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3

Es hatte sich rumgesprochen, dass ich wieder in der Werkstatt war, und meine Stammkunden fingen an, vorbeizuschauen, um mir ihr Mitgefühl und ihre Unterstützung auszusprechen. Das Graffiti machte die Sache nur noch schlimmer. Um neun versteckte ich mich in der Werkstatt, mit den großen Rolltoren geschlossen, obwohl das hieß, dass es heiß und stickig wurde und meine Stromrechnung leiden würde.

Ich überließ es Zee, sich um die Kunden zu kümmern. Arme Kunden. Zee ist kein geselliges Wesen. Vor Jahren, als ich anfing hier zu arbeiten, kümmerte sich sein neunjähriger Sohn um den Empfang und alle waren angemessen dankbar dafür.

Ich verbrachte den Großteil des Morgens damit, hinter die Probleme eines zwanzig Jahre alten Jettas zu kommen. Nichts macht mehr Spaß, als episodisch auftretende Elektronikprobleme zu erkunden – solange man ein oder zwei Jahre Zeit hat. Die Besitzerin kam um drei Uhr morgens aus der Arbeit und zweimal hatte sie versucht, den Wagen zu starten, nur um festzustellen, dass die Batterie völlig leer war, obwohl das Licht aus gewesen war.

Mit der Batterie war alles in Ordnung. Ebenso mit der Lichtmaschine. Ich hing kopfüber vom Fahrersitz und mein Kopf steckte im Armaturenbrett, als mir plötzlich eine Idee kam. Ich rollte zur Seite und musterte den schicken neuen CD-Player in dem uralten Auto. Das letzte Mal, als ich den Wagen gesehen hatte, hatte es an dieser Stelle nur ein Kassettendeck gegeben.

Als Zee reinkam, verwendete ich gerade deutlichste Worte, um die Servicetechniker zu beschreiben, die nicht wussten, wie man sich selbst die Schuhe zuband, aber trotzdem meinten, an einem meiner Wagen rumspielen zu müssen. Ich hatte mich um diesen Jetta gekümmert, seitdem ich an Autos arbeitete, und ich empfand ihm gegenüber eine besondere Zuneigung.

Zee blinzelte ein paarmal, um seine Belustigung zu überspielen. »Wir könnten die Rechnung bei dem Laden einreichen, der die Anlage eingebaut hat.«

»Würden die zahlen?«, fragte ich.

Zee lächelte. »Das würden sie, wenn ich sie vorbeibringe.« Auch Zee hatte ein persönliches Interesse an den Autos unserer Kunden.

Wir schlossen die Werkstatt über Mittag und gingen zu unserem Lieblingstacowagen, um uns echte mexikanische Tacos zu holen. Das hieß ohne Käse oder Eisbergsalat, sondern stattdessen mit Koriander, Limone und Rettich – in meinen Augen ein mehr als fairer Tausch.

Der Wagen stand auf dem Parkplatz neben einer mexikanischen Bäckerei, auf der anderen Seite der Cable Bridge über den Columbia River, was hieß, dass er in Pasco stand, aber gerade mal so. Manche dieser Imbisswagen sind Lastwagen, aber dieser hier war ein kleiner Anhänger, an dem Tafeln hingen, auf denen die Karte mit Preisen aufgelistet stand.

Die Frau, die dort arbeitete, hatte ein freundliches Gesicht und sprach gerade mal genug Englisch, um die Bestellungen entgegenzunehmen – was wahrscheinlich keine große Rolle spielte, weil die wenigsten ihrer Gäste rein englischsprachig waren. Als ich zahlte, sagte sie etwas und tätschelte meine Hand – und als ich in der Tüte nachsah, ob ich auch die kleinen Plastikbecher mit Salsa hatte, stellte ich fest, dass sie mir ein paar meiner Lieblingstacos zusätzlich eingepackt hatte. Was bewies, dass wirklich jeder, sogar Leute, die keine Zeitungen lesen konnten, von mir wusste.

Zee fuhr uns zu dem Park auf der Kennewick-Seite des Flusses, wo es Picknicktische am Wasser gab, an denen wir essen konnten. Ich seufzte, als wir am Flussufer zwischen dem Parkplatz und den Picknicktischen entlanggingen. »Ich wünschte, ich wäre nicht in den Zeitungen aufgetaucht. Wie lange dauert es noch, bis alle es vergessen und mir niemand mehr mitleidige Blicke zuwirft?«

Zee schenkte mir ein wölfisches Grinsen. »Ich habe es dir schon mal gesagt: Du solltest Spanisch lernen. Sie hat dir dazu gratuliert, dass du ihn umgebracht hast. Und sie kennt noch ein paar Männer, die deine Aufmerksamkeit verdient hätten.« Er suchte einen Tisch aus und setzte sich.

Ich ließ mich ihm gegenüber nieder und stellte die Tüte zwischen uns. »Hat sie nicht.« Ich spreche kein Spanisch, aber jeder, der länger in den Tri-Cities lebt, schnappt ein paar Worte auf – und außerdem hatte sie nicht viel gesagt, nicht mal auf Spanisch.

»Vielleicht den letzten Teil nicht«, stimmte Zee zu, zog einen Hühnchen-Taco heraus und presste eines der Limettenviertel darüber aus. »Obwohl ich es in ihrem Gesicht gesehen habe. Aber sie hat ›Bien hecho‹ gesagt.«

Ich kannte das erste Wort, aber er ließ mich nach dem zweiten fragen, wartete, bis die Neugier die Worte aus meinem Mund zwang. »Was heißt? Gute …«

»Gute Arbeit.« Er versenkte seine weißen Zähne in der Tortilla.

Dämlich. Es war dämlich, zuzulassen, dass die Meinung anderer Leute zählte, aber jemanden zu haben, der mich nicht als Opfer sah, munterte mich unheimlich auf. Ich goss grüne Sauce über meinen Ziegentaco und aß mit neuem Appetit.

»Ich glaube«, meinte ich zu Zee, »ich werde heute Abend, wenn ich mit der Arbeit fertig bin, ins Dojo gehen.« Ich hatte schon am Samstag die Morgenstunde verpasst.

»Das zu beobachten wird sicher interessant«, sagte Zee, was so nah an einer Lüge war, wie es ihm möglich war. Er hatte keinerlei Bedürfnis danach, eine Ansammlung von Leuten dabei zu beobachten, wie sie sich abrackern, um sich in eine widerliche Pfütze aus Schweiß und Erschöpfung zu verwandeln (seine Worte.) Er musste also über meinen Arbeitstag hinaus zu meinem Bodyguard auserkoren worden sein.

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Jemand hatte mit ihnen allen gesprochen. Ich konnte es an der unverfänglichen Weise sehen, wie sie mich alle begrüßten, als ich ins Dojo kam. Im Kiefer von Sensei Johanson zuckte ein Muskel, als er mich sah, aber er führte uns mit seiner üblichen sadistischen Gründlichkeit durch den Anfangsdrill und die Dehnungsübungen.

Als wir schließlich mit den Übungskämpfen anfingen, waren die Muskeln in meinem Kreuz, die die ganze letzte Woche verspannt gewesen waren, locker und bewegten sich gut. Nach den ersten zwei Runden war ich entspannt und spürte die übliche Hassliebe meinem dritten Gegner gegenüber, dem vernichtend starken Braungürtel, der gleichzeitig der Tyrann des Dojos war. Er war vorsichtig, ach so vorsichtig, dass Sensei ihn niemals dabei sah, aber er tat gerne Leuten weh … besonders Frauen. Neben der Vollkontakt-Variante, die der Sensei bevorzugte, war Lee Holland der andere Grund, warum ich die einzige Frau in der Fortgeschrittenen-Klasse war. Lee war nicht verheiratet, wofür ich dankbar war. Keine Frau verdiente es, mit ihm zu leben.

Ich mochte es tatsächlich, gegen ihn zu kämpfen, weil ich mich bei ihm nie schuldig fühlte, wenn ich Blutergüsse hinterließ. Ich hatte auch Freude an dem frustrierten Blick in seinen Augen, wenn seine geschickten Kampfzüge (sein brauner Gürtel stand berechtigterweise über meinem purpurnen) selten genauso trafen, wie sie sollten.

Heute lag noch etwas anderes in seinen Augen, als er sich die Nähte an meinem Kinn ansah, ein heißes Verlangen, das mir ehrlich Angst machte. Es machte ihn an, dass ich vergewaltigt worden war. Entweder das, oder dass ich jemanden getötet hatte. Mir war das Letzte lieber, aber so wie ich Lee kannte, war es wahrscheinlich das Erste.

»Du bist schwach«, flüsterte er mir zu, leise, damit niemand anders es hören konnte.

Ich hatte Recht gehabt mit der Vermutung, was sein Interesse geweckt hatte.

»Den Letzten, der das dachte, habe ich umgebracht«, sagte ich und jagte ihm einen Frontkick direkt in die Brust. Normalerweise milderte ich meine Geschwindigkeit auf etwas Menschenmögliches ab. Aber seine Augen brachten mich dazu, nicht mehr den Menschen zu spielen. Ich bin nicht übermenschlich stark, aber in der Kampfkunst zählt auch die Schnelligkeit.

Ich bewegte mich mit voller Geschwindigkeit, als ich um ihn herumtrat, während er immer noch um Gleichgewicht rang. Im Turnier-Kampfsport stehen sich zwei Gegner direkt gegenüber, aber unser Stil ermutigt uns, von hinten oder von der Seite aus zuzuschlagen – so dass die Waffen des Gegners in die falsche Richtung zeigen. Ich trat ihn hart in die Kniekehle und zwang ihn, sich zu Boden fallen zu lassen. Bevor er reagieren konnte, sprang ich einen Meter zurück, um ihm die Chance zu geben, aufzustehen. Schließlich waren wir im Training und nicht in einem Kampf auf Leben und Tod.

In unserem Dojo gab es manchmal auch Ringkämpfe, aber nicht besonders viele. Shi Sei Kai Kann dreht sich darum, den Gegner schnell zu Fall zu bringen und sich dann um den nächsten zu kümmern. Es wurde für den Krieg entwickelt, wo ein Soldat mit mehreren Gegnern konfrontiert werden konnte. Ein Ringkampf lässt einen verletzlich werden gegenüber den Angriffen eines anderen Gegners. Und ich hatte überhaupt kein Verlangen danach, Lee zu nahe zu kommen.

Er brüllte in erniedrigter Wut auf und stürmte auf mich zu. Ich blockte, blockte wieder, drehte mich und wich aus, um ihn davon abzuhalten, einen Treffer zu landen.

Jemand rief scharf: »Sensei! Achten Sie auf Lee.«

»Genug, Lee«, rief Sensei vom anderen Ende des Dojo, wo er mit jemandem an seinem Stil gearbeitet hatte. »Das reicht.«

Lee schien ihn nicht zu hören. Wäre ich nicht so viel schneller gewesen als er, hätte ich bereits Verletzungen gehabt. So wie es stand, stellte ich sicher, dass keiner seiner Schläge traf. Zumindest für eine Weile, bevor ich übermütig und zu selbstsicher wurde.

Ich fiel auf einen angetäuschten Schlag seiner rechten Hand herein, und er rammte mir seine linke ins Zwerchfell und warf mich zu Boden. Ich ignorierte die Atemlosigkeit, so gut ich konnte, rollte mich weg und kämpfte mich auf die Füße. Während ich rollte, sah ich, dass Adam in seinem Geschäftsanzug im Türrahmen stand. Er hatte die Arme über der Brust verschränkt, während er darauf wartete, dass ich mit Lee fertig wurde.

Also wurde ich mit ihm fertig. Ich nahm an, dass es Adams Anwesenheit war, die mir die Idee eingab. Ich hatte eine Weile in seinem Dojo verbracht – in seiner Garage – und dort einen gesprungenen Roundhouse-Kick geübt. Er wurde entwickelt, um einen Gegner vom Pferd zu treten, und war ein aufopfernder Schachzug, bei dem nicht erwartet wurde, dass der Fußsoldat ihn überlebte. Berittene Krieger hatten als Waffe mehr Wert als ein Fußsoldat, also wäre das Opfer es wert gewesen. In modernen Zeiten wird der Kick hauptsächlich zur Demonstration verwendet, im Kampf mit einer anderen, erfahrenen Person auf dem Boden. Normalerweise ist er zu langsam und zu auffällig, um wirklich von Nutzen zu sein. Aber zu langsam ist er nur, wenn man kein Teilzeit-Kojote ist und über übernatürliche Schnelligkeit verfügt.

Lee würde niemals erwarten, dass ich das versuchte.

Meine Ferse traf Lees Kiefer und er brach zusammen, fast bevor ich mich entschlossen hatte, den Sprung einzusetzen. Ich fiel direkt neben ihm in mich zusammen, weil ich durch seinen Schlag in mein Zwerchfell immer noch um Luft rang.

Sensei war fast sofort neben Lee und checkte schon seine Lebensfunktionen, als ich landete. Adam legte eine Hand auf meinen Bauch und zog meine Beine nach unten, um mir das Atmen zu erleichtern.

»Hübsch«, sagte er. »Zu schade, dass du dich beherrscht hast; wenn jemand verdienen würde, seinen Kopf zu verlieren …« Er meinte es nicht als Witz. Wenn er es mit einem Hauch mehr Wut gesagt hätte, hätte ich mir Sorgen gemacht.

»Ist er in Ordnung?«, versuchte ich zu fragen – und er musste mich verstanden haben.

»Bewusstlos, aber er wird es überleben. Nicht mal ein weher Hals, trotz seiner Anstrengungen.«

»Ich glaube, Sie haben Recht«, sagte Sensei. »Sie hat sich zurückgehalten, und der Winkel ihres Fußes war perfekt für einen Turnier-Angriff.« Er hielt Lee ruhig, als der große Mann stöhnte und begann, sich zu bewegen.

Sensei schaute mich an und runzelte die Stirn. »Du warst dumm, Mercy. Was ist die erste Regel des Kampfes?«

Inzwischen konnte ich wieder reden. »Die beste Verteidigung sind schnelle Turnschuhe«, antwortete ich.

Er nickte. »Richtig. Als du bemerkt hast, dass er außer Kontrolle ist – also bestimmt zwei Minuten, bevor ich es gemerkt habe, weil ich Gibbs bei seinem Axekick geholfen habe –, hättest du nach Hilfe rufen und dich dann davonmachen sollen. Es gab keinen Grund, es weiterlaufen zu lassen, bis jemand verletzt wurde.«

Vom Rand sagte Gibbs, ein anderer Braungürtel: »Es tut ihr leid, Sensei. Sie hat sich einfach vertan. Sie ist einfach immer wieder in die falsche Richtung gelaufen.«

Alle lachten und die Anspannung im Raum löste sich auf.

Sensei führte Lee durch eine generelle Kontrolle, um sicherzustellen, dass nichts dauerhaft beschädigt war. »Setz dich für den Rest der Stunde an den Rand«, meinte er dann zu Lee. »Dann unterhalten wir uns mal.«

Als Lee aufstand, schaute er weder mich noch sonst jemanden an, sondern stellte sich mit dem Rücken zur Wand in eine tiefe Reiterstellung.

Sensei stand auf. Er schaute Adam an.

Der sich verbeugte, mit einer Faust an der offenen Handfläche. Seine Augen waren hinter einer Sonnenbrille verborgen, die er noch nicht getragen hatte, als ich ihn im Türrahmen gesehen hatte. Die meisten Werwölfe, die ich kenne, haben immer eine Sonnenbrille dabei oder tragen einen Hut, der ihre Augen beschattet.

»Adam Hauptman«, sagte er. »Ein Freund von Mercy. Nur als Beobachter hier, außer, Sie haben etwas dagegen.«

Im wirklichen Leben war Sensei ein Buchhalter. In seinem Job arbeitete er für eine Versicherungsfirma, aber hier war er der König. Seine Augen waren kühl und selbstsicher, als er Adam musterte.

»Der Werwolf«, sagte er. Adam war einer von fünf oder sechs aus seinem Rudel, die sich entschieden hatten, an die Öffentlichkeit zu gehen.

»Hai«, stimmte Adam zu.

»Und warum haben Sie Mercy nicht geholfen?«

»Es ist Ihr Dojo, Sensei Johanson.« Sensei zog eine Augenbraue hoch und Adam lächelte plötzlich strahlend. »Außerdem habe ich sie schon kämpfen sehen. Sie ist zäh und sie ist klug. Wenn sie geglaubt hätte, dass sie in Schwierigkeiten steckt, hätte sie um Hilfe gebeten.«

Ich schaute mich um und rollte mich auf die Füße, so gut wie neu, mal abgesehen von dem hübschen Bluterguss, der sich auf meinem Bauch entwickeln würde. Zee war weg. Da Adam hier war, um die Wache zu übernehmen, war klar, dass er nicht geblieben war. Er hatte schon beim Reinkommen die Nase über den Geruch schwitzender Körper gerümpft – und er hatte Glück gehabt, dass es diesen Herbst relativ kühl war. Im Hochsommer konnte man das Dojo schon einen Block entfernt riechen, zumindest mit meiner Nase. Für mich war der Geruch zwar stark, aber nicht unangenehm, aber ich wusste von den Kommentaren meiner Mitschüler, dass Menschen ihn fast so sehr hassten wie Zee.

Nachdem das Drama vorbei war, zog Adam sich an den Rand zurück. In einem Zugeständnis an die Hitze lockerte er seine Krawatte und zog sein Jackett aus. Sensei ließ uns dreihundert Sidekicks ausführen (Lee wurde aus seiner Strafstellung gerufen, um teilzunehmen), erst nach rechts, dann nach links. Wir alle zählten sie auf japanisch – obwohl ich vermutete, dass ein vorbeikommender Muttersprachler Mühe gehabt hätte zu verstehen, was wir sagten.

Die ersten hundert waren einfach, weil die Muskeln von den vorherigen Freiübungen warm und beweglich waren; die zweiten … waren nicht mehr so einfach. Irgendwann um zweihundertzwanzig herum verlor ich mich in den brennenden Schmerzen, bis es fast ein Schock war, aufzuhören und die Seite zu wechseln. Sensei wanderte die Reihen entlang (heute Abend waren wir zwölf) und verbesserte dort, wo er es für nötig hielt, die Haltung.

Man konnte die von uns, die Karate ernst nahmen, daran erkennen, dass unser zweihundertster Kick noch genauso aussah wie unser erster. Weniger gewissenhafte Schüler verloren an Höhe und Haltung, je mehr die Erschöpfung ihren Tribut forderte. Ein paar Schüler hatten auch beim dreihundertsten Kick noch eine gute Haltung – aber nicht ich.


Nach der Stunde waren die Leute zu sehr damit beschäftigt, den Werwolf nicht anzustarren – und trotzdem einen guten Blick zu erhaschen –, um mich in irgendeiner Art zu beachten. Ich zog mich auf der Toilette um und ließ mir aus Höflichkeit Zeit, damit sie sich alle im Vorraum des Dojos umziehen konnten, bevor ich wiederkam.

Sensei wartete auf mich, als ich herauskam.

»Gute Arbeit, Mercy«, sagte er zu mir mit einem Unterton, der klarmachte, dass er nicht über Lee sprach. Es war seltsam, dass er dieselben Worte benutzte, wenn auch in einer anderen Sprache, wie die Frau im Tacowagen, und es auch genauso meinte.

»Wenn ich das nicht gehabt hätte« – ich deutete mit dem Kopf auf den Trainingsraum –, »wäre ich in dieser Nacht gestorben, und nicht mein Angreifer.« Ich verbeugte mich förmlich vor ihm, beide Fäuste an der Seite. »Ich danke Euch für Eure Lektionen, Sensei.«

Er erwiderte meine Verbeugung und wir beide ignorierten die verräterischen Tränen in unseren Augen.

Adam wartete neben der Tür und musterte eindringlich seine Fingernägel. Er hatte sich entschlossen, das Starren der ganzen Leute amüsant zu finden, was gut war. Er war aufbrausend. Schweiß verdunkelte sein Baumwollhemd und es klebte an den runden Formen seiner Schultern und Arme, so dass jeder sehen konnte, was für einen gestählten Körper er hatte.

Ich holte tief Luft, um mich zu beruhigen, und stellte ihn allen vor. Nur Lee hielt seinen Blick für mehr als einen Moment, und am Anfang dachte ich, Adam würde durchdrehen. Er bedachte Lee mit einem unheimlichen Lächeln. Ich hatte Angst, was er – egal, welcher er – sagen würde, also schnappte ich mir Adams Arm und zog ihn aus der Tür.

Adam hätte mich abschütteln können, wenn er es gewollt hätte, aber er spielte mit. Ich hatte mein Auto nicht mitgebracht, weil das Dojo nur einen kurzen Spaziergang über Rasenflächen und die Gleise von meiner Werkstatt entfernt war. Adams SUV war auch nicht da.

»Bist du mit einem anderen Auto gekommen?«, fragte ich auf dem Parkplatz.

»Nein, ich habe mich nach der Arbeit von Carlos absetzen lassen, damit ich mit dir zusammen zurück zu deiner Werkstatt laufen kann.« Carlos war einer seiner Wölfe, einer von dreien oder vieren, die mit ihm in seiner Sicherheitsfirma arbeiteten, aber keiner, den ich gut kannte. »Ich habe mich daran erinnert, wie du mir erzählt hast, dass du auf dem Rückweg gerne abkühlst.«

Das hatte ich ihm vor einigen Jahren erzählt. Er hatte mit einer Warnung vor meinem Betrieb gewartet … Ich schaute auf den Asphalt und wandte den Kopf ein wenig ab, damit er mein Lächeln nicht sah.

Es war gewesen, nachdem ich mein Ersatzteilauto aus der Scheune geschleppt und mitten auf dem Feld aufgestellt hatte, sodass Adam gar nicht anders konnte, als es von seinen Fenstern aus zu sehen. Er hatte rechts und links Befehle erteilt und, weil ich Werwölfe so gut kannte wie ich es tat, hatte ich ihn nicht offen herausgefordert. Stattdessen hatte ich ihn mit meinem Golf gequält, weil ich wusste, wie ordentlich und organisiert Adam war.

Er hatte an der Werkstatt angehalten, aber nur mein Auto gefunden, nicht mich. Er hatte es nie zugegeben, aber ich ging davon aus, dass er mich bis zum Dojo verfolgt hatte – und statt sich über die Schrottkarre zu beschweren, hatte er mir eine Gardinenpredigt darüber gehalten, dass ich nachts allein in den Tri-Cities herumwanderte. Stinksauer hatte ich einfach zurückgeschnauzt. Ich hatte ihm gesagt, dass ich den nicht allzu weiten Spaziergang zu meiner Werkstatt dazu verwendete, nach dem Work-out auszudampfen. Das war nach seiner Scheidung gewesen, aber nicht lange danach. Vor Jahren.

Er hatte sich nach all den Jahren noch daran erinnert.

»Was macht dich so selbstzufrieden?«, fragte er mich.

Er hatte sich an das erinnert, was ich ihm gesagt hatte, als ob ich damals schon wichtig für ihn gewesen wäre … aber ich hätte auch die Farbe seiner Krawatte an diesem Tag beschreiben können, oder den besorgten Ton in seiner Stimme. Ich hatte nicht zugeben wollen, dass ich mich von ihm angezogen fühlte. Nicht, als er verheiratet war, und auch nicht, als er wieder solo war. Ich war von Werwölfen aufgezogen worden, hatte sie verlassen und wollte mich nicht wieder in dieser klaustrophobischen, gewalttätigen Umgebung wiederfinden. Und insbesondere hatte ich keinerlei Bedürfnis, mit einem Alpha-Werwolf auszugehen.

Und doch war ich jetzt hier, neben Adam, der so sehr Alpha war, wie man nur sein konnte.

»Warum hast du dich nicht in den Kampf mit Lee eingemischt?« , fragte ich und wechselte damit das Thema. Er hatte es gewollt – deswegen hatte er die Sonnenbrille aufgesetzt, damit nicht jeder sehen konnte, dass seine Augen plötzlich wölfisch golden waren.

Er antwortete nicht sofort. Die künstliche Böschung zu den Bahngleisen hinauf, über die der kürzeste Weg zu meiner Werkstatt verlief, war steil und durch den feinen Kies darauf nicht ganz einfach. Mir taten die Muskeln weh, also rannte ich nach oben. Meine Oberschenkelmuskeln, müde von den dreihundert Kicks, protestierten gegen die zusätzliche Anstrengung, die ich ihnen abverlangte, aber laufen hieß, dass es schneller vorbei war.

Adam folgte mir mühelos, selbst in seinen glatten Lederschuhen. Irgendetwas an der Art, wie er mir folgte, machte mich nervös, als wäre ich eine Hirschkuh, die gejagt wurde. Also hielt ich oben an und dehnte meine müden Beine. Ich würde verdammt sein, vor Adam wegzulaufen.

»Du hattest ihn«, sagte Adam und beobachtete mich. »Er ist besser in Form als du, aber er hat noch niemals um sein Leben gekämpft. Gefesselt und mit ihm allein würde ich dich nicht gerne lange sehen, aber im Dojo hatte er niemals eine Chance.« Dann wurde seine Stimme tiefer und rauer. »Wenn du nicht dumm gewesen wärst, hätte er nicht mal diesen einen Treffer gelandet. Mach das nicht nochmal.«

»Nein, Sir«, antwortete ich.

Ich hatte mich den ganzen Tag bemüht, nicht an Adam zu denken … seitdem die überkreuzten Knochen an meiner Tür deutlich gemacht hatten, dass Marsilia noch nicht mit mir fertig war. Ich wusste – obwohl Zee noch andere Möglichkeiten erkunden würde –, ich wusste einfach, dass es die Vampire gewesen waren, die meine Werkstatt gezeichnet hatten.

Und, wie Tony schon gesagt hatte, es fühlte sich an wie eine Todesdrohung. Ich war eine tote Frau, es war nur noch eine Frage der Zeit. Alles, was ich noch tun konnte, war einen Weg zu finden, wie ich andere davon abhalten konnte, mit mir zu sterben.

Adam würde für seine Gefährtin sterben. Er würde mich auch nicht einfach verschwinden lassen. Christy, seine erste Frau, war niemals seine Gefährtin gewesen, sonst wären sie immer noch verheiratet. Ich musste einen Weg finden, rückgängig zu machen, was ich letzte Nacht getan hatte.

Aber mit ihm neben mir war es schwer, an den Tod zu glauben, wenn das volle Herbstlicht in seinem dunklen Haar glitzerte und in seine Augen leuchtete, was ihn zum Blinzeln brachte und damit seine kleinen Lachfalten betonte.

Er nahm in einer beiläufigen Bewegung meine Hand, so dass ich nicht ausweichen konnte, ohne ein Riesendrama daraus zu machen. Und ich wollte ihm gar nicht ausweichen. Er legte den Kopf schief, als versuche er, mich zu verstehen – hatte er gemerkt, worüber ich nachdachte? Seine Hand war breit und warm. Die Schwielen darauf sorgten dafür, dass sie nicht weicher war als meine von der Arbeit geschundene Haut.

Ich wandte mich von ihm ab, ließ aber meine Hand in der seinen, als ich auf der anderen Seite der Gleise wieder in Richtung Werkstatt nach unten stieg. Ungefähr vier Schritte lang war es schwierig, aber dann passte er seine Schritte an und plötzlich waren unsere Bewegungen synchron.

Ich schloss die Augen und vertraute auf mein Gleichgewicht und Adam, um mich in der richtigen Richtung zu halten. Wenn ich anfing zu weinen, hätte er mich nach dem Grund gefragt, und einen Werwolf kann man nicht anlügen. Ich musste ihn ablenken.

»Du trägst ein neues Rasierwasser«, sagte ich zu ihm, und meine Stimme war rauchig. »Ich mag es.«

Er lachte, ein volles, grummeliges Geräusch, das in meinen Magen einsank wie ein warmes Stück Apfelkuchen. »Wahrscheinlich ein Shampoo …« Dann lachte er wieder und zog mich aus dem Gleichgewicht, bis ich gegen ihn stieß. Er ließ meine Hand los und griff stattdessen nach der ihm abgewandten Schulter, so dass sein Arm warm über meinem Rücken lag. »Nein. Du hast Recht. Jesse hat mich mit irgendwas besprüht, als ich heute Abend aus dem Haus gegangen bin.«

»Jesse hat einen herausragenden Geschmack«, erklärte ich ihm. »Du riechst gut genug zum Auffressen.«

Der Arm über meiner Schulter wurde steif. Ich dachte nochmal über das nach, was ich gesagt hatte, und fühlte, wie meine Wangen warm wurden. Ein Teil davon war Verlegenheit … aber ein Teil davon auch nicht. Doch es war nicht mein freudscher Versprecher, der seine Aufmerksamkeit erregt hatte.

Adam hielt an. Nachdem er mich festhielt, blieb auch ich stehen. Ich schaute ihn an, dann folgte ich seinem Blick zu meiner Werkstatt.

»Ich nehme mal an, Zee hat dir nichts erzählt?«

»Wer war das?« In seiner Stimme lag ein Knurren. »Die Vampire?«

Wie sollte ich darauf antworten, ohne zu lügen – was er riechen würde – oder einen Krieg auszulösen?

Hätte ich gewusst, dass Marsilia über meine Beteiligung an Andres Tod informiert war, hätte ich Adam niemals gesagt, dass ich bereit war, seine Gefährtin zu werden. Ein anderer Wolf hätte vielleicht verstanden, dass ein Krieg mit den Vampiren mich nicht retten, sondern nur noch mehr Opfer fordern würde. Ein Krieg mit den Vampiren hier in den Tri-Cities könnte sich wie die Pest durch das gesamte Herrschaftsgebiet des Marrok ausbreiten.

Aber Adam würde es nicht einfach hinnehmen. Und Samuel würde ihn unterstützen. Ich würde vielleicht nie Samuels große Liebe sein, oder er meine. Aber das hieß nicht, dass er mich nicht liebte, und ich liebte ihn ebenso. Und Samuel würde seinen Vater, den Marrok, mit hineinziehen.

Keine Panik, halt es unverfänglich, predigte ich mir. »Die Vamps haben meine Tür ein wenig verziert, aber das meiste davon waren Tims Cousine und ein Freund. Du kannst es dir auf DVD anschauen, wenn du Lust hast. Gabriels Mutter und Geschwister kommen am Samstag, um mir beim Streichen zu helfen. Die Polizei kümmert sich darum, Adam.« Der letzte Satz war nötig, weil er immer noch stocksteif war. »Tony findet, es sieht weihnachtlich aus. Vielleicht lasse ich es einfach ein paar Monate dran.«

Er richtete seinen wütenden Blick auf mich.

»Sie glaubt immer noch an ihren Cousin, Adam. Sie glaubt, ich habe das alles nur erfunden, um einer Mordanklage zu entgehen.« Ich ließ das Mitgefühl für Courtneys Misere in meiner Stimme hörbar werden, obwohl ich wusste, dass Adam es nicht gutheißen würde. Was Richtig und Falsch anging, hatte Adam eine ziemlich schwarz-weiße Sichtweise. Er würde sich über meine Haltung ärgern und das würde ihn ablenken. Das legte den Schwerpunkt auf Courtney und nicht auf die Vampire.

Adam entspannte sich nicht, aber zumindest ging er weiter.

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Normalerweise dusche ich nach dem Training in der Werkstatt, aber ich wollte nicht, dass Adam sich die überkreuzten Knochen an der Tür zu genau ansah. Ich wollte, dass er über andere Dinge als Vampire nachdachte, bis ich wusste, was meine Möglichkeiten waren. Also stiegen wir in meinen Vanagon (an meinem armen Golf wurden immer noch die Schäden repariert, die ein Angehöriger des Feenvolkes letzte Woche verursacht hatte).

Vielleicht sollte ich umziehen. Wenn ich in das Territorium eines anderen Vampirs überwechselte, könnte das Marsilia vielleicht ein wenig verlangsamen, besonders wenn es ein Vampir war, der sie nicht mochte. Wegzulaufen würde an mir nagen, aber wenn ich blieb, würde sie mich umbringen – und Adam würde das nicht einfach hinnehmen, und dann würden außer mir wahrscheinlich noch eine Menge anderer Leute sterben.

Ich könnte auch versuchen, Marsilia zu töten.

Darüber dachte ich tatsächlich kurz nach – ein klares Zeichen dafür, wie verzweifelt ich war. Sicher, ich hatte schon zwei Vampire getötet. Den ersten hatte ich mit jeder Menge Hilfe und einem Berg von Glück umgebracht. Und den zweiten hatte ich erledigt, als er schlief.

Ich hatte gegen Marsilia ungefähr dieselben Chancen, wie meine Katze Medea in einem Kampf gegen einen Puma. Vielleicht sogar weniger.

Während ich nachdachte, plapperte ich Adam den ganzen Weg nach Hause etwas vor. Wir fuhren zu mir. Benzin war teuer und es würde ihm nichts ausmachen, das kurze Stück zu seinem Haus zu Fuß zu gehen.

Wenn er noch warten wollte, während ich duschte, konnte ich auch mit ihm zusammen gehen. Ich warf einen Blick zum Himmel und entschied, dass ich noch duschen konnte, ohne zu riskieren, dass Adam der Erste war, der mit Stefan sprach.

Ich musste herausfinden, was das Kunstwerk an meiner Tür bedeutete – und ich musste sicherstellen, dass weglaufen auch funktionieren würde. Stefan würde es vielleicht wissen, aber keine dieser beiden Fragen wollte ich vor Publikum stellen. Ich würde einen Weg finden, mit ihm allein zu sprechen, wenn es so weit war.

»Mercy«, unterbrach Adam meinen Monolog über Karmann Ghias und wassergekühlte im Gegensatz zu luftgekühlten Motoren, als ich in meine Einfahrt einbog. Er klang gleichzeitig amüsiert und resigniert. Ein Tonfall, den ich oft von ihm hörte.

»Hmmm?«

»Warum haben die Vampire ein paar Knochen auf deine Tür gemalt?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete ich mit absichtlich entspannter Stimme. »Ich weiß nicht mal, ob es die Vampire waren. Die Kamera hat denjenigen nicht genau eingefangen. Zee und ich haben einfach nur wegen Stefan angenommen, dass es die Vampire waren. Er will allerdings mit Onkel Mike reden, um sicherzustellen, dass es nicht das Feenvolk war.«

»Ich werde nicht zulassen, dass Marsilia dir wehtut«, erklärte er mir mit der ruhigen Stimme, die er immer hatte, wenn er sein Ehrenwort gab.

Wölfe tun das, zumindest einige der älteren. Ich hätte nicht gedacht, dass Adam einer von ihnen war. Er war Baujahr 1950, wenn auch für immer in der Form eines Mittzwanzigers gefangen. Wenn ich ältere Wölfe sage, dann meine ich um einiges älter als 1950, eher so was wie mehrere Hundert Jahre alt.

Es ist nicht so, dass moderne Männer keine Ehre hätten, aber die meisten denken nicht auf diese Art. Das ermöglicht ihnen eine Flexibilität, die den früheren Generationen fehlt. Manche der älteren Werwölfe nehmen ihre Versprechen sehr, sehr ernst.

Was hätte ich nicht dafür gegeben, dumm genug zu sein, um zu glauben, dass Adam versprechen konnte, dass Marsilia mich nicht umbringen würde – und noch mehr, zu glauben, dass er sich nicht selbst umbringen würde bei dem Versuch, sein Wort zu halten.

Ich hatte mich nicht mit meinem Schicksal abgefunden oder etwas in der Art, aber wenn ich dadurch, dass ich von Werwölfen aufgezogen worden war, eines gelernt hatte, dann war es, mir einen klaren Blick auf das zu bewahren, was vielleicht passieren konnte, und die möglichen Schäden einzugrenzen. Und wenn Marsilia mich tot sehen wollte … na ja, dann war das nur das wahrscheinlichste Ergebnis. Wirklich wahrscheinlich. Wahrscheinlich genug, dass ich spürte, wie die nächste dämliche Panikattacke sich ankündigte. Meine erste heute, wenn ich die leichte Atemlosigkeit ein- oder zweimal nicht zählte.

»Sie ist nicht dumm genug, mich anzugreifen«, erklärte ich ihm und öffnete meine Tür. »Besonders, sobald sie hört, dass du mich als deine Gefährtin angenommen hast. Das stellt mich unter den Schutz deines Rudels. Sie wird mir nicht viel tun können.« Das sollte wahr sein … aber ich ging nicht davon aus, dass es so einfach sein würde. »Stefan ist derjenige, der in Schwierigkeiten steckt.«

Er stieg aus und wartete, bis ich um die Motorhaube des Vans herumgegangen war, bevor er fragte: »Würdest du morgen mit mir ausgehen … irgendwohin, wo es schön ist? Ein Abendessen mit ein bisschen Tanzen hinterher?«

Das war nicht das, was ich von ihm erwartet hatte, nicht, wenn er mich mit diesen kühlen, abschätzenden Augen beobachtete. Ich brauchte einen Moment, um mich auf das neue Thema einzustellen, weil mein drohender Tod durch Marsilias Hände mich doch ein wenig beschäftigte.

Adam wollte mich ausführen.

Er berührte mein Gesicht – das tat er gerne und in letzter Zeit immer öfter. Ich konnte die Wärme seiner Finger bis in meine Zehenspitzen fühlen. Plötzlich war mein bevorstehendes Ableben gar nicht mehr so fesselnd.

»In Ordnung. Das wäre schön.« Ich legte eine Hand auf meinen Bauch, um die Schmetterlinge darin zu beruhigen, unsicher, ob sie daher kamen, dass ich ein Date mit Adam hatte, oder weil ich die ganze Geschichte auflösen musste, bevor ich den Tod zu ihm und seinem Rudel brachte. Vielleicht sollte ich heute Nacht schon fliehen – würde es ihn tiefer verletzen, weil ich der Verabredung zugestimmt hatte? Sollte ich Gründe finden, warum ich morgen nicht konnte?

Mir kam ein plötzlicher Gedanke. Wenn ich ihn tief genug verletzte, ihn wütend von mir wegtrieb … würde es ihm dann etwas ausmachen, wenn Marsilia mich tötete, oder würde er es durchgehen lassen? Eine neuerdings vertraute Atemlosigkeit breitete sich vom Magen her in mir aus – die Panikattacke, die schon eine Weile wartete.

»Ich muss duschen«, erklärte ich ihm mit sehr fester Stimme. »Aber dann würde ich gerne mit Stefan reden.«

»Kein Problem«, sagte er zustimmend und ging vor mir die Stufen zu meiner Tür hinauf. Er öffnete sie und hielt sie für mich auf. »Ich werde warten, während du duschst – Samuel ist nicht zu Hause.«

Es gab keinen Grund, mich wie Adams Beute zu fühlen, sagte ich mir bestimmt, als ich an ihm vorbei in mein eigenes Haus ging. Kein Grund, seinen festen Blick auf meinem Rücken zu spüren. Er konnte nicht Gedanken lesen und somit auch nicht wissen, dass ich über Flucht nachdachte. Aber ich drehte mich nicht um, als ich sagte: »Fühl dich wie zu Hause. Ich komme gleich.« Und dann schloss ich meine Schlafzimmertür hinter mir und lehnte mich von innen dagegen.

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Zuerst schrubbte ich meine Hände mit einer harten Bürste und Fast Orange, um die Reste des Drecks vom Tag abzubekommen. Ich schaffe es nie, alles abzukriegen, aber falls es Adam störte, mit einer Frau unterwegs zu sein, in deren Hände der Schmutz eingezogen war, dann hatte er nie etwas gesagt. Als sie so sauber wie möglich waren, stieg ich in die Dusche.

Konnte ich meine Meinung darüber, ob ich Adams Gefährtin sein wollte, noch ändern?

Ich bin nicht so empfänglich gegenüber Rudelmagie wie die Werwölfe. Sie reden nicht viel darüber. Geheimniskrämer, diese Werwölfe. Ich hatte inzwischen rausgefunden, dass da viel mehr dran war, als ich geglaubt hatte. Ich wusste, dass es für ein verbundenes Paar möglich war, seine Verbindung aufzulösen, obwohl ich niemals jemanden getroffen hatte, der es getan hatte.

War mein Einverständnis nicht mehr als Worte, oder hatte es schon einen Prozess innerhalb der Rudelmagie ausgelöst? Zustimmung, das wusste ich, war für große Teile der Magie notwendig. Ich bin immun gegenüber mancher Magie. Vielleicht würde sich die Verpaarung als ein solcher Bereich herausstellen. Ich wusste auch, dass sich Rudelmagie für den Alpha ein wenig anders gestaltete als für den Rest des Rudels. Adam hatte sich an mich gebunden, indem er mich vor seinem Rudel zu seiner Gefährtin erklärt hatte – und das hatte Einfluss auf die Rudelmagie, und auf Adam. Ich war mir ziemlich sicher, dass es für die meisten Wölfe nicht auf diese Art funktionierte; dass beide zustimmen mussten, und dass ihre Verpaarung privater war.

Ich runzelte die Stirn. Es gab eine Zeremonie. Da war ich mir fast sicher. Etwas passierte, um aus einem Pärchen ein Paar zu machen – und dann gab es irgendeine, nur Werwölfen vorbehaltene Zeremonie. Vielleicht war Adam das Ganze von hinten angegangen? Vielleicht war es doch nicht anders, sich mit einem Alpha zu verpaaren als mit jedem anderen Wolf.

Vielleicht würde ich mich selbst in den Wahnsinn treiben. Ich brauchte handfeste Informationen, und ich hatte keine Ahnung, wen ich fragen sollte.

Es konnte niemand aus Adams Rudel sein – das würde seine Autorität untergraben. Außerdem würden sie ihm nur erzählen, was ich gefragt hatte. Samuel schien mir auch nicht die richtige Wahl, nicht, nachdem wir gerade erst beschlossen hatten, dass wir es nicht als Paar probieren sollten. Und auch nicht Bran, aus denselben Gründen. Ich wusste, dass er Samuel in einem fehlgeleiteten Versuch der Kuppelei in die Tri-Cities geschickt hatte. Ich war mir nicht sicher, ob Samuel ihm schon gesagt hatte, dass es nicht geklappt hatte. Ich wünschte mir, nicht zum ersten Mal, dass mein Pflegevater Bryan noch da wäre. Aber er hatte sich schon vor einiger Zeit umgebracht.

Ich hielt mein Gesicht in den heißen Duschstrahl. Okay. Angenommen, eine Gefährtenbindung war nicht zwangsweise etwas Dauerhaftes. Wie konnte ich Adam dazu bringen, mich zu hassen?

Also, ich würde sicher nicht mit Samuel schlafen. Oder Jesse verletzen.

Wasser prasselte auf die heilende Wunde an meinem Kinn und ich senkte den Kopf. Ihn dazu zu bringen, mich zu verlassen, schien mir logisch, aber Adam war nicht der Typ, der einfach ging, wenn es mal schwierig wurde. Und selbst, wenn es mir gelingen sollte, würde es ihm nicht trotzdem etwas ausmachen, wenn Marsilia mich umbrachte? Vielleicht, wenn ich noch ein paar Monate oder ein Jahr Zeit hätte, vielleicht würde es dann klappen.

Konnte ich einfach abhauen? Bei meinem Kontostand konnte ich es gerade mal bis nach Seattle schaffen.

Die drohende Panikattacke zog sich zurück, als Erleichterung sich in mir ausbreitete. Das war das erste Mal, dass es mich glücklich machte, pleite zu sein.

Ich war ja vielleicht eine tote Frau, aber ich würde immerhin Adam behalten, solange ich noch lebte.

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Obwohl Adams Hand nur höflich unter meinem Arm ruhte, als wir über das Feld zu dem Stacheldrahtzaun zwischen unseren Grundstücken gingen, lag in der aufgeladenen Luft ein Gefühl von Besitzerstolz, das ihn immer zu begleiten schien. Es sagte: Meins.

Wenn Marsilia nicht gewesen wäre, wäre ich zweifellos wütend geworden wegen dieses Besitzanspruchs. Doch so wie es jetzt war, war ich einfach unglücklich, weil ich mich nicht einfach in die Sicherheit sinken lassen konnte, die er darstellte … nicht ohne zu riskieren, dass er meinetwegen verletzt wurde.

Vielleicht musste ich doch verschwinden, Geld oder kein Geld.

Mein Magen hatte sich wieder verkrampft, und wenn ich das nicht alles unterdrückte, dann würde ich eine dieser dummen Panikattacken bekommen, und diesmal nicht in der Sicherheit von laufendem Wasser und hinter einer geschlossenen Badezimmertür. Sondern genau hier, wo jeder es sehen konnte. Neben dem armen, ausgeschlachteten Golf, auf dessen Dach Adams Telefonnummer stand. Für etwas Spaß hier anrufen …

Er blieb abrupt stehen. »Mercy? Weshalb bist du so wütend?«

Er würde es merken. Sogar ich konnte es riechen: Wut und Angst und … Ich hatte alles, und ich hatte nichts.

Es war zu viel. Ich schloss die Augen und fühlte, wie mein Körper hilflos zitterte, mein Hals sich zuschnürte und sich weigerte, Luft durchzulassen …

Adam fing mich auf, als ich umfiel, und zog mich an sich, im Schatten des alten Autos. Er war so warm, und mir war so kalt. Er drückte seine Nase an meinen Hals. Ich konnte ihn nicht sehen, weil der Sauerstoffmangel schwarze Punkte vor meinen Augen erzeugte.

Ich hörte das Knurren, das Adams Brust erschütterte, sein Mund schloss sich über meinem – und ich holte tief durch die Nase Luft. Ich konnte wieder atmen, das Gewicht in meinem Magen hob sich und ließ mich zitternd zurück. Blut … nein, Rotz lief mir übers Gesicht.

Ich war unglaublich verlegen und riss mich aus Adams Griff – und wusste gleichzeitig mit erniedrigender Sicherheit, dass er mich gehen ließ. Ich wischte mir das Gesicht mit dem Saum meines T-Shirts ab. Dann ließ ich mich in den Schutz des Golfes sinken, meine Wange an dem kühlen Metall.

Schwach. Gebrochen. Gott sei verdammt. Gott verdamme mich. Verzweiflung und hilflose Wut … Sie waren alle tot. Alle tot und es ist mein Fehler.

Aber niemand war tot. Noch nicht.

Alle tot. All meine Kinder, meine Lieben, und es war mein Fehler. Ich habe sie in Gefahr gebracht und habe versagt. Sie sind wegen meines Versagens gestorben.

Ich roch Stefan.

Adams goldene Augen suchten meinen Blick und ihre Farbe bewies, dass der Wolf an die Oberfläche kam. Er küsste mich wieder, drückte etwas gegen meine Lippen, zwang es mit Zeigefinger und Daumen zwischen meine Zähne, ohne seinen Mund von meinem zu heben.

Das blutige Fleischstück war zu klein, um so in meiner Kehle zu brennen, wie es das tat. Das bedeutete etwas.

»Mein«, sagte er zu mir. »Du gehörst nicht Stefan.«

Das trockene Gras knisterte unter meinem Kopf, und der raue Dreck erzeugte ein Geräusch wie Schleifpapier, das in meinem Kopf widerhallte. Ich leckte mir die Lippen und schmeckte Blut. Adams Blut.

Das Fleisch und Blut des Alphas … Rudel.

»Von diesem Tag an«, sagte Adam, und seine Stimme zog mich nach oben, von wo auch immer ich gewesen war. »Meins zu mir und den meinen. Rudel und einziger Liebhaber.« Auf seinem Gesicht war auch Blut, und auch auf den Händen, mit denen er mein Gesicht berührte.

»Dein zu dir und mein zu mir«, antwortete ich, obwohl es eine trockene, krächzende Stimme war, die die Laute hervorbrachte. Ich wusste nicht, warum ich so antwortete, anders als die alte unfreiwillige »Ja, ja, genau«-Antwort. Ich hatte diese Zeremonie so oft gehört, selbst wenn er den ›einzigen Liebhaber‹ hinzugefügt hatte.

Als ich mich daran erinnerte, warum ich es nicht tun sollte, was es bedeutete, war es bereits zu spät.

Magie brannte ihren Weg durch mich, folgte dem Weg dieses Fleischstücks – und ich schrie auf, als sie versuchte, mich zu etwas anderem zu machen, als ich war, weniger oder mehr. Rudel.

Ich fühlte sie alle durch Adams Berührung und Adams Blut. Sein, zu beschützen und zu regieren. Sie alle waren jetzt auch mein – und ich ihre.

Keuchend leckte ich mir über die Lippen und starrte Adam an. Er ließ mich los, stand auf und trat zwei Schritte zurück. Er hatte sich heftig in den Unterarm gebissen.

»Er kann dich nicht haben«, sagte er, und das Gold in seinen Augen verriet mir, dass immer noch der Wolf sprach. »Nicht jetzt. Niemals. Das schulde ich ihm nicht.«

Erst jetzt verstand ich, was passiert war. Ich wischte mir mit dem Handgelenk über den Mund, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen. Meine Haut war rosa von Adams Blut.

Stefan war wach … und war irgendwie in meinen Geist eingedrungen. Es war seine Panikattacke gewesen, die ich gefühlt hatte.

Alle tot … Ich hatte das üble, kranke Gefühl, zu wissen, wen er meinte. Ich hatte einige der Leute getroffen, der Menschen, die Stefan nährten. Hatte erfahren, wie schrecklich verletzlich sie waren, wenn dem Vampir, der von ihnen trank und sie beschützte, etwas geschah.

Ich warf einen Blick zur untergehenden Sonne. »Es ist ein bisschen früh für einen Vampir, um wach zu sein, oder?«

Zeit, dass alle sich etwas beruhigten. Mich eingeschlossen.

Meine bewusste Wahrnehmung des Rudels ließ nach, aber sie würde nie wieder ganz verschwinden. Nicht, nachdem Adam mich zu einem Teil des Rudels gemacht hatte. Es war üblicher, es bei einer vollen Rudelversammlung zu machen, aber das Rudel war nicht unbedingt nötig. Nur das Fleisch und Blut des Alphas und der Austausch des Gelübdes.

Ich hatte es für unmöglich gehalten, jemanden einzuführen, der kein Werwolf war. Ich hätte niemals gedacht, dass er mich zum Teil des Rudels machen konnte. Magie wirkte bei mir manchmal seltsam, und manchmal bin ich so gut wie immun dagegen. Aber nach dem, was ich spürte, hatte es diesmal ganz prima funktioniert.

Adam hatte sich umgedreht und stand mit dem Rücken zu mir, die Schultern vorgezogen und die Hände zu Fäusten geballt. Er beantwortete meine Frage nicht, sondern sagte nur steif: »Es tut mir leid. Ich bin in Panik geraten.«

Ich legte meine Stirn auf die Knie. »Das ist in letzter Zeit einigen passiert.«

Ich hörte das trockene Gras rascheln, als er zu mir zurückkam. »Lachst du?«, fragte er ungläubig.

Ich schaute zu ihm auf. Die letzten Strahlen der Sonne warfen Schatten auf sein Gesicht und verhinderten, dass ich seine Miene lesen konnte. Aber ich konnte Scham in der Haltung seiner Schultern erkennen. Er hatte mich zum Teil des Rudels gemacht, ohne mich zu fragen – und auch ohne das Rudel zu fragen, selbst wenn das nicht unbedingt nötig war, nur eine Tradition. Er wartete darauf, dass ich ihn anschrie, wie er es zu verdienen glaubte.

Adam war es gewöhnt, die Konsequenzen seiner Entscheidungen zu tragen – und manchmal waren seine Entscheidungen keine einfachen. Er hatte in letzter Zeit auch eine Menge schwerer Entscheidungen für mich getroffen.

Stefan war so tief in meinen Geist eingedrungen, dass ich gerochen hatte wie er. Und Adam hatte mich zu einem Teil des Rudels gemacht, um mich zu retten. Er war bereit, den Preis dafür zu bezahlen – und ich war mir ziemlich sicher, dass er würde zahlen müssen. Aber nicht an mich.

»Ich danke dir, Adam«, sagte ich zu ihm. »Ich danke dir dafür, dass du Tim in kleine Tim-Stücke zerrissen hast. Ich danke dir dafür, dass du mich gezwungen hast, noch einen letzten Kelch von dem widerlichen Feenvolk-Gesöff zu trinken, damit ich wieder beide Arme benutzen kann. Ich danke dir dafür, dass du dort warst; dass du es mit mir aushältst.« An diesem Punkt lachte ich nicht mehr. »Ich danke dir, dass du mich davor gerettet hast, eines von Stefans Schafen zu sein – da bin ich jederzeit lieber Teil des Rudels. Danke, dass du die schwierigen Entscheidungen getroffen hast, dass du mir Zeit gegeben hast.« Ich stand auf und ging zu ihm, lehnte mich an ihn und presste mein Gesicht an seine Schulter. »Ich danke dir dafür, dass du mich liebst.«

Seine Arme schlossen sich um mich und drückten mich schmerzvoll an sich. Liebe tut manchmal auch auf diese Art weh.