in den heiligen Hallen der Saijkalrae zusammengefunden. Aber Sapius spürte, sie waren aus irgendeinem Grund verängstigt und hatten sich in einer Ecke der Halle dicht zusammengedrängt.

»Wie eine Herde Waldschweine, die sich vor einem Baumwolf fürchten«, dachte Sapius.

»Welch große Ehre!«, hörte er eine helle Knabenstimme rufen. »Wir haben Euch bereits erwartet, Sapius. Der Meister der Drachen, seines Zeichens Yasek und Magier, kommt zu uns zurück. Wollt Ihr Euch uns wieder anschließen?«

Die Stimme kam von rechts und gehörte ohne jeden Zweifel dem dunklen Hirten.

»Sapius! Willkommen«, sagte eine andere Stimme von der linken Seite, die Sapius eindeutig mit dem weißen Schäfer verband, »wir haben Euch lange gesucht. Aber Ihr wart geschickt und seid uns immer wieder entkommen. Kein Saijkalsan wendet sich einfach von uns ab und bricht den Eid der Treue, den er uns einst geschworen hat.«

Die magischen Brüder standen weit voneinander entfernt und sie waren in der Dunkelheit der Halle nur schwer auszumachen. Sie waren auf seinen Besuch vorbereitet. Das erleichterte Sapius’ Lage nicht. Bei einem Angriff auf die Saijkalrae würde er unmöglich beide Brüder mit einem Schlag treffen. Sapius musste sich mit dieser Situation abfinden und auf alle Seiten achten. So eingeschüchtert die Saijkalsan auch wirken mochten, sie würden nicht zögern, die magischen Brüder zu verteidigen. Der Magier hatte es mit einer Übermacht zu tun.

»Ihr habt mich zu den Gescheiterten in die Finsternis gebracht«, erwiderte Sapius, »ich war tot. Doch habe ich den Tod überwunden. Der Eid gilt schon lange nicht mehr. Ich bin frei und in der Lage, die Magie ohne Eure Beschränkungen und Regeln zu nutzen.«

»Das wissen wir wohl«, sagte Saijkal, »und wir halten es für falsch und gefährlich. Aber das ist Euch nicht neu. Es gibt einen guten Grund, warum wir die Macht in uns bündeln und den Zugang einschränken. Ihr kennt den Grund selbst nur zu gut und erfahrt ihn jeden Tag wieder aufs Neue. Euer Kampf ist aussichtslos. Ihr seid zu weit gegangen. Die Magie ist nicht beherrschbar und sie führt am Ende nur zur Zerstörung. Der Lesvaraq hätte niemals leben und erstarken dürfen. Ihr habt einen großen Fehler begangen.«

»Ja, ich habe Fehler gemacht«, gab Sapius zu, »aber ich habe auch aus ihnen gelernt. Ihr jedoch habt den schwersten Fehler begangen.«

»Von was spricht unser Diener?«, fragte der dunkle Hirte.

»Ich bin schon lange nicht mehr Euer Diener, Saijrae«, fauchte Sapius.

»Er meint die Beseelung der Entfesselten, Bruder. Das ist doch der Grund, warum Ihr Euch in die heiligen Hallen gewagt habt, nicht wahr?«, sagte Saijkal. »Ihr habt sie also gesehen, unsere Kinderchen.«

»Das ist wohl kaum der richtige Ausdruck für diesen Frevel wider die Natur«, entgegnete Sapius, »sie sind tot und werden verrotten.«

»Aber sie wandeln doch über Ell und erfreuen sich neuen Lebens«, lachte der dunkle Hirte, »wie können sie da tot sein?«

»Ihr benutzt sie für den Kampf um das Buch der Macht«, sagte Sapius, »danach sind sie nutzlos für Euch und werden sterben. Ihre verlorenen Seelen verschwinden im Nichts. O ja, ich kenne das Ritual der Entfesselung und Beseelung und seine furchtbaren Folgen. Ihr habt eine Horde untoter Wiedergänger auf Ell losgelassen, die eine schreckliche Seuche unter die Lebenden tragen. Ist Euch das Buch der Macht wirklich so viel wert? Was habt Ihr davon, wenn die Welt am Ende zerstört ist und den Toten gehört?«

»Das Buch gehört uns«, rief der dunkle Hirte, »es ist Ulljans Erbe und es gibt keinen Zweifel daran, dass wir, Saijkal und ich, seine einzigen wahren Erben sind.«

Sapius kratzte sich nachdenklich am Kopf und nickte.

»In diesem Punkt stimme ich Euch sogar zu, teilweise wenigstens«, meinte Sapius, »ich habe viel darüber nachgedacht, gelesen und meine eigenen Erfahrungen gesammelt. Vielleicht wollte Ulljan tatsächlich der allerletzte Lesvaraq einer langen Reihe von Lesvaraq sein und seine Vorstellung von einer friedlichen Welt im Gleichgewicht so lange wie möglich aufrechterhalten. Vielleicht wollte er die ständigen Veränderungen, Kriege, Zerstörungen und den Zyklus der Lesvaraq auf Dauer verhindern, indem er Euch zu seinen Nachkommen bestimmte, die Macht gerecht auf viele Schultern verteilte und damit das Gleichgewicht herstellte und es sich selbst immer wieder ausgleichen ließ. In der Folge gab es viel seltener Schwankungen des Gleichgewichts als zu Zeiten der Lesvaraq. Und sie fielen vergleichsweise schwach aus und zeigten kaum spürbare Folgen. Einen Teil der Macht vergab er deshalb an die magischen Brüder, einen anderen Teil an die Orden der Sonnenreiter und Orna. Das ergab durchaus Sinn, jedoch nur so lange, wie der Zyklus nicht wieder von Neuem begann. Aber er hat von Neuem begonnen. Das mag bedauerlich sein oder aber andere, vielleicht sogar bessere Möglichkeiten eines Ausgleichs bieten. Ich weiß es nicht. Eines weiß ich aber inzwischen sicher: Die Lesvaraq sind tatsächlich eine Gefahr. Ein Einzelner dürfte niemals so viel Macht besitzen, wie sie ein Lesvaraq innehat. Sie steigt ihm zu Kopf und stürzt die Welt in eine Katastrophe. Das ist unvermeidlich. Ulljan wusste das, er war schließlich selbst ein Erzmagier und Lesvaraq. Ihr wisst das auch. Er hatte also recht und wollte, dass Ihr ihn auslöscht. Davon bin ich überzeugt.«

»Hör dir diesen Sapius an«, klatschte der dunkle Hirte begeistert in die Hände, »er spricht, als wäre er für uns. Vielleicht kommt er doch zu uns zurück.«

»Vorsicht, Bruder!«, warnte der weiße Schäfer. »Ich glaube, er ist noch nicht fertig mit seiner Rede. Er hat noch nichts über das Buch gesagt.«

Sapius atmete durch und versuchte, die beiden Brüder besser auszumachen. Seine Augen hatten sich rasch an die Dunkelheit der Hallen gewöhnt und er konnte die Saijkalrae zumindest schemenhaft erkennen. Ein unangenehmer Verwesungsgeruch nach verdorbenem Fleisch hing in den heiligen Hallen, der ihm eine leichte Übelkeit bescherte.

»So ist es«, sagte der Magier, der langsam blasser wurde, »das Buch der Macht gehörte Ulljan nicht. Es ist damit auch nicht Teil seines Erbes. Er hat es den Altvorderen gestohlen und vor Euch und allen anderen versteckt, weil er es für zu gefährlich hielt. Die Macht des Buches ist zerstörerisch, vielleicht mehr noch als die eines Lesvaraq. Er wollte nicht, dass es in Euren oder irgendjemandes Besitz kommt und ließ es daher von den unsterblichen Wächtern bewachen. Ihr dürft das Buch nicht besitzen. Nur einer der sieben Streiter, der sich während der Prüfungen der Wächter als würdig erweist, wird das Buch bekommen und, solange er lebt, sicher verwahren.«

»Eine interessante Theorie«, warf Saijkal ein, »ich frage mich nur, warum Ulljan das Buch nicht zerstört hat, wenn er es für so gefährlich hielt und niemand außer ihm oder den Wächtern es lesen durfte. Und warum soll es ausgerechnet von einem Streiter gefunden werden? Was hindert diesen Streiter daran, das Buch zu missbrauchen? Nehmen wir an, Ihr, Sapius, wärt der edle Finder des Buches. Nach allem was wir durch unser Auge gesehen haben, seid Ihr ein mächtiger Mann geworden und steht den Saijkalrae oder gar einem Lesvaraq in nichts nach. Das Buch in Euren Händen wäre nicht weniger gefährlich als in unseren. Wer oder was hindert Euch daran, es für Eure Zwecke zu missbrauchen und Eure Macht weiter zu mehren?«

»Ein guter Einwand«, sagte Sapius, »über den ich ebenfalls nachgedacht habe. Das Buch kann nicht einfach zerstört werden. Es ist magisch und weiß sich zu schützen. Ich glaube, schon der Versuch würde eine Katastrophe auslösen. Darüber hinaus enthält es unschätzbares Wissen über die Vergangenheit und Zukunft Ells. Niemand würde ein solches Buch einfach zerstören. Eure zweite Frage ist schwerer zu beantworten. Es stimmt, ein Streiter wie ich könnte das Buch genauso wie jeder andere Magiebegabte missbrauchen. Aber genau das ist der Grund für die Prüfungen der Wächter. Ich glaube nicht, dass es nur die Prüfungen sind, die sie uns direkt stellen. Sie beobachten uns bei jedem unserer Schritte, so wie ihr durch das Auge blickt. Die Wächter beurteilen unsere Entscheidungen und richten über unser Handeln. Dessen bin ich mir sicher. Sie tauchen auf, wenn wir sie am wenigsten erwarten. Selten erteilen sie uns direkte Anweisungen. Und am Ende entscheidet das Buch, wer sich als würdig erwiesen hat. Ihr könnt es jedenfalls nicht sein, denn Ihr seid zu gierig und zu ungeduldig. Euch geht es um die Unterjochung der Völker unter Eure Knute, die Herrschaft über Ell und eines Tages vielleicht ganz Kryson. Die Saijkalrae sind niemals satt und zufrieden. Ihr dürft das Buch nicht besitzen.«

»Und was ist mit Euch, Sapius?«, wollte Saijkal wissen.

»Ich weiß es nicht«, antwortete der Magier, »ich bin gewiss nicht perfekt, und ob ich der Versuchung auf Dauer widerstehen könnte, kann ich nicht sagen. Ich glaube daran, dass ich es könnte, aber wer weiß, was in der Zukunft noch geschieht. Doch im Gegensatz zu Euch bin ich nicht machthungrig. Das verschafft mir einen Vorteil bei der Frage, wer das Buch am Ende besitzen darf.«

In den heiligen Hallen war es still geworden. Die Saijkalsan hielten den Atem an und in der Luft hing eine Spannung, als ob sich gleich ein Gewitter entladen wollte. Sapius blickte abwechselnd nach links und nach rechts. Die Saijkalrae regten sich nicht. Würden sie ihn angreifen? Der weiße Schäfer brach die Stille.

»Sapius spricht wahr. Seine Worte sind weise und klug gewählt. Das Buch der Macht war nie für uns bestimmt. Wir wissen das und strebten stets nach einer Macht, die uns nicht zusteht.«

»Was soll das bedeuten, Bruder«, meldete sich der dunkle Hirte empört zu Wort, »willst du einfach aufgeben? Wir sind so nah dran und haben lange auf diesen Augenblick gewartet. Sapius wird unsere Hallen nicht mehr lebend verlassen. Wir töten ihn und beseelen einen toten Körper mit seinem Geist. Immerhin gehörte er einst zu den Gescheiterten.«

»Nein!«, rief der weiße Schäfer. »Halte deinen Zorn im Zaum, Bruder. Unterschätze ihn nicht, er ist schon lange nicht mehr der, der er einmal war.«

Sapius schlug das Ende seines Stabes wuchtig auf den Boden. Ein Donnerschlag echote daraufhin durch die heiligen Hallen, der die Saijkalsan ängstlich zusammenzucken ließ. Der dunkle Hirte verzog das Gesicht vor Schmerzen und hielt sich die Ohren zu.

»Ich hege keinen Groll mehr gegen Euch«, rief Sapius, »gleichgültig was Ihr mir und anderen angetan habt. Ich kam nicht in die heiligen Hallen, um gegen die Saijkalrae zu kämpfen. Aber ich werde es tun, solltet Ihr mich dazu zwingen. Lasst uns vergessen, was einst zwischen uns war. Arbeitet mit mir zum Wohle des Gleichgewichts zusammen. Ich reiche Euch die Hand zur Versöhnung. Ruft die Entfesselten zurück und macht den Fluch rückgängig. Das ist alles, was ich von Euch verlange.«

»Sie sind wild und gefährlich und könnten Euch helfen, das Buch zu erringen«, meinte der weiße Schäfer. »Wir könnten sie anweisen, auf Eurer Seite zu kämpfen. Haben sie ihre volle Stärke und Beweglichkeit erst wiedergefunden, sind sie eine unschlagbare Waffe.«

»Nein«, lehnte Sapius ab, »das wäre Unrecht. Ihr habt mich verstanden, ruft sie zurück.«

»Wir könnten sie wohl zurückrufen, aber den Fluch können wir nicht mehr aufheben. Das Ritual ist abgeschlossen. Sie sind verloren und alle ihre Opfer mit ihnen«, meinte der weiße Schäfer.

»Das ist schlimm, aber besser Ihr haltet sie in den heiligen Hallen gefangen, als sie weiter auf Ell loszulassen«, sagte Sapius. »Lasst nicht zu, dass unsere Welt von Toten beherrscht wird. Glaubt mir, das wäre nicht das Kryson, über das Ihr herrschen wollt.«

»Was meinst du Bruder, sollen wir sie zurückrufen?«, fragte Saijkal.

»Bist du verrückt?«, kreischte der dunkle Hirte. »Sie werden außer Kontrolle geraten und über uns herfallen wie Bestien. Wir können ihren Hunger in den heiligen Hallen nicht stillen.«

»Sapius«, begann der weiße Schäfer freundlich, »wenn wir den Entfesselten den Befehl erteilen, in die heiligen Hallen zurückzukehren und Euch bei der Suche nach dem Buch der Macht auf andere Weise unterstützen würden, werdet Ihr uns dann einen Blick in das Buch gestatten?«

»Niemals!«, lehnte Sapius barsch ab. »Sollte ich das Buch tatsächlich erringen, werde ich es so sicher verwahren, dass niemand je wieder darin lesen oder schreiben wird.«

»Das habe ich mir gedacht«, seufzte der weiße Schäfer, »das ist bedauerlich, denn in diesem Fall, werden wir sie nicht zurückrufen. Oder habt Ihr etwas anzubieten, was uns für das Buch entschädigt?«

Sapius schüttelte resignierend den Kopf. Er hatte den magischen Brüdern nichts außer Vergebung und Frieden anzubieten.

»Ich verspreche Euch, ich werde kampflos gehen und Euch nie wieder behelligen. Obwohl Ulljans Erbe durch die Geburt der Lesvaraq infrage gestellt wurde und damit auch Euer Anspruch auf die Macht bedeutungslos geworden ist, lasse ich Euch in Ruhe. Wir schließen ein Bündnis des Friedens. Ihr könnt tun und lassen, was Ihr wollt. Nur das Buch werdet Ihr von mir nicht bekommen«, sagte Sapius.

»Fegen wir ihn hinweg. In unseren heiligen Hallen kann er uns nicht besiegen«, schlug der dunkle Hirte vor, »ich kann sein Gewäsch nicht mehr ertragen. Er ist schlimmer als ein altes Waschweib. Frieden, pah … wozu soll das gut sein? Was glaubt er, wer er ist?«

»Ihr hört meinen Bruder, Sapius«, antwortete der weiße Schäfer, »Euer Angebot ist schlecht für uns. Wir haben nichts davon. Aber ich könnte ihn wohl überzeugen, wenn Ihr bereit wärt, uns und unsere Sache in Zukunft wieder zu unterstützen. Nicht als Saijkalsan, versteht sich. Ihr seid kein Diener mehr. Ihr könntet gleichberechtigt neben uns stehen, wie ein Bruder.«

»Ihr bietet mir an, ein Saijkalrae zu werden?« Sapius riss verwundert die Augen auf.

»Ein Bund des Blutes, ja«, nickte der weiße Schäfer, »ein Tropfen von Saijraes schwarzem Blut, ein Tropfen meines Blutes für Euch und jeweils ein Tropfen Eures Blutes für meinen Bruder und mich. Das würde unseren Bund auf ewig besiegeln. Wir würden fühlen, was Ihr fühlt, und Ihr würdet sehen, was wir sehen. Unsere Macht für Euch und Eure für uns. Für den Bestand unserer Welt und gegen den Zyklus des Lesvaraq. Ein solches Bündnis wäre für Euch erstrebenswert. Ihr würdet stärker werden und von unserem Wissen und unserer Macht profitieren.«

»Und ihr von meiner«, sagte Sapius.

»So ist es«, nickte der weiße Schäfer, »was ist? Wollt Ihr Euch dieses Angebot überlegen?«

Sapius wusste nicht, was er davon halten sollte. Ein Blutsbündnis mit den magischen Brüdern war gefährlich. Der weiße Schäfer war schlau und suchte stets einen Vorteil für sich und seinen Bruder. Wollten sie ihn täuschen? War dies der Weg, wie sie an das Buch der Macht gelangen konnten, sollte er derjenige sein, der sich als würdig erwiese? Was würde Haffak Gas Vadar dazu sagen?

Sapius hatte mit den Saijkalrae abgeschlossen. Sich wieder mit ihnen zu verbünden, wenn auch auf andere Weise, würde vieles infrage stellen, wofür er gekämpft und Opfer gebracht hatte. Die Saijkalrae waren ein Relikt aus vergangenen Zeiten, die ihre Berechtigung, über Ell zu herrschen, aus einem Erbe zogen, das es nicht mehr gab. Sie kämpften auf verlorenem Posten um die Aufrechterhaltung ihrer Macht. Für das Gleichgewicht waren sie nicht mehr von Bedeutung.

»Verbünde ich mich mit ihnen im Blute, könnte ich sie wieder stark machen. Sie gewinnen die Magie der Drachen hinzu. Tag und Nacht verschieben sich. Die Nacht wird stärker. Aber was verliere ich schon? Solange ich neben ihnen stehe, kann ich tun und lassen, was ich will. Ich wäre nicht ihr Diener oder Sklave. Sie können mir nichts befehlen und das Bündnis hindert sie daran, mir zu schaden. Es wäre eine Festigung des Friedens. Ein Feind weniger auf dieser Welt.«

Sapius zweifelte. Aber es war eine Lösung, die Gefahr durch die Entfesselten für Ell zu beseitigen.

»Ich stimme dem Bündnis zu«, sagte Sapius.

»Sehr gut!«, klatschte der weiße Schäfer erfreut in die Hände und wandte sich sogleich an seinen Bruder: »Nun, Saijrae, heiße unseren neuen Bruder in unserer Familie willkommen. Wir werden sofort zur Tat schreiten und unser Blut tauschen.«

»Wer braucht einen gescheiterten Diener als Bruder?«, motzte der dunkle Hirte. »Ich halte das für keine gute Idee. Warum soll ich ihm mein Blut geben und seines trinken? Er ist ein Tartyk und als solcher ein Altvorderer. Sein drachenverseuchtes Blut ist Gift für uns.«

»Und seine Macht ein Glück«, antwortete der weiße Schäfer. »Durch dieses Bündnis gewinnen wir mehr, als wir uns in dieser Situation erhoffen durften. Mit Sapius an unserer Seite werden wir wieder erstarken. Jeder auf Ell wird den Namen der Saijkalrae mit Respekt aussprechen.«

»Meinetwegen«, murrte der dunkle Hirte, »aber du fängst an!«

»Wie du willst«, grinste der weiße Schäfer triumphierend, »bringen wir es hinter uns.«

Saijkal ließ sich einen Opferdolch und einen Becher bringen. Er schnitt sich in den Unterarm und ließ sein fast durchsichtiges Blut in den Becher tropfen, während er laut die beschwörenden Worte des Blutes sprach.

»Sangua ta dea granula Sapius, Saijkal e Saijrae ta broder en sakral.«

Sapius beobachtete, wie Saijkal durch die Halle zu seinem Bruder ging und ihm den Dolch und das Messer feierlich überreichte.

»Wiederholt meine Worte, während ihr euer Blut in den Becher fließen lasst«, sagte Saijkal.

Der dunkle Hirte riss das Messer trotzig an sich und fügte sich einen Schnitt quer über die Handinnenfläche zu. Ein schriller Schmerzensschrei kam aus seiner Kehle, während dunkle Tränen über seine Wangen liefen. Er ballte die Hand zur Faust und ließ das schwarze Blut durch seine Finger in den Becher rinnen. Sapius konnte ihm ansehen, dass er die Worte seines Bruders nur widerwillig wiederholte. Auf was hatte sich der Magier da nur eingelassen?

Gemeinsam kamen die Saijkalrae auf Sapius zu und übergaben ihm Becher und Dolch. Sapius stach sich mit der Spitze in den Daumen und presste genau zwei Tropfen seines Blutes in den Becher, der bereits mehr als zur Hälfte mit dem Blut der magischen Brüder gefüllt war.

»Sangua ta dea granula Sapius, Saijkal e Saijrae ta broder en sakral.«

»Es hätte auch etwas mehr sein dürfen«, schüttelte der weiße Schäfer den Kopf, »Euer großzügiges Blutopfer könnte mich glatt an Eurer Bereitschaft zweifeln lassen, das Bündnis mit uns eingehen zu wollen.«

»Mehr ist nicht gut für Euch«, antwortete Sapius dreist lächelnd. »Wie der dunkle Hirte schon bemerkte, mein Blut ist Gift für Euch. Ihr seht, ich sorge mich schon jetzt brüderlich um Eure Gesundheit. Ihr werdet das Blut der Drachen nicht gut vertragen.«

»Hm … na gut«, brummte der weiße Schäfer wenig überzeugt, »es wird schon genügen.«

Er nahm Sapius den Becher wieder ab, schwenkte ihn eine Weile, um das Blut zu vermischen, und reichte ihn erneut Sapius.

»Trinkt unser gemeinsames Blut, damit der Bund besiegelt wird.«

Sapius nahm den Becher entgegen und trank. Das Gemisch aus seinem und dem Blut der magischen Brüder schmeckte scheußlich. Ihr Blut vertrug sich offensichtlich nicht miteinander und begann bereits zu gerinnen. Es dampfte aus dem Becher. Sapius nahm an, dass dieser Effekt auf sein Drachenblut zurückzuführen war. Aber er überwand sich und nahm einen Schluck davon. Er würgte kurz, behielt das Blut aber bei sich.

Nach ihm war der weiße Schäfer an der Reihe, dem es nicht viel anders als Sapius erging. Der dunkle Hirte trank zuletzt, stellte sich dabei jedoch fürchterlich an. Er zeterte, schimpfte, würgte und krümmte sich, als litte er Krämpfe. Er warf sich schreiend auf den Boden, wälzte sich, zuckte, zappelte mit den Beinen und schlug um sich. Auch der weiße Schäfer hielt sich den Bauch und stöhnte.

»Ich habe Euch gewarnt«, sagte Sapius, »das ist das Drachenblut. Ihr werdet nicht daran sterben, dafür war der Anteil zu gering. Aber Ihr werdet leiden.«

»Schon gut. Ich habe verstanden«, antwortete der weiße Schäfer, richtete sich auf und sprach zu Saijrae, »es ist vollbracht, die Schmerzen vergangen und schon vergessen. Steh auf Bruder, du hast genug gelitten. Wir haben es alle gesehen. Aber jetzt kannst du mit deinem Schauspiel wieder aufhören. Sapius ist ab jetzt unser Bruder und wir werden ihm helfen, wann immer er unsere Unterstützung braucht.«

»Schon gut«, maulte der dunkle Hirte und stand stöhnend wieder auf, »was nun?«

»Ruft die Entfesselten zurück, wie es zwischen uns vereinbart ist«, sagte Sapius.

»Wie Ihr wollt. Haisan und Hofna werden die Entfesselten in die heiligen Hallen führen, wenn Ihr darauf besteht«, sagte Saijkal.

»Ich bestehe darauf und Ihr solltet Euch besser damit beeilen«, antwortete Sapius ungeduldig.

»Du wirst mir dabei helfen«, verlangte Saijkal von seinem Bruder.

Die magischen Brüder bewegten sich Seite an Seite durch die Halle zu ihrem magischen Auge.

»Ich werde Euch jetzt verlassen und das Buch suchen«, flüsterte Sapius.

Der dunkle Hirte und der weiße Schäfer waren beschäftigt, Kontakt mit ihren Leibwächtern aufzunehmen. Sie widmeten ihrem neuen Bruder keine Aufmerksamkeit und bemerkten daher nicht, wie er heimlich, still und leise die heiligen Hallen wieder verließ.

»Bloß schnell weg von diesem verdammten, unheiligen Ort«, dachte Sapius.

Er schloss das Flügeltor hinter sich und eilte den Säulengang entlang. Im Schatten einer Säule öffnete er seinen Zugang, atmete einmal tief durch und ließ sich zurück nach Ell ziehen.

»Das ging aber schnell«, begrüßte ihn der Drache, als Sapius die Augen öffnete, »ich hatte kaum Gelegenheit ein Auge zuzumachen und mich auszuruhen.«

»Ich habe dir doch gesagt, ich bin sofort wieder da«, lächelte Sapius.

»Und? Warst du siegreich? Hast du die Saijkalrae geschlagen?«, wollte der Drache wissen.

»In gewisser Weise«, antwortete Sapius geheimnistuerisch.

»Was bedeutet das?«

»Die Entfesselten kehren zurück in die heiligen Hallen«, meinte Sapius, »aber wir müssen sichergehen. Lass uns fliegen. Ich will prüfen, ob die magischen Brüder ihr Wort halten.«

»Dann steig auf. Es ist nicht weit.«

Nach wenigen Augenblicken überflogen sie das Dorf, das die Entfesselten zuletzt angesteuert hatten. Der Magier deutete auf ein magisches Portal, das für normale Augen nicht sichtbar war. Aber der Drache konnte es ebenso wie Sapius als flimmernden Schatten erkennen. Die Leibwächter standen links und rechts neben dem Portal und achteten darauf, dass jeder Entfesselte hindurchtrat. Kaum hatte der letzte Entfesselte den Zugang betreten und war von der Oberfläche Ells verschwunden, folgten ihnen die beiden Leibwächter.

»Warum lassen sie ihre Körper nicht auf Ell zurück, so wie du es getan hast?«, wollte der Drache wissen.

»Weil ihre Körper tot sind und schnell verrotten würden. Ich habe ihren Gestank gerochen. Sie wurden in den heiligen Hallen beseelt. Ihr Geist verband sich mit den Leibern der Toten. Sie können nicht einfach wieder weichen. Ich hingegen lebe, habe durch deine Bewachung nichts zu befürchten und reiste daher nur mit meinem Geist in die heiligen Hallen. Meinen Körper ließ ich in deiner Obhut. Das war sicherer. Ich könnte auch mit Körper und Geist zu den Saijkalrae gehen. Doch das war mir zu gefährlich. Ich wollte keine Gefangenschaft riskieren oder mich der Gefahr aussetzen, dass sie meinen Körper folterten oder gar zerstörten.«

Plötzlich horchte der Magier auf und richtete sich auf dem Rücken des Drachen auf.

»Was ist los?«, fragte Haffak Gas Vadar. »Hast du dich erschreckt?«

»Hilferufe«, antwortete Sapius verstört, »ich fühle Angst und Verzweiflung. Jemand befindet sich in großer Gefahr.«

»Wo? Wer?«, wollte der Drache wissen. »Ich sehe und höre nichts. Das kann nicht in der Nähe sein.«

»Nein«, meinte Sapius nachdenklich, »nicht in der Nähe. Sie schicken mir Laute und Bilder.«

»Wer?«

»Die magischen Brüder.«

»Du kannst mit ihnen über deine Gedanken Kontakt aufnehmen, so wie mit mir?«

»Genau.«

»Du … du hast dich mit ihnen verbündet!« Haffak Gas Vadar klang verärgert. »Ein Bund des Blutes mit deinem ärgsten Feind. Hast du den Verstand verloren? Sie könnten uns verfolgen und jederzeit aufspüren.«

»Ich musste mich darauf einlassen, Haffak«, verteidigte sich Sapius, »ich wollte nicht gegen die Brüder kämpfen. Sie boten mir die Blutsbrüderschaft an. Ich nahm das Angebot an, die Entfesselten aufzuhalten und heil wieder zu entkommen. Wenn du so willst, war das nur zum Schein. Wieder beruhigt?«

»Keineswegs«, schimpfte der Drache, »selbst wenn du dich nur zum Schein mit ihnen verbündet hast, die Folgen bleiben doch dieselben. Das war nicht gut, Sapius.«

»Warte ab und beobachte! Ich weiß, was ich tue«, behauptete Sapius, »liege ich richtig in meinen Überlegungen, wird sich unser Bund des Blutes nicht lange halten.«

»Deine Gelassenheit in Ehren … aber ein solcher Bund verpflichtet dich, solange die magischen Brüder und du leben. Du wirst sie nicht mehr los!«

»Nur Geduld, Haffak. Du wirst schon sehen … es läuft alles nach meinem Plan.«

Die Bilder, die ihm die magischen Brüder aus den heiligen Hallen schickten, waren grauenhaft. Sie wurden immer deutlicher und schrecklicher. Sapius glaubte für einen Augenblick, er befände sich in einem Traum.

»Hilf uns, Bruder!« Die Stimmen gehörten Saijrae und Saijkal, die sich weit entfernt anhörten. »Du hast dich wie ein Feigling davongeschlichen.«

Sapius dachte nicht daran, seinen Blutsbrüdern zu Hilfe zu eilen. Er sah die Entfesselten zurück in die heiligen Hallen strömen. Sie stürzten sich sofort ausgehungert auf die Saijkalsan, die sich offenbar nicht wehren konnten. Der Magier nahm an, dass ihnen die Brüder die zur Verteidigung notwendige Magie nicht geben wollten.

Der Magier hätte lieber nicht gesehen, wie die Saijkalsan von den Entfesselten in Stücke gerissen wurden. Die Opfer würden sich an der Totenseuche anstecken und nach kurzer Zeit ebenso hungrig nach dem Fleisch der Lebenden gieren. Aber in den heiligen Hallen waren sie gefangen und konnten kein weiteres Unheil anrichten. Hatten sie den letzten Saijkalsan und die magischen Brüder aufgefressen, gab es keinen Nachschub an frischem Fleisch. Sie mussten verhungern, verwesen und am Ende vergehen.

Vor Angst erstarrt, starben die Saijkalsan unter der Flut von Entfesselten. In seinem Kopf sah Sapius, dass sich lediglich eine Handvoll der Entfesselten zurückhielt und nicht an dem Festmahl der Toten teilnahm.

Der Ruf nach Hilfe wurde drängender.

»Wo seid Ihr, Sapius? Kommt und helft uns! Wir brauchen Euch, Bruder. Ihr dürft uns nicht verlassen!« Das war die Stimme Saijkals.

»Verräter! Ich habe es gewusst. Das Bündnis war ein Fehler«, kreischte der dunkle Hirte, »Sapius hat uns getäuscht. Wir hätten ihn töten sollen, statt unser Blut an ihn zu verschwenden.«

»Haisan, Hofna … bringt uns hier raus! Die heiligen Hallen sind nicht mehr sicher«, verlangte Saijkal.

Sapius verspürte ein Ziehen und Pochen in seinem Kopf. Auf seinem Herz lag eine schwere Last. Er stöhnte auf, hielt sich eine Hand vor die Stirn und die andere an die Brust. Er glaubte, sein Schädel würde platzen und sein Herz zerspringen. Der Schmerz wurde immer stärker. Aber wie konnte das sein? Er hatte die Wut und den Hunger der Entfesselten doch vorausgesehen. War es nicht das, was er gewollt hatte? Sapius zweifelte an sich selbst.

»Wir müssen umkehren und ihnen helfen«, sagte Sapius zu Haffak Gas Vadar.

»Niemals«, lehnte der Drache ab, »wir fliegen nach Kartak.«

»Haffak! Ich muss …«, flehte Sapius, »oh … die Schmerzen.«

»Das ist nur der Bund des Blutes. Reiß dich zusammen. Der Schmerz wird vergehen. Du bist ihnen nichts schuldig.«

»Haffak Gas Vadar!«

»Was? Spring ab, wenn du musst. Ich werde nicht umkehren.«

Die Bilder in Sapius’ Gedanken waren ein wirres Durcheinander aus einem Gemetzel, wilden, zuckenden Bewegungen, flackernden Lichtern und verzerrten Gesichtern. Schreiende und sterbende Saijkalsan und die vor Gier weit aufgerissenen, schäumenden Münder der Untoten jagten ihm einen Schrecken nach dem anderen ein. Überall war Blut. Der Magier konnte die Furcht der Saijkalsan am eigenen Leib spüren und begann zu zittern. Die Saijkalrae flohen über Berge von Verwundeten und Leichen aus der Halle in die von Säulen gesäumten Gänge.

»Wir schaffen es nicht! Es sind zu viele«, hörte der Magier Haisan keuchen.

»Haltet sie auf! Verdammt. Bei Eurem Leben. Wir müssen entkommen«, kreischte der dunkle Hirte. »Wenn ich diesen Magier erwische, reiße ich ihm das Herz mit bloßen Händen aus der Brust und fresse es vor seinen Augen auf.«

»Legt eine Barriere aus magischem Feuer«, befahl der weiße Schäfer, »das wird sie aufhalten.«

»Sie blockieren unsere Magie«, stellte Hofna fest. »Wir kommen nicht dagegen an.«

»Sie kommen!«

»Aaaaaah!«

Schreie. Angst. Schmerzen. Die Gefühle überwältigten den Magier. Tränen liefen über Sapius’ Wangen, seine Augen waren gerötet. Er fühlte sich elend und schuldig. War er ein Verräter und Brudermörder?

»Haffak! Sie werden alle sterben«, schrie er den Drachen an.

»Na und? Hat dich das Schicksal der Ordenshäuser gekümmert, als du ihnen die Artefakte genommen hast?«

»Das ist …«

»Etwas anderes, wolltest du sagen?«, fiel ihm der Drache ins Wort. »Nein, das ist es nicht. Das lassen dich die Brüder nur glauben, weil du dich ihnen verbunden fühlst und denkst, du würdest Liebe für sie empfinden.«

Plötzlich wurde es still in Sapius’ Kopf und die Bilder rissen ab. Der Druck ließ nach und der Schmerz verging. Der Magier verspürte auch nicht mehr den Drang, den Saijkalrae helfen zu müssen. Der Kontakt zum dunklen Hirten und weißen Schäfer war abgebrochen. Er konnte nicht einmal mehr eine Verbindung zu den magischen Brüdern oder in die heiligen Hallen aufbauen. Es war vorbei.

»Was ist geschehen?«, fragte Sapius. »Sind sie entkommen?«

»Wer weiß?«, antwortete Haffak Gas Vadar. »Vielleicht sind sie tot.«

Die magischen Brüder sollten tot sein? Umgebracht von den Entfesselten? Aufgefressen von ihrer eigenen Waffe, die sich gegen sie gewandt hatte? Sapius konnte sich das nicht vorstellen. Saijrae und Saijkal waren zu mächtig und zu schlau, sich in ihren Hallen von ihren untoten Dienern abschlachten zu lassen.

»Und wenn sie noch leben?« Sapius war verunsichert.

»Dann wirst du das eines Tages bemerken. Was machst du dir Gedanken um die Saijkalrae? Wir sind bald auf Kartak und sollten uns voneinander verabschieden, mein Freund. Unsere Wege trennen sich.«

Sapius blickte sich um und bemerkte erst jetzt, dass sie über dem Meer flogen und die Küste hinter sich gelassen hatten. Unter ihnen tummelte sich eine Gruppe Moldawar auf der Jagd nach Beute.

»Willst du es dir nicht noch einmal überlegen?«, fragte Sapius vorsichtig.

»Nein!«, kam die schmerzend deutliche Antwort des Drachen. »Leb wohl, Sapius. Pass auf dich auf. Vielleicht sehen wir uns eines Tages wieder, sollte dir die Mutter der Drachen weiterhin wohlgesonnen sein. Auf diesen Tag freue ich mich.«

»Ich kann nicht glauben, dass du mich verlässt«, schüttelte Sapius traurig den Kopf. »Wirst du über meine Familie, die Tartyk und den Drachennachwuchs wachen?«

»Natürlich«, antwortete der Drache, »darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Befiehlt die Drachenmutter deine Bestrafung oder gar den Tod, weil ihr der Ausschluss und die Verbannung von den Tartyk angesichts deiner Untaten nicht ausreichen, sehen wir uns gleichfalls wieder.«

»Mich zu bestrafen oder töten?«

»So ist es. Jenen Tag werde ich verfluchen.«

»Na schön«, seufzte Sapius, »setz mich einfach am Rand des Kraters ab und verschwinde. Dort muss der Eingang nach Zehyr sein.«

Die Vulkaninsel Kartak tauchte vor ihnen auf. Sapius konnte den Kratersee schon von Weitem erkennen. Haffak Gas Vadar landete an einer geeigneten Stelle und ließ Sapius absteigen. Der Drache wartete nicht einmal, bis Sapius mit beiden Füßen auf dem Kraterrand stand. Er breitete seine Schwingen sofort wieder aus und flog schweigend davon. Sapius sah seinem Drachen noch lange nach, bis er ihn schließlich nicht mehr sehen konnte. Haffak Gas Vadar hatte ihn verlassen.

*

Der vierte Wächter drehte sich in seinem Kokon und grunzte. Zufrieden klopfte er mit den Fingern an die Innenwand seiner Behausung. Sofort kamen viele seiner Spinnen über das Netz gekrabbelt, um nach den Wünschen ihres Meisters zu fragen. Er verlangte, dass sie ihm einige Puppen brächten.

Grenwin hatte Hunger. Den Hunger einer gefräßigen Riesenraupe. Die Streiter waren nah. Sie stellten sich geschickter an, als er vermutet hatte. Vor den Kräften und der Weisheit des Magiers würde er sich in Acht nehmen müssen. Dessen Drachenblut war giftig. Der vierte Wächter würde ihn töten müssen, aber von seinem Fleisch durfte er auf keinen Fall kosten. Er musste die Spinnen warnen, Sapius war ein ernstzunehmender Gegner, der ihm das wohlgehütete Buch streitig machen konnte.

Auch der Lesvaraq hatte sich inzwischen entwickelt. Nicht zum Guten, wie Grenwin mit Bedauern festgestellt hatte. Der böse Geist in seinem Inneren verdarb seine Gedanken und sein Fleisch.

Der Felsgeborene interessierte den vierten Wächter nicht sonderlich. Sicher war er stark und gefährlich, aber gefangen und eingesponnen in einem Netz würde er sich aus eigener Kraft nicht befreien und kaum noch bewegen können. Sie würden ihn frühzeitig ausschalten müssen. Grenwin wollte kein Risiko eingehen. Stein schmeckte allerdings abscheulich und war schwer verdaulich. Außerdem war die Felsenhaut zu hart für seine zahlreichen kleinen Gehilfen. Sie würden den Felsgeborenen kaum verletzen können, um ihr lähmendes Gift in seinen Körper zu spritzen. Er würde die größeren Tiere auf ihn hetzen müssen. Peeva, die Riesenspinne würde mit ihm fertigwerden. Sie schreckte auch nicht davor zurück, Steine zu zermalmen.

Aber vielleicht würde wenigstens der Felsenfreund ein besonderer Leckerbissen sein. Grenwin hatte nie zuvor einen Felsenfreund gefressen. Er musste das Fleisch der Pelzechse einfach kosten.

Das Wasser lief ihm im Maul zusammen. Ungedulig brüllte Grenwin nach seinen achtbeinigen Kindern, sie sollten ihm endlich etwas zu essen bringen. Hoffentlich mischten sich die übrigen Wächter nicht in seine Angelegenheiten ein. Grenwin hatte nicht vor, sich das Buch der Macht entwenden oder seinen Festschmaus nehmen zu lassen.

Auf den Bluttrinker war der vierte Wächter gespannt. Setzte Renlasol seine Fähigkeiten richtig ein, konnte er unheimlich schnell und stark sein. Aber auch das Blut des Bluttrinkers war ungenießbar für die fette Tentakelraupe. Verdorben durch Quadalkars Blut. Blieben nur noch drei Streiter. Malidor würde schmecken, aber der Magier des Lichts war schlau und vorsichtig. Malidor hielt sich meist zurück und ließ anderen Streitern den Vortritt. Grenwin fragte sich, ob sich Malidor trauen würde, sein Netz zu betreten. Die beiden Naiki würden ausgezeichnet schmecken. Die Raupe hatte schon einmal Naiki-Jäger gekostet. Aber das war lange her. Grenwin konnte sich kaum noch an den Geschmack erinnern.

Endlich kamen die flinken Helfer mit einigen Puppen im Schlepptau zurück. Es war Fütterungszeit und für einige Horas, bis Grenwin satt sein würde, vergaß er die sieben Streiter und die Suche nach dem Buch der Macht.

*

Das Meer war an der Wasseroberfläche spiegelglatt wie ein ruhiger Bergsee. Kein Wind kräuselte die Wellen an diesem wolkenfreien Abend, als der Lesvaraq mit seinen Weggefährten das Lager am Strand aufschlug. Sand, Wasser und Luft waren angenehm warm. Die Sonnen versanken in entgegengesetzten Richtungen an den Horizonten und ließen den unberührten, feinen weißen Sand in einem rötlichen Orange leuchten.

Tomal hatte einen Teil seiner Kleidung abgelegt, genoss die letzten Sonnenstrahlen auf seiner Haut und stand barfuß bis zu den Knien im kristallklaren, türkisblauen Wasser, schloss die Augen und atmete die nach Salz und Meer schmeckende Luft tief ein. Dies war ein Ort traumhafter Schönheit. Ein Ort der Ruhe und Erholung. Nichts störte die Konzentration des Lesvaraq. Er streckte seine Glieder und spritze sich Wasser ins Gesicht und auf die Brust. Eine Erfrischung, die ihm guttat und seine Sinne weckte. Tomal fühlte sich wohl.

Die weitläufige Bucht wurde oberhalb des Strands von hoch wachsenden, nur in den Baumkronen belaubten Rakoabäumen gesäumt, die für ihre schmackhaften, faustgroßen schwarzen Nüsse bekannt waren. Tomal hatte einige herabgefallene Nüsse eingesammelt und geknackt. Über dem Feuer geröstet wurde ihr Fleisch rosa und zart.

Auf ihrem Weg in den Südosten Ells waren Tomal, Malidor und Kallya an zahlreichen, einsamen Buchten vorbeigezogen. Die Gegend war nur mit weit auseinanderliegenden Dörfern der Klan dünn bevölkert. Ein kleines Fischerdorf befand sich in der Nähe der Bucht. Dorthin wollten sie am nächsten Morgen aufbrechen, um sich ein Boot für die Überfahrt nach Kartak zu besorgen.

Kallya und Malidor hatten trockenes Holz und Steine für ein Feuer gesammelt, sich danach aber – erschöpft wie sie von der anstrengenden Reise waren – zum Schlafen an den Strand gelegt.

Tomal drehte den Kopf und blickte sich nach den Gefährten um. Ihre gleichmäßige Atmung und das Schnarchen Malidors zeigten ihm, dass sie fest eingeschlafen waren. Die Insel Kartak war nur schwer auszumachen. Sie lag weit draußen im Meer. Aber Tomal glaubte dennoch, die vom Dunst verschleierten Umrisse als kleinen, grauen Punkt wahrnehmen zu können. An der Stelle, an der er stand, konnte er weit ins Meer hinauslaufen bis zu den Korallenbänken, in denen sich zahlreiche bunte Fische tummelten, die er von der Oberfläche sehen konnte. Er wusste, hinter den Korallenbänken fiel das Riff steil ab, wo das Jagdrevier der Moldawar begann, das sich bis zur Insel Kartak zog. Die spitzen Rückenflossen der gigantischen Meeresräuber pflügten durch das tiefe Wasser vor dem Korallenriff und waren gut zu erkennen. Die Fische jagten selbst dem Lesvaraq Respekt ein und er schauderte, wenn er an ihre kalten Augen und die riesigen Mäuler mit mehreren Reihen messerscharfer Zähne dachte, die den Körper eines erwachsenen Mannes mit nur einem Biss auseinanderreißen konnten. Aber er hatte es schon einmal alleine bis zur Insel der Nno-bei-Maya und wieder zurück geschafft. Warum sollte ihm das nicht ein weiteres Mal gelingen? Tomal dachte an die Königin der Nno-bei-Maya. Sie war ihm die ganze Reise über nicht aus dem Kopf gegangen. Er vermisste ihre Nähe auf eine schmerzliche Weise, wie er es nie zuvor erlebt und für möglich gehalten hatte. War das ihr Zauber oder hatte er sich in Saykara verliebt? Er würde sie enttäuschen müssen und mit leeren Händen nach Zehyr kommen. Das war nicht gut.

»Wir stoßen Kallya morgen einfach über Bord«, meldete sich eine unangenehme Stimme in seinem Kopf und riss ihn aus seinen Tagträumen, »den Rest erledigen die Raubfische.«

»Nein«, widersprach Tomal, »das ist zu gefährlich. Das Boot könnte während eines Kampfes kentern. Malidor und ich dürfen nicht im Bauch eines Moldawar landen.«

»Dann schneiden wir Kallya die Kehle durch. Jetzt gleich!«

»Warum nur so ungeduldig?«, lächelte Tomal. »Spürst du nicht die Ruhe und Schönheit an diesem Ort. Ein Paradies! Kallya und Malidor schlafen. Sie sind erschöpft und werden bestimmt die ganze Nacht schlafen, bis die Sonnen wieder aufgehen. Genieße den Strand, das Meer und die untergehenden Sonnen.«

»Pah … romantischer Unsinn«, beschwerte sich Blyss, »die Schönheit eines solchen Ortes ist so trügerisch wie die Schönheit einer Frau. Sie vernebelt Euch nur die Sinne, lenkt Euch ab, versucht, Euch zu beeinflussen und am Ende zu beherrschen. Seht Euch die Moldawar an! Sie sind wild und frei. Sie zögern keinen Augenblick, Beute zu machen, sobald sie eine Gelegenheit wittern. Ich hätte nicht gedacht, dass Ihr Euch von Euren Gefühlen überwältigen lasst. Weißer Sand, Rakoabäume, Sonne und blaues Wasser. Ihr seid doch kein Träumer, der sich blenden lässt, um glücklich zu sein. Was Ihr braucht, ist das Blut Eurer Opfer, die Welt zu verändern. Im Tod und Verderben liegt Euer wahres Glück. Die Dunkelheit ist es, nach der Ihr streben solltet.«

»Sei still!«, brachte Tomal die Stimme zum Schweigen. »Ich kann es nicht mehr hören.«

Tomal beobachtete einen Fischschwarm, der sich zu seinen Füßen tummelte. Der Schwarm drängte sich dicht zusammen, die letzten Sonnenstrahlen zu erhaschen. Einige der Fische knabberten frech an seinen Zehen. Blitzschnell griff Tomal zu, fing zwei Fische mit den Händen und steckte sie in einen Lederbeutel, den er am Bund trug. Er wartete, bis sich der Schwarm wieder gesammelt hatte, und wiederholte den Vorgang mehrmals, bis er sechs Fische zusammenhatte. Sie waren groß genug, eine sättigende Mahlzeit abzugeben. Der Lesvaraq wollte die Fische über dem Feuer braten und mit den Gefährten teilen.

»Ihr sorgt auch noch für ihr leibliches Wohl?«, meldete sich Blyss erneut zu Wort.

»Ich sagte, du sollst still sein«, antwortete der Lesvaraq barsch.

»Wie Ihr wollt«, schlug Blyss einen beleidigten Tonfall an, »aber beschwert Euch nachher nicht darüber, dass wir beide hungern müssen, wenn Kallya unsere Fische gegessen hat. Sie braucht sie doch überhaupt nicht mehr. Vergesst nicht, dass Ihr für zwei essen solltet.«

»Du bist nur ein dunkler Geist in meinem Kopf und brauchst keine feste Nahrung, Blyss«, korrigierte der Lesvaraq das Gefäß, »also hör endlich auf mit diesem Unsinn und lass mich in Ruhe. Ich hätte mich niemals darauf einlassen dürfen. Du gehst mir auf die Nerven.«

»Ich brachte Euch die Dunkelheit zurück«, beschwerte sich das Gefäß.

»Nein! Nicht die Dunkelheit. Das Böse brachtest du mir. Das ist ein Unterschied.«

»Natürlich. Aber dafür entgehen wir beide dem Wahnsinn.«

»Vielleicht«, räumte Tomal ein, »das wird sich erst erweisen müssen.«

Tomal watete mit großen Schritten zurück zum Strand, näherte sich vorsichtig den Schlafenden und bereitete das Feuer und den Fisch vor. Als die Fische gebraten waren, weckte er seine Gefährten. Kallya öffnete die Augen und lächelte ihn dankbar und freundlich an. Der Lesvaraq lächelte zurück. Es war das Lächeln eines Raubfischs auf Beutezug.

»Der Fisch duftet herrlich«, sagte Kallya freudestrahlend, »ich habe einen Riesenhunger. Es ist wirklich lieb von dir, dass du dich um uns sorgst.«

Tomal starrte still lächelnd in Kallyas freundliches Gesicht und stellte sich dabei vor, wie er ihr den Fisch gewaltsam in den Rachen stopfte, bis sie daran erstickte.

»Ihr allerletztes Mahl!«, hörte Tomal seinen ständigen Begleiter in Gedanken.

Nachdem sie die Fische gegessen hatten und gemeinsam über die Überfahrt nach Kartak gesprochen hatten, legten sie sich erneut schlafen. Sie fühlten sich am Strand sicher und verzichteten auf die Einteilung von Wachen. Das leise Plätschern der Wellen und das Rauschen des Meeres wirkten einschläfernd auf den Lesvaraq. Er schloss die Augen, schlief sofort ein und träumte von Saykara.

Es war stockdunkel, als Tomal wieder erwachte. Nur am Horizont in der Ferne, dort wo der Lesvaraq Kartak vermutete, konnte er ein Wetterleuchten erkennen. Blitze zuckten den Himmel entlang. Ein Gewitter musste sich gerade über der Insel entladen.

Das Feuer war längst erloschen, die Glut erkaltet und der Wind hatte deutlich aufgefrischt. Die Wellen hatten an Größe und Stärke zugelegt und kamen inzwischen bis dicht an das Lager der Gefährten heran. Malidor und Kallya schliefen ruhig.

»Es ist so weit«, sagte Blyss, »tu es. Jetzt! Befreie dich von ihr und vom Licht, das dich daran hindert, der zu sein, der du sein möchtest. Frei und wild, wie ein Moldawar.«

»Ich weiß nicht«, meinte Tomal, »sieh dir Kallya an. Wie friedlich sie schläft. Sie sieht so schön aus, obwohl ihr Antlitz zunehmend verblasste, seit sie von mir besiegt wurde. Sie vertraut mir, hat sich mir aus freien Stücken angeschlossen. Was hätte aus ihr werden können? Ein strahlender Lesvaraq des Lichts. Sie hätte eine neue, bessere Welt erschaffen können. Aber Kallya hat alles aufgegeben und auf die Macht verzichtet, nur um mir zu dienen. Es ist feige, sie im Schlaf zu ermorden. Das hat sie nicht verdient.«

»Ach Unsinn. Du wirst sentimental«, beschwerte sich Blyss »töte sie!«

Tomal tastete nach seinem Messer. Die Klinge war scharf und er schnitt sich in der Dunkelheit versehentlich in den Finger. Er konnte nicht verhindern, dass ein leiser Fluch über seine Lippen kam. Vorsichtig schlich er sich an Kallya heran, legte ihr das Messer an den Hals, verstärkte den Druck und zog die Klinge durch. Es war ein tiefer und schneller Schnitt. Tödlich. Kallya schrak aus dem Schlaf hoch, rang nach Luft. Sie wollte schreien, brachte jedoch nur ein blubberndes Gurgeln hervor. Aus ihren Mundwinkeln trat Blut. Ihr sterbender Blick traf Tomal. Sie wollte etwas zu ihm sagen, vermochte es jedoch nicht. Kopf und Körper sanken zurück in den Sand. Kallya starb.

»Wir sehen uns im Land der Tränen«, flüsterte Tomal.

Der Lesvaraq packte Kallyas leblosen Körper an den Füßen und schleifte ihn weit ins bewegte Meer hinaus bis zum Korallenriff. Dort warf er den Körper ins Meer. Ein gefundenes Fressen für die Moldawar. Zurück im Lager beseitigte er die Blutspuren im Sand.

Malidor hatte von alledem offenbar nichts bemerkt. Als er am nächsten Morgen die Augen aufschlug, fragte der Magier:

»Wo ist Kallya?«

»Sie ist gegangen«, brummte der Lesvaraq nur, »ich denke nicht, dass wir sie noch einmal wiedersehen.«

»Ach so?«, wunderte sich Malidor nur.

»Lasst uns keine Zeit mehr verlieren. Brechen wir auf und suchen ein Boot«, meinte Tomal.

Tomal war froh, dass Malidor nicht weiter nachfragte. Der Lesvaraq nahm an, dass Kallya dem Magier gleichgültig war. Sie suchten ihre Bündel zusammen und machten sich auf den Weg in das Fischerdorf.

*

»Sie kommen«, knurrte Grenwin, »ich kann sie spüren. Sie sind schon ganz nah. Sagt der Königin, sie möge den magischen Schild außer Kraft setzen. Ich will, dass mir die Streiter ins Netz gehen und nicht am Schutz der Nno-bei-Maya scheitern. Sie müssen heil zur Insel gelangen. Und sagt Peeva, sie soll sich zurückhalten. Die Streiter gehören mir. Keine Sorge, ich vergesse meine Freunde nicht. Die alte Spinne bekommt ihren Anteil, sobald ich mit ihnen fertig bin.«

Die fleißigen Spinnen eilten davon, der Königin der Maya von Grenwins Wünschen zu berichten. Einige krabbelten ins Netz zurück, um Peeva zu benachrichtigen.

»Zum Glück weiß die Königin bis heute nicht, was wir bewachen«, kicherte Grenwin in seinem Kokon. Sein fetter Leib zuckte. »Sie denkt, wir würden den zweiten Eingang in ihre Stadt schützen. Das hat Tarratar geschickt eingefädelt. Er hat sie über all die Sonnenwenden hinweg in diesem Glauben gelassen, selbst als sie mit ihrem Volk in den Schatten verweilte. Aber sollte der Narr denken, ich überlasse ihnen das Buch, dann hat er sich getäuscht. Wir werden schön mitspielen, bis sich die Teile zusammengefügt haben. Danach? Ich kann es kaum noch erwarten.«

Grenwin erschrak, als er plötzlich die hellen Glöckchen läuten hörte. Der Klang war ihm wohlbekannt. Tarratar. Grenwin drehte sich in seinem Kokon, um besser sehen zu können. Am unteren Ende des Netzes, aber noch außerhalb der klebrigen Fangfäden stand Tarratar auf der alten Steinbrücke, die nach Zehyr führte. Der Narr blickte nach oben ins Netz und schüttelte seinen Kopf. Die geflügelten Spinnen erstarrten beim Klang der Glocken und stellten ihre Arbeit am Netz ein, was Grenwin nicht gefiel. Es gab so viel zu tun. Löcher zu stopfen, neue Fäden zu spinnen, alte zu verstärken und mit den neuen zu verknüpfen. Das Netz sollte größer werden und bis weit in die Tiefe der Höhle reichen. Schließlich mussten auch die vielen kleineren und größeren Spinnentiere Platz finden und sich ernähren. Mittlerweile mussten es Tausende sein, die sich in Grenwins weit verzweigtem Netz tummelten und seinen Befehlen gehorchten. Grenwin bewegte seinen Leib aus dem Kokon und krabbelte mit seinen Tentakeln geschickt über das Netz auf Tarratar zu.

»Willkommen, erster Wächter«, begrüßte Grenwin den Narren.

»Wie ich sehe, war der vierte Wächter sehr fleißig«, antwortete Tarratar, »das Netz ist gigantisch.«

»In der Tat«, bestätigte Grenwin, »mein Netz ist nicht nur groß, sondern auch stabil. Niemand kommt hier unbemerkt rein oder raus, wenn ich es nicht will.«

»Was ist mit Peeva? Ist sie zugegen?«

»Sie mag schon eine alte und faule Spinne sein, aber sie hat ihren Teil zu diesem Netz beigetragen. Wie immer lauert sie irgendwo in den Tiefen der Kaverne im Netz auf Beute. Zieh an einem ihrer Fäden, dann wird sie aus ihrem Versteck kommen und dich fressen wollen.«

»Das ist gut, an einem Narren wie mir wird sie sich verschlucken«, sagte der Narr. »Wo ist das Buch?«

»Oben im Netz, einhundertfünfzig Fuß von der Brücke entfernt«, Grenwin deutete auf seinen Kokon, »in einem Gespinst gleich neben meinem Schlafplatz.«

»Die Streiter werden in das Netz steigen müssen, wenn sie es haben wollen. Bist du bereit?«

»Natürlich«, antwortete Grenwin, »ich bin schon lange bereit. Deine Streiter werden nicht weit kommen. Raupenfutter oder sie landen in Peevas Fängen. Niemand hat es je geschafft, mehr als zwanzig Fuß weit in das Netz zu steigen und sich wieder daraus zu befreien.«

»Die Streiter sind keine Beute für dich oder Peeva, mein Freund«, mahnte Tarratar, »wir müssen sie prüfen. Ihren Willen, ihre Zusammenarbeit, ihren Mut, ihre Tapferkeit und die Treue zu ihren Gefährten. Sind sie geschickt, klug, stark und würdig genug, das Buch zu besitzen? Das ist es, was wir herausfinden wollen. Die Prüfung im Netz soll all das beweisen.«

»Was willst du mir damit sagen?«, wollte Grenwin wissen. »Soll ich mich etwa still verhalten und zusehen, wie sie das Buch aus dem Netz holen?«

»Nein, wir wollen ihnen die Prüfung nicht leicht machen«, sagte Tarratar, »du darfst ihnen deine Macht zeigen und sie angreifen, aber fressen solltest du sie nicht. Du bist schon fett genug!«

»Was denn? Willst du, dass ich mich verpuppe, verwandle und schlüpfe?«

»Grenwin! Wie lange kennen wir uns nun schon?«, fragte Tarratar, während er dabei die Augenbrauen hochzog. »Natürlich wünsche ich mir, dass du dich eines Tages wandelst und zu einem herrlichen Riesenschmetterling wirst.«

»Das kannst du vergessen, Narr!«, grunzte Grenwin. »Sollte ich mich je zur Verwandlung entschließen, wird eine Riesenspinne aus mir werden, wie sie Kryson noch nie gesehen hat. Nur meine Flügel werden vielleicht an einen Schmetterling erinnern.«

»Das hatte ich befürchtet, aber man soll die Hoffnung nie aufgeben«, lachte Tarratar, »solange du mir diesen Wunsch nicht erfüllen willst, bleibst du lieber die Raupe, die ich kenne.«

»Du bist früh dran, Tarratar«, sagte Grenwin, »wo sind die anderen? Werden sie bei den Prüfungen anwesend sein? Wirst du selbst zusehen?«

»Daleima ist auf dem Weg«, nickte der Narr, »der Herr der Grube ist an sein Gefängnis gebunden, so wie du an dein Netz in dieser Höhle. Er wird nicht kommen. Ich glaube, es wäre keine gute Idee, ihn aus der Grube zu befreien. Das versucht er schon seit langer Zeit mithilfe dieses Flötenspielers und der Schatten. Aber es wird ihm nicht gelingen.«

»Schade«, seufzte Grenwin, »ich hätte den dritten Wächter gerne persönlich kennengelernt. Seine Gedanken scheinen von Boshaftigkeit durchdrungen zu sein. Es muss sehr erhellend und spannend sein, mit ihm zu plaudern.«

»Glaub mir, es gibt bessere Gespräche«, zuckte Tarratar mit den Schultern.

»Wenn du meinst«, sagte Grenwin, »aber sag … möchtest du in meinen Kokon kommen und eine Puppe mit mir schlürfen? Ich lade dich ein.«

»Dein Netz betreten?«, fragte Tarratar verblüfft. »Bin ich verrückt? Für wie dumm hältst du mich, Grenwin? Hast du Hunger?«

»Ich habe immer Hunger.«

»Das weiß ich. Du solltest aber keinen Hunger auf den ersten Wächter haben. Verstehen wir uns?«

»Ja, Tarratar. Tut mir leid. Aber einen Versuch war es doch wert, oder?«

»Nein, war es nicht. Es war plump und schlecht.«

»Verzeih mir, ich habe es nicht böse gemeint«, schluchzte die Raupe.

»Schon gut, schon gut. Du musst deswegen nicht gleich weinen. Ich kenne dich einfach schon zu lange, um noch auf deine List hereinzufallen«, meinte Tarratar. »Ich muss jetzt gehen und der Königin meine Aufwartung machen. Du wartest auf mich, bevor du mit den Prüfungen beginnst.«

»Ich warte«, sagte Grenwin, »lass dich von Saykara nicht einwickeln. Sie ist gefährlicher als eine Schlange, giftiger als die giftigste Spinne und gefräßiger als Peeva und ich zusammen. Ihr Netz ist unsichtbar, aber stark. Glaub mir, ich habe sie ständig beobachtet und kenne sie gut.«

»Das ist mir wohlbekannt, Grenwin«, antwortete Tarratar, »sie kann mir nicht gefährlich werden. Ihre Schönheit und ihre weiblichen Reize sind wie ein Fluch, mit dem sie die Männer reihenweise in die Falle lockt. Aber ich habe sie schon lange durchschaut und bin dagegen gefeit.«

»Dann ist es gut. Ich wünsche dir viel Vergnügen«, knurrte Grenwin, »aber einen Wunsch hätte ich noch. Überrede die Königin, mich in meinem Netz zu besuchen. Ich wüsste zu gerne, wie Saykara riecht und … schmeckt.«

»Nein, Grenwin. Das kommt nicht infrage. Aber ich verrate dir ein Geheimnis, das eigentlich keines ist. Saykara riecht und schmeckt phantastisch. Dir entgeht ein echter Leckerbissen«, lachte der Narr.

»Pah … und du nennst dich einen Freund«, schmollte Grenwin und zog sich in seinen Kokon zurück.

Beleidigt beobachtete die Raupe, wie Tarratar hüpfend und pfeifend über die Brücke sprang, die die Maya den Weg der Spinne nannten, dabei die Berührung mit den Fäden des Netzes geschickt vermied und schließlich den eisernen Riegel zur Seite schob und das Tor zur Stadt Zehyr öffnete. Der Narr schlüpfte durch den Spalt und zog das Tor wieder hinter sich zu.

Grenwin war neidisch und eifersüchtig auf den ersten Wächter. Er, die Raupe, war in seinem Netz gefangen. Das war frustrierend und wurde ihm in solchen Momenten immer wieder schmerzlich bewusst. Er bekam schrecklichen Hunger auf die Streiter, die ihm endlich wieder Abwechslung zu seiner sonstigen Kost bieten würden. Aber er musste geduldig sein. Lange konnte es nicht mehr dauern. Grenwin schloss all seine Augen und rollte sich in seinem Kokon zu einem Schläfchen zusammen. Das würde ihm guttun und die Zeit bis zum Eintreffen der Streiter für ihn verkürzen.