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12

Ich könnte es mir einfach holen, während du schläfst, Liebes«, sagte der Geist. »Ich habe nur versucht, es zu einem Geschenk zu machen. Wenn du es mir als Geschenk gibst, kann ich dir helfen.« Sie sah aus wie die Art von Frau, die man dafür anstellt, auf Kinder aufzupassen. Liebenswert und freundlich, wenn auch ein wenig selbstgefällig.

»Das werden Sie nicht«, knurrte ich. Und ich fühlte einen leichten Druck von etwas. Etwas, das ich getan hatte.

Sie riss die Augen auf und machte einen Rückzieher. »Natürlich nicht, Süße. Nicht wenn du es nicht willst.«

Sie hatte versucht, es zu verbergen. Aber ich hatte etwas getan. Ich hatte es schon einmal gefühlt, im Bad von Ambers Haus, als ich dem Geist gesagt hatte, er solle Chad in Ruhe lassen. Magie. Es war nicht die Magie, die das Feenvolk einsetzte, oder die der Hexen, aber es war Magie. Ich konnte sie riechen.

»Sagen Sie mir«, sagte ich und versuchte, einen gewissen Druck dahinterzulegen, wie die Autorität, die Adam so selbstverständlich trug wie seine maßgeschneiderten Hemden. »Wie hat Blackwood die Geistererscheinungen in Ambers Haus hingekriegt? Waren Sie das?«

Sie presste frustriert die Lippen aufeinander und ihre Augen leuchteten auf, als wäre sie noch der Vampir, der sie vor ihrem Tod gewesen war. Aber sie antwortete mir. »Nein. Es war der Junge, James’ kleines Experiment.«

Außerhalb der Käfige und außer Reichweite davon stand ein Tisch, auf dem Kartons aufgestapelt waren. Auf einer Ecke stand eine Ansammlung von Fünfzehn-Liter-Eimern – sechs oder acht davon. Jetzt fielen sie mit einem Krachen um und rollten bis zu dem Abfluss in der Mitte des Raums.

»Das warst du«, sagte sie in einem bösartigen Tonfall, der aus dem Mund einer so großmütterlich wirkenden Frau völlig falsch klang. »Er hat dich in einen Vampir verwandelt und mit dir gespielt, bis er deiner überdrüssig wurde. Dann hat er dich umgebracht und weiter mit dir gespielt, bis dein Köper verwest war.«

Wie Blackwood es auch mit Amber getan hat, dachte ich, außer dass es ihm nicht gelungen war, sie in einen Vampir zu verwandeln, bevor er sie zu einem Zombie gemacht hatte. Hier und Jetzt, predigte ich mir selbst. Verschwende keine Energie an Dinge, die du momentan nicht ändern kannst.

Die Eimer hörten auf zu rollen und der Raum wurde still – abgesehen von dem Geräusch meines eigenen Atems.

Sie schüttelte sich abrupt. »Verliebe dich niemals«, erklärte sie mir. »Es macht dich schwach.«

Ich konnte nicht sagen, ob sie über sich selbst sprach, über den toten Jungen oder über Blackwood. Aber ich interessierte mich auch mehr für andere Dinge. Wenn ich sie nur dazu bringen konnte, meine Fragen zu beantworten.

»Sagen Sie mir, warum genau Blackwood mich haben will.«

»Du bist unhöflich, Liebes. Hat dir dieser alte Wolf denn gar keine Manieren beigebracht?«

»Sagen Sie mir, wie Blackwood mich benutzen will.«

Sie zischte und zeigte ihre Reißzähne.

Ich fing ihren Blick ein und dominierte sie, als wäre sie ein Wolf. »Sagen Sie es mir.«

Sie schaute weg, dann richtete sie sich auf und strich ihren Rock glatt, als wäre sie nervös und nicht wütend. Aber ich wusste es besser.

»Er ist, was er isst«, sagte sie schließlich, als ich nicht nachgab. »Er hat es dir gesagt. Ich habe noch nie vorher davon gehört – wie hätte ich wissen sollen, was er tat? Ich dachte, er nährte sich davon, weil er den Geschmack mochte. Aber er nahm die Macht des Wesens in sich, während er das Blut trank. Genauso wie er es bei dir machen wird. Damit er mich benutzen kann, wie es ihm gefällt.«

Und dann war sie verschwunden.

Ich starrte ins Leere, wo sie eben noch gestanden hatte. Blackwood nährte sich von mir, und damit gewann er … was? Ich holte tief Luft. Die Fähigkeit, genau das zu tun, was ich gerade getan hatte – einen Geist zu kontrollieren.

Wenn sie geblieben wäre, hätte ich ihr ein Dutzend weitere Fragen gestellt. Aber sie war nicht der einzige Geist hier.

»Hey«, meinte ich sanft. »Sie ist jetzt weg. Du kannst rauskommen.«

Er roch ein wenig anders als sie, obwohl sie beide überwiegend nach altem Blut rochen. Es war ein feiner Unterschied, aber ich konnte ihn wittern, wenn ich mich anstrengte. Sein Geruch war geblieben, während ich die alte Frau befragt hatte, und daher wusste ich, dass er nicht verschwunden war.

Er war das in Ambers Haus gewesen. Derjenige, der fast Chad umgebracht hatte.

Er blendete sich langsam ein, mit dem Rücken zu mir im Schneidersitz auf dem Betonboden. Diesmal war er deutlicher zu sehen, und ich konnte erkennen, dass sein Hemd von Hand genäht worden war, wenn auch nicht besonders gut. Er stammte nicht aus diesem Jahrhundert oder aus dem zwanzigsten – wahrscheinlich irgendwann aus dem neunzehnten.

Er zog einen Eimer aus dem Haufen und rollte ihn über den Boden, weg von uns beiden, bis er gegen den Käfig des Dryaden stieß. Er warf mir einen schnellen, schmollenden Blick über die Schulter zu. Dann sagte er, die Augen auf die verbliebenen Eimer gerichtet: »Wirst du mich dazu bringen, dir Dinge zu sagen?«

»Es war unhöflich«, gab ich zu, ohne wirklich zu antworten. Wenn er etwas wusste, das mir helfen konnte, Chad, Corban und mich in einem Stück hier rauszuholen, würde ich alles tun, was nötig war. »Mir macht es allerdings nicht viel aus, unhöflich zu jemandem zu sein, der mir wehtun will. Weißt du, warum sie Blut will?«

»Mit Blut, das freiwillig gegeben wurde, kann sie durch eine Berührung Leute töten«, sagte er. »Es geht nicht, wenn sie es stiehlt – obwohl sie das vielleicht aus reiner Bösartigkeit tun wird.« Er wedelte mit der Hand und einer der Kartons kippte zur Seite, wobei sich Erdnüsse über den Tisch ergossen. Fünf oder sechs davon erhoben sich in einem winzigen Tornado in die Luft. Er verlor das Interesse und sie fielen auf den Boden.

»Mit ihrer Berührung?«, fragte ich.

»Sterblicher, Hexe, Feenvolk oder Vampir: Sie kann jeden davon töten. Als sie noch lebte, wurde sie Großmutter Tod genannt.« Er schaute mich wieder an. Ich konnte seine Miene nicht entschlüsseln. »Als sie ein Vampir war, meine ich. Selbst die anderen Vampire hatten Angst vor ihr. So hat er herausgefunden, was er konnte.«

»Blackwood?«

Er drehte sich zu mir um und seine Hand glitt durch den Eimer, mit dem er eben noch gespielt hatte. »Er hat es mir erzählt. Einmal, direkt nachdem er damit an der Reihe gewesen war, sich von ihr zu nähren – sie war die Herrin seiner Siedhe –, tötete er einen Vampir mit seiner Berührung.« Niedrigere Vampire nährten den Herrn oder die Herrin ihrer Siedhe und wurden im Gegenzug genährt. Wenn sie mächtiger wurden, mussten sie sich nicht mehr von demjenigen nähren, der über die Siedhe herrschte. »Er sagte, er wäre wütend gewesen und hätte diese Frau berührt, worauf sie einfach zu Staub zerfiel. Genau wie die Herrin es konnte. Aber ein paar Tage später ging es nicht mehr. Er war erst in ein paar Wochen wieder dran, sich von ihr zu nähren, also holte er sich eine Prostituierte aus dem Feenvolk – ich habe vergessen, was sie genau war – und saugte sie leer. Die Mächte der Frau wirkten bei ihm länger. Er experimentierte herum und fand heraus, dass er umso länger benutzen konnte, was er von ihnen gewann, je länger er sie am Leben ließ, während er sich von ihnen nährte.«

»Kann er das immer noch?«, fragte ich angespannt. »Mit einer Berührung töten?« Kein Wunder, dass keiner ihm sein Territorium abspenstig gemacht hatte.

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Und sie ist tot, also kann sie ihre Talente nicht länger verleihen. Sie kann immer noch töten, wenn er ihr Blut gibt. Aber er kann sie jetzt nicht mehr benutzen, wie er es getan hat, bevor dieser alte Indianer starb. Es ist nicht so, als würde ihr das Töten etwas ausmachen, aber ihr gefällt es nicht, zu tun, was er will. Besonders nicht, ausdrücklich nur zu tun, was er will, und sonst nichts. Er benutzt sie fürs Geschäft, und Geschäftliches« – er leckte sich die Lippen, als versuche er, sich an die genauen Worte zu erinnern, die Blackwood benutzt hatte –, »Geschäftliches sollte man präzise ausführen.« Er lächelte und seine Augen leuchteten unschuldig. Sie waren blau. »Sie mag lieber Blutbäder, und sie ist durchaus bereit, das Gemetzel so zu arrangieren, dass James als der Killer dasteht. Sie hat das einmal getan, bevor ihm aufging, dass er sie nicht länger kontrollieren konnte. Er war sehr unglücklich.«

»Blackwood hatte einen Walker«, sagte ich, und die Puzzleteile fügten sich zusammen. »Und er hat sich von ihm genährt, um sie kontrollieren zu können – die Dame, die gerade da war.«

»Ihr Name ist Catherine. Ich bin John.« Der Junge schaute auf den Eimer, woraufhin der sich bewegte. »Er war nett, Carson Twelfe Spoons. Er hat manchmal mit mir geredet und mir Geschichten erzählt. Er hat mir gesagt, ich hätte mich James nicht übergeben sollen, dass ich nicht James’ Spielzeug sein sollte. Dass ich mich selbst zum Großen Geist gehen lassen sollte. Dass er früher einmal fähig gewesen wäre, mir zu helfen.«

Er lächelte mich an und diesmal sah ich einen Hauch Bosheit darin. »Er war ein schlechter Indianer. Als er ein Junge war, nicht viel älter als ich, hat er einen Mann umgebracht, um sein Pferd und seinen Geldbeutel zu stehlen. Danach konnte er nicht mehr die Dinge tun, die er hätte können sollen. Er hatte kein Recht, mir zu sagen, was ich tun sollte.«

Diese Bosheit befreite mich von dem ablenkenden Mitleid, das ich empfunden hatte. Und ich sah, was ich das erste Mal, als ich ihm in die Augen gesehen hatte, übersehen hatte. Und wusste, warum dieser Geist anders war als alle, die ich vorher gesehen hatte.

Geister sind die Überreste von Leuten, die gestorben sind, das, was übrig bleibt, wenn die Seele verschwindet. Überwiegend sind sie eine Ansammlung von Erinnerungen, denen eine Form gegeben wurde. Wenn sie interagieren können, auf äußere Reize reagieren, dann neigen sie dazu, Fragmente der Personen zu sein, die sie einst waren: zwanghafte Fragmente – wie die Geister von Hunden, die das Grab ihrer alten Herren bewachen, oder der Geist, den ich einmal gesehen hatte, der immer nach seinem Welpen gesucht hatte.

Direkt nach ihrem Tod allerdings sind sie manchmal anders. Ich habe es ein paarmal auf Beerdigungen gesehen oder im Haus von jemandem, der gerade erst gestorben war. Manchmal passen die frisch Verstorbenen auf die Lebenden auf, wie um sicherzustellen, dass es ihnen auch gutgeht. Das ist mehr als ein Rest der Leute, die sie waren – ich kann den Unterschied sehen. Ich habe diese immer als ihre Seelen betrachtet.

Das war es, was ich in Ambers toten Augen gesehen hatte. Mein Magen verkrampfte sich. Wenn man stirbt, sollte es eine Erlösung sein. Es war nicht fair, nicht richtig, dass Blackwood irgendwie einen Weg gefunden hatte, die Seelen über den Tod hinaus festzuhalten.

»Hat Blackwood dir befohlen, Chad zu töten?«, fragte ich.

Er ballte die Fäuste. »Er hat alles. Alles. Bücher und Spielzeug.« Seine Stimme wurde immer lauter. »Er hat ein gelbes Auto. Schau mich an. Schau mich an!« Er stand jetzt und starrte mich mit wilden Augen an, aber als er wieder sprach, war es nur ein Flüstern. »Er hat alles und ich bin tot. Tot. Tot.« Er verschwand plötzlich, aber die Eimer stoben auseinander. Einer davon flog nach oben, knallte gegen die Gitter meines Käfigs und zerbrach in Stücke aus festem orangefarbenem Plastik. Ein Stück davon traf mich und schnitt mir den Arm auf.

Ich war mir nicht sicher, ob das ein Ja oder ein Nein war.

Jetzt allein, setzte ich mich aufs Bett und lehnte mich gegen die kalte Betonwand. John der Geist wusste mehr über Walker als ich. Ich fragte mich, ob er die Wahrheit gesagt hatte: Es gab einen moralischen Code, den ich einhalten musste, wollte ich meine Fähigkeiten behalten – die jetzt auch eine gewisse Fähigkeit einzuschließen schienen, Geister zu kontrollieren. Obwohl es, wenn man meinen sehr wechselhaften Erfolg darin betrachtete, anscheinend etwas war, was man üben musste, um es richtig hinzukriegen.

Ich versuchte herauszufinden, wie dieses Talent mir dabei helfen könnte, alle Gefangenen inklusive mich hier herauszuholen. Ich dachte immer noch angestrengt darüber nach, als ich hörte, wie jemand die Treppe herunterkam: Besucher.

Ich stand auf, um sie willkommen zu heißen.

Die Besucher waren Mitgefangene. Und ein Zombie.

Amber plapperte über Chads nächstes Softballspiel, während sie Corban in den Raum führte – der offensichtlich immer noch unter dem Einfluss des Vampirs stand – und Chad, der ihnen folgte, weil er nichts anderes tun konnte. Er hatte einen blauen Fleck im Gesicht, der noch nicht da gewesen war, als ich ihn im Esszimmer zurückgelassen hatte.

»Jetzt schlaft mal schön«, sagte sie ihnen. »Jim geht jetzt auch ins Bett, sobald er diesen Feenvolk-Kerl wieder hier eingeschlossen hat, wo er hingehört. Wir wollen nicht, dass ihr müde seid, wenn es Zeit zum Aufstehen ist.« Sie hielt ihnen die Tür auf, als wäre es etwas anderes als ein Käfig – dachte sie, es wäre ein Hotelzimmer?

Den Zombie zu beobachten war ein wenig wie eines von diesen Videos zu schauen, wo sie Stücke von Gesprächen nehmen, die es wirklich gab, und sie so zusammenstückeln, dass über etwas völlig anderes geredet wird. Kurze Schnipsel von Dingen, die Amber tatsächlich gesagt hätte, kamen aus dem Mund der toten Frau, standen aber in wenig oder überhaupt keiner Verbindung zu dem, was sie tat.

Corban stolperte in den Käfig und blieb in seiner Mitte stehen. Chad rannte an dem sprechenden Leichnam seiner Mutter vorbei, bis er zitternd und mit weit aufgerissenen Augen neben dem Bett stand. Er war erst zehn, egal, wie mutig er auch war.

Wenn er das hier überlebte, würde er jahrelange Therapie brauchen. Und das setzte voraus, dass er einen Therapeuten fand, der ihm glaubte. Deine Mutter war ein was? Nimm ein bisschen Thorazine … oder was auch immer die neueste Modedroge für die psychisch Kranken war.

»Ups«, sagte Amber, krankhaft gut gelaunt. »Ich hätte es fast vergessen.« Sie schaute sich um und schüttelte traurig den Kopf. »Hast du das getan, Mercy? Char hat immer gesagt, dass ihr zueinanderpasst, weil ihr beide im Herzen Chaoten seid.« Während sie sprach, sammelte sie die Eimer auf – auch wenn sie sich nicht die Mühe machte, die zerbrochenen Teile aufzusammeln – und stapelte sie wieder dort auf, wo sie gewesen waren. Einen davon nahm sie und stellte ihn in Chads und Corbans Käfig, bevor sie den benutzten aus der Ecke holte. »Ich nehme das mal mit hoch und mache es sauber, okay?«

Sie verschloss die Tür.

»Amber«, sagte ich und legte möglichst viel Kraft in meine Stimme. »Gib mir den Schlüssel.« Sie war tot, richtig? Musste sie dann nicht auch auf mich hören?

Sie zögerte. Ich konnte es sehen. Dann schenkte sie mir ein strahlendes Lächeln. »Ungezogene Mercy. Ungezogen. Dafür wirst du bestraft werden, wenn ich es Jim erzähle.«

Sie nahm den Eimer und piff vor sich hin, als sie die Tür hinter sich schloss. Ich konnte ihr Pfeifen den ganzen Weg die Treppe hinauf hören. Ich brauchte mehr Übung, oder es gab irgendeinen Trick.

Ich senkte den Kopf und wartete mit verschränkten Armen und ohne Chad anzusehen darauf, dass Blackwood den Eichendryaden zurückbrachte. Ich ignorierte es, als er an den Käfigstangen rüttelte, um meine Aufmerksamkeit zu erregen. Ich wollte nicht, dass Blackwood, wenn er zurückkam, sah, wie ich Chads Hand hielt oder mit ihm sprach.

Ich glaubte nicht, dass Blackwood Chad am Leben ließ, nach all dem, was er gesehen hatte. Aber ich hatte nicht vor, ihm noch mehr Gründe zu liefern, um ihm wehzutun. Und wenn ich aufhörte, wachsam zu sein, dann würde es mir schwerfallen, meine Angst unter Kontrolle zu halten.

Nach einer Weile stolperte der Eichendryad vor Blackwood in den Raum. Er sah nicht besser aus, als nachdem Blackwood mit ihm fertig gewesen war. Der Feenvolkmann war kaum größer als einen Meter zwanzig, obwohl er wahrscheinlich ein bisschen größer gewesen wäre, hätte er sich aufgerichtet. Seine Arme und Beine waren auf unterschwellige Art falsch proportioniert: kurze Beine, überlange Arme. Sein Hals war zu kurz für seinen Kopf mit der breiten Stirn und dem mächtigen Kinn.

Er ging ohne Kampf direkt in seine Zelle, als hätte er schon zu oft gekämpft und wäre jedes Mal unterlegen. Blackwood schloss ihn ein. Dann, mit einem Blick zu mir, warf der Vampir den Schlüssel in die Luft und fing ihn wieder auf, bevor er auf den Boden fiel. »Ich werde Amber nicht mehr mit den Schlüsseln nach unten schicken.«

Ich sagte nichts, und er lachte. »Schmoll so viel du willst, Mercy. Es wird nichts ändern.«

Schmollen? Ich starrte ihn an. Ich würde ihm schmollen zeigen.

Er setzte sich in Richtung Tür in Bewegung.

Ich schluckte meine Wut runter, und es gelang mir, nicht daran zu ersticken. »Also, wie haben Sie es geschafft?«

Vage Fragen sind schwerer zu ignorieren als klar formulierte. Sie lösen Neugier aus und lassen das Opfer reagieren, selbst wenn es sonst nicht mit einem geredet hätte.

»Was geschafft?«

»Catherine und John«, sagte ich. »Sie sind nicht wie normale Geister.«

Er lächelte, erfreut, dass ich es bemerkt hatte. »Ich würde gerne übersinnliche Fähigkeiten für mich in Anspruch nehmen«, erklärte er mir, dann lachte er, weil er sich selbst so witzig fand. »Aber es ist tatsächlich ihre Entscheidung. Catherine ist wild entschlossen, sich irgendwie an mir zu rächen. Sie gibt mir die Schuld daran, dass ihre Terrorherrschaft ein Ende gefunden hat. John … John liebt mich. Er wird mich niemals verlassen.«

»Haben Sie ihm gesagt, er solle Chad töten?«, fragte ich kühl, als stände hinter der Frage reine Neugier.

»Ah, das ist die Frage.« Er zuckte mit den Achseln. »Dafür brauche ich dich. Nein. Er hat mir mein Spiel vermasselt. Wenn er getan hätte, was ich ihm gesagt hatte, wärst du selbst hierhergekommen und hättest dich ausgeliefert, damit ich deine Freunde verschone. Er hat sie verscheucht. Es hat mich einen halben Tag gekostet, sie zu finden. Sie wollten nicht mit mir kommen – und … Na ja, du hast die arme Amber gesehen.«

Ich wollte es nicht wissen. Wollte die nächste Frage nicht stellen. Aber ich musste wissen, was er Amber angetan hatte. »Was haben Sie gegessen, dass Sie Zombies machen können?«

»Oh, sie ist kein Zombie«, erklärte er mir. »Ich habe dreihundert Jahre alte Zombies gesehen, die fast so frisch wirkten wie eine einen Tag alte Leiche. Sie werden in ihren Familien vererbt wie die Kostbarkeiten, die sie auch sind. Ich fürchte, ich werde Ambers Leiche in einer Woche oder so beseitigen müssen, es sei denn, ich packe sie in den Tiefkühlschrank. Aber Hexen brauchen Wissen genauso sehr wie Macht – und sie machen mehr Ärger, als sie wert sind. Nein. Das ist etwas, was ich von Carson gelernt habe – ich gehe davon aus, dass Catherine oder John dir von Carson erzählt haben. Interessant, dass ein Mord ihm die Fähigkeit genommen hat, irgendetwas mit seiner Macht anzufangen, während ich – dem du einfach glauben musst, wenn er dir versichert, dass er viel Schlimmeres getan hat als einen Raubmord – keine Probleme damit hatte, das zu verwenden, was ich ihm nahm. Vielleicht war sein Problem psychosomatisch, denkst du nicht auch?«

»Sie haben mir gesagt, wie Sie Catherine und John halten«, sagte ich. »Wie halten Sie Amber?«

Er lächelte Chad an, der so weit von seinem Vater entfernt stand wie nur möglich. Er sah zerbrechlich aus und verängstigt. »Sie ist geblieben, um ihren Sohn zu beschützen.« Er schaute wieder zu mir. »Noch irgendwelche Fragen?«

»Nicht im Moment.«

»Wunderbar – oh, und ich habe dafür gesorgt, dass John nicht allzu bald wiederkommt, um dich zu besuchen. Und Catherine sollte ich meiner Meinung nach auch besser fernhalten.« Er schloss sanft die Tür hinter sich und die Treppe knarrte unter seinen Schritten, als er ging.

Als er weg war, fragte ich: »Eichendryad, weißt du, wann die Sonne untergeht?«

Der Mann aus dem Feenvolk, der wieder einmal auf dem Boden seines Käfigs lag, drehte seinen Kopf zu mir. »Ja.«

»Wirst du es mir sagen?«

Es folgte ein langes Schweigen. »Ich werde es dir sagen.«

Corban stolperte einen Schritt nach vorne und schwankte ein wenig, während er schnell blinzelte. Blackwood hatte ihn freigegeben.

Er holte zittrig Luft, dann drehte er sich schnell zu Chad um und fing an, zu gestikulieren.

»Ich weiß nicht, wie viel Chad von dem mitbekommen hat, was passiert ist … zu viel. Zu viel. Aber Unwissen könnte ihn umbringen.«

Ich brauchte eine Sekunde, um zu verstehen, dass er mit mir sprach – sein gesamter Körper schien auf seinen Sohn konzentriert. Als er fertig war, begann Chad – der immer noch großen Abstand zu ihm hielt – damit, in Zeichensprache zu antworten.

Während er die Hände seines Sohnes beobachtete, fragte Corban mich: »Wie viel weißt du über Vampire? Haben wir irgendeine Chance, hier rauszukommen?«

»Mercy wird mir diese Erntezeit meine Freiheit geben«, sagte der Eichendryad rau. Diesmal auf Englisch.

»Werde ich, wenn ich kann«, erklärte ich ihm. »Aber ich weiß nicht, ob es passieren wird.«

»Die Eiche hat es mir gesagt«, erklärte er, als würde es dadurch so real, als wäre es schon passiert. »Sie ist kein besonders alter Baum, aber sie war wirklich wütend auf den Vampir, also hat sie sich angestrengt. Ich hoffe, sie hat sich nicht … dauerhaftenschadenangetan.« Seine Worte fielen übereinander und die Konsonanten wurden undeutlich. Er drehte den Kopf weg und seufzte erschöpft.

»Sind Eichen so vertrauenswürdig?«, fragte ich.

»Sie waren es einmal«, antwortete er. »Einst.«

Als er sonst nichts mehr sagte, berichtete ich Corban das Wichtigste über das Monster, das uns gefangen hielt. »Du kannst einen Vampir mit einem hölzernen Pfahl durchs Herz töten, ihn in Weihwasser ertränken – was unpraktisch ist, außer man besitzt einen Swimmingpool und hat gerade einen Priester zur Hand, der ihn weiht –, durch direktes Sonnenlicht oder durch Feuer. Mir wurde gesagt, dass es besser ist, ein paar der Methoden zu kombinieren.«

»Was ist mit Knoblauch?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Obwohl ein Vampir mir gesagt hat, dass er bei einer Wahl zwischen einem Opfer, das nach Knoblauch riecht, und einem, bei dem es nicht so ist, das wählt, das nicht riecht. Nicht dass wir Zugang zu Knoblauch oder hölzernen Pfählen hätten.«

»Ich wusste das mit dem Sonnenlicht – wer nicht. Aber das scheint Blackwood nicht zu stören.«

Ich nickte in Richtung Dryad. »Anscheinend ist er fähig, ein paar der Fähigkeiten derjenigen zu stehlen, von denen er trinkt.« Auf keinen Fall würde ich über Blutaustausch reden, während Chad zusah. »Eichendryaden wie dieser Gentleman hier ernähren sich von Sonnenlicht – also hat Blackwood eine Immunität gegen die Sonne gewonnen.«

»Und Blut«, sagte der Mann des Feenvolkes. »In den alten Tagen gab man uns Blutopfer, um die Bäume glücklich zu halten.« Er seufzte. »Dadurch, dass er mir Blut gibt, hält er mich am Leben, da diese Zelle aus kaltem Eisen mich sonst töten würde.«

Dreiundneunzig Jahre ein Gefangener von Blackwood. Der Gedanke dämpfte den Optimismus, der die Fahrt von den Tri-Cities hierher überlebt hatte. Der Eichendryad war allerdings nicht der Gefährte eines Werwolfes – oder an einen Vampir gebunden.

»Hast du je einen getötet?«, fragte der Eichenmann.

Ich nickte. »Einen mit Hilfe und einen anderen, der dadurch behindert war, dass es Tag war und er schlief.«

Ich ging nicht davon aus, dass das die Antwort war, die er erwartet hatte.

»Aha. Glaubst du, du kannst diesen töten?«

Ich drehte mich bewusst um und schaute die Käfiggitter an. »Ich scheine mich dabei nicht so gut anzustellen. Kein Pfahl, kein Schwimmbad voller Weihwasser, kein Feuer –« Und jetzt, wo ich das gesagt hatte, fiel mir auf, dass es hier sehr wenig brennbares Material gab. Chads Matratzen, unsere Kleidung … und das war’s auch schon.

»Und mich kannst du auch als etwas vermerken, was nicht helfen wird«, sagte Corban bitter. »Ich konnte mich nicht mal davon abhalten, dich zu kidnappen.«

»Dieser Taser war eine von Blackwoods Entwicklungen?«

»Kein Taser – Taser ist ein Markenname. Blackwood verkauft seinen Elektroschocker an … gewisse Regierungsbehörden, die Gefangene befragen wollen, ohne dass sie hinterher Spuren aufweisen. Er ist um einiges stärker als alles, was Taser herstellt. Nicht legal auf dem zivilen Markt, aber …« Er klang stolz darauf – stolz und glatt, als würde er das Produkt auf einer Verkaufsveranstaltung vorstellen. Dann unterbrach er sich und sagte einfach: »Es tut mir leid.«

»Nicht dein Fehler.« Dann schaute ich zu Chad, der immer noch völlig verängstigt aussah. »Hey, warum übersetzt du nicht eine Weile für mich.«

»Okay.« Corban schaute ebenfalls zu seinem Sohn. »Lass mich ihm sagen, was ich tue.« Er wedelte mit den Händen, dann sagte er: »Los.«

»Blackwood ist ein Vampir«, erklärte ich Chad. »Das heißt, dass dein Vater nicht anders kann, als Blackwoods Befehle zu befolgen – das ist Teil von dem, was ein Vampir tut. Ich bin ein wenig besser geschützt, aus demselben Grund, aus dem ich Geister sehen und mit ihnen reden kann. Das ist der einzige Grund, warum er mir nicht dasselbe angetan hat … bis jetzt. Du wirst allerdings wissen, wann dein Vater kontrolliert wird. Blackwood mag es nicht, wenn dein Vater in Zeichensprache mit dir redet – er kann sie nicht verstehen. Also ist das ein Zeichen, nach dem du Ausschau halten musst: wenn dein Vater nicht mit dir spricht. Und dein Vater kämpft gegen seine Kontrolle, das kannst du an seinen Schulter sehen …«

Ich brach ab, weil Chad angefangen hatte, wild zu gestikulieren, seine Fingerbewegungen übertrieben. Sein Pendant zu Schreien, nahm ich an.

Corban übersetzte nicht, was Chad sagte, sondern antwortete sehr langsam, so dass seine Bewegungen nicht missverstanden werden konnten, während er gleichzeitig auch alles laut aussprach. »Natürlich bin ich dein Vater. Ich habe dich am Tag deiner Geburt in den Armen gehalten und habe im Krankenhaus Wache gehalten, als du am nächsten Tag fast gestorben wärst. Ich habe mir das Recht verdient, dein Vater zu sein. Blackwood will, dass du allein bist und Angst hast. Er ist ein Tyrann und ernährt sich genauso sehr von Unglück wie von Blut. Lass ihn nicht gewinnen.«

Chad fiel erst die Kinnlade nach unten, aber bevor ich seine Tränen sehen konnte, hatte er sein Gesicht bereits in Corbans Brust vergraben.

Es war nicht der beste Zeitpunkt für Amber, in den Raum zu kommen.

»Oben ist es heiß«, verkündete sie. »Ich soll hier unten bei euch schlafen.«

»Hast du den Schlüssel?«, fragte ich. Nicht dass ich erwartete, dass Blackwood das vergessen hatte. Überwiegend wollte ich nur ihre Aufmerksamkeit auf mich ziehen und Chad, der sie nicht bemerkt hatte, seinen Moment mit seinem Dad schenken.

Sie lachte. »Nein, Dummerchen. Jim war nicht besonders zufrieden mit dir – ich werde dir nicht dabei helfen, zu entkommen. Ich werde einfach hier draußen schlafen. Mir wird es gutgehen hier. Genau wie Camping.«

»Komm her«, sagte ich. Ich wusste nicht, ob es funktionieren würde. Ich wusste überhaupt nichts.

Aber sie kam. Ich wusste nicht, ob sie gezwungen war, oder einfach nur meiner Aufforderung folgte.

»Was brauchst du?« Sie blieb eine Armeslänge von mir entfernt stehen.

Ich schob meinen Arm durch die Gitter und streckte eine Hand aus. Sie schaute sie einen Moment an, dann ergriff sie sie.

»Amber«, sagte ich feierlich und sah ihr direkt in die Augen. »Chad wird in Sicherheit sein. Ich verspreche es.«

Sie nickte ernst. »Ich werde mich um ihn kümmern.«

»Nein.« Ich schluckte schwer, dann legte ich Autorität in meine Stimme. »Du bist tot, Amber.« Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Ich verengte in meiner besten Adam-Imitation die Augen. »Glaub mir.«

Erst erhellte sich ihr Gesicht in diesem schrecklich falschen Lächeln und dann setzte sie dazu an, etwas zu sagen. Sie schaute auf meine Hand, dann zu Corban und Chad – die sie beide noch nicht bemerkt hatten.

»Du bist tot«, erklärte ich ihr wieder.

Sie fiel dort in sich zusammen, wo sie stand. Es war nicht elegant oder sanft. Ihr Kopf knallte mit einem hohlen Geräusch auf den Boden.

»Kann er sie zurückholen?«, fragte Corban drängend.

Ich kniete mich hin und schloss ihre Augen. »Nein«, antwortete ich ihm mit größerer Überzeugung, als ich wirklich spürte. Wer wusste schon, was Blackwood konnte. Aber ihr Ehemann brauchte den Glauben daran, dass es für sie vorbei war. Und auf jeden Fall wäre es nicht Amber, die in ihrem Körper wandelte. Amber war fort.

»Danke«, sagte er mit Tränen in den Augen. Er wischte sich über das Gesicht und tippte Chad auf die Schulter.

»Hey, Kid«, sagte er und trat einen Schritt zur Seite, sodass Chad Ambers Leiche sehen konnte. Dann sprachen sie eine lange Zeit. Corban spielte den Starken und schenkte seinem Sohn zumindest noch einen Tag, an dem er an die Superman-Fähigkeiten seines Vaters glauben konnte.

Wir alle schliefen so weit von Ambers Leiche entfernt wie möglich. Sie schoben das Bett nah an meine Zelle heran und die beiden schliefen darauf und ich auf dem Boden neben ihnen. Chad streckte den Arm durch die Gitter und legte eine Hand auf meine Schulter. Der Zellenboden hätte ein Nagelbrett sein können; ich hätte trotzdem geschlafen.

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»Mercy?«

Die Stimme war mir fremd – aber das war auch der Betonboden unter meiner Wange. Ich bewegte mich und bereute es sofort. Mir tat alles weh.

»Mercy, es ist Nacht und Blackwood wird bald hier sein.«

Ich setzte mich auf und schaute durch den Raum auf den Eichendryad. »Guten Abend.« Ich benutzte nicht seinen Namen. Ein paar aus dem Feenvolk können in Bezug auf Namen seltsam sein, und die Art, wie Blackwood ihn übermäßig oft benutzt hatte, ließ mich glauben, dass der Eichendryad einer von ihnen war. Ich konnte ihm nicht danken, und ich suchte nach einem Weg, um anzuerkennen, dass er meinem Wunsch gefolgt war, aber mir fiel nichts ein.

»Ich werde etwas probieren«, sagte ich schließlich. Ich schloss meine Augen und rief Stefan. Als ich das Gefühl hatte, dass ich getan hatte, was ich konnte, öffnete ich die Augen und rieb mir den schmerzenden Nacken.

»Was versuchst du?«, fragte Corban.

»Ich kann es dir nicht sagen«, entschuldigte ich mich. »Es tut mir wirklich leid. Aber Blackwood darf es nicht wissen – und ich bin mir nicht sicher, ob es geklappt hat.« Aber ich hatte so ein Gefühl. Ich hatte Stefan nie so spüren können, wie es bei Adam der Fall war. Wenn es Blackwood noch nicht gelungen war, mich zu übernehmen … noch nicht … sollte das heißen, dass Stefan mich noch hören konnte. Hoffte ich.

Ich versuchte auch, Adam zu berühren. Aber ich konnte weder ihn noch das Rudel fühlen. Das war wahrscheinlich auch gut so. Blackwood hatte gesagt, dass er bereit war für Werwölfe, und ich glaubte ihm.

Blackwood kam nicht nach unten. Wir alle bemühten uns, Amber nicht zu beachten, und ich war froh über die Kälte im Keller. Die Geister tauchten auch nicht auf. Wir redeten über Vampire, bis ich ihnen alles Allgemeine erzählt hatte, was ich wusste – nur nannte ich keine Namen.

Stefan kam ebenfalls nicht.

Nach Stunden der Langeweile unterbrochen von ein paar Minuten Peinlichkeit, wenn einer von uns die Eimer benutzen musste, versuchte ich wieder zu schlafen. Ich träumte von Schafen. Jeder Menge Schafen.

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Irgendwann mitten in der Nacht begann ich zu bereuen, dass ich Ambers Abendessen nicht gegessen hatte. Aber schlimmer als der Hunger war der Durst. Der Wanderstab des Feenvolkes tauchte einmal auf, und ich sagte ihm, er solle verschwinden und sich in Sicherheit bringen. Ich sprach leise, damit niemand es bemerkte. Als ich wieder in die Ecke schaute, in der er gestanden hatte, war er verschwunden.

Chad brachte mir und dem Eichendryaden bei, wie man in Zeichensprache flucht, und arbeitete mit uns, bis wir ziemlich gut im Fingeralphabet waren. Meine Hände taten hinterher weh, aber ihm gab es etwas zu tun.

Wir wussten, dass Blackwood uns wieder seine Aufmerksamkeit zugewandt hatte, als Corban mitten im Satz plötzlich aufhörte zu sprechen. Nach ein paar Minuten drehte er den Kopf und Blackwood öffnete die Tür.

Der Vampir sah mich missbilligend an. »Und wo, denkst du, soll ich eine neue Köchin für dich finden?« Er schaffte die Leiche weg und kehrte ein paar Stunden danach mit Äpfeln, Orangen und Wasserflaschen zurück – und warf alles gleichgültig durch die Gitterstäbe.

Seine Hände rochen nach Amber, Verwesung und Erde. Ich ging davon aus, dass er sie irgendwo begraben hatte.

Er nahm Corban mit sich nach oben. Als Chads Vater stolpernd zurückkehrte, war er schwach und hatte ein neues Bissmal am Hals.

»Mein Freund ist besser als Sie«, sagte ich frech, weil Blackwood an der offenen Käfigtür angehalten hatte und nachdenklich Chad ansah. »Er hinterlässt keine großen Verletzungen.«

Der Vampir knallte die Tür zu, verschloss sie und verstaute den Schlüssel in einer Hosentasche. »Wann immer du deinen Mund öffnest«, antwortete er, »wundert es mich, dass der Marrok dir nicht schon vor Jahren den Hals umgedreht hat.« Er lächelte ein wenig. »Gut. Nachdem du der Grund für meinen Hunger bist, darfst du ihn stillen.«

Der Grund für seinen Hunger … als ich Amber aus ihrem toten Körper befreit hatte, musste ich ihn damit verletzt haben. Gut. Jetzt musste ich ihn nur noch dazu bringen, jede Menge neue Zombies zu machen, oder wie auch immer er es nennen wollte. Dann konnte ich sie auch vernichten. Das würde ihn vielleicht genug schwächen, dass wir ihn überwältigen konnten. Allerdings bestand das gerade verfügbare Zombiematerial aus uns.

Er öffnete meine Käfigtür und ich musste mich schwer auf die Gegenwart konzentrieren, um nicht in Panik zu verfallen. Ich kämpfte gegen ihn. Ich ging nicht davon aus, dass er das erwartet hatte.

Jahrelanges Karatetraining hatte meine Reflexe vervollkommnet, und ich war schneller, als es ein Mensch gewesen wäre. Aber ich war schwach – ein Apfel am Tag mochte ja den Doktor fernhalten, aber es ist nicht, per definitionem, die beste Ernährung für volle Leistungsfähigkeit. Nach einer Zeitspanne, die für mein Selbstbewusstsein zu kurz war, hatte er mich festgenagelt.

Diesmal ließ er mich bei Bewusstsein, während er mich biss. Es tat die ganze Zeit weh; entweder eine weitere Bestrafung, oder Stefans Bisse bereiteten ihm Probleme – ich wusste nicht genug, um den Unterschied zu erkennen. Als er versuchte, mich im Gegenzug zu nähren, kämpfte ich so hart ich konnte, bis er schließlich mein Kinn packte und meinen Blick zu seinem zwang.

Ich wachte am anderen Ende des Käfigs auf. Blackwood war weg. Chad machte Lärm, um meine Aufmerksamkeit zu erregen. Ich erhob mich auf Hände und Knie. Als klar wurde, dass ich nicht viel höher kommen würde, setzte ich mich, statt auch nur zu versuchen, aufzustehen. Chad hörte auf, diese traurigen, verzweifelten Geräusche von sich zu geben. Ich machte das Zeichen, das er mir für das F-Wort beigebracht hatte, und buchstabierte langsam und sehr ungeschickt mit den Fingern: »Das war’s. Schluss mit nettes Mädchen. Das nächste Mal skalpiere ich ihn.«

Das brachte den Hauch eines Lächelns auf sein Gesicht. Corban saß in der Mitte ihres Käfigs und starrte auf einen Fleck auf dem Beton.

»Also, Eichendryad«, sagte ich müde. »Ist es Tag oder Nachtzeit?«

Bevor er mir antworten konnte, war Stefan in meinem Käfig. Ich blinzelte ihn dumm an. Ich hatte ihn aufgegeben, aber das war mir nicht klar gewesen, bevor er auftauchte. Zögernd streckte ich die Hand aus und berührte seinen Arm, um sicherzustellen, dass er real war.

Er tätschelte meine Hand und schaute kurz nach oben, als könnte er durch die Decke in das Geschoss darüber sehen. »Er weiß, dass ich hier bin. Mercy – »

»Du musst Chad mitnehmen«, erklärte ich ihm drängend.

»Chad?« Stefan folgte meinem Blick und versteifte sich. Er setzte zu einem Kopfschütteln an.

»Blackwood hat seine Mutter umgebracht – aber er hat sie als Zombie behalten, damit sie seine Aufgaben erledigt, bis ich sie ganz getötet habe. Chad muss in Sicherheit gebracht werden.«

Er starrte den Jungen an, der zurückstarrte. »Wenn ich ihn mitnehme, kann ich für ein paar Nächte nicht zurückkommen. Ich werde bewusstlos sein, und niemand weiß, wo du bist, außer mir – und Marsilia.« Er presste ihren Namen hervor, als wäre er immer noch nicht wieder im Reinen mit ihr. »Und sie würde keinen Finger krümmen, um dir zu helfen.«

»Ich kann ein paar Nächte überleben«, erklärte ich ihm voller Überzeugung.

Stefan ballte die Fäuste. »Wenn ich es tue«, meinte er heftig, »wenn ich das tue und du es überlebst – dann verzeihst du mir die anderen.«

»Ja«, antwortete ich. »Schaff Chad hier raus.«

Er war verschwunden, dann erschien er wieder neben Chad. Er setzte an, in Zeichensprache etwas zu sagen – aber wir hörten beide, wie Blackwood die Treppe herunterraste.

»Zu Adam oder Samuel«, sagte ich drängend.

»Ja. Bleib am Leben.«

Er wartete, bis ich nickte, dann verschwand er mit Chad.

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Blackwood war über Stefans Anwesenheit in seinem Haus wütender als über Chads Flucht. Er tobte und raste, und wenn er mich weiter schlagen sollte, war ich mir nicht sicher, ob ich mein Versprechen an Stefan halten konnte.

Offensichtlich kam er zu demselben Schluss. Er stand über mir und schaute auf mich herab. »Es gibt Wege, andere Vampire aus meinem Haus fernzuhalten. Aber sie sind anstrengend, und ich nehme an, dass dein Freund Corban meinen Durst nicht überleben wird.« Er beugte sich vor.

»Ah, jetzt hast du Angst. Gut.« Er sog die Luft ein wie ein Weinkenner, der an einem besonders guten Jahrgang schnuppert.

Dann ging er.

Ich rollte mich auf dem Boden zusammen und umarmte in meinem Elend mich selbst – und den Feenvolk-Wanderstab. Der Eichendryad bewegte sich.

»Mercy, was ist es, was du da hältst?«

Ich hob eine Hand und wedelte den Stab leicht durch die Luft, damit er ihn sehen konnte. Es tat nicht so weh, wie ich gedacht hätte.

Es folgte ein kurzes Schweigen, dann fragte der Eichendryad ehrfürchtig: »Wie kommt es, dass dies hier ist?«

»Es ist nicht mein Fehler«, erklärte ich ihm. Es dauerte einen Moment, bis ich mich aufgesetzt hatte … und mir ging auf, dass Blackwood sich um einiges besser unter Kontrolle gehabt hatte, als ich gedacht hatte, denn es war nichts gebrochen. Es gab kaum einen Teil von mir, an dem ich keine Prellungen hatte – aber keine Brüche war gut.

»Was meinst du?«, fragte der Dryad.

»Ich habe versucht, ihn zurückzugeben«, erklärte ich ihm, »aber er taucht immer wieder auf. Ich habe ihm gesagt, dass das hier kein guter Ort für ihn ist, aber dann verschwindet er für eine Weile und kommt wieder zurück.«

»Mit Verlaub«, sagte er förmlich, »darf ich ihn sehen?«

»Sicher«, sagte ich und versuchte, den Stab zu ihm zu werfen. Ich hätte es können sollen. Der Abstand zwischen unseren Käfigen betrug weniger als drei Meter, aber die … Prellungen machten es schwieriger als sonst.

Er landete auf dem Boden in der Mitte zwischen uns. Aber als ich ihn entsetzt anstarrte, rollte er zu mir zurück und hielt nicht an, bis er die Käfiggitter berührte.

Beim dritten Wurf fing der Eichendryad ihn aus der Luft.

»Ah, Lugh, du hast so schöne Arbeit geleistet«, flötete er und streichelte das Ding. Er legte seine Wange dagegen. »Er folgt dir, weil er dir Dienst schuldet, Mercy.« Er lächelte, was Linien und Fältchen in seinem dunkel-holzfarbenen Gesicht erzeugte und seine schwarzen Augen zu Purpur erhellte. »Und weil er dich mag.«

Ich setzte dazu an, etwas zu sagen, aber ein Aufbranden von Magie unterbrach mich.

Das Lächeln des Eichendryaden verschwand. »Brownie-Magie«, sagte er. »Blackwood versucht, die anderen Vampire auszuschließen. Die Brownie gehörte ihm vor mir, und sie hat ihre Erlösung erst letztes Frühjahr gefunden. Seine Macht über ihre Magie ist noch fast komplett.« Er schaute zu Corban. »Die Magie, die er wirkt, wird ihn hungrig zurücklassen.«

Es gab eine Sache, die ich tun konnte – aber das hieß, mein Wort gegenüber Stefan zu brechen. Doch ich konnte nicht kampflos zulassen, dass Blackwood Corban tötete.

Ich zog mir die Kleidung aus und verwandelte mich. Die Gitter meines Käfigs standen eng. Aber, hoffte ich, nicht zu eng.

Kojoten sind schmal. Sehr schmal. Überall, wo ich meinen Kopf durchbekomme, bekomme ich auch den Rest durch. Als ich außerhalb meines Käfigs stand, schüttelte ich mein Fell zurecht und beobachtete, wie sich die Tür öffnete.

Blackwood hielt nicht nach mir Ausschau, sondern nach Corban. Also gehörte mir der erste Angriff.

Schnelligkeit ist die eine körperliche Stärke, die ich habe. Ich bin so schnell wie die meisten Werwölfe – und von dem, was ich gesehen hatte, auch wie die meisten Vampire.

Ich hätte geschwächt sein sollen und ein wenig langsam, wegen der Verletzungen, die Blackwood mir zugefügt hatte – und wegen des Nahrungsmangels und weil ich den Vampir genährt hatte. Doch der Blutaustausch mit einem Vampir kann noch andere Auswirkungen haben. Das hatte ich vergessen. Es machte mich stark.

Ich wünschte mir inbrünstig, ich würde an die hundert Kilo wiegen und nicht nur ungefähr fünfzehn. Ich wünschte mir längere Reißzähne und schärfere Krallen – denn ich konnte nur oberflächlichen Schaden anrichten, der fast sofort wieder heilte.

Er packte mich mit beiden Händen und schleuderte mich gegen die Betonwand. Es schien mir, als flöge ich in Zeitlupe. Ich hatte die Zeit, mich zu drehen und mit den Füßen zu landen statt mit der Seite, wie er es geplant hatte. Und ich hatte sogar die Kraft, mich unverletzt wegzukatapultieren und sofort den nächsten Angriff zu starten.

Dieses Mal hatte ich allerdings nicht das Überraschungsmoment auf meiner Seite. Wäre ich vor ihm weggelaufen, hätte er mich nicht fangen können. Aber auf so engem Raum verlor der Vorteil meiner größeren Schnelligkeit gegen den Nachteil meiner Größe. Ich hatte ihn einmal verletzt, meine Reißzähne in seine Schulter versenkt, aber ich wollte töten –, und es gab einfach keinen Weg, wie ein Kojote – egal wie schnell oder stark – einen Vampir umbringen konnte.

Ich sprang zurück und suchte nach einer Öffnung … da fiel er mit dem Gesicht nach vorne auf den Betonboden. In seinem Rücken steckte, wie eine Siegesfahne, der Wanderstab.

»Einst war ich ein passabler Speerwerfer«, sagte der Eichendryad. »Und Lugh war noch besser. Nichts baute er je, was nicht im Notfall ein Speer werden konnte.«

Hechelnd starrte ich ihn an, dann zu Blackwood. Der sich bewegte.

Ich verwandelte mich zurück in einen Menschen, weil ich auf diese Art besser mit Türen zurechtkam. Dann rannte ich in die Küche, wo ich hoffentlich ein Messer finden konnte, das groß genug war, um Knochen zu durchtrennen.

In dem großen Messerblock neben der Spüle gab es sowohl ein Metzgermesser als auch ein zweites großes Kochmesser. Ich griff mir mit jeder Hand eines und rannte die Treppe hinunter.

Die Tür war geschlossen und der Knauf wollte sich nicht drehen lassen. »Lass mich rein«, befahl ich mit einer Stimme, die ich kaum als meine eigene erkannte.

»Nein. Nein«, erklang Johns Stimme. »Du kannst ihn nicht töten. Ich werde allein sein.«

Aber die Tür öffnete sich, und das war alles, was mir wichtig war.

Ich konnte John nicht sehen, aber Catherine kniete neben Blackwood. Sie warf mir einen bösen Blick zu, aber mehr Beachtung schenkte sie dem sterbenden (das hoffte ich zumindest inständig) Vampir.

»Lass mich trinken, Lieber«, flötete sie ihm zu. »Lass mich trinken, dann werde ich mich für dich um sie kümmern.«

Er schaute mich an, während er versuchte, seine Arme unter sich herauszuziehen. »Trink«, sagte er. Dann lächelte er in meine Richtung.

Mit einem Triumphgeheul neigte sie den Kopf.

Sie trank immer noch, als das Fleischermesser durch ihren körperlosen Kopf glitt und sauber Blackwoods Hals durchtrennte. Eine Axt wäre besser gewesen, aber mit der Stärke, die noch in meinen Armen war, erledigte auch das Fleischermesser die Aufgabe. Ein zweiter Schnitt trennte den Kopf ganz ab.

Sein Kopf berührte meine Zehen und ich wich zurück. Mit einem Messer in jeder Hand blieb mir keine Zeit, Triumph oder Übelkeit zu fühlen wegen dem, was ich getan hatte. Nicht mit einer jetzt sehr soliden Catherine, die nur knapp zwei Meter vor mir ihr großmütterliches Lächeln aufsetzte.

Ihr Lächeln wurde noch breiter, ihr Mund verschmiert mit Blackwoods Blut. »Stirb«, sagte sie und streckte die Hand aus.

Letztes Jahr hat Sensei ein halbes Jahr für den Kampf mit dem Sai verwendet, der traditionellen, dolchähnlichen Waffe aus Okinawa. Die Messer waren nicht so gut ausbalanciert, aber sie reichten aus. Ich machte ein Gemetzel daraus – und das gelang mir nur, indem ich mich angestrengt im Hier und Jetzt hielt. Der Boden, die Wände und ich waren schnell blutüberströmt. Und sie war nicht tot … oder vielmehr, sie war schon tot. Die Messer hielten sie von mir fern, aber keine der Wunden schien irgendeinen Effekt zu haben.

»Wirf mir den Stab zu«, sagte der Eichendryad leise.

Ich ließ das Küchenmesser fallen und griff mit der freien Hand nach dem Wanderstab. Er glitt so leicht aus Blackwoods Rücken, als wolle er in erster Linie nicht dort sein. Für einen Moment hatte ich das Gefühl, dass sein Ende eine scharfe Spitze hatte, aber meine Aufmerksamkeit war überwiegend auf Catherine gerichtet und ich konnte mir nicht sicher sein.

Ich warf ihn zu dem Eichenmann und trieb Catherine von Corbans Käfig weg. Er war in dem Moment, als ich Blackwoods Kopf abgetrennt hatte, in einer Bewegung in sich zusammengefallen, die ein wenig dem Sturz von Ambers Zombie ähnelte. Ich hoffte, dass er nicht tot war – aber falls doch, gab es nichts, was ich dagegen tun konnte.

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie der Eichenmann den blutverschmierten Stab mit einer Zunge ableckte, die mindestens zwanzig Zentimeter lang war. »Das Blut des Todes ist das Beste«, erklärte er mir. Und dann warf er den Stab gegen die Außenwand und sagte ein Wort …

Die Explosion riss mich von den Füßen und ich fiel auf Blackwoods Leiche. Etwas schlug gegen meinen Hinterkopf.

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Ich starrte auf den Sonnenstrahl, der meine Hand erleuchtete. Es kostete mich einen Moment, um zu verstehen, dass das Ding, das mich getroffen hatte, mich bewusstlos geschlagen hatte. Eine dicke Schicht Asche lag unter meiner Hand, und ich riss sie zurück. In der Asche begraben lag ein Schlüssel. Es war ein hübscher Schlüssel, einer von diesen verzierten alten Schlüsseln. Ich brauchte all meine Willenskraft, um meine Hand wieder in das zu stecken, was einmal Blackwood gewesen war, und ihn hochzuheben. Mein gesamter Körper vom Kopf bis zu den Zehenspitzen tat weh, aber die Prellungen, die der Vampir mir verpasst hatte, nachdem Chad entkommen war, waren überwiegend verschwunden. Und die anderen verschwanden, während ich zusah.

Ich wollte darüber nicht genauer nachdenken.

Der Eichendryad hatte eine Hand durch die Gitter gesteckt, aber er hatte es nicht geschafft, das Sonnenlicht zu erreichen, das durch das Loch, das er in die Wand gesprengt hatte, in den Keller fiel. Seine Augen waren geschlossen.

Ich öffnete den Käfig, aber er bewegte sich nicht. Ich musste ihn rausziehen. Ich achtete nicht darauf, ob er atmete oder nicht. Oder versuchte zumindest angestrengt, es nicht zu tun. War doch egal, wenn nicht, dachte ich. Das Feenvolk ist sehr schwer zu töten.

»Mercy?« Das war Corban.

Ich starrte ihn einen Moment an, in dem Versuch, herauszufinden, was ich als Nächstes tun sollte.

»Könntest du meine Tür aufschließen?« Seine Stimme war leise und sanft. Die Art von Stimme, die man bei einer Verrückten verwendet.

Ich schaute an mir herunter und stellte fest, dass ich nackt und von oben bis unten mit Blut bedeckt war. Das Metzgermesser hielt ich immer noch in der linken Hand. Meine Hand war völlig darum verkrampft und ich musste mich anstrengen, um es fallen zu lassen.

Der Schlüssel öffnete auch Corbans Tür.

»Chad ist bei Freunden von mir«, erklärte ich ihm. Ich lallte ein wenig und erkannte, dass ich einen leichten Schock hatte. Diese Erkenntnis half mir ein wenig, und deswegen war meine Stimme etwas klarer, als ich weitersprach: »Die Art von Freunden, die vielleicht fähig sind, einen Jungen vor amoklaufenden Vampiren zu beschützen.«

»Danke. Du warst sehr lange bewusstlos. Wie fühlst du dich?«

Ich schenkte ihm ein müdes Lächeln. »Ich habe Kopfweh.«

»Lass uns dich saubermachen.«

Er führte mich die Treppen hinauf. Ich dachte nicht daran, dass ich meine Kleider hätte mitbringen sollen, bis ich allein in einem riesigen, gold-schwarzen Badezimmer stand. Ich drehte die Dusche auf.

»John«, sagte ich. Ich machte mir nicht die Mühe, aufzuschauen, weil ich ihn fühlen konnte. »Du wirst nie wieder jemandem Schaden zufügen.« Ich fühlte den leichten Druck der Magie, der mir verriet, dass, was auch immer ich Geistern antun konnte, bei ihm funktioniert hatte. Also fügte ich noch hinzu: »Und verschwinde aus diesem Bad.«

Ich schrubbte mich, bis ich fast wund war, und wickelte mich dann in ein Handtuch, das groß genug war, um dreimal um mich zu passen. Als ich herauskam, wanderte Corban den Flur vor dem Bad auf und ab.

»Wen ruft man bei so etwas an?«, fragte er. »Es sieht nicht gut aus. Blackwood wird vermisst; Amber ist tot – wahrscheinlich im Garten verscharrt. Ich bin Rechtsanwalt, und wäre ich mein eigener Klient, würde ich mir raten, einen Prozess zu vermeiden, auf schuldig zu plädieren und die deswegen eventuell verkürzte Strafe abzusitzen.«

Er hatte Angst.

Endlich ging mir auf, dass wir überlebt hatten. Blackwood und sein großmütterlich freundlicher Geist waren vernichtet. Oder zumindest hoffte ich, dass sie vernichtet war. Im Keller gab es keinen zweiten Aschehaufen.

»Hast du den anderen Vampir bemerkt?«, fragte ich.

Er warf mir einen verständnislosen Blick zu. »Anderer Vampir?«

»Ist egal«, meinte ich. »Ich nehme an, dass das Sonnenlicht sie getötet hat.«

In einer Ecke des Wohnzimmers fand ich das Telefon. Ich wählte Adams Handynummer.

»Hey«, sagte ich. Es klang, als hätte ich die ganze Nacht Zigarren geraucht.

»Mercy?« Und ich wusste, dass ich in Sicherheit war.

Ich setzte mich auf den Boden. »Hey«, sagte ich wieder.

»Chad hat uns gesagt, wo du bist«, erklärte er mir. »Wir sind in ungefähr zwanzig Minuten da.«

»Chad hat es euch gesagt?« Stefan würde immer noch bewusstlos sein, das hatte ich gewusst. Mir war nur einfach nicht eingefallen, dass Chad ihnen sagen konnte, wo wir waren. Ich Depp. Alles, was er gebraucht hätte, war ein Stück Papier.

»Chad geht es gut?«, fragte Corban drängend.

»Prima. Und er führt die Kavallerie hierher.«

»Es klingt, als würden wir nicht gebraucht«, meinte Adam.

Ich brauchte ihn.

»Blackwood ist tot.«

»Das dachte ich mir schon, nachdem du mich angerufen hast.«

»Hätte es den Eichendryad nicht gegeben, wäre es vielleicht übel gelaufen«, erzählte ich ihm. »Und ich glaube, der Eichendryad ist tot.«

»Dann soll er geehrt werden«, sagte Samuels Stimme. »Bei der Vernichtung eines der dunklen Übel zu sterben ist nicht schlimm, Mercy. Chad fragt nach seinem Vater.«

Ich wischte mir über das Gesicht und sammelte mich. »Sag Chad, es geht ihm gut. Es geht uns beiden gut.« Ich sah den blauen Flecken auf meinen Beinen beim Verblassen zu. »Könntet ihr … könntet ihr für mich an einem Spielzeuggeschäft anhalten und ein gelbes Spielzeugauto kaufen? Und es mitbringen, wenn ihr herkommt?«

Es folgte ein kurzes Schweigen. »Ein gelbes Spielzeugauto?« , fragte Adam.

»Richtig.« Dann fiel mir noch etwas anderes ein. »Adam, Corban macht sich Sorgen, dass die Polizei denken könnte, er hätte Amber umgebracht – und vielleicht auch Blackwood, obwohl es da keine Leiche gibt.«

»Vertrau mir«, antwortete Adam. »Wir werden es für alle in Ordnung bringen.«

»In Ordnung. Danke dir.« Und dann dachte ich noch ein wenig nach. »Die Vampire werden wollen, dass Chad und Corban verschwinden. Sie wissen zu viel.«

»Du, Stefan und das Rudel sind die Einzigen, die das wissen. Dem Rudel ist es egal, und Stefan wird sie nicht verraten.«

»Hey«, sagte ich unbeschwert – und drückte den Hörer an mein Gesicht, bis es fast wehtat. »Ich liebe dich.«

»Ich komme.«

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Ich ließ Corban im Wohnzimmer sitzen und ging zögernd wieder nach unten. Ich wollte nicht sicher wissen, dass der Eichendryad tot war. Ich wollte nicht Catherine entgegentreten, sollte sie noch in der Gegend sein … und ich ging davon aus, dass sie mich getötet hätte, wenn sie gekonnt hätte. Aber ich wollte auch nicht nackt sein, wenn Adam kam.

Der Eichendryad war verschwunden. Ich entschied, dass das ein gutes Zeichen sein musste. Das Feenvolk löste sich – soweit ich wusste – nicht in Staub auf und verwehte mit dem Wind, wenn es starb. Wenn er also nicht hier war, bedeutete das, dass er gegangen war.

»Danke«, flüsterte ich, weil er nicht mehr hier war, um mich zu hören. Dann zog ich meine Kleidung an und rannte die Treppe hinauf, um zusammen mit Corban auf unsere Rettung zu warten.

Als Adam kam, hatte er das gelbe Auto dabei, um das ich ihn gebeten hatte. Es war ein Eins-zu-sechzehn-Modell eines VW-Käfer. Er beobachtete mich, als ich es aus der Packung zog, und folgte mir die Treppe nach unten. Ich stellte es auf das Bett in dem kleinen Raum, in dem ich zum ersten Mal aufgewacht war.

»Es ist für dich«, sagte ich.

Keine Antwort.

»Wirst du mir erzählen, worum es da ging?«, fragte Adam, als wir wieder oben waren.

»Irgendwann«, erklärte ich ihm. »Wenn wir uns am Lagerfeuer Geistergeschichten erzählen und ich dir Angst machen will.«

Er lächelte und legte seinen Arm enger um meine Schultern. »Lass uns nach Hause gehen.«

Ich schloss eine Hand um den Lammanhänger an meiner Kette, den ich neben dem Telefon gefunden hatte, als hätte ihn jemand dort für mich hingelegt.