e9783641086992_i0021.jpg

6

Keiner der zwei Männer, die das Haus betraten, war attraktiv. Der kleinere bekam langsam eine Glatze und an seinen plumpen Händen steckten drei dicke Goldringe. Sein Anzug war von der Stange, aber die Stange war teuer gewesen. Seine Augen waren blau, ein sehr helles Blau, fast so bleich wie Samuels Wolfsaugen. Er blieb fast scheu am Rand stehen, als der andere Mann Amber umarmte.

»Hey, Süße«, sagte Ambers Ehemann, und zu meiner Überraschung lag echte Wärme in seiner Stimme. »Danke, dass du in so kurzer Zeit ein Abendessen für uns gemacht hast.«

Corban Wharton war eher eindrucksvoll als gutaussehend. Seine Nase war zu lang für sein breites Gesicht. Seine Augen waren dunkel, standen weit auseinander – und darin lag ein Lächeln. Er hatte eine irgendwie verlässliche und beruhigende Ausstrahlung. Er war die Art von Person, die man im Gerichtssaal neben sich haben wollte. Als er mich anschaute, runzelte er kurz die Stirn, als würde er versuchen, mich einzuordnen.

»Sie müssen Mercedes Thompson sein«, sagte er dann und streckte mir die Hand entgegen.

Er hatte einen guten Händedruck, den Händedruck eines Politikers – fest und trocken.

»Nennen Sie mich Mercy, das tut jeder.«

Er nickte. »Mercy, das ist mein Freund und Klient Jim Blackwood. Jim – Mercy Thompson, eine Freundin meiner Frau, die uns diese Woche besucht.«

Jim sprach gerade mit Amber, und es dauerte einen Moment, bevor er seine Aufmerksamkeit auf mich und Corban richtete.

Jim Blackwood. James Blackwood. Wie viele James Blackwoods gab es in Spokane, fragte ich mich in dämlicher Panik. Fünf oder sechs? Aber ich wusste – und das, obwohl mich sein starkes Parfüm davon abhielt, Vampir zu riechen –, ich wusste, dass ich kein Glück haben würde.

Er würde denken, dass ich roch, als hätte ich Hunde, das hatte mir Bran versichert. Und selbst wenn er das nicht tat, selbst wenn er wusste, was ich war – ich war nur zu Besuch. Das konnte er doch nicht übelnehmen, oder?

Ich wusste es besser. Vampire konnten so gut wie alles übelnehmen, wenn ihnen der Sinn danach stand.

»Mr Blackwood«, begrüßte ich ihn, als er den Blick von Amber abwandte. Einfach halten. Ich wusste nicht, ob Vampire Lügen spüren konnten wie Werwölfe, aber ich würde nicht sagen: »Wie schön, Sie kennenzulernen«, oder etwas Ähnliches, wenn ich mich selbst gerade hundert Meilen weit weg wünschte.

Ich bemühte mich sehr, ein höfliches Lächeln auf den Lippen zu behalten, während sich in meinem Kopf dumme Gedanken überschlugen. Wie würde er mit uns essen? Vampire aßen nicht. Nicht dass ich es jemals gesehen hätte. Wie standen die Chancen dafür, dass Vampire auftauchten und es kein Plot von Marsilia war?

Es hatte sich allerdings nicht so angehört, als wäre Blackwood ein Vampir, der irgendwelchen Anweisungen folgte.

»Nennen Sie mich Jim«, meinte er, und in seiner Stimme lag eine kaum erkennbare Andeutung eines britischen Akzents. »Es tut mir leid, dass ich Ihren Besuch störe, aber wir hatten heute Nachmittag einen dringenden Termin, und Corban hat darauf bestanden, mich mit nach Hause zu bringen.«

Sein rundes Gesicht war fröhlich, und sein Handschlag war noch geübter als der von Corban. Wenn es die kleine Unterhaltung mit Bran nicht gegeben hätte, wäre ich nie draufgekommen, was er war.

»Sollen wir jetzt essen?«, schlug Amber vor, ruhig und jetzt, wo die Vorbereitungen abgeschlossen waren, völlig kontrolliert. »Es ist fertig und es wird nicht besser, wenn es noch länger steht. Ich fürchte, es ist recht einfach.«

›Einfach‹ war Pfeffersteak auf Reis, mit Salat und frischen Brötchen, gefolgt von selbstgemachtem Apfelkuchen. Irgendwie verschwand das Essen vom Teller des Vampirs. Ich sah ihn nicht einmal essen oder seinen Teller anrühren – obwohl ich ihn mit morbider Faszination aus dem Augenwinkel beobachtete. Vielleicht auch mit ein wenig Hoffnung. Hätte ich ihn auch nur einen einzigen Bissen zum Mund führen sehen, dann hätte ich glauben können, dass er genau das war, was er zu sein schien.

Ich hielt den Mund, während die Männer über das Geschäft sprachen – überwiegend Vertragssprache und steuerlich günstige Rentenpläne –, und ich war sehr glücklich darüber, nicht beachtet zu werden. Amber warf hier und da einen Satz ein, gerade genug, um das Gespräch am Laufen zu halten. Ich hörte, wie Chad am Esszimmer vorbei in die Küche schlich. Nach einer Weile ging er wieder.

»Ein sehr gutes Mahl, wie immer«, erklärte der Vampir Amber. »Wunderschön, charmant und eine gute Köchin. Ich sage Corban immer wieder – eines Tages werde ich Sie davonstehlen.« Ich fühlte, wie mir ein Schauder über den Rücken kroch – er log nicht –, aber Corban und Amber lachten nur, als wäre es ein alter Witz. Genau in diesem Moment sah er mich an. »Sie waren heute Abend sehr still. Corban erzählte mir, dass Sie mit Amber auf der Schule waren und aus Kennwick kommen. Was tun Sie dort?«

»Ich repariere Sachen«, murmelte ich in Richtung meines Tellers.

»Sachen?« Er klang interessiert, genau das Gegenteil von dem, was ich erreichen wollte.

»Autos. Darf ich Ihnen Mercedes, die Volkswagenmechanikerin vorstellen?«, sagte Amber mit einem Hauch der Schärfe, die früher ihr Markenzeichen gewesen war. »Aber ich wette, dass ich sie auch immer noch dazu bringen kann, über die königlichen Familien von Europa oder Hitlers Schäferhund zu reden.« Sie lächelte James Blackwood an, das Monster, das sein Revier frei hielt von anderen Vampiren und allem sonst, was ihn hätte herausfordern können. Ein Kojote wäre da keine große Herausforderung.

Amber plauderte weiter … fast nervös. Vielleicht dachte sie, ich würde aufspringen und dem wichtigen Klienten ihres Ehemannes verkünden, dass sie mich geholt hatten, damit ich einen Geist für sie fing. Sie hätte sich keine Sorgen darum gemacht, wenn sie gewusst hätte, was er war. »Man hätte denken sollen, dass man mit ihrer Abstammung – sie ist halbe Blackfoot-Indianerin … oder heißt es Blackfeet? … Auf jeden Fall hat sie nicht Geschichte der amerikanischen Ureinwohner studiert, sondern nur das europäische Zeug.«

»Ich wälze mich nicht gern in Tragödien«, erklärte ich ihr und bemühte mich verzweifelt, uninteressant zu klingen. »Und daraus besteht die Geschichte der amerikanischen Ureinwohner überwiegend. Aber jetzt repariere ich einfach nur Autos.«

»Blondi«, sagte Corban. »Das war der Name des Hundes.«

»Jemand hat mir erzählt, sie wäre nach dem Comic Blondie benannt worden«, fügte ich hinzu. Diese Hypothese hatte unter den Nazi-Klugscheißern in meiner Umgebung ziemlich viele Diskussionen ausgelöst. Ich hoffte inständig, dass das Gespräch jetzt an Hitler hängenbleiben würde. Er war tot und konnte keinen Schaden mehr anrichten – anders als der tote Mann hier im Raum.

»Sie sind Indianerin?«, fragte der Vampir. Hatte er versucht, meinen Blick einzufangen?

Ich war sehr gut darin, dem Blick anderer Leute auszuweichen, außer ich schaute ihnen absichtlich in die Augen. Eine nützliche Fähigkeit in der Umgebung der Wölfe. Ich schaute sein Kinn an und sagte: »Zur Hälfte. Mein Vater. Ich habe ihn allerdings nie kennengelernt.«

Er schüttelte den Kopf. »Das tut mir leid für Sie.«

»Alte Kamellen«, antwortete ich. Ich entschied, dass Hitler ihn nicht von mir ablenken würde, aber vielleicht das Geschäft. Das hatte bei meinem Stiefvater immer funktioniert. »Soweit ich es verstehe, hält Corban ihre Firma aus den Gerichtssälen heraus?«

»Er ist sehr gut in seinem Job«, erklärte der Vampir mit einem zufriedenen und irgendwie besitzergreifenden Lächeln. »Mit ihm an meiner Seite wird Blackwood Industries schon noch ein paar Monate überleben, hm?«

Corban gab ein von Herzen kommendes Lachen von sich. »Oh, ich denke mal, mindestens ein paar Monate.«

»Auf das Geldverdienen«, sagte Amber und hob ihr Glas. »Jede Menge.«

Ich tat so, als würde ich mit den anderen Wein trinken, und war mir dabei ziemlich sicher, dass meine Vorstellung von Geldverdienen in ihrem Ausmaß um einige Stufen geringer war als ihre.

e9783641086992_i0022.jpg

Endlich ging er. Es war nicht so furchtbar, wie ich befürchtet hatte. Das Monster war charmant und, hoffte ich zumindest, er ahnte nicht, dass ich etwas anderes war als eine nicht besonders interessante VW-Mechanikerin. Außer für diesen einen Moment war ich größtenteils unbeachtet geblieben.

Fast euphorisch wegen meines knappen Entrinnens machte ich mir keine Sorgen über Geister, während ich mich umzog. Dann ging ich zurück nach unten, um Amber beim Aufräumen zu helfen.

Sie musste auch besorgt oder etwas in der Art gewesen sein, weil sie fast so aufgedreht war wie ich. Wir veranstalteten eine spontane Wasserschlacht in der Küche, die mit einem Unentschieden endete, als ihr Ehemann seinen Kopf in den Raum steckte, um zu schauen, was der Lärm zu bedeuten hatte, und fast einen Schwamm ins Gesicht bekam.

Die Umsicht gebot, dass ich – nachdem ich einmal der Entdeckung entkommen war – am nächsten Morgen nach Hause fahren sollte. Aber Amber war ein wenig betrunken, also beschloss ich, dass dieses Gespräch noch warten konnte. Als die Teller sauber und die Küchentücher nass und voller Seife waren, ließ ich Amber in der Küche zurück, wo sie mit ihrem Ehemann knutschte.

Ich öffnete meine Zimmertür, um dort Chad mitten auf meinem Bett zu finden, die Arme über der Brust verschränkt. Ich konnte seine Angst sofort riechen.

Ich schloss die Tür hinter mir und schaute mich einmal genau im Raum um. »Geist?«, formte ich mit den Lippen.

Er schaute auch durch den Raum und schüttelte dann den Kopf.

»Nicht hier? In deinem Zimmer?«

Er nickte vorsichtig.

»Wie wäre es dann, wenn wir in dein Zimmer gehen?«

Angst stieg aus jeder seiner Poren auf, als er vom Bett glitt und mir zu seinem Zimmer folgte: tapferer Junge. Er öffnete seine Zimmertür vorsichtig – dann drückte er sie ganz auf, achtete aber darauf, dass seine Füße weiterhin im Flur standen.

»Ich gehe mal davon aus, dass dieses Bücherregal normalerweise nicht auf dem Boden liegt«, meinte ich zu ihm.

Er warf mir einen bösen Blick zu, verlor aber einen Großteil seiner Angst.

Ich zuckte mit den Schultern. »Hey, mein Freund hat eine Tochter« – Freund war so ein unzureichendes Wort – »und ich hatte zwei kleinere Schwestern. Keine von ihnen räumt je ihr Zimmer auf. Ich musste fragen.«

Abgesehen von dem Bücherregal war es schwer, herauszufinden, wie viel der Unordnung einfach von einem kleinen Jungen verursacht worden war und wie viel der Geist angerichtet hatte. Aber das Bücherregal, eins von diesen halbhohen Dingern, die Leute in Kinderzimmer stellen, war leicht zu bewegen. Ich schob mich an Chad vorbei in den Raum. Das Regal war sogar noch leichter, als ich gedacht hatte.

Als ich anfing, die Bücher wieder einzuräumen, kniete er sich neben mich und half. Er las ein wenig von allem – und nicht nur Sachen, von denen ich dachte, dass ein Kind sie lesen würde: Jurassic Park, Interview mit einem Vampir und H. P. Lovecraft standen neben Harry Potter und den Naruto-Manga-Comics Nummer eins bis fünfzehn. Wir brauchten ungefähr zwanzig Minuten, um alles wieder in Ordnung zu bringen, und als wir fertig waren, hatte er keine Angst mehr.

Ich konnte den Geist allerdings riechen. Er beobachtete uns.

Ich schlug die Hände gegeneinander, um sie von Staub zu befreien, und schaute mich um. »Ist dein Zimmer immer so ordentlich, Junge?«

Er nickte feierlich.

Ich schüttelte den Kopf. »Du brauchst Hilfe. Genau wie deine Mom. Meine kleine Schwester hat versteinerte Sandwiches unter ihrem Bett gelagert, für die Wollmäuse, die sie dort gezüchtet hat.«

Ich zog ein Spiel aus einem ordentlichen Stapel. »Lust auf eine Partie Schiffe versenken?« Ich würde ihn nicht mit diesem Ding hier drin allein lassen.

Chad bewaffnete sich mit seinem Block und wir erklärten uns den Krieg. Historisch gesehen wurde Krieg oft eingesetzt, um von Problemen zu Hause abzulenken.

Wir lagen uns auf dem Boden auf dem Bauch gegenüber und verschossen unsere Munition. Adam rief an, und ich erklärte ihm, dass er würde warten müssen – Kampf kam vor der Romantik. Er lachte, wünschte mir eine gute Nacht und viel Glück, genau wie dieser alte Kriegsberichterstatter.

Chads Zweier-Schiff war teuflisch gut versteckt, und er zerstörte meine Marine, während ich vergeblich danach suchte.

»Argh!«, rief ich mit Inbrunst. »Du hast meinen Panzerkreuzer versenkt!«

Chads Gesicht leuchtete vor Lachen, und jemand klopfte an die Tür. Ich nahm an, ich hätte nicht so laut sein müssen, nachdem Chad mich sowieso nicht hören konnte.

»Herein«, sagte ich. Chad, der meine Lippen las, sah plötzlich entsetzt aus. Ich streckte den Arm aus und berührte beruhigend seine Schulter.

Die Tür öffnete sich. Ich rollte mich halb herum und schielte über meine Füße nach hinten, um zu sehen, wer es war. Die meisten Leute hätten schauen müssen, also tat ich es, aber ich hatte ihn kommen hören – und Amber hatte sich noch niemals in ihrem Leben wütend angepirscht. Stampfen, ja. Anpirschen, nein. Vertraut mir – jedes Raubtier kennt den Unterschied.

»Ist es nicht schon Schlafenszeit?«, meinte Corban. Er trug eine Trainingshose und ein altes Seattle-Seahawks-T-Shirt. Seine Haare waren verwuschelt, als wäre er im Bett gewesen. Ich ging davon aus, dass ich ihn aufgeweckt hatte.

»Nö«, erklärte ich ihm. »Wir spielen und warten darauf, dass der Geist sich zeigt. Wollen Sie sich dazugesellen?«

»Es gibt keinen Geist«, sagte er zu seinem Sohn, gleichzeitig laut und mit den Händen.

Beim Abendessen hatte ich fast angefangen, Corban zu mögen. Er war ein anständiger Kerl. Aber jetzt war er ein Tyrann.

Ich rollte mich herum, bis ich ihm richtig ins Gesicht schauen konnte. »Gibt es nicht?«

Er runzelte die Stirn. »Es gibt keine Geister. Ich bin wirklich froh, dass Sie hierhergekommen sind, um uns zu besuchen, aber ich kann nicht gutheißen, dass sie Dummheiten unterstützen. Wenn Sie ihnen sagen, dass es hier einen Geist gibt, dann werden sie Ihnen glauben. Chad hat schon genug, mit dem er fertigwerden muss, ohne dass die Leute ihn für verrückt halten.« Er übersetzte weiterhin alles in Zeichensprache, obwohl er mit mir sprach. Ich wusste nicht, ob er den Satz, dass ich Amber und Chad nicht sagen sollte, dass es keine Geister gab, auch übersetzte.

»Er ist ein verdammt guter Marinegeneral«, erklärte ich Corban. »Und ich denke, er ist zu klug, um Geister zu erfinden.« Er übertrug auch meine Antwort in Zeichensprache. Dann sagte er: »Er will einfach Aufmerksamkeit.«

»Er bekommt Aufmerksamkeit. Er will aufhören, Angst zu haben, weil jemand, den er weder sehen noch hören kann, sein Zimmer durcheinanderbringt. Ich dachte, Sie waren derjenige, der vorgeschlagen hat, dass ich komme und es mir mal ansehe. Warum haben Sie das getan, wenn Sie nicht an Geister glauben?«

Es gab einen lauten Knall, als das Auto oben auf Chads Kommode in selbstmörderischer Geschwindigkeit lossauste, dann fast einen Meter flog, gegen das Bücherregal knallte und auf den Boden fiel. Ich hatte schon die letzte Viertelstunde aus dem Augenwinkel beobachtet, wie es leicht vor und zurück rollte, also zuckte ich nicht zusammen. Chad konnte es nicht hören, also zuckte er auch nicht. Aber Corban schon.

Ich stand auf und hob das Auto auf. »Kannst du das nochmal machen?«, fragte ich und stellte das Auto oben auf das Bücherregal.

Ich kniete mich neben Chad und schaute ihn an, damit er meinen Mund sehen konnte. »Er hat gerade das Auto heruntergeworfen. Wir werden es alle beobachten und schauen, ob er es nochmal machen kann.«

Von dem Sturz des Autos zum Schweigen gebracht, setzte sich Corban neben Chad und legte ihm eine Hand auf die Schulter – und wir alle beobachteten, wie das Auto sich langsam auf der Stelle drehte, um dann hinter das Regal zu fallen.

Dann kippte das Bücherregal nach vorne auf den Boden, genau auf Chads Plastikflotte. Ich erhaschte einen flüchtigen Blick auf jemanden, der mit erhobenen Händen dort stand, dann nichts mehr – und der süß-salzige Geruch von Blut, den ich gerochen hatte, seit ich das Zimmer betreten hatte, verblasste und verschwand.

Ich blieb, wo ich war, während Corban das Bücherregal und das Auto nach geheimen Vorrichtungen oder Fäden oder irgendwas absuchte. Schließlich schaute er zu Chad zurück.

»Ist es für dich in Ordnung, hier zu schlafen?«

»Er ist weg«, erklärte ich ihnen beiden und Corban tat mir den Gefallen, es in Zeichensprache zu übertragen.

Chad nickte und seine Hände flogen durch die Luft. Am Ende grinste Corban. »Ich nehme an, das ist wahr.« Er schaute mich an. »Er hat mir gesagt, dass der Geist ihn bis jetzt nicht umgebracht hat.«

Corban stellte das Bücherregal wieder auf und ich schaute auf das Chaos aus Büchern und Spielsteinen.

Ich wartete, bis Chad in meine Richtung sah. Dann deutete ich auf den Zweier-Zerstörer, jetzt deutlich sichtbar, umgeben von weißen, nutzlosen Geschosssteckern. »Da hast du ihn also versteckt, du kleiner Miesling.«

Er grinste. Kein richtig breites Grinsen, aber genug, damit ich wusste, dass er in Ordnung war. Taffes Kind.

Ich überließ sie ihren männlichen Gute-Nacht-Ritualen und ging zurück in mein Zimmer. Alle Gedanken daran, morgen nach Hause zu fahren, waren vergessen. Ich würde Chad nicht dem Geist ausliefern. Ich hatte immer noch keine Ahnung, wie ich ihn loswerden sollte, aber vielleicht konnte ich ihm stattdessen dabei helfen, mit ihm zu leben. Er hatte die Hälfte des Weges schon hinter sich.

Ein paar Minuten später klopfte Corban an meine Tür, dann schob er sie einen Spalt auf.

»Ich muss nicht reinkommen.« Er starrte mich grimmig an. »Sagen Sie mir, dass Sie das nicht irgendwie eingefädelt haben. Ich habe nach Drähten und Magneten gesucht.«

Ich zog die Augenbrauen hoch. »Ich habe überhaupt nichts eingefädelt. Gratulation. In Ihrem Haus spukt es.«

Er blickte finster drein. »Ich bin ziemlich gut darin, Lügen zu erkennen.«

»Schön für Sie«, antwortete ich aufrichtig. »Jetzt bin ich müde und muss schlafen.«

Er zog sich aus dem Türrahmen zurück und ging ein Stück den Flur entlang. Aber nach kaum zwei Schritten drehte er wieder um. »Wenn es ein Geist ist, ist Chad sicher?«

Ich zuckte mit den Achseln. Um ehrlich zu sein, machte mir der Geruch nach Blut Sorgen. Meiner Erfahrung nach rochen Geister nach sich selbst. Mrs Hanna, die manchmal meine Werkstatt besucht hatte – sowohl als sie noch lebendig war als auch nach ihrem Tod –, roch nach ihrem Waschmittel, ihrem Lieblingsparfüm und den Katzen, mit denen sie ihr Haus teilte. Ich hielt den Blutgeruch nicht gerade für ein gutes Zeichen.

Trotzdem sagte ich ihm die Wahrheit, so wie ich sie kannte. »Ich bin niemals von einem Geist verletzt worden, und ich kenne nur ein paar Geschichten, wo es passiert ist, aber meistens waren es dann nur Abschürfungen. Die Bell-Hexe hat angeblich vor ein paar Jahrhunderten einen Mann namens John Bell in Tennessee getötet – aber das war wahrscheinlich etwas anderes als ein Geist. Und der alte John starb an einem Gift, das angeblich die Hexe in seine Medizin getan hatte, etwas, was genauso gut von weniger übersinnlichen Händen getan worden sein könnte.«

Er starrte mich an und ich starrte zurück.

»Sie sind mit einem Werwolf zusammen.«

»Das stimmt.«

»Und Sie sagen, es gibt Geister.«

»Und das Feenvolk«, ergänzte ich. »Ich arbeite mit einem von ihnen. Nach Werwölfen und dem Feenvolk ist es doch gar nicht mehr so weit bis zu Geistern, oder?«

Ich schloss meine Tür und ging ins Bett. Nach ein paar langen Minuten zog er sich in sein Schlafzimmer zurück.

Normalerweise habe ich Probleme, an fremden Orten zu schlafen, aber es war ziemlich spät (oder ziemlich früh), und ich hatte auch in der Nacht davor nicht durchgeschlafen. Ich schlief wie ein Baby.

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, hatte ich zwei Bissmale am Hals, komplett mit einem schönen Bluterguss. Sie waren eine wunderschöne Ergänzung zu den Nähten an meinem Kinn. Und meine Kette mit dem Lamm war verschwunden.

Ich starrte den Biss im Badezimmerspiegel an und hörte im Kopf Samuels Stimme, der mir sagte, dass ich mich nicht darauf verlassen sollte, dass Stefan mein Freund war … und Stefan hatte klargemacht, dass er sich nähren musste, um unentdeckt zu bleiben. Ich wusste, dass ein Biss Konsequenzen nach sich zog, aber ich war mir nicht sicher, welche.

Natürlich hatte ich gestern Abend auch noch einen anderen Vampir getroffen. Für einen Moment hoffte ich, er wäre es gewesen. Dass Stefan mich nicht gebissen hatte, während ich schlief. Dann dachte ich kurz darüber nach, wie es wäre, von James Blackwood gebissen worden zu sein, der den Dingen Angst machte, die mir Angst machten. Dann hoffte ich doch wieder, dass es Stefan war.

Stefan hätte allerdings die Einladung ins Haus gebraucht. Hatte ich ihn hereingebeten und er hatte irgendwie die Erinnerung daran gelöscht? Ich hoffte es. Es schien das kleinere von zwei Übeln zu sein.

Die Badezimmertür öffnete sich – ich wollte mir nur die Zähne putzen, also hatte ich die Tür nicht abgeschlossen. Chad starrte auf meinen Hals, dann schaute er mich mit weit aufgerissenen Augen an.

Und ich hoffte nochmal, dass es Stefan war, weil ich hierbleiben würde, bis ich geholfen hatte … irgendwie.

»Nein«, erklärte ich Chad beiläufig. »Ich habe dich in Bezug auf die Vampire nicht angelogen.« Ich wollte lieber nicht sagen, dass ich den Biss letzte Nacht abbekommen hatte, wenn er nicht selbst draufkam. Er musste sich neben Geistern nicht auch noch den Kopf über Vampire zerbrechen.

»Ich hätte dir nichts davon erzählen sollen«, sagte ich. »Ich wüsste es zu schätzen, wenn du deinen Leuten nichts davon sagst. Vampiren ist es lieber, wenn niemand weiß, dass es sie gibt. Und sie ergreifen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass es so bleibt.«

Er schaute mich für einen Moment an. Dann zog er einen imaginären Reißverschluss über seine Lippen, verschloss ein imaginäres Schloss und warf den Schlüssel hinter sich: Manche Gesten sind universal.

»Danke.« Ich steckte den Deckel zurück auf meine Zahnbürste und packte meinen Kulturbeutel. »Gab es heute Nacht nochmal Ärger?«

Er schüttelte den Kopf und wischte sich mit dem Arm über die Stirn, um nur in der Vorstellung existierenden Schweiß wegzuwischen.

»Gut. Ist dein Geist auch am Tag öfter aktiv?«

Er zuckte die Achseln, wartete einen Moment, dann nickte er.

»Dann werde ich mit deiner Mom reden und vielleicht joggen gehen.« In dieser Stadt konnte ich nicht in Kojotenform laufen, besonders wenn meine Versuche, James Blackwood aus den Augen zu bleiben, schon so spektakulär versagt hatten. Aber wenn ich nicht regelmäßig lief, wurde ich schlecht gelaunt. »Und dann überwachen wir für eine Weile dein Zimmer. Gibt es noch andere Orte, die der Geist besucht?«

Er nickte und stellte pantomimisch kochen und essen dar.

»Nur die Küche, oder auch das Esszimmer?«

Er hielt zwei Finger hoch.

»In Ordnung.« Ich kontrollierte die Uhrzeit. »Ich treffe dich hier um Punkt acht.« Ich ging zurück in mein Zimmer, roch dort aber weder Stefan noch irgendetwas anderes, was aus dem Rahmen fiel. Es gab auch keine Spur von meiner Kette. Ohne sie hatte ich keinen Schutz gegen Vampire. Nicht dass sie mir letzte Nacht viel geholfen hatte.

e9783641086992_i0023.jpg

In der Stadt zu laufen ist nicht gerade meine Lieblingsbeschäftigung. Trotzdem, die Sonne schien, was es unwahrscheinlich machte, dass ich in der nächsten Zeit einem Vampir begegnen würde. Ich lief ungefähr eine halbe Stunde, dann kehrte ich auf schnellstem Weg zu Ambers Haus zurück.

Ihr Auto stand nicht mehr in der Einfahrt. Sie hatte einiges zu tun, hatte sie mir erzählt – einen Friseurtermin, ein paar Erledigungen, und sie musste auch ein wenig einkaufen. Ich hatte ihr gesagt, dass Chad und ich uns allein amüsieren würden. Trotzdem war ich davon ausgegangen, dass sie auf meine Rückkehr warten würde. Ich war mir nicht sicher, ob ich meinen zehnjährigen Sohn allein in einem Spukhaus zurückgelassen hätte. Er allerdings schien unbeeindruckt, als er mich genau um acht Uhr an der Badezimmertür traf.

Wir erkundeten das gesamte alte Haus, fingen unten an und arbeiteten uns nach oben vor. Nicht dass es notwendig oder wichtig war, alles zu erkunden, aber ich mag alte Häuser, und ich hatte keinen besseren Plan, als darauf zu warten, dass der Geist irgendwo erschien. Geister zu bannen war nichts, was ich jemals versucht hatte, und alles, was ich über die Jahre darüber gelesen hatte (nicht viel), schien anzudeuten, dass es schlimmer war, es falsch zu machen, als es gar nicht zu machen.

Der Keller war irgendwann einmal neu gemacht worden, aber hinter einer kleinen, altmodischen Tür gab es einen Raum mit festgestampftem Erdboden, gefüllt mit alten Milchkisten und anderem Gerümpel, das eine offensichtlich vor langer Zeit lebende Person hier verstaut hatte. Was auch immer der eigentliche Zweck des Raumes gewesen war, jetzt war es der perfekte Lebensraum für Schwarze Witwen.

»Wow.« Ich deutete mit meiner geliehenen Taschenlampe in die weit entfernte Ecke der Decke. »Schau dir diese Spinne an. Ich glaube nicht, dass ich jemals eine so große gesehen habe.«

Chad stupste mich an und ich schaute zu seinem Lichtkreis, der einen zerbrochenen alten Stuhl beleuchtete.

»Jau«, stimmte ich zu. »Die ist noch größer. Ich glaube, wir verschwinden hier einfach und schauen woanders – zumindest bis wir eine schöne große Dose Insektenspray haben.« Ich schloss die Tür ein bisschen fester, als ich es normalerweise getan hätte. Spinnen machen mir nichts aus, und die Schwarze Witwe ist eine der schönsten ihrer Art … aber sie beißen, wenn man ihnen in die Quere kommt. Genau wie Vampire. Ich rieb mir den Hals, um sicherzustellen, dass der Kragen meines Hemdes und meine Haare den Biss immer noch verdeckten. Heute Nachmittag würde ich einkaufen gehen. Ich musste mir ein Tuch oder etwas mit Rollkragen kaufen, bevor Amber und Corban die Stelle sahen. Vielleicht konnte ich ja auch noch eine Lamm-Kette finden.

Der Rest des Kellers war überraschend frei von Gerümpel, Staub oder Spinnen. Vielleicht hatten Amber die Schwarzen Witwen genauso eingeschüchtert wie mich.

»Wir versuchen nicht, herauszufinden, wer der Geist ist«, erläuterte ich Chad. »Obwohl wir das natürlich tun könnten, wenn du willst. Ich schaue mich nur um, um zu sehen, was ich entdecken kann. Wenn sich das hier als Streich herausstellt, den uns jemand spielt, dann will ich nicht drauf reingefallen sein.«

Er ließ seine Hände auf eine Art und Weise nach unten sausen, die keiner Übersetzung bedurfte. In seinen Augen leuchtete Wut.

»Nein. Ich glaube nicht, dass du es tust«, erklärte ich fest. »Wenn das letzte Nacht vorgetäuscht war, dann war es nicht die Arbeit eines Amateurs. Vielleicht hat jemand ein Hühnchen mit deinem Dad zu rupfen, und benutzt dich dafür.« Ich zögerte. »Aber ich glaube nicht, dass es vorgetäuscht war.« Warum sollte jemand zum Beispiel den Geruch nach menschlichem Blut einbringen, der zu subtil war, um von einer menschlichen Nase wahrgenommen zu werden? Trotzdem, ich fühlte mich verpflichtet, so sicherzugehen wie möglich, dass es kein Menschenwerk war.

Er dachte eine Weile darüber nach, dann nickte er ernsthaft und zeigte mir reizvolle Sachen. Einen kleinen, leeren Raum hinter einer sehr dicken Tür, der vielleicht einmal ein Kühlraum war. Eine alte Kohlenschütte mit einer Kiste alter Decken am Ende. Ich steckte meinen Kopf in den Metalltunnel und witterte, aber das bestätigte nur meinen Verdacht: Chad war die Kohlenschütte aus Spaß heruntergerutscht.

Seine Augen blinzelten besorgt unter seinen zu langen Haaren hervor. Für mich sah es nicht gefährlich aus – es sah aus, als würde es Spaß machen. Und noch mehr Spaß würde es machen, wenn niemand davon wusste; ich hatte in seinem Alter auch ein paar solcher Orte gehabt. Also sagte ich nichts.

Ich zeigte ihm die alten, unverkleideten Kupferstromdrähte, nicht mehr in Benutzung, aber immer noch da, und die Steinmetzzeichen auf den Granitblöcken, die benutzt worden waren, um den Keller zu bauen. Wir kontrollierten die Kellerdecke unter der Küche und dem Esszimmer. Nachdem ich nicht genau wusste, was in Küche und Esszimmer passiert war, wusste ich auch nicht, wonach ich suchen sollte. Aber es war einleuchtend, dass es hätte eingebaut werden müssen, kurz bevor der Spuk begann – was erst ein paar Monate her war. In diesem Teil des Kellers wirkte allerdings alles so, als wäre es älter als ich.

Die nächsten zwei Stockwerke waren bei weitem nicht so interessant wie der Keller – keine Schwarzen Witwen. Jemand hatte sie gründlichst modernisiert und keine Spur einer alten Bedienstetentreppe oder eines Speiseaufzugs zurückgelassen. Die Holzarbeiten waren schön, aber aus Kiefer, nicht aus Hartholz – die Handwerksarbeit war gut, aber nicht außergewöhnlich. Ich schätzte, dass das Haus von jemandem aus der oberen Mittelschicht gebaut worden war, und nicht von jemandem, der wirklich reich war. Mein Trailer war für die wirklich Armen gebaut worden, also konnte ich solche Dinge gut einschätzen.

Der Geist war seit letzter Nacht nicht in Chads Zimmer gewesen – alles war ordentlich und an seinem Platz. Wie Corban gesagt hatte, gab es keine Anzeichen von Fäden oder Drähten oder irgendwas, was das Auto quer durch den Raum hätte schleudern können. Ich nahm an, dass auch Magie im Spiel sein konnte – ich wusste nicht besonders viel über Magie. Aber ich hatte keine gespürt, und normalerweise kann ich spüren, ob jemand Magie benutzt oder nicht.

Ich schaute Chad an. »Wenn wir nicht etwas wirklich Seltsames in dem Stockwerk über deinem Zimmer finden, dann denke ich mal, dass das hier tatsächlich echt ist.«

In meinem Zimmer lag die Bürste auf dem Boden, aber ich hätte nicht beschwören können, dass ich sie nicht selbst dort hatte liegen lassen. Unter Chads stechendem Blick machte ich mein Bett und stopfte die Kleider, die ich über den ganzen Boden verstreut hatte, zurück in meinen Koffer.

»Das wirkliche Problem«, erklärte ich ihm, während ich meine Unordnung beseitigte und mich dann aufs Bett setzte, »ist, dass ich nicht weiß, wie wir den Geist dazu bringen können, dich in Frieden zu lassen. Ich kann ihn besser sehen als du, glaube ich – du hast gestern nichts gesehen außer Dingen, die sich bewegt haben, oder?«

Er schüttelte den Kopf.

»Ich schon. Nichts Deutliches, aber ich konnte ihn sehen. Aber ich weiß nicht, wie ich ihn dazu bringe, zu verschwinden. Er ist kein Wiederholer – ein Geist, der dieselbe Handlung wieder und wieder vollzieht. Hinter seinen Taten steckt Intelligenz …« Ich musste alles zweimal sagen, bis Chad es wirklich verstanden hatte.

Als er es begriffen hatte, verzog er das Gesicht zu einer Grimasse und zischte bösartig.

Ich nickte. »Er ist wütend. Wenn wir vielleicht herausfinden, warum er wütend ist, können wir …«

Irgendwo erklang ein gewaltiges, krachendes Geräusch. Meine Reaktion musste es verraten haben, denn Chad stand auf und berührte mich an der Schulter.

»Etwas im Erdgeschoss.«

Wir fanden es in der Küche. Der Kühlschrank stand offen und die Wand gegenüber hatte eine Dulle und war überzogen mit einer nassen, klebrigen Substanz, die wahrscheinlich Orangensaft war. Ein Karton davon lag offen auf dem Boden, neben einem halben Dutzend Flaschen verschiedenen Inhalts. Der Wasserhahn war voll aufgedreht. Die Spüle war zugestöpselt und füllte sich schnell mit heißem Wasser.

Während Chad den Wasserhahn abdrehte, schaute ich mich genau im Raum um. Als Chad meinen Arm berührte, schüttelte ich den Kopf. »Ich sehe nichts.«

Dann seufzte ich und fing an aufzuräumen. Es schien mir, als würde ich das hier im Haus ziemlich oft machen. Ich schrubbte die Wand ab und Chad wischte den Boden. Es gab nichts, was ich gegen die Dellen in der Wand tun konnte – und als ich sie mir genau ansah, nahm ich an, dass einige davon auch älter sein konnten.

Sobald wieder alles so gut war, wie wir es machen konnten, machte ich uns Sandwiches und Pommes zum Mittagessen. So gestärkt setzten wir unsere Erkundungen fort, indem wir auf den Speicher stiegen.

Tatsächlich gab es zwei Speicher. Der über Chads Zimmer war über eine schmale Treppe erreichbar, die in einem Wandschrank versteckt war (vielleicht die letzte Erinnerung an die Bedienstetentreppe). Ich erwartete fast Staub und Umzugskisten, aber der Raum enthielt nur ein modernes Büro mit einem professionell aussehenden Computer auf einem Kirschholzschreibtisch. Dachluken sorgten für eine offene, luftige Atmosphäre, welche die Anwaltsregale aus Kirschholz voller schwerer, ledergebundener Werke gut ergänzte. Das einzige schrullige Element war ein Spitzenkissen auf der Fensterbank vor dem einzigen normalen Fenster.

»Du hast gesagt, es gibt noch einen?«, fragte ich. Ich war auf der Treppe stehen geblieben, weil es mir irgendwie aufdringlich vorkam, den Raum zu betreten.

Chad führte mich auf die andere Seite des ersten Stocks und in das Schlafzimmer seiner Eltern. Ich fragte mich, warum das Büro personalisiert und charmant war, während der Schlafzimmertrakt unpersönlich und kalt war und offensichtlich professionell eingerichtet, nur dass er genauso gut in ein Kaufhaus gepasst hätte wie in dieses alte Haus.

Im begehbaren Kleiderschrank war eine große, rechteckige Luke an der Decke. Wir mussten einen Stuhl holen und ihn unter die Öffnung schieben, bevor ich an die Schlaufe kam, und dann stellte sich die Luke als ausziehbare Leiter heraus. Sobald wir den Stuhl zur Seite geschoben hatten, klappte die Treppe sich bis zum Boden aus.

Mit den Taschenlampen in der Hand kletterten wir furchtlosen Forscher auf einen Speicher, der mehr zu einem Haus wie diesem passte als der vorige. Vom Aufbau her war er das Spiegelbild des Büros, nur ohne die Dachfenster und die fantastische Aussicht. Das Licht kämpfte sich mühsam durch die weiße Farbe, die das einzige Fenster überzog, und flimmerte auf den Wollmäusen, die wir durch unsere Gegenwart aufgewirbelt hatten.

Vier alte Schrankkoffer standen aufgereiht an der Wand neben einer alten pedalbetriebenen Nähmaschine mit der in aufwändigen Goldlettern gestalteten Aufschrift SIN-GER auf der zerkratzten hölzernen Seitenwand. Hier standen auch weitere Milchkisten, aber auf dem Speicher hatte zumindest jemand einen Weg gefunden, die Spinnen zurückzuhalten. Ich sah überhaupt keine ekligen Krabbeltiere. Oder auch größere Mengen Staub. War ja klar, dass Amber sogar auf ihrem Speicher staubwischte.

Die Schrankkoffer waren verschlossen. Aber der enttäuschte Ausdruck auf Chads Gesicht brachte mich dazu, mein Taschenmesser hervorzuziehen. Ein wenig Wackeln und Rütteln mit dem sonst völlig nutzlosen Zahnstocher und der kleinsten der Klingen, und ich hatte den ersten Koffer geöffnet, bevor man auch nur die ersten drei Strophen von »Dreizehn Mann auf des toten Mannes Kiste« singen konnte. Das weiß ich, weil ich vor mich hin summe, wenn ich Schlösser knacke – eine schlechte Angewohnheit. Aber nachdem ich keinerlei Absicht habe, professionell als Dieb zu arbeiten, habe ich mir nicht die Mühe gemacht, es mir abzugewöhnen.

Dieser Schrankkoffer war gefüllt mit gelblich verfärbter Wäsche mit Spitze an den Rändern und Stickereien von Frühlingskörben oder Blumen oder anderen angemessen weiblichen Verzierungen. Der zweite war interessanter. Hauspläne (die wir herausholten), Verträge, alte Diplome von Leuten, deren Namen Chad nichts sagten, und ein paar Zeitungsartikel aus den Zwanzigerjahren über Leute, deren Namen zu denen auf den Diplomen passten. Überwiegend Todes-, Geburts- und Hochzeitsanzeigen. Keine der Todesanzeigen betraf Personen, die gewaltsam oder zu jung ums Leben gekommen waren, das bemerkte ich.

Während Chad sich die Pläne ansah, die er auf dem geschlossenen Deckel des ersten Koffers ausgebreitet hatte, las ich etwas über das Leben von Ermalinda Gaye Holfester McGinnis Curtis Albright, weil mich diese exzessive Reihe von Nachnamen neugierig machte. Sie war 1939 im Alter von vierundsiebzig Jahren gestorben. Ihr Vater war ein Hauptmann auf der falschen Seite des Bürgerkrieges gewesen, hatte seine Familie nach Westen geführt und dort sein Vermögen in Holz und Eisenbahnen gemacht. Ermalinda hatte acht Kinder, von denen vier sie überlebt und die ihrerseits wieder jede Menge Kinder bekommen haben. Zweimal verwitwet, hatte sie fünfzehn Jahre vor ihrem Tod einen weiteren Mann geheiratet. Er war anscheinend – das konnte ich zwischen den Zeilen herauslesen – um einiges jünger gewesen als sie.

»Richtig so«, feuerte ich sie bewundernd an – und in diesem Moment klappte sich die Leiter zusammen und die Luke schlug so heftig zu, dass die daraus resultierenden Bodenerschütterungen Chad von seinen Plänen aufschauen ließen. Was er allerdings nicht gehört haben konnte, war das Klicken des Schlosses.

Ich sprang zur Tür – natürlich zu spät. Als ich meine Nase in die Nähe führte, konnte ich niemanden riechen. Ich konnte mir sowieso keinen Grund denken, aus dem uns jemand auf dem Speicher einsperren würde. Es war ja nicht so, als würden wir hier oben unser Verderben finden … außer jemand fackelte das ganze Haus ab oder etwas anderes in der Art.

Ich schob diesen hilfreichen Gedanken zur Seite und beschloss, dass es wahrscheinlich unser Geist war. Ich hatte von Geistern gelesen, die Häuser angezündet hatten. War nicht angeblich Hans Holzers Pfarramt in Borley von Geistern angezündet worden? Aber ich war mir eigentlich ziemlich sicher, dass Hans Holzer irgendwann mal als Betrüger aufgeflogen war …

»Also«, meinte ich zu Chad, »das zeigt uns auf jeden Fall, dass unser Geist rachsüchtig und intelligent ist.« Er sah ziemlich erschüttert aus und klammerte sich auf eine Art und Weise an die Pläne, die das zerbrechliche Papier so verknitterte, dass jedem Historiker ein Schauder über den Rücken gelaufen wäre. »Wir können auch genauso gut weiter forschen, findest du nicht auch?«

Da er immer noch verängstigt wirkte, erklärte ich ihm: »Deine Mutter wird früher oder später nach Hause kommen. Wenn sie nach oben kommt, können wir uns von ihr befreien lassen.« Dann hatte ich eine Idee. Ich zog mein Handy aus der vorderen Hosentasche, aber als ich die Nummer anrief, die ich unter Amber gespeichert hatte, konnte ich hören, wie das Telefon in ihrem Schlafzimmer klingelte.

»Hat deine Mom auch ein Handy?« Hatte sie. Er wählte die Nummer und ich hörte zu, als ihre Mailbox mir erklärte, dass sie gerade nicht ans Telefon gehen konnte. Also erzählte ich der Box, wo wir waren und was passiert war.

»Wenn sie die Nachricht abhört, dann kommt sie und lässt uns raus«, sagte ich Chad, als ich fertig war. »Wenn sie das nicht tut, rufen wir deinen Dad an. Willst du sehen, was im letzten Koffer ist?«

Er war nicht glücklich, aber er lehnte sich über meine Schulter, als ich das letzte Schloss überlistete.

Wir beide starrten den Schatz an, den die Kiste preisgab.

»Wow«, meinte ich. »Ich frage mich, ob deine Eltern wissen, dass das hier oben ist.« Ich hielt kurz inne. »Glaubst du, das ist was wert?«

Dieser letzte Koffer war bis zum Rand gefüllt mit alten Platten, größtenteils die dicken schwarzen Vinylscheiben, auf denen 78 rpm stand. Ich fand heraus, dass das Ganze sogar ein System hatte. Ein Stapel bestand nur aus Kinderunterhaltung – Die Geschichte von Hiawatha, verschiedenste Kinderlieder. Und ein Schatz: Schneewittchen, komplett mit einem Bilderbuch in der Hülle, das aussah, als wäre es ungefähr zur selben Zeit entstanden wie der Film. Chad rümpfte über Schneewittchen nur die Nase, also legte ich die Platte zurück auf den richtigen Haufen.

Mein Handy klingelte und ich checkte die Nummer. »Nicht deine Mom«, sagte ich zu Chad. Dann klappte ich es auf. »Hey Adam. Hast du je die Mello-Kings gehört?«

Es folgte eine kurze Pause, und dann sang Adam in passablem Bass: »Chip, chip, chip went the little bird … und irgendwas, irgendwas, irgendwas went my heart. Ich nehme an, es gibt einen Grund, warum du fragst?«

»Chad und ich wühlen gerade in einer Kiste mit alten Platten«, erzählte ich ihm.

»Chad?« Seine Stimme war sorgfältig neutral gehalten.

»Ambers zehnjähriger Sohn. Ich halte gerade eine 1957 aufgenommene Platte von den Mello-Kings in den Händen. Ich glaube, das ist die neueste hier – nein, ich habe gerade noch ein Beatles-Album gefunden … hm, nur die Hülle. Es sieht aus, als würde die Platte fehlen. Also sind die Mello-Kings wahrscheinlich das Neueste hier drin.«

»Aha. Kein Glück bei der Geisterjagd?«

»Ein bisschen.« Ich dachte reumütig an die geschlossene Tür, die uns zu Gefangenen gemacht hatte. »Was ist mit dir? Wie laufen die Verhandlungen mit der Herrin?«

»Warren und Darryl sollen sich heute Abend mit zweien ihrer Vampire treffen.«

»Welche?«

»Bernard und Wulfe.«

»Sag ihnen, sie sollen vorsichtig sein. Wulfe ist mehr als nur ein Vampir.« Ich hatte Bernard nur einmal getroffen, und er hatte mich nicht besonders beeindruckt – und vielleicht erinnerte ich mich auch nur an Stefans Reaktion auf ihn.

»Versuch nicht, einem alten Hund neue Tricks beizubringen«, meinte Adam ruhig. »Mach dir keine Sorgen. Hast du Stefan gesehen?«

Ich berührte meinen Hals mit den Fingern. Wie sollte ich darauf antworten? »Ich weiß nicht, es könnte sein, dass er mich letzte Nacht gebissen hat«, schien mir irgendwie nicht das Richtige zu sein. »Bis jetzt hat er sich rar gemacht. Vielleicht kommt er heute Abend mal vorbei, damit wir reden können.«

Ich hörte, wie die Tür im Erdgeschoss sich öffnete. »Ich muss jetzt aufhören, Amber ist zurück.«

»In Ordnung. Ich rufe dich heute Abend nochmal an.« Und damit legte er auf.

»Deine Mutter ist wieder da«, erklärte ich Chad und fing an, die Platten wieder einzuräumen. Sie waren schwer. Ich konnte mir nicht vorstellen, was der ganze Koffer wiegen würde. Vielleicht hatten sie den Schrankkoffer erst gepackt, als er schon auf dem Speicher stand – oder sie hatten acht stramme Werwölfe gehabt, um ihn zu tragen.

»Sie ist verschlossen«, rief ich zu Amber nach unten, als sie an der Luke rüttelte. »Ich glaube, auf deiner Seite gibt es einen Riegel.«

Sie atmete schwer, als sie die Leiter nach unten zog.

Ihre gesamte Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf Chad, und sie kümmerte sich nicht um gesprochene Sprache, während ihre Hände tanzten.

»Wir sind in Ordnung«, unterbrach ich sie. »Du hast hier wirklich coole Platten. Habt ihr sie mal schätzen lassen?«

Sie drehte sich um, um mich anzustarren. Als hätte sie vollkommen vergessen, dass ich da war. Ihre Pupillen waren … seltsam. Zu groß, entschied ich, selbst für den dämmrigen Speicher.

»Die Platten? Ich glaube, Corban hat sie gefunden, als wir das Haus gekauft haben. Ja, er hat sie geprüft. Sie sind nichts Besonderes. Nur alt.«

»Hattest du Spaß beim Einkaufen?«

Sie schaute mich ausdruckslos an. »Einkaufen?«

»Amber, ist mit dir alles in Ordnung?«

Sie blinzelte, dann lächelte sie. Es war so süß und strahlend, dass mir kalte Schauder über den Rücken liefen. Amber konnte man vieles nachsagen, aber sie war nicht süß. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr.

»Ja. Ich habe einen Pullover gekauft und ein paar frühe Weihnachtsgeschenke.« Sie schob die Frage beiseite. »Wie kommt es, dass ihr hier festgesessen habt?«

Ich zuckte mit den Achseln, legte die letzten Platten zurück und schloss den Schrankkoffer. »Wenn du niemanden hast, der in dein Haus einbricht, um miese Streiche zu spielen, würde ich sagen, es war der Geist.«

Ich stand auf und starrte an ihr vorbei zu der geöffneten Luke. Und ich roch Vampir. Konnte Stefan hier sein? Ich hielt inne und schaute mich um, während Chad die Stufen hinunterpolterte und mich und seine Mutter mit dem Geruch nach Vampir und frischem Blut allein zurückließ.

»Was ist?«, fragte Amber und trat einen Schritt nach vorne.

Sie roch nach Schweiß, Sex und einem Vampir, der nicht Stefan war.

»War einkaufen alles, was du getan hast?«, fragte ich.

»Was? Ich war beim Friseur, habe ein paar Rechnungen bezahlt – das ist alles. Bist du in Ordnung?«

Sie log nicht. Sie wusste nicht, dass sie die Zwischenmahlzeit eines Vampirs gewesen war. Heute.

Ich schaute auf das Tageslicht, das durch das Fenster in den Raum drang, und wusste, dass ich dringend mit Stefan reden musste.