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9

Schließlich verließ ich Stefan. Ich musste früh aufstehen, um mich wieder an die Arbeit zu machen, und es wäre schön, auch ein wenig Schlaf zu bekommen. Als ich einen letzten, besorgten Blick über die Schulter zurückwarf, war er verschwunden. Ich konnte nur hoffen, dass er nicht zurückgegangen war in sein Haus – das schien mir nicht der beste Ort für ihn zu sein, um abzuhängen –, aber er würde tun, was ihm gefiel. In diesem Punkt war er wie ich.

Zu Hause waren die Lichter an, und sobald ich sie sah, verdoppelte ich meine Geschwindigkeit. Ich tauchte durch die Hundeklappe und fand im Wohnzimmer Warren, der durch den Raum tigerte. Medea saß auf der Rückenlehne der Couch und beobachtete ihn mit einem verärgerten Gesichtsausdruck.

»Mercy«, sagte Warren erleichtert. »Verwandle dich; zieh dir was an. Wir gehen zu einem Kriegsrat mit den Vampiren, und deine Anwesenheit wurde ausdrücklich verlangt.«

Ich rannte in mein Zimmer und verwandelte mich wieder in einen Menschen. Wie das so ist, hatte ich einen ganzen Raum voller Dreckwäsche und sonst nichts. »Wir reden über Friedensverhandlungen?«, fragte ich, während ich dreckige Hosen über meine Schulter warf.

»Wir hoffen es«, sagte Warren und kam ins Zimmer. »Wer hat auf dich geschossen?«

»Vampir, keine große Sache«, sagte ich. »Er wollte nicht töten. Ich glaube nicht mal, dass eines der Schrotkörner stecken geblieben ist.«

»Nö, aber sitzen wird heute Abend keinen Spaß machen.«

»Ich setze mich nie gerne hin, wenn Vampire in der Nähe sind – Stefan normalerweise ausgenommen. Was hat Marsilia gesagt?«

»Sie hat uns nicht angerufen, und aus dem weiblichen Vampir, der es getan hat, konnten wir nicht viel rauskriegen. Sie hat einen Zettel vorgelesen und ziemlich viel gekichert.«

»Lily?« Ich schaute Warren an.

»Das hat Samuel gesagt.« Er zog ein T-Shirt von seiner Schulter, wo ich es hingeschmissen haben musste, und ließ es auf den Boden fallen.

»Sie hat ihn auch angerufen?«

Er zuckte mit den Achseln. »Ja. Marsilia wollte ihn auch dabeihaben. Nein, ich weiß nicht, worum es geht, und Adam genauso wenig. Es ist allerdings unwahrscheinlich, dass sie uns vernichten wird, kaum dass wir dort ankommen. Adam hat mich hergeschickt, damit ich dich bringe, sobald du zurück bist. Ich denke allerdings, dass er dich angezogen wollte.«

»Klugscheißer«, meinte ich, während ich in meine Jeans schlüpfte. Ich fand einen akzeptablen BH und zog ihn an. Dann entdeckte ich endlich ein sauberes T-Shirt in einer der Schubladen. Ich fragte mich, wer es wohl da hingetan hatte.

Es ist nicht so, als wäre ich nicht ordentlich. In meiner Werkstatt ist am Ende des Tages jedes Werkzeug exakt an dem Platz, wo es hingehört. Manchmal gibt es kleinere Reibereien, wenn Zee da war, weil er und ich verschiedene Vorstellungen davon haben, wo die Werkzeuge sein sollten.

Manchmal, wenn sich die Gelegenheit bietet, räume ich mein Zimmer auf und mache es sauber. Einen Mitbewohner zu haben zwingt mich dazu, den Rest des Hauses einigermaßen sauber zu halten. Aber niemand interessiert sich für mein Zimmer, und das setzt es ziemlich weit unten auf meine To-do-Liste. ›Aufräumen‹ steht zum Beispiel ›unter Geld verdienen‹, ›Amber vor Blackwood retten‹ und ›auf ein Treffen mit Marsilia gehen‹. Ich werde es aber fast sicher erledigen, bevor ich einen Garten anlege.

Ich zog das saubere Hemd an. Es war dunkelblau und trug die Aufschrift BOSCH GENUINE GERMAN AUTO PARTS. Nicht gerade das Hemd, das ich freiwillig für einen formellen Besuch bei der Königin der Vampire ausgesucht hätte, aber ich nahm an, dass sie es schlucken musste. Zumindest hatte es keine Ölflecken.

Warren hob einen Haufen Jeans hoch und legte so meine Schuhe frei. »Jetzt brauchst du nur noch Socken, und wir können gehen.«

Sein Handy klingelte. Er warf mir die Schuhe zu und ging dran. »Ja, Boss. Sie ist hier und fast angezogen.«

Adams Stimme war ein wenig dumpf, und er sprach sehr leise – aber ich hörte ihn trotzdem. Er klang ein bisschen wehmütig.

»Fast, hm?«

Warren grinste. »Jau. Sorry, Boss.«

»Mercy, leg mal einen Zahn zu«, sagte Adam dann lauter. »Marsilia hält die Sache auf, bis du da bist – nachdem du ein wesentlicher Teil der jüngsten Unruhe warst.«

Dann legte er auf.

»Ich beeile mich ja, ich beeile mich«, murmelte ich, während ich die Socken und Schuhe anzog. Ich wünschte mir, ich hätte schon eine Gelegenheit gefunden, meine Kette zu ersetzen.

»Deine Socken passen nicht zusammen.«

Ich stiefelte aus der Tür. »Danke. Seit wann bist du ein Modeexperte?«

»Seitdem du dich entschlossen hast, eine grüne und eine weiße Socke zu tragen«, meinte er und folgte mir. »Wir können meinen Truck nehmen.«

»Ich habe irgendwo noch ein ähnliches Paar.« Allerdings glaubte ich mich zu erinnern, dass ich die zweite grüne Socke letzte Woche weggeworfen hatte.

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Das schmiedeeiserne Tor zur Siedhe war offen, aber die Zufahrt war von Autos verstopft, also parkten wir neben der Kiesstraße. Das spanisch anmutende Anwesen aus Lehmziegeln war mit orangefarbenen Lampen in der Form von Laternen erhellt, die so flackerten, dass sie fast echt wirkten.

Ich kannte den Vampir an der Tür nicht, und er öffnete sehr unvampirisch einfach die Tür und sagte: »Den Flur entlang zu der Treppe am Ende und dann runter bis ans Ende.«

Ich erinnerte mich nicht daran, das es eine Treppe am Ende des Flurs gegeben hatte, als ich früher hier gewesen war, aber das lag vielleicht daran, dass davor ein riesiges Gemälde einer spanischen Villa gehangen hatte, das jetzt an der Wand daneben lehnte.

Obwohl wir das Haus im Erdgeschoss betreten hatten, führte die Treppe zwei volle Stockwerke nach unten. Ich kann im Dunkeln fast so gut sehen wie eine Katze, und selbst für mich war die Treppe dunkel – ein Mensch wäre fast blind gewesen. Während wir nach unten stiegen, verstopfte mehr und mehr der Geruch nach Vampir meine Nase.

In einem kleinen Vorraum wartete ein einzelner Vampir – noch einer, den ich nicht erkannte. Ich kannte eigentlich nicht mehr als eine Handvoll von Marsilias Vampiren vom Sehen. Dieser hier hatte silbergraue Haare und ein sehr jung aussehendes Gesicht und trug den traditionellen, schwarzen Beerdigungsanzug. Er hatte hinter einem winzigen Tisch gesessen, doch als wir die letzten Stufen hinunterkamen, stand er auf.

Warren ignorierte er völlig und sagte: »Sie sind Mercedes Thompson.« Er fragte nicht wirklich, aber seine Aussage war auch nicht besonders selbstsicher. Er hatte irgendeinen leichten Akzent in der Stimme, den ich aber nicht einordnen konnte.

»Ja«, antwortete Warren kurz angebunden.

Der Vampir öffnete die Tür und verbeugte sich leicht.

Der Raum, den wir betraten, war für ein Haus riesig – mehr eine kleine Turnhalle als ein Zimmer. Es gab Stuhlreihen – eigentlich mehr Tribünen – auf beiden Seiten des Raums. Tribünen voller stiller Beobachter. Mir war nicht klar gewesen, das es so viele Vampire in den Tri-Cities gab, aber dann bemerkte ich, dass viele der Leute menschlich waren – die Schafe, dachte ich, wie ich.

Und genau in der Mitte des Raums stand der riesige, mit Schnitzereien verzierte Eichenstuhl mit den matten Messingbeschlägen. Ich konnte sie nicht sehen, aber ich wusste, dass die Messingdornen auf den Armlehnen scharf waren und dunkel von altem Blut … und etwas davon war meines.

Dieser Stuhl war einer der Schätze der Siedhe, alte Magie und Vampirmagie vereint. Die Vampire benutzten ihn, um herauszufinden, ob das arme Wesen, das seine Hände auf die Messingdornen gesteckt hatte, die Wahrheit sprach. Es ist auf schauerliche Art passend, dass ein großer Teil von Vampirmagie etwas mit Blut zu tun hat.

Die Gegenwart des Stuhls erweckte bei mir die Vermutung, dass das hier keine Friedensverhandlungen zwischen den Werwölfen und den Vampiren werden würden. Das letzte Mal, als ich den Stuhl gesehen hatte, war er Teil einer Gerichtsverhandlung gewesen. Es machte mich nervös, und ich wünschte mir, ich hätte die exakten Worte gekannt, die benutzt worden waren, um uns hierher einzuladen.

Es war einfach, die Werwölfe zu finden – sie standen vor zwei leeren Stuhlreihen: Adam, Samuel, Darryl und seine Frau Aurielle, Mary Jo, Paul und Alec. Ich fragte mich, wen von ihnen Marsilia speziell verlangt hatte und wer davon Adams Wahl war.

Darryl war der Erste, der uns bemerkte, denn die Tür war fast so lautlos wie die anwesenden Vampire. Seine Augen musterten mich von oben nach unten und für einen Moment wirkte er abgestoßen. Dann ließ er seinen Blick über die Menge wandern – alle Vampire und ihre Menagerien waren aufs Äußerste herausgeputzt, ob nun Ballkleid oder Zweireiher. Ich glaubte, mindestens eine Uniform der Unionsarmee gesehen zu haben. Er schaute auf mein T-Shirt, dann entspannte er sich und warf mir ein leises Lächeln zu.

Es schien, als hätte er entschieden, dass es in Ordnung war, dass ich mich nicht herausgeputzt hatte, um den Feind zu treffen. Adam hatte sich recht intensiv mit Samuel unterhalten (über das anstehende Football-Spiel, wie ich später herausfand – wir reden vor den Bösen nicht über wichtige Sachen), aber er warf einen kurzen Seitenblick auf seinen Stellvertreter, dann schaute er auf, als wir zu ihm herüberkamen.

»Mercy«, sagte er, und seine Stimme hallte im Raum wider, als wäre er leer. »Gott sei Dank. Vielleicht können wir das hier jetzt endlich über die Bühne bringen.«

»Vielleicht«, sagte Marsilia.

Sie stand direkt hinter uns. Ich wusste, dass sie einen Moment vorher noch nicht da gewesen war, weil Warren genauso zusammenzuckte wie ich. Warren war wachsamer als ich – niemand schlich sich an ihn an. Niemals. Das waren die Nachwirkungen davon, dass er fast sein gesamtes eineinhalb Jahrhunderte langes Leben von seiner eigenen Art gejagt worden war.

Er drehte sich um, schob mich hinter sich und knurrte sie an – etwas, was er normalerweise nicht getan hätte. Alle Vampire im Raum kamen auf die Füße, und ihre Erwartung von Blutvergießen war deutlich spürbar.

Marsilia lachte, ein wunderschönes, volles Lachen, das eine Sekunde abbrach, bevor ich es erwartete, was es irgendwie noch beunruhigender machte als ihr plötzliches Erscheinen. Ihr plötzliches, geschäftsmäßiges Erscheinen. Wann immer ich sie sonst gesehen hatte, hatte sie Kleidung getragen, die dafür entworfen worden war, die Aufmerksamkeit auf ihre Schönheit zu lenken. Dieses Mal trug sie ein Businesskostüm. Ihr einziges Zugeständnis an ihre Weiblichkeit waren der schmale Rock statt einer Hose und das weinartige Dunkelrot der Wolle.

»Sitz«, sagte sie, als spräche sie mit einem Pudel, und der Raum voller Vampire setzte sich. Sie wandte ihren Blick nicht für einen Moment von mir.

»Wie freundlich von Ihnen, in Erscheinung zu treten«, sagte sie, und ihre abgrundtief schwarzen Augen waren kalt und voller Macht.

Nur Warrens Wärme erlaubte es mir, mit etwas zu antworten, was Ruhe ähnelte. »Wie freundlich von Ihnen, dass Sie Ihre Einladungen früh genug aussprechen, dass ich pünktlich erscheinen konnte.« Vielleicht war das unklug – aber, hey, sie hasste mich bereits. Ich konnte es riechen.

Sie starrte mich einen Moment an. »Es macht einen Witz«, sagte sie.

»Es ist unhöflich«, erwiderte ich und trat einen Schritt zur Seite. Falls ich sie so wütend machte, dass sie mich angriff, wollte ich nicht, dass Warren den Schlag abbekam.

Erst als ich um ihn herumging, fiel mir auf, dass ich ihren Blick erwiderte. Dämlich. Selbst Samuel war nicht immun gegen die Macht ihres Blickes. Aber ich konnte nicht nach unten schauen, nicht mit Adams Macht, die in mir aufstieg und mich fast erstickte. Ich war hier nicht nur ein Kojote, ich war die Gefährtin des Alphas vom Columbia-Basin-Rudel – weil er es so sagte, und ich es so sagte.

Wenn ich nach unten sah, dann erkannte ich ihre Überlegenheit an, und das würde ich nicht tun. Also begegnete ich ihrem Blick und sie erlaubte mir, das zu tun.

Sie senkte ihre Lider, nicht tief genug, um unseren informellen Starrkampf zu verlieren, sondern nur, um den Ausdruck in ihren Augen zu verhüllen. »Ich glaube«, sagte sie mit so leiser Stimme, dass nur Warren und ich sie hören konnten, »wenn wir uns zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort getroffen hätten, hätte ich dich gemocht.« Sie lächelte und zeigte dabei ihre Reißzähne. »Oder ich hätte dich umgebracht.«

»Genug der Spielchen«, sagte sie, jetzt lauter. »Ruf ihn für mich.«

Ich erstarrte. Deswegen hatte sie mich gewollt. Sie wollte Stefan zurück. Für einen Moment konnte ich nur das geschwärzte tote Ding sehen, dass sie in mein Wohnzimmer geworfen hatte. Ich erinnerte mich daran, wie lange ich gebraucht hatte, zu verstehen, wer es war.

Sie hatte ihm das angetan – und jetzt wollte sie ihn zurück. Nicht wenn ich etwas dagegen tun konnte.

Adam hatte sich nicht von dem Platz bewegt, an dem er stand, und dem Raum so erklärt, dass er mir zutraute, auf mich selbst aufpassen zu können. Ich war mir nicht sicher, ob er das wirklich dachte – ich wusste sogar, dass dem nicht so war –, aber es war wichtig für ihn, dass ich auf eigenen Füßen stand. »Wen soll sie rufen?«, fragte er.

Marsilia lächelte ihn an, ohne die Augen von mir zu wenden. »Wussten Sie das nicht? Ihre Gefährtin gehört Stefan.«

Er lachte, ein seltsam glückliches Geräusch in diesem von Grabesstimmung erfüllten Raum. Das war eine gute Ausrede, Marsilia den Rücken zuzuwenden und damit unser Starr-Spiel zu beenden. Ihr den Rücken zuzuwenden hieß auch, dass ich nicht verlor – nur dass der Wettbewerb vorbei war.

Ich bemühte mich, die kranke Angst, die ich empfand, nicht auf meinem Gesicht erscheinen zu lassen. Ich versuchte, das zu sein, was Adam – und Stefan – brauchten.

»Wie ein Kojote ist Mercy anpassungsfähig«, erklärte Adam Marsilia. »Sie gehört demjenigen, für den sie sich entscheidet. Sie gehört überallhin, wo sie sein will, für so lange, wie sie es möchte.« Bei ihm klang das, als wäre es etwas Positives. Dann sagte er: »Ich dachte, hier ginge es darum, einen Krieg zu verhindern.«

»Korrekt«, sagte Marsilia. »Ruf Stefan.«

Ich hob das Kinn und warf ihr einen kurzen Blick über die Schulter zu. »Stefan ist mein Freund«, erklärte ich ihr. »Ich werde ihn nicht zu seiner Hinrichtung bringen.«

»Bewundernswert«, antwortete sie schnell. »Aber deine Sorge ist absolut unbegründet. Ich kann dir versprechen, dass er heute Nacht weder von mir noch von den Meinen physisch verletzt werden wird.«

Ich warf aus dem Augenwinkel einen Blick zu Warren und er nickte. Vampire mochten ja schwer lesbar sein, aber er war besser darin, Lügen zu spüren, als ich es war, und seine Nase stimmte meiner zu: Sie sagte die Wahrheit.

»Oder hier festgehalten«, verlangte ich.

Der Geruch ihres Hasses war verschwunden, und ich konnte überhaupt nichts darüber sagen, was sie fühlte. »Oder hier festgehalten«, stimmte sie zu. »Zeugen!«

»Bezeugt!«, sagten die Vampire. Alle. Alle zum exakt gleichen Zeitpunkt. Wie Puppen, nur viel unheimlicher.

Sie wartete. Schließlich sagte sie: »Ich will ihm nichts Böses.«

Ich dachte an den frühen Abend zurück, als er Bernards Angebot abgelehnt hatte, obwohl ich mir ziemlich sicher war, dass er mit Bernards Einschätzung über die Fortdauer ihrer Herrschaft über die Siedhe übereinstimmte. Letztendlich liebte er sie mehr als seine Siedhe, seine Menagerie von Schafen oder sein eigenes Leben.

»Sie schädigen ihn durch Ihre weitere Existenz«, sagte ich zu ihr, so leise es mir möglich war. Und sie zuckte zusammen.

Ich dachte über dieses Zucken nach … und über die Art, wie sie ihn am Leben gelassen hatte, obwohl er von allen Vampiren die besten Gründe hatte, ihr den Tod zu wünschen – und auch die Möglichkeit, ihn herbeizuführen. Vielleicht war Stefan nicht der Einzige, der liebte.

Das hatte sie allerdings nicht davon abgehalten, ihn zu foltern.

Ich schloss meine Augen und vertraute auf Warren, vertraute auf Adam, für meine Sicherheit zu sorgen. Ich wünschte mir nur, ich könnte Stefans Sicherheit garantieren. Aber ich wusste, was er von mir wollen würde.

Stefan, rief ich, genau wie vorher – weil ich wusste, dass er das wollen würde. Sicher erkannte er, von wo aus ich rief und würde so erscheinen, dass er sich verteidigen konnte.

Nichts passierte. Kein Stefan.

Ich schaute zu Marsilia und zuckte mit den Achseln. »Ich habe ihn gerufen. Aber er muss nicht kommen, wenn ich rufe.«

Das schien sie nicht zu beunruhigen. Sie nickte nur – eine überraschend geschäftsmäßige Geste von einer Frau, die eher in ein seidenes Renaissancekleid mit Juwelenschmuck gepasst hätte als in das moderne Kostüm, das sie trug.

»Dann rufe ich hiermit dieses Treffen zur Ordnung«, sagte sie und wanderte zu dem alten, thronartigen Stuhl in der Mitte des Raums. »Als Erstes möchte ich Bernard auf den Stuhl rufen.«

Er kam, zögernd und steif. Ich erkannte das Muster seiner Bewegungen – er sah aus wie ein Wolf, der gegen seinen Willen gerufen wurde. Ich wusste, dass er nicht von ihr erschaffen worden war, aber sie hatte trotzdem Macht über ihn. Er trug immer noch die Kleidung, in der ich ihn zuletzt gesehen hatte. Das kalte, fluoreszierende Licht der Deckenlampen glitzerte auf dem kleinen kahlen Fleck auf seinem Kopf.

Er setzte sich unwillig.

»Hier, caro, lass mich dir helfen.« Marsilia nahm nacheinander seine Hände und spießte sie auf die Messingdornen. Er kämpfte. Ich konnte es an seiner grimmigen Miene sehen und an der Spannung seiner Muskeln. Ich glaubte jedoch nicht, dass es Marsilia irgendetwas kostete, ihn unter ihrer Kontrolle zu halten.

»Du warst unartig, nicht wahr?«, fragte sie. »Illoyal.«

»Ich war der Siedhe gegenüber nicht illoyal«, presste er hervor.

»Wahrheit«, sagte die Stimme eines Jungen.

Der Hexer selbst. Ich hatte ihn nicht gesehen – obwohl ich nach ihm gesucht hatte. Sein hellgoldenes Haar war nah am Kopf abgeschnitten. Auf seinem Gesicht lag ein vages Lächeln, als er die Tribüne uns gegenüber hinunterkam. Er benutzte die Stühle als Stufen.

Er sah aus wie ein junger Highschool-Schüler. Er war gestorben, bevor sein Gesicht die Chance hatte, zu reifen, und so wirkte er weich und jung.

Marsilia lächelte, als sie ihn sah. Er sprang über die letzten drei Reihen und landete leichtfüßig auf dem Holzboden. Sie war kleiner als er, und der Kuss, den sie ihm gab, verursachte mir Magenschmerzen. Ich wusste, dass er Hunderte von Jahren alt war, aber das war egal – weil er aussah wie ein Kind.

Er trat zurück, streckte einen Finger aus und ließ ihn über Bernards Hand und hinunter auf die Lehne gleiten. Als er ihn wieder hob, tropfte Blut davon herab. Er leckte es langsam ab, ließ aber ein paar Tropfen über seine Handfläche laufen, bis hin zum Handgelenk, wo es die grünen Ärmel seines feinen Hemdes beschmutzte.

Ich fragte mich, für wen er diese Show gab. Die Vampire wären sicherlich nicht beunruhigt davon, dass er Blut leckte – und damit hatte ich irgendwie Recht, aber zum größten Teil lag ich falsch. Beunruhigt war vielleicht nicht das richtige Wort, aber durch die Reihen der Vampire ging ein Ruck nach vorne und ein paar von ihnen leckten sich sogar die Lippen.

Igitt.

»Du hast mich verraten, nicht wahr, Bernard?« Marsilia schaute immer noch Wulfe an und er streckte die Hand aus. Sie nahm sie und folgte mit ihrer Zunge der Spur des getrockneten Blutes und verweilte über seinem Handgelenk, während Bernard zitterte und sich bemühte, die Frage nicht zu beantworten.

»Ich habe die Siedhe nicht verraten«, sagte Bernard wieder. Und obwohl sie ihn zehn Minuten oder mehr in die Mangel nahm, war das alles, was er sagte.

Stefan erschien neben mir. Seine Augen waren auf die Manschette seines weißen Hemdes gerichtet, während er beiläufig einen Knopf richtete und dann den Ärmel seines dezenten grauen Nadelstreifenanzugs mit genau der richtigen Bewegung darüberzog. Er schaute mich an, und Marsilia ihn.

Sie wedelte mit einer Hand Richtung Bernard. »Steh auf. Wulfe, bring ihn irgendwohin, wo ich ihn sehen kann, wärst du so nett?«

Zitternd und stolpernd erhob sich Bernard. Das Blut aus seinen bleichen Händen tropfte auf den Boden, den ganzen Weg bis hin zu den Sitzreihen, wo Wulfe in der untersten Reihe Plätze für sie beide frei machte. Er begann damit, Bernards Hände zu reinigen, wie eine Katze, die Eis leckt.

Stefan sagte nichts, sondern ließ nur in einem schnellen Check seine Augen über mich gleiten. Dann schaute er zu Adam, der königlich zurücknickte, wenn auch mit einem kleinen Lächeln, und mir fiel auf, dass er und Stefan dasselbe trugen, nur dass Adam ein dunkelblaues Hemd anhatte.

Mary Jo sah die Ähnlichkeit auch und grinste. Sie drehte sich um, wie ich vermutete, um etwas zu Paul zu sagen, als ein überraschter Ausdruck auf ihrem Gesicht erschien und sie einfach umfiel. Alec fing sie auf, bevor sie auf dem Boden aufschlug, als wäre das nicht das erste Mal, dass so etwas geschah. Überbleibsel von ihrer Begegnung mit dem Tod, hoffte ich, und nicht etwas, was die Vampire taten.

Stefan verließ mich für Mary Jo. Er berührte ihre Kehle und ignorierte Alecs lautloses Knurren.

»Entspann dich«, sagte Stefan dem Wolf. »Sie wird durch mich keinen Schaden nehmen.«

»Das passiert ihr häufig«, erklärte ihm Adam. Dass er sich nicht zwischen den Vampir und ein verletzliches Rudelmitglied stellte, war eine eindeutige Botschaft.

»Sie wacht auf«, sagte Stefan, einen Augenblick, bevor sich ihre Augen öffneten.

Und erst, nachdem Mary Jo wieder ganz wach war, schaute Stefan zu Marsilia.

»Komm auf den Stuhl, Soldat«, sagte sie zu ihm.

Er starrte sie so lange an, dass ich mich fragte, ob er es tun würde. Vielleicht liebte er sie, aber im Moment mochte er sie nicht besonders – und, so hoffte ich inständig, vertraute ihr auch nicht.

Aber er tätschelte Mary Jos Knie und ging dorthin, wo Marsilia auf ihn wartete.

»Warte«, sagte sie, bevor er sich setzte. Sie schaute zu der Tribüne uns gegenüber, wo die Vampire und ihr Essen saßen. »Willst du, dass ich zuerst Estelle befrage? Würde dich das glücklicher machen?«

Ich konnte nicht sagen, mit wem sie sprach.

»In Ordnung. Bringt Estelle her.«

Am anderen Ende des Raumes öffnete sich eine Tür, die ich nicht bemerkt hatte, und Lily, die begabte Pianistin und völlig verrückte Vampirfrau, die niemals die Siedhe und Marsilias Schutz verließ, kam herein. Sie trug Estelle, wie ein Bräutigam seine Braut über die Schwelle trägt. Lily trug sogar eine puschelige weiße Masse, die neben Estelles dunklem Anzug ein Hochzeitskleid hätte sein können. Obwohl ich noch nie eine Braut gesehen hatte, die Blut im Gesicht und auf dem Kleid hatte. Wenn ich ein Vampir wäre, würde ich nur Schwarz oder Dunkelbraun tragen – um die Flecken zu verstecken.

Estelle hing schlaff in Lilys Armen, und ihr Hals sah aus, als hätten Hyänen an ihr herumgekaut.

»Lily«, schalt Marsilia. »Was habe ich dir über das Spielen mit dem Essen gesagt?«

Lilys saphirgrüne Augen glitzerten mit einem hungrigen Schillern, das selbst in dem überhell erleuchteten Raum zu sehen war. »Tut mir leid.« Sie hüpfte ein paar Schritte. »Tut mir leid, Stel.« Sie lächelte Stefan breit an, dann packte sie Estelles schlaffe Gestalt in den Stuhl, wie eine Puppe. Sie bewegte Estelles Kopf, damit er nicht mehr zur Seite hing, dann rückte sie ihren Rock zurecht. »Ist das gut?«

»Schön. Jetzt sei ein braves Mädchen und setz dich bitte neben Wulfe.«

Wie bei Bernard steckte Marsilia Estelles Hände auf die Dornen. Der schlaffe Vampir wurde schreiend und kreischend wieder lebendig, kaum dass ihre zweite Hand durchstoßen war.

Marsilia erlaubte es für eine Minute, dann sagte sie: »Stopp«, mit einer Stimme, die knallte wie eine Pistole mit Kaliber 22. Sie knallte, donnerte aber nicht.

Estelle erstarrte mitten in einem Schrei.

»Hast du mich betrogen?«, fragte Marsilia.

Estelle zuckte zusammen und schüttelte panisch den Kopf. »Nein. Nein. Nein. Niemals.«

Marsilia schaute zu Wulfe. Er schüttelte den Kopf. »Wenn Ihr sie so stark kontrolliert, um sie auf dem Stuhl zu halten, Herrin, kann sie nicht aufrichtig antworten.«

»Und wenn ich es nicht tue, schreit sie nur.« Sie schaute zur Tribüne. »Wie ich dir gesagt habe. Du kannst es selbst versuchen, wenn du willst. Nein?« Sie zog Estelles Hände vom Stuhl. »Geh und setz dich zu Wulfe, Estelle.«

Ein hispanisch aussehender Mann in einem der Stühle hinter mir kam auf die Füße. Er hatte die Tätowierung einer Träne direkt unter einem Auge, und auch er, wie Wulfe, sprang über die Sitze auf den Boden. Aber er hatte nicht Wulfes Grazie. Es schien mehr, als fiele er langsam die Tribüne hinunter, bis er schließlich auf Händen und Knien auf dem harten Boden landete.

»Estelle, Estelle«, stöhnte er und schob sich an mir vorbei. Er war menschlich, wahrscheinlich eines ihrer Schafe.

Marsilia hob eine Augenbraue und ein Vampir folgte Estelles Menschen mit der drei- oder vierfachen Geschwindigkeit. Er holte ihn ein, bevor der Mann den halben Weg zu Estelle zurückgelegt hatte. Der Vampir hatte das Aussehen eines recht ältlichen Mannes. Er sah aus, als wäre er an Alterschwäche gestorben, bevor man ihn zu einem Vampir gemacht hatte, obwohl an dem Griff, mit dem er den zappelnden Mann festhielt, nichts Altes oder Zittriges war.

»Was soll ich tun, Herrin?«, fragte der alte Mann.

»Ich würde es begrüßen, wenn er uns hier nicht mehr unterbrechen könnte«, sagte Marsilia. Ich warf einen Blick zu Warren, der die Stirn runzelte. Sie log also. Ich hatte es vermutet. Das war Teil des Drehbuchs. Nach einem nachdenklichen Schweigen sagte Marsilia: »Töte ihn.«

Es gab ein Knacken, der Mann fiel zu Boden – und jeder Vampir im Raum, der bis jetzt geatmet hatte, hörte damit auf. Estelle fiel ebenfalls zu Boden, ungefähr einen Meter neben Wulfe. Ich schaute zur Seite und ertappte überraschenderweise Marsilia dabei, dass sie mich beobachtete. Sie hatte meinen Tod gewünscht; ich konnte es an ihrem hungrigen Blick sehen. Aber momentan hatte sie Dringenderes zu tun.

Marsilia machte eine einladende Geste zum Stuhl und sah Stefan an. »Bitte, nimm meine Entschuldigung für die Verzögerung an.«

Stefan starrte sie an. Wenn irgendein Gefühl auf seinem Gesicht zu sehen war, dann konnte ich es nicht deuten.

Er war gerade einen Schritt vorgetreten, als sie ihn wieder stoppte. »Nein. Warte. Ich habe eine bessere Idee.«

Sie sah mich an. »Mercedes Thompson. Komm und lass uns Anteil haben an deiner Wahrheit. Bezeuge für uns die Dinge, die du gehört und gesehen hast.«

Ich verschränkte die Arme, nicht in offener Verweigerung – aber ich rannte auch nicht sofort los. Das war Marsilias Show, doch ich würde sie nicht vollkommen die Oberhand gewinnen lassen. Warrens Hand schloss sich über meiner Schulter – ich hielt es für eine Geste der Unterstützung. Oder vielleicht versuchte er auch, mich zu warnen.

»Du wirst tun, was ich sage, wenn du willst, dass ich aufhöre, deine Freunde zu verletzen«, säuselte sie. »Die Wölfe sind würdige Gegner … aber da gibt es noch diesen appetitlichen Polizisten – Tony, richtig? Und der Junge, der für dich arbeitet. Er hat ja eine so große Familie, nicht wahr? Kinder sind so verletzlich.« Sie schaute auf Estelles Mann, der tot direkt vor ihren Füßen lag.

Stefan starrte sie an, dann blickte er zu mir. Und sobald ich seine Augen sah, wusste ich, was es war, was er nicht zu zeigen versuchte … Wut.

»Bist du dir sicher?«, fragte ich ihn.

Er nickte. »Komm.«

Ich war nicht gerade glücklich darüber, es tun zu müssen, aber sie hatte Recht. Ich wollte meine Freunde in Sicherheit wissen.

Ich setzte mich auf den Stuhl und schob mich nach vorne, bis meine Arme nicht völlig ausgestreckt sein mussten, um das scharfe Messing zu erreichen. Ich rammte beide Hände nach unten und versuchte, nicht zusammenzuzucken, als die Dornen tief eindrangen – oder zu keuchen, als Magie in meinen Ohren klang.

»Lecker«, sagte Wulfe – und ich hätte fast meine Hände wieder zurückgerissen. Konnte er mich durch die Dornen schmecken, oder wollte er mich nur provozieren?

»Ich habe Stefan zu dir geschickt«, sagte Marsilia. »Würdest du unserem Publikum erzählen, wie er aussah?«

Ich schaute zu Stefan und er nickte. Also beschrieb ich so genau wie möglich das verschrumpelte Ding, das auf meinen Wohnzimmerboden gefallen war, und bemühte mich, meine Stimme neutral zu halten, statt sie wütend werden zu lassen oder … ein anderes unangemessenes Gefühl zu zeigen.

»Wahrheit«, sagte Wulfe, als ich fertig war.

»Warum war er in diesem Zustand?«, fragte Marsilia.

Stefan nickte, also antwortete ich ihr. »Weil er versucht hat, mein Leben zu retten, indem er meine Beteiligung an Andres … Tod … vertuscht hat. Oder ist es Zerstörung? Wie nennt man es, wenn ein Vampir dauerhaft getötet wird?«

Die Haut auf ihrem Gesicht wurde dünner, bis ich die Knochen darunter sehen konnte. Und in ihrer Wut war sie sogar noch schöner, noch schrecklicher. »Tod«, antwortete sie.

»Wahrheit«, verkündete Wulfe. »Stefan hat versucht, deinen Anteil an Andres Tod zu vertuschen.« Er sah sich um. »Ich habe auch dabei geholfen, es zu vertuschen. Es schien zu dieser Zeit das Richtige zu sein … auch wenn ich es später bereut und meine Tat gestanden habe.«

»Auf der Tür deines Hauses sind die gekreuzten Knochen«, sagte Marsilia.

»Meiner Werkstatt«, korrigierte ich. »Und ja.«

»Wusstest du, dass kein Vampir außer Stefan deine Werkstatt betreten kann? Du bist dort mindestens so sehr zu Hause wie in diesem abgewrackten Trailer in Finley.«

Warum hatte sie mir das verraten? Stefan beobachtete sie ebenfalls konzentriert.

»Nenne unserem Publikum den Grund für die Knochen.«

»Verrat. Das wurde mir zumindest gesagt. Sie haben mich gebeten, ein Monster zu töten, und ich habe beschlossen, zwei zu vernichten.«

»Wahrheit«, sagte Wulfe.

»Wann wusste Stefan, dass du ein Walker bist, Mercedes Thompson?«

»Schon als ich ihn das erste Mal traf«, erklärte ich ihr. »Das ist fast zehn Jahre her.«

»Wahrheit.«

Sie schaute wieder Richtung Tribüne und sprach jemanden dort an. »Merk dir das.« Sie drehte sich um, um mich anzustarren, dann warf sie einen kurzen Blick zu Stefan, während sie mich fragte: »Warum hast du Andre getötet?«

»Weil er wusste, wie man Zauberer erschuf – Dämonenbesessene. Er hatte es einmal getan, und er hatte vor, es wieder zu tun. Seine Spielchen haben Todesopfer gefordert – und noch mehr Leute wären für eure gestorben – euer beider Spielchen.«

»Wahrheit.«

»Was schert es uns, wie viele Leute sterben?«, fragte Marsilia alle im Raum, mit einer Geste auf den toten Mann. »Sie sind kurzlebig, und sie sind Nahrung.«

Sie hatte die Frage rhetorisch gemeint, aber ich antwortete ihr trotzdem.

»Sie sind viele, und sie könnten eure Siedhe in einem Tag zerstören, wenn sie wüssten, dass es sie gibt. Es würde sie vielleicht einen Monat kosten, euch alle im gesamten Land auszulöschen. Und wenn ihr Monster erschaffen würdet, wie dieses Ding, das Andre erweckt hat, dann würde ich ihnen helfen.« Ich lehnte mich vor, während ich sprach. Meine Hände pulsierten synchron mit meinem Herzschlag, und ich stellte fest, dass der Rhythmus meiner Worte dem Schmerz folgte.

»Wahrheit«, sagte Wulfe wieder, diesmal mit sehr zufriedener Stimme.

Marsilia schob ihren Mund an mein Ohr. »Das war für meinen Soldaten«, murmelte sie so leise, dass ich sie gerade noch hören konnte. »Sag ihm das.«

Sie senkte ihren Mund, bis er über meinem Hals schwebte, aber ich zuckte nicht zusammen.

»Ich denke wirklich, dass ich dich gemocht hätte, Mercedes«, sagte sie. »Wenn du nicht wärst, was du bist, und ich nicht wäre, was ich bin. Du bist Stefans Schaf?«

»Wir haben zweimal Blut ausgetauscht.«

»Wahrheit«, sagte Wulfe mit einem amüsierten Unterton.

»Du gehörst ihm.«

»Sie würden es so sehen«, stimmte ich zu.

Sie schnaubte verärgert. »Du machst diese einfache Sache schwierig.«

»Sie machen sie schwierig. Ich verstehe allerdings, was Sie fragen wollen, und die Antwort ist ja.«

»Wahrheit.«

»Warum hat Stefan dich zu der seinen gemacht?«

Ich wollte es ihr nicht sagen. Ich wollte nicht, dass sie wusste, dass ich eine wie auch immer geartete Verbindung zu Blackwood hatte – obwohl Adam es ihr wahrscheinlich schon gesagt hatte. Also griff ich an.

»Weil Sie seine Menagerie ermordet haben. Die Leute, die ihm etwas bedeutet haben«, sagte ich erregt.

»Wahrheit«, presste Stefan hervor.

»Wahrheit«, stimmte Wulfe leise zu.

Marsilia sah seltsam befriedigt aus. »Ich habe, was ich von Ihnen brauche, Ms Thompson. Sie dürfen den Stuhl verlassen.«

Ich zog meine Hände vom Stuhl und bemühte mich, weder das Gesicht zu verziehen noch mich zu entspannen, als das unangenehme Pulsieren der Magie mich verließ. Bevor ich aufstehen konnte, lag schon Stefans Hand unter meinem Arm und zog mich auf die Beine.

Er hatte Marsilia den Rücken zugewandt und scheinbar war seine gesamte Aufmerksamkeit auf mich gerichtet – aber ich hatte das Gefühl, dass sein gesamtes Sein auf seine frühere Herrin konzentriert war. Er umfasste eine meiner Hände mit seinen und hob sie zu seinem Mund, um sie mit sanfter Gründlichkeit sauber zu lecken. Wären wir nicht in der Öffentlichkeit gewesen, hätte ich ihm erzählt, was ich davon hielt. Ich hatte das Gefühl, dass er ein wenig davon auch aus meinem Gesicht ablesen konnte, denn seine Mundwinkel hoben sich ein Stück.

Marsilias Augen glühten rot auf.

»Du überschreitest deine Grenzen.« Es war Adam, aber es klang nicht wie er.

Ich drehte mich um und sah, wie er lautlos auf mich zukam. Auch wenn Marsilias Miene schon beängstigend gewesen war, im Vergleich zu seiner war sie nichts.

Stefan hatte unbeirrt meine zweite Hand gehoben und behandelte sie auf dieselbe Weise – obwohl er ein wenig schneller vorging. Ich riss die Hand nicht zurück, weil ich mir nicht sicher war, ob er es zulassen würde – und ein Kampf würde bei Adam ganz sicher die Sicherungen durchbrennen lassen.

»Ich heile ihre Hände«, sagte Stefan, ließ mich los und trat einen Schritt zurück. »Wie es mein Privileg ist.«

Adam blieb neben mir stehen. Er hob meine Hände – die besser aussahen – und nickte Stefan kurz und abgehakt zu. Anschließend legte er meine Hand um seinen Oberarm, dann kehrte er mit mir zu den Wölfen zurück.

Ich konnte am Klopfen seines Herzens und an der Anspannung in seinem Arm spüren, dass er kurz davor stand, die Beherrschung zu verlieren. Also ließ ich meinen Kopf gegen seinen Arm fallen, um meine Stimme zu dämpfen. Dann sagte ich: »Das war alles gegen Marsilia gerichtet.«

»Wenn wir nach Hause kommen«, sagte Adam und machte sich nicht die Mühe, leise zu sprechen, »wirst du mir erlauben, dich darüber aufzuklären, wie etwas mehr als einen Zweck auf einmal erfüllen kann.«

Marsilia wartete, bis wir beim Rest der Wölfe standen, bevor sie mit ihrem Programm für den Abend fortfuhr.

»Und jetzt zu dir«, sagte sie zu Stefan. »Ich hoffe, du hast deine Kooperation nicht noch einmal überdacht.«

Als Antwort setzte sich Stefan auf den thronartigen Stuhl, hob beide Hände über die scharfen Dornen und schlug sie mit solcher Kraft darauf, dass ich selbst auf meinem Platz das Stöhnen des Stuhles hören konnte.

»Was willst du wissen?«, fragte er.

»Deine Nährende hat uns gesagt, dass ich deine vorherige Menagerie getötet habe«, sagte sie. »Woher weißt du, dass das wahr ist?«

Er hob das Kinn. »Ich habe den Tod von jedem Einzelnen gefühlt, durch deine Hand. Einer pro Tag, bis es keinen mehr gab.«

»Wahrheit«, stimmte Wulfe zu, mit einem Ton in der Stimme, den ich noch nie an ihm gehört hatte. Das brachte mich dazu, zu ihm zu schauen. Er saß da, mit der bewusstlosen Estelle zu seinen Füßen, Lily lehnte sich an seine eine Seite und Bernard saß steif auf der anderen. Wulfes Gesicht war ernst und … traurig.

»Du gehörst nicht länger zu dieser Siedhe.«

»Ich gehöre nicht länger zu dieser Siedhe«, stimmte Stefan kühl zu.

»Wahrheit.«

»Du gehörtest niemals wirklich mir«, erklärte sie ihm. »Du hattest immer deinen freien Willen.«

»Immer«, stimmte er zu.

»Und du hast ihn benutzt, um Mercy vor mir zu verstecken. Vor der Gerechtigkeit.«

»Ich habe sie vor dir versteckt, weil ich sie nicht als Gefahr für dich oder deine Siedhe eingeschätzt habe.«

»Wahrheit«, murmelte Wulfe.

»Du hast sie versteckt, weil du sie mochtest.«

»Ja«, gab Stefan zu. »Und weil in ihrem Tod keine Gerechtigkeit gelegen hätte. Sie hatte keinen von uns getötet – und hätte es nicht getan, wenn du ihr nicht den Auftrag dazu gegeben hättest.« Zum ersten Mal, seit er auf dem Stuhl saß, sah er Marsilia direkt an. »Du hast sie gebeten, das Monster zu töten, das du nicht finden konntest – und sie hat es getan. Zweimal.«

»Wahrheit.«

»Sie hat Andre getötet!« Marsilias Stimme hob sich zu einem Brüllen, und Macht erfüllte sie und den Raum, in dem wir waren. Die Lichter blendeten ein wenig ab, um dann zu ihrer vorherigen Helligkeit zurückzukehren.

Stefan lächelte sie säuerlich an. »Weil es keine Wahl gab. Wir haben ihr keine andere Wahl gelassen – du, ich und Andre.«

»Wahrheit.«

»Du hast sie mir vorgezogen«, sagte Marsilia, und ihre Macht füllte die Luft mit etwas Fremdartigem. Ich trat einen Schritt näher zu Adam und schauderte.

»Du wusstest, dass sie Andre gejagt hat, wusstest, dass sie ihn getötet hat – und du hast das, was sie getan hat, vor mir versteckt. Du hast mich gezwungen, dich zu foltern und deine Machtbasis zu zerstören. Du musst mir antworten.« Ihre Stimme donnerte durch den Raum, brachte den Boden zum Vibrieren und die Wände zum Wackeln. Die hängenden Lampen schwangen vor und zurück und erzeugten Schattenspiele.

»Nicht mehr«, sagte Stefan. »Ich gehöre dir nicht.«

»Wahrheit«, schnappte Wulfe und kam plötzlich auf die Beine. »Das ist die reine Wahrheit – du hast es selbst gespürt.«

Uns gegenüber, hoch auf der Tribüne, stand ein Vampir auf. Er hatte ein weiches Gesicht, weit auseinanderstehende Augen und eine Stupsnase, die ihn eigentlich nicht hätte aussehen lassen sollen wie einen Vampir. Wie Wulfe und Estelles Mensch schritt er über die Stühle. Aber in seinen Schritten war weder Zögern noch Schwung. So, wie er voranschritt, hätte sein Weg genauso gut völlig gerade und asphaltiert sein können. Er landete auf dem Boden und ging zu Wulfe.

Er trug einen Smoking und ein paar Panzerhandschuhe aus dunklem Metall. Metallplatten auf dem Handrücken und Gliederketten um die Finger. Er bewegte seine Finger, und Blut tropfte von den Handschuhen zu Boden.

Niemand machte Anstalten, es aufzuwischen.

Er drehte sich um und sagte mit einer hauchigen, leisen Stimme: »Akzeptiert. Er ist keiner deiner Männer, Marsilia.«

Ich hatte keine Ahnung, wer er war, aber Stefan schon. Er erstarrte auf seinem Sitz, und sein gesamtes Sein war auf den Vampir mit den blutigen Panzerhandschuhen konzentriert. Stefans Gesicht war so ausdruckslos, als hätte die gesamte Welt sich auf ihrer Achse bewegt.

Marsilia lächelte. »Sag mir, ist Bernard auf dich zugekommen, um mich zu verraten?«

»Ja«, sagte Stefan ausdruckslos.

»Hat Estelle dasselbe getan?«

Er holte tief Luft, blinzelte ein paarmal und entspannte sich dann. »Bernard schien die besten Interessen der Siedhe im Blick zu haben«, sagte er.

»Wahrheit«, kam von Wulfe.

»Aber Estelle – als sie mich fragte, ob ich mich ihr gegen dich anschließen wolle … sie wollte Macht.«

»Wahrheit.«

Estelle kreischte und versuchte, auf die Füße zu kommen, aber sie konnte sich nicht von Wulfe wegbewegen.

»Und was hast du ihnen geantwortet?«, fragte Marsilia.

»Ich habe ihnen gesagt, dass ich mich nicht gegen dich stellen werde.« Stefan klang unendlich erschöpft, aber irgendwie trugen seine Worte trotzdem über den Lärm, den Estelle machte.

»Wahrheit«, verkündete Wulfe.

Marsilia sah den Vampir mit den Panzerhandschuhen an, der seufzte und sich zu Estelle hinunterbeugte. Er tätschelte ihr ein paarmal den Kopf, bis sie sich beruhigte. Wir alle hörten das Krachen, als ihr Genick brach. Er nahm sich Zeit, um ihren Kopf von ihrem Körper zu trennen. Ich wandte den Blick ab und schluckte schwer.

»Bernard«, sagte Marsilia, »wir halten es für das Beste, wenn du zu deinem Schöpfer zurückkehrst, bis du dir Loyalität angewöhnt hast.«

Bernard stand auf. »Alles ein Trick. Du hast Stefans Leute getötet – in dem Wissen, dass er sie liebte. Du hast ihn gefoltert. Alles, um mich und Estelle bei unserer kleinen Rebellion zu ertappen … eine Rebellion, die im Herzen deines eigenen Andre geboren wurde.«

»Du hast Recht. Vergiss nicht, dass ich seinem kleinen Liebling, Mercedes, eine Falle gestellt habe, damit sie der Hebel wird, mit dem ich die Welt bewegen kann. Wenn sie Andre nicht umgebracht hätte, wenn er ihr nicht dabei geholfen hätte, es zu vertuschen, dann hätte ich ihn nicht aus der Siedhe ausschließen können. Dann hätte ich ihn nicht benutzen können, um Zeugnis gegen dich und Estelle abzulegen. Wärest du mein Geschöpf gewesen, wäre es um einiges einfacher gewesen, dich zu vernichten, und hätte mich viel weniger gekostet.«

Bernard schaute Stefan an, der dasaß, als würde ihm jede Bewegung wehtun, den Kopf nach unten gerichtet.

»Von uns allen war allein Stefan loyal bis zum Tod. Also hast du ihn gefoltert, seine Leute getötet, ihn verstoßen – weil du wusstest, dass er uns abweisen würde. Dass seine Loyalität so stark ist, dass er trotz allem, was du ihm angetan hast, der Deine bleiben würde.«

»Ich habe damit gerechnet«, antwortete sie. »Durch seine Zurückweisung ist eure Rebellion ihrer Rechtmäßigkeit beraubt.« Sie schaute den Mann an, der Estelle getötet hatte. »Du hattest natürlich keine Ahnung, dass deine Kinder sich so benehmen würden.«

Er schenkte ihr ein kleines Lächeln, von einem Raubtier zum anderen. »Ich sitze nicht auf dem Stuhl.« Er zog die Panzerhandschuhe aus und warf sie in Wulfes Schoß. »Nicht mal durch so eine kleine Verbindung.« Seine Hände waren blutig, aber ich konnte nicht sagen, ob das Blut aus einer Wunde kam oder aus vielen. »Ich habe deine Wahrheiten gehört, und ich kann nur hoffen, dass du sie so ärgerlich findest wie ich.«

»Komm, Bernard«, sagte er dann. »Es ist Zeit für uns, zu gehen.«

Bernard erhob sich ohne Protest, und ihm waren Schock und Entsetzen anzusehen. Er folgte seinem Schöpfer zur Tür, drehte sich aber nochmal um, bevor er den Raum ganz verließ. »Gott bewahre mich«, sagte er und sah dabei Marsilia an, »vor solcher Loyalität. Du hast ihn aus einer Laune heraus ruiniert. Du bist seines Geschenks nicht würdig – und das habe ich ihm auch gesagt.«

»Gott wird keinen von uns retten«, sagte Stefan leise. »Wir alle sind verdammt.«

Er und Bernard starrten sich quer durch den Raum an. Dann verbeugte sich der jüngere Vampir und folgte seinem Schöpfer aus der Tür. Stefan löste seine Hände von den Dornen und stand auf.

»Stefan …«, sagte Marsilia mit süßer Stimme. Aber noch bevor sie die letzte Silbe ausgesprochen hatte, war er verschwunden.