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11

Erst ungefähr nach einer Viertelstunde ließ die Wirkung nach und ich funktionierte wieder. Die erste Schlussfolgerung, die ich zog, war die, dass das Ding, mit dem er mich erwischt hatte, kein normaler Taser gewesen war. Auf keinen verdammten Fall. Zitternd und schwach rollte ich mich in dem vibrierenden Kofferraum zusammen und bemühte mich, einen Plan zu entwickeln.

Ich konnte mich noch nicht verwandeln, aber bevor wir Spokane erreichten, sollte ich es können. Das Auto war neuerer Bauart, und ich konnte den Hebel sehen, der den Kofferraum öffnen würde. Also war ich nicht gefangen.

Diese Erkenntnis half dabei, meine Panik zu stoppen. Egal, was passierte, ich würde Blackwood nicht gegenübertreten müssen.

Ich entspannte mich ein wenig und versuchte, mir darüber klarzuwerden, warum der Vampir mich dringend genug haben wollte, um dafür seinen Anwalt zu ruinieren. Vielleicht schätzte er Corban nicht so sehr – aber ich hatte das Gefühl gehabt, dass sie eine lange bestehende Geschäftsbeziehung hatten. Versuchte er, die Tri-Cities zusätzlich zu Spokane zu übernehmen? Wollte er mich als Geisel haben, um die Wölfe dazu zu zwingen, gegen Marsilia vorzugehen?

Das war mir als realistische Möglichkeit erschienen … war es erst gestern gewesen? Aber nachdem der Krieg zwischen Wölfen und Vampiren in den Tri-Cities zu Ende war, schien es mir relativ dumm, mich jetzt zu kidnappen. Und ein dummer Vampir hielt nicht eine Stadt gegen alle Eindringlinge. Es bestand die geringe Möglichkeit, dass er nicht gehört hatte, was passiert war. Und wegen dieser Möglichkeit konnte ich die Theorie nicht sofort verwerfen.

Und Marsilia hatte drei ihrer mächtigsten Vampire verloren. Wenn er gegen sie vorgehen wollte, war jetzt die beste Zeit für einen Angriff. Mich zu kidnappen war kein Angriff, sondern im besten Fall ein Ablenkungsmanöver. Besonders jetzt, wo Marsilia einem Waffenstillstand mit den Wölfen zugestimmt hatte. Mich zu entführen würde nichts bewirken, außer dass Adam Marsilia ein Bündnis anbot.

Fazit? Es war dumm, mich gefangen zu nehmen – wenn er wirklich vorhatte, Marsilias Territorium zu übernehmen.

Nachdem Blackwood nicht so dumm sein konnte, und ich mich ohne Frage gerade in Corbans Kofferraum befand, war ich geneigt, anzunehmen, dass wir Blackwoods Absichten falsch gedeutet hatten.

Also was wollte er von mir?

Es konnte einfach Stolz sein – er hatte mich immerhin als seine Nahrung beansprucht, wie er vielleicht jeden beanspruchte, der in Ambers Haus kam. Dann kam Stefan vorbei und nahm mich ihm weg.

Diese Theorie hatte den Vorteil, dass sie dem LIEB-System folgte – Lieber Immer Einfach, Blödi. Es hieß, dass Blackwood nichts mit Chads Geist zu tun hatte. Es setzte voraus, dass es einfach dämliches Pech gewesen war, dass ich in sein Jagdrevier gestiefelt war, als ich zu Amber fuhr, um nach einem Geist zu suchen.

Vampire sind arrogant und sehr territorial. Es war nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich, dass er glauben würde, ich gehöre ihm, nachdem er sich von mir genährt hatte. Wenn er besitzergreifend genug war – und die ganze Stadt für sich zu behalten ließ annehmen, dass Blackwood sehr besitzergreifend war –, dann war es absolut vertretbar, anzunehmen, dass er einen seiner Lakaien nach mir ausschicken würde.

Es war eine einfache, schöne Lösung, und sie beruhte nicht darauf, dass ich etwas Besonderes war. Das Ego, wie Bran gerne sagte, kam der Wahrheit öfter in den Weg als irgendetwas anderes.

Das Problem war nur, es passte immer noch nicht alles zusammen.

Nachdem ich allein im Kofferraum eingesperrt war und nichts Besseres zu tun hatte, nahm ich mir die Zeit, alles einmal von vorne zu analysieren. Von Anfang an hatte mich Ambers erste Kontaktaufnahme beunruhigt. Jetzt, wo ich nochmal darüber nachdachte, kam es mir sogar noch falscher vor. Die Amber, mit der ich eine Wasserschlacht gehabt hatte, die Dinnerparties für die Klienten ihres Ehemannes gab, wäre nie so gedankenlos oder tölpelhaft gewesen, mich um Hilfe mit ihrem Geist zu bitten, weil sie in der Zeitung von meiner Vergewaltigung gelesen hatte – der Vergewaltigung einer fast Unbekannten, eigentlich, nach all diesen Jahren.

Ich hatte sie seit ewiger Zeit nicht gesehen. Aber, im Rückblick betrachtet, hatte sie eine Unbeholfenheit an sich gehabt, die weder zu der Frau passte, die sie gewesen war, noch zu der, zu der sie sich entwickelt hatte. Es mochte sich durch die seltsame Situation erklären lassen, aber ich ging davon aus, dass sie wahrscheinlich geschickt worden war.

Was wieder die Frage aufwarf, warum Blackwood mich wollte.

Was konnte er über mich gewusst haben, bevor er mich zu Amber reisen ließ?

Die Zeitungen hatten verkündet, dass mein Freund ein Werwolf war. Amber wusste, dass ich Geister sehen konnte. Ich schnappte nach Luft – sie hatte auch gewusst, dass ich bis zu meinem sechzehnten Lebensjahr bei einer Pflegefamilie in Montana aufgewachsen war. Das war nichts, was ich verheimlicht hatte – nur die Tatsache, dass meine Pflegefamilie Werwölfe waren. Bis auf dieses eine Mal, als ich betrunken gewesen war.

Aber unter den Werwölfen war das Wissen über den Walker, den Kojoten-Gestaltwandler, der von Bran aufgezogen worden war, durchaus verbreitet. Also sagen wir, dass Blackwood nicht von mir wusste, bis zu den Zeitungsartikeln. Sagen wir, Amber hatte in die Zeitung geschaut und gesagt: »Himmel – ich kenne sie. Ich frage mich, ob sie uns nicht bei unserem Geist helfen könnte. Sie sagte, sie könne Geister sehen.«

Blackwood sagte zu sich selbst: »Hmmm. Ein Mädchen, deren Freund der Alpha der Tri-Cities ist. Ein Mädchen mit einer Neigung zu Geistern.« Und nachdem er viel älter war als ich, wusste er vielleicht mehr über Walker als ich. Also zählte er eins und eins zusammen, und: »Hey, ich frage mich, ob sie nicht vielleicht der Walker ist, der vor ein paar Jahren bei Bran aufgewachsen ist.« Also fragte er Amber, ob ich aus Montana kam. Und sie erzählt ihm, dass ich dort bei einer Pflegefamilie aufgewachsen bin.

Vielleicht wollte er etwas von einem Walker. In diesem Moment stieg in mir die unangenehme Erinnerung daran auf, wie Stefan mir vom Meister von Mailand erzählt hatte, der süchtig war nach dem Blut von Werwölfen. Aber Stefan hatte von mir Blut genommen und schien davon nicht besonders beeindruckt gewesen zu sein. Aber egal, angenommen, Blackwood wollte einen Walker und hatte deswegen Amber ausgeschickt, um mich zu finden und mich davon zu überzeugen, nach Spokane zu kommen.

Mir gefiel diese Möglichkeit nicht so gut wie die LIEB-Theorie. Aber das kam wohl überwiegend daher, dass es bedeutete, dass er die Jagd nicht aufgeben würde, nur weil ich aus seinem Auto entkam. Es hieß, dass er immer weitermachen würde, bis er bekam, was er wollte – oder getötet wurde.

Und es passte zu dem, was ich wusste. Walker sind selten. Wenn es noch andere Walker geben sollte, habe ich nie einen getroffen. Wenn er also herausgefunden hatte, was ich war, und einen wollte, dann wäre es logisch, dass er kam, um mich zu holen. Die Frage, die noch übrig blieb, war: Was wollte er mit einem Walker?

Das Kribbeln in meinen Armen und Beinen ließ nach und hinterließ nur einen dumpfen Schmerz. Es war Zeit, zu entkommen … und dann fiel mir wieder ein, was Corban gesagt hatte: »Er hat Chad.«

Corban hatte mich gekidnappt, weil Blackwood Chad hatte. Ich fragte mich, was Blackwood wohl tun würde, wenn Corban zurückkam und ich ihm entwischt war.

Vielleicht würde er ihn einfach nur wieder losschicken. Aber ich erinnerte mich an Marsilias Gleichgültigkeit, als sie befohlen hatte, Estelles Mann zu töten … als sie alle von Stefans Leuten getötet hatte. Sie war verletzt gewesen, dass er immer noch wütend auf sie war, nachdem er verstanden hatte, was sie getan hatte. Vielleicht konnte sie Stefans Bindung an seine Leute nicht verstehen … weil Menschen nur Nahrung waren.

Vielleicht würde Blackwood Chad einfach töten.

Dieses Risiko konnte ich nicht eingehen.

Plötzlich breitete sich echte Panik in meinen Eingeweiden aus, weil ich wirklich gefangen war. Ich konnte nicht entkommen, nicht wenn das hieß, dass Chad vielleicht sterben würde.

Mit trockenem Mund versuchte ich, meine Vorteile aufzulisten. Da war natürlich der Stab des Feenvolkes. Er war im Moment nicht hier, aber irgendwann würde er auftauchen. Vom Feenvolk wurde er als mächtiges Artefakt betrachtet – wenn Vampire nur Angst vor Schafen hätten.

Ich konnte weder das Rudel noch Adam finden. Samuel hatte gesagt, dass die Verbindung sich irgendwann wieder herstellen würde. Er hatte mir keinen Zeitrahmen genannt – und ich war nicht gerade scharf darauf gewesen, die Erfahrung zu wiederholen, also hatte ich auch nicht gefragt. Adam hatte gesagt, dass Entfernung die Verbindung schwächer werden ließ.

Ich erinnerte mich daran, dass Samuel einmal bis nach Texas geflohen war, um seinem Vater zu entkommen … und es hatte funktioniert. Aber Spokane lag um einiges näher an den Tri-Cities als Texas an Montana. Also konnte ich vielleicht, wenn ich Blackwood lang genug hinhielt, das Rudel rufen, um mich zu retten – wieder einmal.

Nach Einbruch der Dunkelheit – und es würde bald dunkel sein – gab es noch Stefan. Ich konnte ihn rufen und er würde zu mir kommen, genauso wie er gekommen war, als Marsilia mich gebeten hatte, ihn zu rufen – aber ich würde es tun müssen, bevor Blackwood mich wieder zu einem Blutaustausch mit ihm zwang. Ich nahm an, dass das, was erfolgreich seinen Zugriff auf mich verhindert hatte, auch in die andere Richtung funktionieren würde.

Und genauso wie wenn ich das Rudel rief, würde ich ihn rufen, um zu sterben. Wenn er selbst nicht glaubte, Blackwood gewachsen zu sein – und das tat er nicht –, konnte ich seine Meinung nur akzeptieren. Er wusste mehr über Blackwood als ich.

Wenn ich floh, dann überließ ich einen Jungen dem Tod durch die Hände eines Monsters. Wenn ich blieb … würde ich mich selbst in die Hände dieses Monsters geben. Des Monsters.

Vielleicht hatte er nicht vor, mich zu töten. Das konnte ich mir leicht einreden. Weniger einfach zu verwerfen war sein bereits deutlich gezeigter Wunsch, mich zu seiner Marionette zu machen.

Ich konnte immer fliehen. Ich verwandelte mich und erklärte mir selbst, dass ich es deswegen tat, weil ich Blackwood nicht gefesselt und hilflos gegenübertreten wollte. Ich wand mich aus den Fesseln und dem Knebel, dann verwandelte ich mich zurück, zog mich wieder an und befingerte kurz den Hebel zum Öffnen des Kofferraumdeckels.

So fuhr ich den ganzen Weg nach Spokane im Kofferraum von Corbans Auto. Als der Wagen langsamer wurde und das gleichmäßige Surren der Autobahn zum Stop-andgo-Verkehr in der Stadt wurde, richtete ich gerade meine Kleidung. Meine Finger berührten einen Stab … der Wanderstab mit seinen Silberbeschlägen auf Holz lag unter meiner Wange. Ich streichelte ihn, weil das dafür sorgte, dass ich mich besser fühlte.

»Du versteckst dich besser, mein Hübscher«, murmelte ich in einem aufgesetzten Piratenakzent. »Oder er schließt dich in seine Schatzkammer ein und du wirst das Tageslicht nie wiedersehen.«

Etwas unter meinem Ohr klingelte, wir bogen um eine scharfe Kurve und ich wusste nicht länger, wo der Stab war. Ich hoffte, dass er mir zugehört hatte und verschwunden war. Er würde mir gegen einen Vampir nicht viel helfen, und ich wollte nicht, dass er zu Schaden kam, während er sich in meiner Obhut befand.

»Jetzt redest du schon mit unbelebten Gegenständen«, sagte ich laut. »Und glaubst, dass sie dir zuhören. Reiß dich zusammen, Mercy.«

Das Auto verlangsamte sich, bis es nur noch kroch, dann hielt es an. Ich hörte das Rasseln von Ketten und Metall auf Asphalt, dann fuhr der Wagen langsam weiter. Es klang, als wäre Blackwoods Tor ein wenig stärker als Marsilias. Machten sich Vampire um solche Dinge Sorgen?

Ich rollte mich herum, zog die Beine in einen Schneidersitz und beugte mich vor, bis mein Kinn auf meinen Knöcheln ruhte. Als Corban den Kofferraum öffnete, setzte ich mich einfach auf. Es musste ausgesehen haben, als hätte ich schon die ganze Zeit so gesessen. Ich hoffte, dass das seine Aufmerksamkeit vom restlichen Kofferraum ablenken würde, damit er den Wanderstab nicht bemerkte. Wenn er überhaupt noch da war.

»Blackwood hat Chad?«, fragte ich ihn.

Sein Mund öffnete sich, aber es kam kein Laut heraus.

»Schau«, meinte ich und kletterte weniger elegant aus dem Kofferraum, als ich mir gewünscht hatte. Verdammter Taser oder Elektroschocker oder was auch immer es gewesen war. »Wir haben nicht viel Zeit. Ich muss wissen, wie die Lage ist. Du hast gesagt, er hat Chad. Was genau hat er dir befohlen? Hat er dir gesagt, warum er mich will?«

»Er hat Chad«, sagte Corban. Er schloss die Augen und sein Gesicht lief rot an – wie bei einem Gewichtheber nach einer großen Anstrengung. Er sprach langsam. »Ich schnappe dich, wenn du allein bist. Niemand in der Gegend. Nicht dein Mitbewohner. Nicht dein Freund. Er würde mir sagen, wann. Ich bringe dich zurück. Mein Sohn bleibt am Leben.«

»Was will er von mir?«, fragte ich, während ich immer noch zu verarbeiten versuchte, dass Blackwood gewusst hatte, wann ich allein war. Ich konnte nicht glauben, dass jemand mir gefolgt sein könnte – selbst wenn ich denjenigen nicht bemerkt hatte, waren da noch Samuel und Adam.

Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.« Er streckte die Hand aus und umklammerte mein Handgelenk. »Ich muss dich jetzt reinbringen.«

»Na gut«, sagte ich, und mein Herz schlug plötzlich doppelt so schnell. Selbst jetzt, dachte ich mit einem schnellen Blick zum Tor und den drei Meter hohen Steinmauern. Selbst jetzt könnte ich mich noch losreißen und weglaufen. Aber da war Chad.

»Mercy«, sagte Corban, als müsste er seine Stimme aus dem Körper zwingen. »Noch eine Sache. Er wollte, dass ich dir von Chad erzähle. Damit du kommst.«

Nur weil man wusste, dass es eine Falle war, konnte man sich nicht von ihr fernhalten, wenn der Köder gut genug war. Mit einem tiefen Seufzer entschied ich, dass der Gedanke an einen tauben Jungen mit dem Mut, sich einem Geist zu stellen, mir wenigstens ein Zehntel dieses Mutes verleihen sollte.

Nachdem mein Kurs bestimmt war, schaute ich mir die geografische Anlage von Blackwoods Falle für mich genauer an. Es war dunkel, aber ich kann im Dunkeln sehen.

Blackwoods Haus war kleiner als Adams, sogar kleiner als Ambers, wenn auch höchst ordentlich aus einem warmen Stein erbaut. Der Garten umfasste vielleicht fünf oder sechs Morgen von etwas, was früher mal Rosengärten gewesen waren. Aber es war schon ein paar Jahre her, dass irgendein Gärtner hier etwas getan hatte.

Er wird noch ein anderes Haus haben, dachte ich. Eines, das angemessen großartig war, mit einem professionell gepflegten Garten, der von einer Firma in Schuss gehalten wurde. Dort würde er seine Geschäftspartner empfangen.

Dieser Ort, mit seinem vernachlässigten, verwilderten Garten, war seine Heimstatt. Was sagte mir das über ihn? Außer dass er Qualität höher schätzte als Größe und Privatsphäre über Schönheit oder Ordnung stellte.

Die Mauern, die den Garten umgaben, waren älter als das Haus, aus behauenem Stein und ohne Mörtel errichtet. Das Tor war aus Schmiedeeisen und verziert. Sein Haus war nicht wirklich klein – es sah nur wegen der Präsentation zu klein aus. Ohne Frage war das Haus, das durch dieses hier ersetzt worden war, riesig gewesen und hatte besser zum Anwesen gepasst, wenn schon nicht zu dem Vampir.

Corban zögerte direkt vor der Tür. »Flieh, wenn du kannst«, sagte er. »Das ist nicht richtig … nicht dein Problem.«

»Blackwood hat es zu meinem Problem gemacht«, erklärte ich ihm. Ich trat vor ihn und schob die Tür auf. »Hey, Liebling, ich bin zu Hause!«, verkündete ich in der besten Imitation eines Fünfziger-Jahre-Sternchens. Ich dachte, dass Kyle die Stimme zu schätzen gewusst hätte, wenn auch nicht meine Kleidung. Mein T-Shirt trug ich seit eineinhalb Tagen, die Jeans … ich konnte mich nicht erinnern, wie lang ich die schon trug. Nicht viel länger als das Hemd.

Der Flur war leer. Aber nicht lange.

»Mercedes Thompson, meine Liebe«, sagte der Vampir. »Willkommen in meinem Zuhause. Endlich.« Er blickte kurz zu Corban. »Du hast ausgedient. Geh und ruh dich aus, mein Gast.«

Corban zögerte. »Chad?«

Der Vampir hatte mich angestarrt, als wäre ich etwas, das ihn entzückte … vielleicht brauchte er ein Frühstück. Corbans Unterbrechung ließ einen irritierten Ausdruck über sein Gesicht huschen. »Hast du nicht die Mission erfüllt, die ich dir aufgetragen habe? Welchen Schaden sollte der Junge davontragen, wenn das stimmt? Jetzt geh und ruh.«

Ich ließ jeden Gedanken an Corban fahren. Sein Schicksal, das Schicksal seines Sohnes … Ambers Schicksal, sie alle lagen momentan außerhalb meiner Kontrolle. Ich konnte mir nur erlauben, an das Hier und Jetzt zu denken.

Das war ein Trick, den Bran uns allen auf unserer ersten Jagd beigebracht hatte. Keine Sorgen darüber machen, was gewesen ist oder vielleicht kommen wird, sondern nur das Jetzt. Nicht, was ein Mensch bei dem Wissen fühlen würde, dass er einen Hasen getötet hatte, der ihm niemals etwas getan hatte. Dass er ihn mit Zähnen und Klauen getötet und mit Genuss roh verschlungen hatte … inklusive einiger Teile, von denen die menschliche Seite lieber nicht gewusst hätte, dass sie sich innerhalb eines weichen, pelzigen Häschens befanden.

Also vergaß ich das Häschen einfach, vergaß den möglichen Ausgang dieser Nacht und konzentrierte mich auf das Hier und Jetzt. Ich drängte die Panik zurück, die mir Atem und Gedanken stocken lassen wollte, und dachte: Hier und Jetzt.

Der Vampir trug nicht länger einen Geschäftsanzug. Wie die meisten Vampire, die ich getroffen hatte, fühlte er sich am wohlsten in der Kleidung anderer Zeitalter. Werwölfe lernen, mit der Zeit zu gehen, damit sie nicht in Versuchung geraten, in der Vergangenheit zu leben.

Ich kann Frauenkleidung der letzten hundert Jahre ungefähr auf zehn Jahre genau einordnen, und davor zumindest ins richtige Jahrhundert. Bei Männermode fällt es mir schwerer, besonders, wenn es nicht die Abendtoilette ist. Die Knöpfe an seiner Hose sagten mir, dass die Kleidung aus einer Zeit stammte, bevor Reißverschlüsse in Mode kamen. Sein Hemd war dunkelbraun mit einem weiten Kragen, so dass man es sich über den Kopf ziehen konnte, also hatte es keine Knöpfe.

Kenne deine Beute, hatte Bran uns gesagt. Beobachte.

»James Blackwood«, sagte ich. »Wissen Sie, als Corban uns vorgestellt hat, wollte ich meinen Ohren nicht trauen.«

Er lächelte erfreut. »Ich mache dir Angst.« Aber dann runzelte er die Stirn. »Aber jetzt hast du keine Angst.«

Hase, dachte ich angestrengt. Und machte den Fehler, ihm in die Augen zu sehen, wie ich es vor so langer Zeit bei diesem Häschen getan hatte – wie ich es letzte Nacht bei Aurielle getan hatte. Aber weder Aurielle noch der Hase waren ein Vampir gewesen.

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Ich wachte in einem Doppelbett auf, und egal wie sehr ich mich bemühte, ich konnte mich an nichts nach dem Moment erinnern, als er meinen Blick aufgefangen hatte. Der Raum war überwiegend dunkel, ohne irgendeine Andeutung eines Fensters. Das einzige Licht kam von einer Nachtlampe, die in einer Steckdose an der Wand neben der Tür steckte.

Ich warf die Decke zurück und sah, dass er mich bis auf die Unterhose ausgezogen hatte. Zitternd fiel ich auf die Knie … und erinnerte mich … erinnerte mich an andere Dinge.

»Tim ist tot«, sagte ich, und die Worte kamen als Knurren hervor, das Adam Ehre gemacht hätte. Und sobald ich es gehört hatte und wusste, dass es wahr war, ging mir auf, dass ich nicht nach Sex roch, wie Amber es getan hatte. Ich roch allerdings nach Blut. Ich griff an meinen Hals und fand das erste Bissmal, das zweite und dann ein neues, drittes, nur einen Zentimeter neben dem zweiten.

Stefans war verheilt.

Ich zitterte vor Erleichterung, dass es nicht schlimmer war, dann noch ein bisschen mehr aus Wut, die nicht verbergen konnte, wie viel Angstich hatte. Aber Erleichterung und Wut würden mich nicht hilflos mitten in einer Panikattacke zurücklassen.

Die Tür war verschlossen und er hatte mir nichts gelassen, um das Schloss zu knacken. Der Lichtschalter funktionierte, aber auch mit Licht entdeckte ich nichts, was ich nicht vorher schon gesehen hatte. Ein Plastikeimer, in dem nur meine Jeans und mein Hemd waren. In meiner Hosentasche waren ein Quarter und der Brief für Stefan, aber er hatte mir die paar Schrauben weggenommen, die ich eingesteckt hatte, als ich an der Raststätte die Kupplung der Frau repariert hatte.

Das Bett bestand aus einem Stapel Schaumpolstermatratzen, die nichts enthielten, was ich in eine Waffe oder ein Werkzeug verwandeln konnte.

»Seine Beute entkommt nie«, flüsterte mir eine Stimme ins Ohr.

Ich erstarrte in meiner Position auf den Knien neben dem Bett. Außer mir war niemand im Raum.

»Ich sollte es wissen«, sagte … es. »Ich habe sie beobachtet, wie sie es versucht haben.«

Ich drehte mich langsam um, sah aber nichts … aber der Geruch nach Blut wurde stärker.

»Warst du das, im Haus des Jungen?«, fragte ich.

»Armer Junge«, meinte die Stimme traurig und klang jetzt fester. »Armer Junge mit einem gelben Auto. Ich wünschte, ich hätte ein gelbes Auto …«

Geister sind seltsam. Der Trick lag darin, alle Informationen zu bekommen, ohne ihn wegzutreiben, indem ich etwas fragte, was nicht mit seinem Verständnis der Welt zusammenpasste. Dieser hier schien für einen Geist ziemlich informiert zu sein.

»Folgst du Blackwoods Befehlen?«, fragte ich.

Ich sah ihn. Nur für einen Moment. Ein junger Mann zwischen sechzehn und zwanzig in einem roten Flanellhemd und einer geknöpften Segeltuchhose.

»Ich bin nicht der Einzige, der tun muss, was er befiehlt«, sagte die Stimme, obwohl die Erscheinung mich anstarrte, ohne die Lippen zu bewegen.

Und er war verschwunden, bevor ich ihn fragen konnte, wo Chad und Corban waren … oder ob Amber hier war. Ich hätte Corban fragen sollen. Meine Nase verriet mir nur, dass die Luftfilter, die er in seine Klimaanlage eingebaut hatte, herausragend funktionierten, und dass die Filter leicht mit Zimtöl behandelt worden waren. Ich fragte mich, ob er das meinetwegen getan hatte, oder ob er Zimtgeruch einfach mochte.

Die Dinge im Raum – Plastikeimer und Bett, Kopfkissen und Decke – waren nagelneu. Genauso wie die Farbe und der Teppich.

Ich zog mein T-Shirt und meine Hose an und bedauerte, dass er mir meinen Bügel-BH weggenommen hatte. Ich hätte mit dem Metall der Bügel vielleicht etwas anstellen können. Ich hatte so bereits meinen Teil an Autotüren geknackt und auch ein paar Türschlösser. Dass die Schuhe weg waren, kümmerte mich weniger.

Jemand klopfte vorsichtig an die Tür. Ich hatte niemanden kommen hören. Vielleicht war es der Geist.

Das Schloss knackte und die Tür öffnete sich. Amber sagte: »Dummerchen, Mercy. Warum hast du dich eingeschlossen?« Ihre Stimme war so unbeschwert wie ihr Lächeln, aber in ihren Augen lauerte etwas Wildes. Etwas, was sehr nah an einem Wolf war.

Vampir?, fragte ich mich. Ich hatte einen Mann in Stefans Menagerie getroffen, der schon sehr nah an einem Vampirdasein gewesen war. Oder vielleicht war es auch nur der Teil von Amber, der wusste, was vorging.

»Habe ich nicht«, erklärte ich ihr. »Blackwood war es.« Sie roch seltsam, aber der Zimtgeruch hielt mich davon ab, es genauer einordnen zu können.

»Dummerchen«, sagte sie wieder. »Warum sollte er das tun?« Ihre Haare sahen aus, als wären sie nicht gekämmt worden, seitdem ich sie das letzte Mal gesehen hatte, und ihre gestreifte Bluse war falsch zugeknöpft.

»Ich weiß es nicht.«

Aber sie hatte bereits das Thema gewechselt. »Ich habe das Abendessen fertig. Man erwartet, dass du mit uns zu Abend isst.«

»Uns?«

Sie lachte, aber in ihren Augen lag kein Lächeln, sondern nur eine gefangene Bestie, die durch Frustration wild gemacht wurde. »Natürlich Corban, Chad und Jim.«

Sie drehte sich um, um mir den Weg zu zeigen, und unterwegs bemerkte ich, dass sie übel humpelte.

»Bist du verletzt?«, fragte ich sie.

»Nein, warum fragst du?«

»Ist egal«, antwortete ich sanft, weil mir noch etwas anderes aufgefallen war. »Achte nicht auf mich.«

Sie atmete nicht. Hier und Jetzt, riet ich mir selbst. Keine Angst, keine Wut. Nur Beobachtung: Kenne deinen Feind. Verwesung. Das hatte ich gerochen: dieser erste Hinweis, dass ein Steak zu lang im Kühlschrank lag.

Sie war tot und lief herum, aber sie war kein Geist. Das Wort, das mir dafür in den Sinn kam, war Zombie.

Stefan hatte mir erklärt, dass Vampire verschiedene Talente haben. Er und Marsilia konnten verschwinden und an anderer Stelle wieder erscheinen. Es gab Vampire, die Dinge bewegen konnten, ohne sie zu berühren.

Dieser hier hatte Macht über die Toten. Geister, die ihm gehorchten. Keiner entkommt, hatte er mir gesagt. Nicht mal im Tod.

Ich folgte Amber die lange Treppe zum Erdgeschoss des Hauses hinauf. Wir kamen in einem großen Raum heraus, der gleichzeitig Esszimmer, Küche und Wohnzimmer war. Es war Tag … nach der Position der Sonne Morgen – vielleicht ungefähr zehn Uhr. Aber auf dem Tisch stand ein Abendessen. Ein Braten – Schwein, wie mir meine Nase verspätet mitteilte – thronte auf dem Tisch, großartig angerichtet mit gebackenen Kartoffeln und Karotten. Daneben standen eine Karaffe Eiswasser, eine Flasche Wein und ein selbstgebackenes Brot.

Der Tisch war groß genug für acht, aber es gab nur fünf Stühle. Corban und Chad saßen nebeneinander, mit dem Rücken zu uns, auf der einzigen Seite, wo nur zwei Gedecke lagen. Die restlichen drei Stühle gehörten offensichtlich ebenfalls zum Tisch, aber einer davon – der gegenüber von Corban und Chad – hatte eine gepolsterte Rückenlehne und auch Polster auf den Armlehnen.

Ich setzte mich ans Stirnende neben Chad.

»Aber Mercy, das ist mein Platz«, sagte Amber.

Ich schaute in das tränenüberströmte Gesicht des Jungen und Corbans völlig ausdruckslose Miene … Er zumindest atmete noch. »Hey, du weißt doch, dass ich Kinder mag«, meinte ich. »Du hast ihn immer.«

Blackwood war immer noch nicht aufgetaucht. »Spricht Jim die Zeichensprache?«, fragte ich Amber.

Ihr Gesicht wurde leer. »Ich kann keine Fragen über Jim beantworten. Du musst ihn selbst fragen.« Sie blinzelte ein paarmal, dann lächelte sie jemanden direkt hinter mir an.

»Nein, tue ich nicht«, sagte Blackwood.

»Sie können keine Zeichensprache?« Ich schaute über meine Schulter – und ließ Chad dabei nicht nur aus Versehen meine Lippen sehen. »Ich auch nicht. Das war eins von diesen Dingen, die ich mir immer vorgenommen habe.«

»Tatsächlich.« Ich amüsierte ihn anscheinend.

Er setzte sich in den Lehnstuhl und bedeutete Amber, den anderen zu nehmen.

»Sie ist tot«, erklärte ich ihm. »Sie haben sie kaputtgemacht.«

Er erstarrte. »Sie dient mir immer noch.«

»Tut sie das? Wirkt mehr wie eine Marionette. Ich wette, sie macht tot mehr Arbeit und Ärger als zu Lebzeiten.« Arme Amber. Aber ich konnte mir meine Trauer nicht anmerken lassen. Ich musste mich auf diesen Raum konzentrieren, und darauf, zu überleben. »Also, warum behalten Sie sie, wenn sie doch kaputt ist?« Ohne ihm Zeit für eine Antwort zu geben, senkte ich den Kopf und sprach ein stilles Gebet über dem Essen … und bat gleich noch um Weisheit und Hilfe, wenn ich schon dabei war. Ich bekam keine Antwort, aber ich hatte das Gefühl, dass irgendjemand mir zuhörte – und ich hoffte sehr, dass es nicht nur der Geist war.

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Der Vampir starrte mich an, als ich fertig war.

»Schlechte Manieren, ich weiß«, sagte ich, nahm mir ein Stück Brot und schmierte Butter darauf. Es roch gut, also legte ich es auf Chads Teller und gab ihm das Okay-Zeichen. »Aber Chad kann nicht laut für uns beten. Amber ist tot, und Corban …« Ich legte den Kopf schräg und betrachtete Chads Vater, der sich seit meinem Erscheinen im Raum nicht bewegt hatte, mal abgesehen vom Heben und Senken seines Brustkorbes. »Corban ist nicht in der Verfassung, zu beten. Und Sie sind ein Vampir. Gott wird auf nichts hören, was Sie zu sagen haben.«

Ich nahm mir eine zweite Scheibe Brot und verteilte Butter darauf.

Unerwarteterweise warf der Vampir seinen Kopf zurück und lachte. Seine Reißzähne waren scharf und … spitz. Ich bemühte mich, nicht an diese Dinger in meinem Hals zu denken.

Das war nicht annähernd so unheimlich wie Amber, die in sein Lachen einfiel. Eine kalte Hand berührte meinen Nacken und verschwand wieder – aber nicht bevor jemand in mein Ohr flüsterte: »Vorsichtig.« Ich hasste es, wenn Geister sich an mich anschlichen.

Chad krallte eine Hand in mein Knie und riss die Augen weit auf. Hatte er den Geist gesehen? Ich schüttelte den Kopf in seine Richtung, während Blackwood sich seine trockenen Augen mit einer Serviette abwischte.

»Du warst immer ein ziemlicher Frechdachs, oder?«, fragte Blackwood. »Sag, hat Tag jemals herausgefunden, wer seine gesamten Schuhbänder gestohlen hat?«

Seine Worte durchfuhren mich wie ein Messer und ich gab mir die größte Mühe, keine Reaktion zu zeigen.

Tag war ein Wolf in Brans Rudel. Er hatte Montana niemals verlassen und nur er und ich wussten von dem Schuhband-Vorfall. Er hatte mich gefunden, als ich mich vor Brans Zorn versteckt hatte – ich erinnere mich nicht mehr, was ich getan hatte –, und als ich nicht alleine herauskam, hatte er seine Stiefelbänder abgenommen und daraus ein Halsband mit Leine für mein Kojotenselbst gebastelt. Dann hatte er mich durch Brans Haus ins Büro geschleppt.

Er wusste genau, wer seine Schuhbänder gestohlen hatte. Und bis ich nach Portland gegangen war, hatte ich ihm jede Weihnachten Schuhbänder geschenkt – und er hatte gelacht.

Es war ausgeschlossen, dass irgendeiner von Brans Wölfen für die Vampire spionierte.

Ich versteckte meine Gedanken, indem ich ein paarmal von meinem Brot abbiss. Als ich schlucken konnte, sagte ich: »Fantastisches Brot, Amber. Hast du es selbst gebacken?« Nichts was ich über Schuhbänder sagen konnte, erschien mir nützlich. Also wechselte ich zum Thema Essen. Dabei konnte man sich immer auf Amber verlassen. Nicht mal der Tod würde das ändern.

»Ja«, erklärte sie mir. »Vollkorn. Jim hat mich als Köchin und Haushälterin angestellt. Wenn ich es nur nicht für ihn ruiniert hätte.« Yeah, armer Jim. Amber hatte ihn gezwungen, sie zu töten.

»Ruhig«, sagte Blackwood.

Ich drehte den Kopf, so dass ich Blackwood halb ansah. »Yeah«, meinte ich. »Das wird nicht länger funktionieren. In ein paar Tagen wird sogar eine menschliche Nase vergammeltes Fleisch riechen. Nicht gerade das, was man bei einer Köchin braucht.« Ich biss nochmal von meinem Brot ab.

»Also, wie lange beobachten Sie mich schon?«, fragte ich.

»Ich hatte es schon fast aufgegeben, einen anderen Walker zu finden«, erklärte er mir. »Stell dir meine Freude vor, als ich hörte, dass der Marrok einen unter seine Fittiche genommen hat.«

»Na ja, also, das hätte nicht besonders gut für Sie funktioniert, wenn ich geblieben wäre.« Geister, dachte ich. Er hatte Geister benutzt, um mich zu beobachten.

»Ich mache mir keine Sorgen um Werwölfe«, sagte Blackwood. »Haben Corban und Amber dir erzählt, was meine Firma produziert?«

»Nö. Ihr Name ist ihnen nicht einmal über die Lippen gekommen, nachdem Sie weg waren.« Es war die Wahrheit, und ich sah, wie er die Lippen zusammenkniff. Gefiel ihm nicht, dass seine Haustiere ihn nicht beachteten. Es war das erste Zeichen von Schwäche, das ich bemerkte. Ich war mir nicht sicher, ob das nützlich werden würde oder nicht. Aber ich würde nehmen, was ich kriegen konnte.

Kenne deinen Feind.

»Ich handle mit … spezieller Munition«, sagte er und schaute mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Überwiegend supergeheimes Regierungszeug. Ich war, zum Beispiel, sehr erfolgreich mit einer Auswahl von Munition, die dafür geschaffen wurde, Werwölfe zu töten. Ich stelle unter anderem eine Silbervariante der alten Black Talon her. Statt sich im Körper nur zu verformen, öffnet sie sich wie eine Blume.« Er öffnete eine Hand, so dass sie aussah wie ein Seestern.

»Und dann gibt es da diese interessanten Beruhigungspfeile, die Gerry Wallace entwickelt hat. Das war vielleicht eine Überraschung. Ich hätte niemals daran gedacht, Dimethylsulfoxid als Träger für das Silber zu verwenden – oder ein Beruhigungsgewehr als Waffe. Aber natürlich war Gerrys Vater Tierarzt.«

»Sie kannten Gerry Wallace?«, fragte ich, weil ich mich einfach nicht stoppen konnte. Ich nahm noch einen Bissen, als wäre mein Magen nicht verkrampft, damit er nicht davon ausging, dass seine Antwort mir allzu wichtig war.

»Er kam zuerst zu mir«, sagte Blackwood. »Aber es passte mir nicht, zu tun, was er wollte … der Marrok ist ein etwas größeres Ziel, als ich es auf mich nehmen will.« Er lächelte entschuldigend. »Ich bin überwiegend ein faules Wesen, dass hat mir meine Schöpferin immer gesagt. Ich habe Gerry weggeschickt. Er hatte die Idee im Kopf, die Superwaffe gegen Werwölfe zu bauen, für irgendeinen komplizierten Plan, der von vornherein zum Scheitern verurteilt war und durch den ich nichts gewinnen konnte. Stell dir meine Überraschung vor, als der Junge tatsächlich etwas Interessantes entdeckt hat.« Er lächelte mich freundlich an.

»Sie sollten Bran genauer beobachten«, meinte ich. Ich schnappte mir die Wasserkaraffe und goss etwas in mein Glas. »Er ist subtiler, und das lässt diese Allwissenheitsgeschichte bei ihm besser funktionieren. Wenn Sie alles, was Sie wissen, jedem erzählen, den Sie kennen, dann wundern sie sich nicht mehr über das, was Sie erzählen. Bran …« Ich zuckte mit den Achseln. »Man weiß einfach, dass er weiß, was man denkt.«

»Amber«, sagte der Vampir. »Sorg bitte dafür, dass dein Ehemann und der Junge, der nicht sein Sohn ist, ihr Abendessen essen.«

»Natürlich.«

Chads kalte Hand auf meinem Knie drückte fest zu. »Sie sagen das, als wäre es eine Offenbarung«, erklärte ich Blackwood. »Sie sollten auch an Ihrer verbalen Munition arbeiten. Corban hat immer gewusst, dass Chad nicht sein biologischer Sohn ist. Das ist ihm völlig egal. Chad ist trotzdem sein Sohn.«

Der Stiel des Weinglases, das der Vampir gerade hielt, zerbrach. Er legte die Scherben vorsichtig auf seinen Teller. »Du hast nicht genug Angst vor mir«, sagte er sehr langsam. »Vielleicht ist es an der Zeit, dich eines Besseren zu belehren.«

»Gut«, meinte ich. »Danke für das Essen, Amber. Corban und Chad, passt auf euch auf.«

Er hielt es für Dummheit, dass ich keine Angst vor ihm hatte. Aber wirklich dumm ist es, in einem Rudel Werwölfe vor Angst zu zittern. Wenn man genügend Angst hat, bekommt sogar ein Wolf mit starker Selbstkontrolle Probleme. Wenn seine Kontrolle nicht stark ist – na ja, sagen wir einfach, ich habe gelernt, sehr gut darin zu werden, meine Angst zu begraben.

Blackwood unter Druck zu setzen war auch nicht dumm. Hätte er mich beim ersten Mal umgebracht – tja, zumindest wäre es ein schneller Tod gewesen. Aber je länger er es zuließ, desto mehr brauchte er mich. Ich konnte mir nicht vorstellen, wofür – aber er brauchte mich für etwas.

Mein Pech war, dass er es als Herausforderung verstand. Ich fragte mich, wovon er wohl glaubte, dass es mir mehr Angst machen würde als Amber, bevor ich meine Gedanken unter Kontrolle bekam. Es gab keine Zukunft, nur den Vampir und mich, die neben dem Tisch standen.

»Komm«, sagte er und führte mich wieder die Treppe hinunter.

»Wieso können Sie im Tageslicht wandeln?«, fragte ich. »Ich habe noch nie von einem Vampir gehört, der tagsüber herumlaufen konnte.«

»Man ist, was man isst«, sagte er ominös. »Meine Schöpferin hat das immer gesagt. Man ist, was man isst.« Die letzten Worte sprach er auf Deutsch. »Sie hat nicht zugelassen, dass ich mich von Trinkern nährte oder von Rauchern.« Er lachte, und ich verbot mir, es als bedrohlich zu empfinden. »Amber erinnert mich ein wenig an sie … so besorgt um die Ernährung. Keine von ihnen hatte Unrecht. Aber meine Schöpferin verstand nicht die volle Bedeutung dessen, was sie sagte.« Er lachte wieder. »Bis ich sie verzehrt habe.«

Die Tür zu dem Raum, in dem ich aufgewacht war, stand offen. Im Vorbeigehen hielt er kurz an und knipste das Licht aus. »Keine Energie verschwenden.«

Dann öffnete er die Tür zu einem viel größeren Raum. Ein Raum voller Käfige. Er roch nach Fäkalien, Krankheit und Tod. Der Großteil der Käfige war leer. Aber in einem davon lag ein nackter Mann zusammengerollt auf dem Boden.

»Du siehst, Mercedes«, sagte er, »du bist nicht die erste seltene Kreatur, die mein Gast ist. Das ist ein Eichendryad. Ich habe ihn seit … Wie lange gehörst du schon mir, Donnell Greenleaf?«

Der Mann aus dem Feenvolk rührte sich und hob den Kopf vom Betonboden. Einst musste er eine beeindruckende Gestalt gewesen sein. Eichendryaden, daran erinnerte ich mich aus dem alten Buch, das ich mir geliehen hatte, waren nicht groß – nicht größer als ein Meter zwanzig –, aber sie waren robust »wie ein guter Eichentisch«. Dieser hier bestand aus kaum mehr als Haut und Knochen.

Mit einer Stimme, die so trocken war wie der Sommer in den Tri-Cities, sagte er: »Achtzig Jahre und ein Dutzend und eins. Noch zwei Jahreszeiten mehr und achtzehn Tage.«

»Eichendryaden«, sagte Blackwood selbstgefällig, »essen wie die Bäume, nach denen sie benannt sind, nur Sonnenlicht.«

Man ist, was man isst – tatsächlich.

»Ich habe niemals versucht, ob ich auch von Licht allein leben könnte. Aber er hält mich davon ab, zu verbrennen, nicht wahr, Donnell Greenleaf?«

»Ich habe die Ehre, diese Last zu tragen«, sagte der Dryad mit hoffnungsloser Stimme, sein Gesicht zum Boden gerichtet.

»Also haben Sie mich entführt, damit Sie sich in einen Kojoten verwandeln können?«, fragte ich ungläubig.

Der Vampir lächelte nur und führte mich zu einem größeren Käfig mit Bett. In einer Ecke stand ein Eimer, aus dem der Geruch nach Fäkalien aufstieg. Sie rochen nach Corban, Chad und Amber.

»Ich kann dich für eine lange Zeit am Leben halten«, sagte der Vampir. Er griff sich meinen Nacken und drückte mein Gesicht gegen den Käfig, während er hinter mir stand. »Vielleicht sogar deine gesamte Lebensspanne lang. Was? Kein flapsiger Kommentar?«

Er konnte die durchscheinende Gestalt nicht sehen, die mit dem Finger vor ihren geschürzten Lippen vor mir stand. Sie sah aus, als wäre sie irgendwo zwischen sechzig und hundert gewesen, als sie starb – wie die Frau des Weihnachtsmannes war sie überall rundlich. Ruhig, sagte der Finger. Oder vielleicht nur: Lass ihn nicht merken, dass du mich sehen kannst.

Blackwood sah sie nicht, obwohl er den anderen Geist als Botenjungen benutzt hatte. Ich fragte mich, was das bedeutete. Sie roch auch nach Blut.

Er steckte mich in den Käfig neben dem, in dem er Chad und Corban gehalten hatte. Es war anzunehmen, dass er Amber nicht mehr einsperren musste. »Das hätte so viel angenehmer für dich werden können.«

Die Frau und ihr mich stoppender Finger waren weg, also ließ ich meiner Zunge freien Lauf. »Erzählen Sie das Amber.«

Er lächelte und zeigte dabei seine Reißzähne. »Sie hat es genossen. Ich werde dir eine letzte Chance geben. Sei kooperativ, dann darfst du in dem anderen Zimmer wohnen.«

Vielleicht konnte ich in dem anderen Raum durch die Decke entkommen. Aber irgendwie wollte ich das nicht glauben. Der Käfig im Haus des Marrok hatte ausgesehen wie jedes andere Zimmer auch. Die Gitter sind hinter dem Putz eingebaut.

Ich lehnte mich gegen den hinteren Teil meines Käfigs, den Teil, der an der äußeren Betonwand stand. »Sagen Sie mir, warum Sie mir nicht einfach Befehle erteilen können? Mich zur Kooperation zwingen?« Wie Corban.

Er zuckte mit den Achseln. »Finde es selbst raus.« Er verschloss die Tür und benutzte dann denselben Schlüssel, um die Tür des Dryaden zu öffnen. »Ich kann mich nicht jeden Tag von dir nähren, Mercy«, sagte Blackwood. »Nicht wenn ich dich eine Weile behalten will. Der letzte Walker, den ich hatte, ist vor fünfzig Jahren gestorben – aber ich hatte ihn dreiundsechzig Jahre lang. Ich kümmere mich um das, was mein ist.«

Yeah, ich wette, Amber würde da zustimmen.

Blackwood kniete sich auf den Boden, neben den Eichendryaden in seiner fötalen Haltung. Der Feenvolkmann starrte mich mit riesigen schwarzen Augen an. Er wehrte sich nicht, als Blackwood sich – mit einem Seitenblick zu mir – sein Bein schnappte und sich in die Arterie in der Leistengegend verbiss, um sich zu nähren.

»Die Eiche sagte«, erklärte der Dryad in Walisisch mit englischem Akzent, »Mercy würde mich in der Erntezeit befreien.«

Ich starrte ihn an, und er lächelte, bis der Vampir ihm etwas Schmerzhaftes antat und er die Augen schloss, um es besser ertragen zu können. Wenn Blackwood Walisisch verstanden hätte, hätte er ihm sicherlich etwas Schlimmeres angetan. Woher der Dryad wusste, dass ich Walisisch verstand, wusste ich nicht.

Es gibt zwei Arten, einen Gefangenen zu befreien – Flucht ist die erste. Ich hatte das Gefühl, dass der Eichendryad die zweite wünschte.

Als der Vampir fertig war, war der Eichenmann kaum noch bei Bewusstsein und Blackwood wirkte ein Dutzend Jahre jünger. Das sollte bei Vampiren nicht funktionieren – aber ich kannte auch keine anderen Vampire, die sich vom Feenvolk ernährten. Er hob den Eichendryaden ohne ein Anzeichen von Anstrengung hoch und warf ihn sich über die Schulter. »Lass uns dir ein wenig Sonne besorgen, hm?« Blackwood klang fröhlich.

Die Tür des Raumes schloss sich hinter ihm und die zittrige Stimme einer Frau sagte: »Du bist momentan zu viel für ihn, Liebes. Er hat versucht, dich zu seiner Dienerin zu machen … aber deine Bindung an die Wölfe und an diesen anderen Vampir – wie hast du das geschafft, du cleveres Mädchen? – haben ihn blockiert. Es wird nicht ewig halten. Irgendwann wird er genug Blut mit dir austauschen, dass du ihm gehörst. Aber das dauert noch ein paar Monate.«

Mrs Weihnachtsmanns Geist stand mit dem Rücken zu mir im Käfig und schaute auf die Tür, die sich hinter Blackwood geschlossen hatte.

»Was will er von mir?«, fragte ich sie.

Sie drehte sich um und lächelte mich an. »Natürlich mich, Liebes.«

Sie hatte Reißzähne.

»Sie sind ein Vampir.«

»War ich«, stimmte sie mir zu. »Ich gebe zu, es ist nicht normal. Obwohl dieser junge Mann, den du schon früher getroffen hast, auch einer ist. Wir sind an James gebunden. Gehören beide ihm. John war der einzige Vampir, den James je geschaffen hat – und ich erröte bei dem Geständnis, dass James mein Fehler ist.«

»Ihr Fehler?«

»Er war immer so freundlich, so aufmerksam. Ein netter junger Mann, dachte ich. Dann zeigte mir eines Nachts eins meiner anderen Kinder den Murdhuacha, den James gefangen hatte – einer vom Meervolk, Liebes.« Der leichte Akzent war Cockney oder Irisch, aber er war so schwach, dass ich mir nicht sicher sein konnte.

»Na ja«, sagte sie und klang verärgert. »Das tun wir einfach nicht, Liebes. Zum Ersten – mit dem Feenvolk spielt man nicht. Zum Zweiten, mit wem auch immer wir Blut austauschen, er könnte zu einem Vampir werden. Wenn sie zum magischen Volk gehören, könnten die Ergebnisse gefährlich sein.« Sie schüttelte den Kopf. »Also, als ich ihn damit konfrontierte …« Sie schaute bedauernd an sich herab. »Hat er mich umgebracht. Ich habe ihn heimgesucht, bin ihm von zu Hause den ganzen Weg bis hierher gefolgt – was nicht die klügste Idee war, die ich je hatte. Als er diesen anderen Mann fing, denjenigen, der war wie du – naja, dann konnte er mich sehen. Und er stellte fest, dass er die alte Dame immer noch brauchen konnte.«

Ich hatte keine Ahnung, warum sie mir so viel verriet – außer sie war einsam. Ich hatte fast Mitleid mit ihr.

Dann leckte sie sich über die Lippen und sagte: »Ich könnte dir helfen.«

Vampire sind böse. Es war fast, als flüsterte der Marrok selbst mir ins Ohr.

Ich zog eine Augenbraue hoch.

»Wenn du mich nährst, dann werde ich dir sagen, was du tun musst.« Sie lächelte, doch so, dass ihre Reißzähne sorgfältig verborgen blieben. »Nur einen Tropfen oder zwei, Liebes. Ich bin nur ein Geist – ich würde nicht viel brauchen.«