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10

Marsilia starrte für einen Moment reglos auf den Platz, wo Stefan gestanden hatte. Dann schaute sie zurück zu mir und in ihren Augen stand eine solche Bösartigkeit, dass es mir schwerfiel, nicht einen Schritt zurückzutreten, obwohl die Hälfte des großen Raumes zwischen uns lag.

Sie schloss die Augen und bekam ihre Miene wieder unter Kontrolle. »Wulfe«, fragte sie, »hast du es?«

»In der Tat, Herrin«, antwortete der Vampir. Er stand auf und driftete zu ihr, während er einen Briefumschlag aus seiner hinteren Hosentasche zog.

Marsilia starrte ihn an, biss sich auf die Lippe und sagte dann: »Gib ihn ihr.«

Wulfe änderte seinen Kurs, sodass er direkt zu uns kam. Er übergab mir den Umschlag, dem kein Zeichen davon anzusehen war, dass er ihn in der Tasche gehabt hatte. Es war schweres Papier, die Art, auf die Hochzeitseinladungen gestanzt werden. Stefans Name stand in eleganter Schrift auf dem Umschlag, der mit rotem Wachs versiegelt war, das nach Blut und Vampir roch.

»Du wirst das Stefan geben«, sagte Marsilia. »Sag ihm, dass sich darin Informationen befinden. Keine Entschuldigungen oder Ausreden.«

Ich nahm den Briefumschlag und kämpfte gegen das starke Verlangen an, ihn zu zerknüllen und auf den Boden zu werfen.

»Bernard hat Recht«, sagte ich. »Sie haben Stefan benutzt. Ihn verletzt, gebrochen, nur um Ihr kleines Spiel zu spielen. Sie verdienen ihn nicht.«

Marsilia ignorierte mich. »Hauptman«, sagte sie mit ruhiger Höflichkeit. »Ich danke Ihnen für die Warnung in Bezug auf Blackwood. Als Gegenleistung dafür stimme ich Ihrem Waffenstillstand zu. Die unterschriebenen Dokumente werden Ihnen zugeschickt werden.«

Sie holte tief Luft und drehte sich von Adam wieder zu mir. »Es ist das Urteil dieser Nacht, dass deine Taten gegen uns … Andre umzubringen … keinen Schaden für die Siedhe bedeutet haben. Dass du niemals die Absicht hattest, gegen die Siedhe vorzugehen, wurde durch deine auf Wahrheit getestete Aussage offengelegt.« Sie saugte wieder Luft ein. »Es ist mein Urteil, dass die Siedhe keinen Schaden davongetragen hat, und du kein Verbündeter bist, der uns verraten hat. Es wird keine weiteren Strafmaßnahmen gegen dich geben – und die gekreuzten Knochen werden …« Sie warf einen Blick auf ihr Handgelenk.

»Ich kann es heute Nacht noch tun«, warf Wulfe sanft ein.

Sie nickte. »… vor dem Sonnenaufgang entfernt.« Sie zögerte, dann sprach sie mit leiser Stimme weiter, als würde ihr jedes Wort aus der Kehle gezogen. »Das ist für Stefan. Wenn es nach mir ginge, würden dein Blut und deine Knochen meinen Garten düngen, Walker. Pass auf, dass du mich nicht noch einmal bedrängst.«

Sie drehte sich auf dem Absatz um und verließ den Raum durch dieselbe Tür wie Bernard.

Wulfe sah Adam an. »Erlaubt mir, euch aus der Siedhe zu begleiten, damit euch kein Schaden zugefügt wird.«

Adam senkte die Lider. »Wollen Sie mir unterstellen, dass ich nicht fähig bin, die Meinen zu beschützen?«

Wulfe blickte zu Boden und verbeugte sich tief. »Aber natürlich nicht. Ich lege nur nahe, dass meine Anwesenheit Ihnen die Mühe ersparen könnte. Und uns den Dreck, den wir hinterher aufputzen müssten.«

»In Ordnung.«

Adam ging voraus. Ich ließ die anderen Wölfe vorbeigehen und versuchte, mich nicht verletzt zu fühlen, als Mary Jo und Aurielle es vermieden, mich anzusehen. Ich wusste nicht, warum … oder vielmehr, welche der Möglichkeiten sie beunruhigte – Kojote, Vampirbeute oder dass meinetwegen Marsilia das Rudel zum Ziel gemacht hatte. Es war auch egal – ich konnte gegen nichts davon etwas tun.

Warren, Samuel und Darryl warteten, bis die anderen gegangen waren, dann schenkte mir Warren ein Lächeln und setzte sich in Bewegung. Darryl verharrte kurz und ich sah ihn an. Ich stand im Rang höher als er, was mich ans Ende des Rudels setzte, um uns vor einem Angriff von hinten zu schützen. Dann lächelte er, ein warmes Lächeln, das ich so noch nie auf seinem Gesicht gesehen hatte, zumindest nicht bezogen auf mich. Und ging weiter.

»Oh nein, das tust du nicht«, sagte Samuel amüsiert. »Ich stehe außerhalb des Rudels, und dementsprechend kann ich neben dir gehen.«

»Ich brauche wirklich mal eine Nacht durchgehenden Schlaf«, erklärte ich ihm, als wir uns in Bewegung setzten.

»Ich nehme an, das kommt davon, wenn man mit Vampiren fraternisiert.« Er legte eine Hand auf meine Schulter. Eine kalte Hand.

Ich war so damit beschäftigt gewesen, kalten Angstschweiß aus jeder Pore von mir zu geben, dass ich mich sowohl an das Gefühl als auch den Geruch gewöhnt hatte. Mir war nicht aufgefallen, dass auch Samuel Angst hatte.

Das letzte Mal, als wir hierhergekommen waren, hatte Lily ihn als Snack benutzt – und Marsilia hatte sogar etwas noch Schlimmeres getan und ihn seines Willens beraubt, bis er ihr gehörte.

Das wäre schon für mich entsetzlich gewesen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie es sich für einen Werwolf anfühlen musste, der nur deswegen noch lebte, weil er seinen Wolf unter Kontrolle hielt. Zu jeder Zeit.

Ich streckte die Hand aus und nahm seine. »Lass uns hier verschwinden«, sagte ich. Und den ganzen Weg bis nach draußen war ich mir der zwei unbeweglichen Figuren auf dem Boden bewusst, und der Vampire mit ihren Menagerien, die schweigend auf der Tribüne saßen und damit Befehlen gehorchten, die ich nicht hören konnte. Sie beobachteten uns mit raubtierhaften Augen, und ich fühlte ihre Blicke bis zur Tür auf meinem Rücken.

Genau wie bei dem Geist im Badezimmer von Ambers Haus.

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Ich saß auf dem Beifahrersitz des Chevrolet Suburban, mit dem Adam gekommen war. Ich wusste nicht, ob es ein Mietwagen war oder ein Neuwagen – er roch jedenfalls, als wäre er neu. Paul, Darryl und Aurielle füllten die erste Bankreihe. Samuel fuhr seinen eigenen Wagen, einen schicken neuen Mercedes in Kirschrot.

Mary Jo, die auf Adams Auto zugegangen war, hatte in dem Moment abrupt die Richtung gewechselt, in dem sie mich sah, und war stattdessen in Warrens alten Truck eingestiegen. Alec, der ihr auf dem Fuß folgte wie ein verlorener Welpe, ging ihr nach.

»Und ich dachte, Bran wäre kompliziert«, sagte ich schließlich und versuchte, mich in meinem Ledersitz zu entspannen, als Adam durch das Tor fuhr.

»Ich habe nicht alles mitgekriegt«, sagte Darryl. Er musste müde sein, denn seine Stimme war sogar noch tiefer als sonst und brummte in meinen Ohren, so dass ich mich bemühen musste, seine Worte zu verstehen. »Aus irgendeinem Grund musste sie Stefan davon überzeugen, dass er nicht mehr Teil der Siedhe war. Dann, als die Verräter ihn ansprachen, musste er ihre Angebote ablehnen, damit er bezeugen konnte, dass sie sie gemacht hatten?«

»So klang es für mich«, sagte Adam. »Und nur mit seiner Zeugenaussage und der Zustimmung ihres Schöpfers konnte sie gegen die Verräter vorgehen.«

»Macht Sinn«, meinte Paul fast scheu. »So wie die Siedhe funktioniert … wenn er ihr gehörte – dann ist seine Zeugenaussage auch die ihre. Wenn diese zwei ihr aufgedrängt wurden, konnte sie nicht befehlen, die zwei zu töten. Sie würde Bestätigung von außen brauchen.«

Ich fragte mich, ob ich in eine Falle gelaufen war. Ich dachte an Wulfes ach so praktische Hilfe, als ich Andre umgebracht hatte. Er hatte gewusst, dass ich nach Andre suchte – ich hatte seine Heimstatt gefunden, bevor ich Andres fand. Ich hatte gedacht, er hätte es aus ganz eigenen Gründen vor seiner Herrin verborgen … aber vielleicht hatte er das nicht. Vielleicht hatte Marsilia alles geplant.

Mein Kopf tat weh.

»Vielleicht haben wir den falschen Vampir verdächtigt, Marsilias Siedhe übernehmen zu wollen«, meinte Adam.

Ich dachte an den Vampir, der Bernards Schöpfer gewesen und da gewesen war, um diesen … Prozess … zu beobachten.

Ich wollte nicht mitfühlend sein; ich wollte Marsilia einfach für das hassen, was sie Stefan angetan hatte. Aber ich hatte meine Erfahrungen mit dem Bösen und all seinen Erscheinungsformen gemacht, und dieser Vampir, Bernards Schöpfer, hatte jede Alarmglocke zum Läuten gebracht, die ich hatte. Nicht alle Vampire waren böse … ich wünschte mir plötzlich, ich könnte sagen, alle außer Stefan. Ich hatte seine Menagerie getroffen, diejenigen, die Marsilia getötet hatte – und ich wusste, dass Stefan für die meisten von ihnen, außer den ausgesucht wenigen, die zu Vampiren wurden, ihr Tod sein würde. Trotzdem – der andere Vampir hatte auf meiner ›Holt mich hier raus‹-Skala einen ziemlich heftigen Ausschlag ausgelöst. Da war etwas in seinem Gesicht gewesen …

»Macht mich froh, ein Werwolf zu sein«, sagte Darryl. »Ich muss mir nur Sorgen darüber machen, wann Warren seine Selbstbeherrschung verliert und mich herausfordert.«

»Warrens Selbstbeherrschung ist sehr gut«, meinte Adam. »Ich würde nicht allzu bald damit rechnen, dass er sie verliert.«

»Besser Warren als Stellvertreter als ein Kojote im Rudel«, sagte Aurielle scharf.

Die Atmosphäre im Auto schlug um.

Adams Stimme war sanft. »Findest du?«

»Rielle«, warnte Darryl.

»Finde ich.« Ihre Stimme ließ keinen Widerspruch zu. Sie war eine Highschool-Lehrerin, Darryls Gefährtin, was sie zu … nicht wirklich dem Dritten im Rudel machte – das war Warren. Aber zweieinhalb, direkt unter Darryl. Ich ging davon aus, dass ihre Position nicht viel niedriger gewesen wäre, wäre sie ein Mann.

»Anders als Vampire neigen Wölfe dazu, ziemlich geradeheraus zu sein«, murmelte ich und bemühte mich, nicht verletzt zu sein. Ablehnung war nichts Neues für einen Kojoten, der von Wölfen aufgezogen worden war. Ich hatte den Großteil meines Erwachsenenlebens damit verbracht, davor zu fliehen.

Ich hätte nicht gedacht, dass Erschöpfung und Verletzung die idealen Bedingungen für Offenbarungen waren, aber da hatte ich es. Ich hatte meine Mutter und Portland verlassen, bevor sie mich auffordern konnte, zu gehen. Ich hatte allein gelebt, auf eigenen Füßen gestanden, weil ich mich nicht auf irgendjemand anderen stützen wollte.

Ich hatte meine abwehrende Haltung gegenüber Adam als Kampf ums Überleben gesehen, um das Recht, meine eigenen Handlungen zu bestimmen, statt ein Leben lang Befehle zu befolgen … weil ich gehorchen wollte. Die Pflichterfüllung, an der sich Stefan mit solch furchtbarer Starrköpfigkeit festklammerte, war das Leben, das ich zurückgewiesen hatte.

Was ich nicht gesehen hatte, war die Tatsache, dass ich nicht bereit gewesen war, mich wieder in eine Situation zu bringen, in der ich abgelehnt werden könnte. Meine Mutter hatte mich als Baby an Bran übergeben. Ein Geschenk, das er zurückgegeben hatte, als ich … unbequem wurde. Mit sechzehn war ich wieder bei meiner Mutter eingezogen, die mit einem Mann verheiratet war, dem ich nie begegnet war, und zwei Töchter bekommen hatte, die nichts von meiner Existenz gewusst hatten, bis Bran meine Mutter anrief, um ihr zu sagen, dass er mich nach Hause schickte. Sie waren liebenswert und großzügig gewesen – aber es war nicht einfach, mich zu belügen.

»Mercy?«

»Nur eine Minute«, sagte ich zu Adam. »Ich bin gerade mitten in einer Erleuchtung.«

Kein Wunder, dass ich mich nicht einfach vor Adams Füßen zusammengerollt hatte, wie es jede vernünftige Person getan hätte, die von einem sexy, liebenswerten, verlässlichen Mann umworben wurde, der sie liebte. Wenn Adam mich jemals zurückwies … Ich fühlte ein leises Knurren in meiner Kehle aufsteigen.

»Du hast sie gehört«, meinte Darryl amüsiert. »Wir werden auf ihre Erleuchtung warten müssen. Wir haben eine Prophetin als Gefährtin unseres Alphas.«

Ich wedelte gereizt mit der Hand, dann schaute ich Adam an, der seine Augen – wie es sich gehörte – auf die Straße gerichtet hatte.

»Liebst du mich?«, fragte ich ihn, während mein Pulsschlag in meinen Ohren dröhnte.

Er warf mir einen neugierigen Blick zu. Er war Wolf. Er konnte Intensität erkennen, wenn er sie hörte. »Ja. Absolut.«

»Das solltest du auch besser«, erklärte ich, »oder du wirst es bereuen.«

Ich schaute über meine Schulter zu Aurielle und konzentrierte die volle Kraft meines Willens auf sie. Adam gehörte mir.

Meins.

Und ich würde alle Bürden auf mich nehmen, die er mir geben konnte, genauso wie er es mit meinen tat. Es wäre ein gleichwertiges Teilen. Das hieß, er beschützte mich vor den Vampiren … und ich beschützte ihn vor den Problemen, bei denen ich es konnte.

Ich starrte Aurielle an, begegnete dem Raubtier in ihren Augen mit dem Raubtier in meinen. Und nach nur ein paar Minuten senkte sie den Blick. »Schluck es«, erklärte ich ihr, dann legte ich meinen Kopf an Adams Schulter und schlief ein.

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Es dauerte leider, leider nicht lange, bis Adam das Auto anhielt. Ich blieb, wo ich war, nur halb wach, während Darryl, Aurielle und Paul ausstiegen. Wir warteten, bis ich hörte, wie Darryls Subaru startete. Dann fuhr Adam uns nach Hause.

»Mercy?«

»Mmmm?«

»Ich möchte dich mit zu mir nach Hause nehmen.«

Ich setzte mich auf, rieb mir die Augen und seufzte. »Sobald ich in der Horizontalen bin, werde ich wegkippen«, meinte ich. »Es ist Tage her« – ich versuchte mich zu erinnern, aber ich war zu müde –, »mindestens ein paar, dass ich mal eine Nacht durchgeschlafen habe.« Ich bemerkte, dass die Sonne bereits den Himmel erhellte.

»Das ist in Ordnung«, sagte er. »Ich würde nur …«

»Yeah, ich auch.« Aber ich zitterte ein wenig. Es war schön und gut, am Telefon heiß zu sein, aber das hier war real. Ich blieb den ganzen Weg zu seinem Haus wach.

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Das Haus eines Alphas ist selten leer – und mit den jüngsten Problemen hatte Adam auch hier eine Wache aufgestellt. Als wir reinkamen, begrüßte uns Ben mit einem lockeren Salut, dann trottete er in den Keller, wo es ein paar Gästezimmer gab.

Adam führte mich mit einer Hand am Kreuz die Treppe hinauf. Ich war so nervös, dass mir übel war, und ertappte mich selbst dabei, wie ich tief atmen und mich immer wieder daran erinnern musste, dass das hier Adam war … und wir nur schlafen würden.

Im Flur waren Reparaturen im Gange. Die Badezimmertür war wieder eingehängt, und die Wand daneben brauchte nur noch ein wenig Mörtel und Farbe. Aber der weiße Teppich oben an der Treppe wies immer noch braune Flecken von altem Blut auf – meins. Das hatte ich ganz vergessen. Konnte man Blut aus einem weißen Teppich entfernen? Und wer war so dämlich und verlegte einen weißen Teppich in einem Haus, das von Werwölfen benutzt wurde?

Durch meine Empörung gestärkt, betrat ich Adams Schlafzimmer und erstarrte. Er warf einen Blick auf mein Gesicht, öffnete eine Schublade und warf mir ein T-Shirt zu. »Warum gehst du nicht erst ins Bad?«, fragte er. »In der oberen rechten Schublade ist eine neue Zahnbürste.«

Das Bad fühlte sich sicherer an. Ich faltete meine dreckigen Kleider und ließ sie in einem Haufen auf dem Boden liegen, als ich sein T-Shirt anzog. Er war nicht viel größer als ich, aber seine Schultern waren breit, und die Ärmel hingen mir bis über die Ellbogen. Ich wusch mir das Gesicht, immer um die Nähte an meinem Kinn herum, putzte mir die Zähne, dann stand ich einfach nur ein paar Minuten da und sammelte meinen Mut.

Als ich die Tür öffnete, schob sich Adam an mir vorbei und schloss die Tür hinter sich – und drängte mich damit sanft in sein Zimmer, wo ich mich dem Bett mit der aufgeschlagenen Decke gegenüberfand.

Es sollte nur ein gewisses Maß an Panik geben, das man in einer einzigen Nacht empfinden konnte. Ich hatte mein Soll mehr als erfüllt. Und die Angst vor etwas, was nicht passieren würde – Adam würde mir niemals wehtun –, sollte da nicht mal durchdringen.

Trotzdem brauchte ich all meinen Mut, um in sein Bett zu kriechen. Doch sobald ich dort war – eine dieser seltsamen psychologischen Verschrobenheiten, die jeder hat –, sorgte sein Geruch dafür, dass ich mich besser fühlte. Mein Magen beruhigte sich. Ich gähnte ein paarmal und schlief vor dem Hintergrundgeräusch von Adams Elektrorasierer ein.

Ich wachte auf umgeben von Adam, seinem Geruch, seiner Wärme, seinem Atem. Ich wartete auf die Panikattacke, die nicht kam. Dann entspannte ich mich und sog alles in mich auf. Nach dem Licht zu schließen, das sich durch die schweren Vorhänge stahl, war es später Nachmittag. Ich konnte hören, dass sich Leute im Haus bewegten. Die Rasensprenger waren an, tapfere Verteidiger seines Rasens im niemals endenden Kampf gegen die Sonne.

Draußen hatte es wahrscheinlich um die zwanzig Grad, aber sein Haus – wie meines, seitdem Samuel eingezogen war – hatte eine Kühle in der Luft, die seine Wärme um mich herum nur noch besser machte. Werwölfe mögen keine Hitze.

Adam war auch wach.

»Also«, sagte ich … halb peinlich berührt, halb erregt, und, nur um die Sache abzurunden, auch noch halb verängstigt. »Bist du bereit für einen Testlauf?«

»Ein Testlauf?« Seine Stimme war rumpelig vom Schlaf. Das Geräusch half mir viel bei der Aufteilung meiner Gefühle – beseitigte ›peinlich berührt‹ fast vollkommen, verringerte ›verängstigt‹ und hob ›erregt‹ ein paar Punkte an.

»Na ja, ja.« Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, aber das musste ich auch nicht. Ich konnte seine Bereitschaft, an meinem Testlauf teilzuhaben, an meinem Rücken spüren. »Die Sache ist, dass mir bei diesen dämlichen Panikattacken verschiedene Sachen passiert sind. Wenn ich aufhöre zu atmen, könntest du es einfach ignorieren. Irgendwann fange ich wieder an zu atmen oder ich werde bewusstlos. Aber wenn ich mich übergebe …« Ich ließ ihn seine eigenen Schlüsse ziehen.

»Ein ziemlicher Stimmungskiller«, stellte er fest, sein Gesicht an der Rückseite meines Halses, während er über der Decke einen Arm noch enger um mich schlang.

Ich stupste seinen Arm mit dem Finger an und warnte ihn, nur halb im Scherz: »Lach mich nicht aus.«

»Nicht mal im Traum. Ich habe Geschichten darüber gehört, was Leuten passiert, die dich auslachen. Ich mag Kaffee ohne Salz, bitte. Aber ich habe eine Idee«, sagte er, und seine Stimme wurde sogar noch tiefer. »Warum spielen wir nicht einfach ein bisschen – und schauen, wie weit es geht? Ich verspreche auch …«, in seiner Stimme kämpfte Erheiterung mit anderen Dingen, »nicht schockiert zu sein, wenn du dich übergibst.«

Und dann rutschte er im Bett nach unten.

Als ich zusammenzuckte, hielt er inne und erkundigte sich danach. Ich stellte fest, dass ich nichts sagen konnte. Es gibt Dinge, die erzählt man nicht, wenn man jemanden immer noch zu beeindrucken versucht. Es gibt andere Dinge, an die man sich nicht erinnern will. Panik verengte meine Kehle.

»Shhhh«, sagte er. »Shhhh.« Und er küsste mich dort, an der Stelle, die mich zum Scheuen gebracht hatte. Es war eine sanfte, fürsorgliche Berührung – fast leidenschaftslos, und dann wanderte sie weiter zu einer weniger … beschmutzten Stelle.

Aber er war ein guter Jäger. Adam ist von Natur aus nicht besonders geduldig, aber sein Training war sehr gründlich. Er arbeitete sich langsam wieder zu der ersten schlimmen Stelle vor und versuchte es wieder.

Ich zuckte immer noch zusammen … aber ich sagte ihm auch etwas anderes. Und wie der Wolf, der er war, leckte er die Wunde in meiner Seele und verband sie mit seiner Sorge – um sich dann der nächsten zuzuwenden. Er erkundete gründlich, fand jede emotionale Wunde – und noch ein paar, von denen ich nicht gewusst hatte, dass es sie gab – und ersetzte sie durch andere … bessere Dinge. Und als die Leidenschaft zu schnell, zu wild wurde …

»Also«, murmelte er. »Bist du hier kitzlig?«

Ja. Wer hätte das gedacht? Ich schaute die Innenseite meines Ellbogens an, als hätte ich sie noch nie zuvor gesehen.

Er lachte, rollte ein wenig weg und erzeugte mit seinen Lippen ein Pupsgeräusch auf meinem Bauch. Reflexartig zog ich die Knie an und mein Ellbogen landete auf seinem Kopf.

»Bist du in Ordnung?« Ich zog mich von ihm zurück und setzte mich auf – jedes Bedürfnis, zu lachen, war verschwunden. Typisch für mich, Adam eins überzuziehen, während wir bei der Sache waren. Ich war doch ein dämlicher, ungeschickter Idiot.

Er schaute mir einmal ins Gesicht, warf beide Arme über den Kopf, rollte sich auf den Rücken und stöhnte vor Schmerz.

»Hey«, meinte ich. Und als er nicht aufhörte, piekte ich ihn in die Seite – ich kannte auch ein paar von seinen kitzligen Stellen. »Hör auf damit. Ich habe dich nicht so heftig geschlagen.« Er hatte offenbar bei Samuel Unterricht genommen.

Er öffnete ein Auge. »Woher willst du das wissen?«

»Du hast einen harten Schädel«, informierte ich ihn. »Und wenn mir mein Ellbogen nicht wehtut, dann habe ich auch deinen Kopf nicht verletzt.«

»Komm her«, sagte er und öffnete die Arme weit. Seine Augen funkelten vor Lachen … und Feuer.

Ich kletterte auf ihn. Wir beide schlossen ein wenig die Augen, während ich es mir bequem machte. Er ließ seine Hände über meinen Rücken gleiten.

»Ich liebe das«, sagte er, ein wenig atemlos.

»Liebst was?« Ich drehte den Kopf und legte ein Ohr auf seine Brust, damit ich dem Schlagen seines Herzens lauschen konnte.

»Dich zu berühren …« Er ließ langsam und bewusst eine Hand über meinen nackten Hintern gleiten. »Weißt du, wie lange ich das schon tun will?«

Er grub seine Finger hinein. Die Nervosität am letzten Abend hatte mich verspannt zurückgelassen, und es fühlte sich gut an. Ich wurde schlaff, und wenn ich hätte schnurren können, hätte ich es getan.

»Jemand, der uns beobachtet, könnte meinen, wir schlafen«, meinte ich.

»Glaubst du? Nur wenn sie meinen Puls nicht hören können … oder deinen.«

Er erwischte genau die richtige Stelle und ich stöhnte.

»Genau wie Medea«, murmelte er. »Alles, was ich tun muss, ist dich berühren. Du kannst stinksauer sein … und dann lehnst du dich an mich und wirst ganz weich und ruhig.« Er flüsterte mir ins Ohr: »Daher weiß ich, dass du mich genauso sehr willst wie ich dich.« Seine Arme waren eng um mich geschlungen, und ich wusste, dass ich nicht die Einzige mit Wunden war.

»Ich schnurre nicht so schön wie Medea.«

»Bist du dir da sicher?«

Dann fuhr er damit fort, mir zu zeigen, was er meinte. Und wenn ich auch nicht Medeas Lautstärke erreichte, kam ich ihr zumindest nahe. Als er letztendlich Ernst machte, gab es in dem Inferno, das er in mir entfacht hatte, keinen Platz für Erinnerungen oder Angst.

Es gab nur Adam.

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Als ich das nächste Mal aufwachte, lächelte ich. Ich war allein im Bett, aber das spielte keine Rolle, weil ich Adam im Erdgeschoss hören konnte – er sprach mit Jesse. Entweder machten sie Mittagessen – ich kontrollierte die Vorhänge, okay, Abendessen – oder jemand wurde in kleine Stücke zerhackt.

Bald würde ich anfangen, mir Sorgen zu machen. Aber für den Moment … die Vampire würden nicht jeden umbringen, den ich kannte. Sie würden nicht mal mich umbringen. Die Sonne schien. Und die Sache zwischen Adam und mir war richtig und fest.

Überwiegend. Wir mussten über eine Menge reden. Wollte er zum Beispiel, dass ich bei ihm einzog? Für eine Nacht war es wunderbar. Aber in seinem Haus gab es nicht gerade viel Privatsphäre; jeder aus seinem Rudel konnte an jedem Tag hier sein.

Ich mochte mein Zuhause, so schäbig es auch war. Ich genoss es, mein eigenes Revier zu haben. Und … was war mit Samuel? Ich runzelte die Stirn. Er war immer noch … nicht wieder ganz, und aus irgendeinem Grund half es ihm, in meinem Haus zu sein. Mit mir konnte er ein Rudel haben, aber trotzdem nicht Alpha und für jeden verantwortlich sein. Ich war mir nicht sicher, ob es für ihn so toll wäre, wenn ich bei Adam einzog – und ich wusste, dass es nicht funktionieren würde, falls er mit hier einzog.

Da waren sie schon, die Sorgen.

Ich holte tief Luft und ließ es los. Morgen würde ich mir Sorgen um Samuel machen, um Stefan und um Amber, deren Geist noch das Geringste ihrer Probleme war. Den heutigen Tag würde ich einfach genießen. Ich würde den ganzen Tag lang glücklich und sorglos sein.

Ich glitt aus dem Bett und stellte fest, dass ich splitterfasernackt war. Was nur zu erwarten war. Aber ich fand keinerlei Unterwäsche, weder auf dem Boden noch im Bett. Ich steckte gerade mit Kopf und Schultern unter dem Bett, als Adam von der Tür aus sagte: »Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist rund.«

»Ich sehe dein Auge und werde es zerquetschen«, drohte ich, grinste aber, da das Bett mich ja versteckte. Ich bin nicht scheu – das ist man nicht, wenn man unter Werwölfen aufgewachsen ist. Ich kann so tun, damit die Leute nicht auf falsche Ideen kommen … aber bei Adam wäre es die richtige. Ich wackelte mit dem fraglichen Teil und er tätschelte es. »Ich habe gerochen, was auch immer ihr kocht« – etwas mit Zitrone und Hühnchen –, »und es macht mich hungrig. Aber ich kann meine Unterwäsche nicht finden.«

»Du könntest ohne gehen«, schlug er vor und setzte sich direkt rechts neben mir auf das Bett.

»Hah. Nie im Leben, Freundchen. Jesse und wer weiß noch sind da unten. Ich laufe nicht ohne Unterwäsche herum.«

»Wer würde es wissen?«, fragte er.

»Ich«, erklärte ich ihm und zog meinen Kopf unter dem Bett heraus, nur um meine hellblaue Unterhose von seinem Finger hängen zu sehen.

»Sie war unter dem Kissen«, erklärte er mir mit einem unschuldigen Lächeln.

Ich schnappte sie mir und zog sie an. Dann sprang ich auf und ging ins Bad, wo der Rest meiner Klamotten lag. Ich zog mich an, ging einen Schritt auf die Badezimmertür zu … und hatte einen Flashback.

Ich war hier gewesen, unwürdig, beschmutzt … unsauber. Ich konnte mich nicht sehen lassen, ihnen nicht ins Gesicht sehen, weil sie alle es wussten …

»Shhh, shhh«, hauchte mir Adam beruhigend ins Ohr. »Das ist vorbei. Es ist vorbei und überwunden.«

Er hielt mich und saß mit mir auf dem Schoß auf dem Badezimmerboden, während ich zitterte. Der Flashback verschwand.

Als ich wieder normal atmen konnte, setzte ich mich auf, um einen Rest meiner Würde zu wahren. »Tut mir leid.«

Ich hatte gedacht, dass nach letzter Nacht die Flashbacks, die Panikattacken erledigt wären – ich war geheilt, oder?

Ich griff nach oben, schnappte mir ein Handtuch und wischte mir das nasse Gesicht ab – nur um festzustellen, dass es immer wieder nass wurde. Ich war mir so sicher gewesen, dass jetzt alles wieder normal würde.

»Es dauert länger als eine Woche, um über etwas Derartiges hinwegzukommen«, erklärte mir Adam, als könnte er meine Gedanken lesen. »Aber ich kann helfen, wenn du es mir erlaubst.«

Ich schaute ihn an und er ließ einen Daumen unter meinem Auge entlanggleiten. »Du musst dich allerdings öffnen und das Rudel einlassen.«

Er lächelte, ein trauriges Lächeln. »Du hast ziemlich heftig geblockt seit deiner Rückfahrt von Spokane. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, ungefähr ab der Zeit, wo du dich von Stefan hast beißen lassen.«

Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach, und ich nahm an, dass er es sehen konnte.

»Nicht absichtlich?«

Irgendwie war ich von seinem Schoß gerutscht und saß jetzt an der Wand gegenüber. »Nicht dass ich wüsste.«

»Du hattest auf der Heimfahrt einen Panikanfall«, sagte er.

Ich nickte und erinnerte mich an die Wärme des Rudels, die mich daraus befreit hatte. Außergewöhnlich, fantastisch – und begraben unter den Geschehnissen der letzten zwei Nächte.

Er senkte die Lider. »Das ist besser … ein wenig besser.« Er schaute vom Boden auf und konzentrierte sich auf mich, und gelbe Spiegelungen tanzten in seinen Augen. Dann streckte er die Hand aus und berührte mich direkt unter dem Ohr.

Es war eine leichte Berührung, gerade mal Haut auf Haut. Es hätte beiläufig sein sollen.

Er lachte kurz und klang dabei, als wäre ihm ein wenig schwindlig. »Genau wie Medea, Mercy«, sagte er, senkte die Hand und holte mühsam Luft. »Lass mich das nochmal probieren.« Er streckte seine Hand aus.

Als ich meine hineinlegte, schloss er die Augen und … Ich fühlte ein Rinnsal von Leben, Wärme und Gesundheit von seiner Hand in meine fließen. Es fühlte sich an wie eine Umarmung an einem Sommertag, voller Lachen und süßem Honig.

Ich ließ mich über ihn hineinfallen und glitt in etwas, wovon ich einfach wusste, dass es warme Tiefen waren, die mich umgeben würden mit …

Aber das Rudel wollte mich nicht. Und in dem Moment, als mir dieser Gedanke durch den Kopf schoss, versickerte das Rinnsal – und Adam riss mit einem schmerzhaften Zischen seine Hand zurück, was mich auf die Knie zog. Ich streckte den Arm aus, um ihn zu berühren, nur um dann meine Hand zurückzuziehen, damit ich ihm nicht nochmal wehtat.

»Adam?«

»Stur«, sagte er mit einem abschätzenden Blick. »Ich habe allerdings dies und das empfangen. Wir lieben dich nicht, also wirst du nichts von uns annehmen?« Die Frage in seiner Stimme war an ihn selbst gerichtet, als wäre er sich seiner Erkenntnis nicht vollkommen sicher.

Ich setzte mich auf die Fersen zurück, getroffen von der Exaktheit seiner Analyse.

»Instinkte treiben einen Wolf … genauso wie einen Kojoten, nehme ich an«, erklärte er mir nach einem Moment. Er wirkte entspannt, ein Knie angezogen und ein Bein neben mir ausgestreckt. »Die Wahrheit hat weder Schnörkel noch Manieren und folgt einer ganz eigenen Logik. Du kannst das Rudel nicht geben lassen, ohne auch zu geben, und wenn wir deine Gabe nicht wollen …«

Ich sagte nichts. Ich verstand nicht, wie das Rudel funktionierte, aber der letzte Teil stimmte. Nach einer Weile sagte er: »Es ist manchmal lästig, Teil eines Rudels zu sein. Wenn die Rudelmagie voll im Gange ist – wie jetzt, wenn der Mond fast voll ist –, gibt es keine Möglichkeit, vor den anderen alles zu verbergen, wie wir es als Menschen tun. Manche Dinge ja, aber wir können nicht entscheiden, welche Dinge sicher verborgen bleiben. Paul weiß, dass ich wegen seines Angriffs auf Warren immer noch wütend bin, und das lässt ihn sich ducken – was mich nur noch wütender macht, weil er kein Bedauern darüber verspürt, Warren angegriffen zu haben, als der verletzt war, sondern nur Angst vor meinem Zorn.«

Ich starrte ihn an.

»Es ist nicht alles schlimm«, versicherte er mir. »Es ist das Wissen darum, wer sie sind, was ihnen wichtig ist, was sie unterscheidet. Welche Stärken jeder Einzelne von ihnen mit ins Rudel bringt.«

Er zögerte. »Ich bin mir nicht sicher, wie viel du bekommen wirst. Wenn ich will, zum Vollmond in Wolfsform, kann ich jeden fast immer lesen – das gehört dazu, wenn man ein Alpha ist. Es erlaubt mir, die Individuen dazu einzusetzen, ein Rudel aufzubauen. Die meisten im Rudel empfangen hier etwas und da etwas, überwiegend Dinge, um die sie sich Sorgen machen, oder große Entscheidungen.« Er warf mir ein kurzes Lächeln zu. »Ich wusste nicht, ob es überhaupt funktionieren würde, dich ins Rudel zu bringen, weißt du. Mit einer menschlichen Partnerin hätte ich es nicht tun können, aber du bist immer eine Unbekannte.« Er schaute mich konzentriert an. »Aber du wusstest, dass Mary Jo verletzt worden war.«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Ich wusste, dass jemand verletzt worden war – aber ich wusste nicht, dass es Mary Jo war, bis ich sie gesehen habe.«

»Okay«, sagte er, von meiner Antwort ermutigt. »Dann sollte es nicht schlimm für dich sein. Außer wenn du sie brauchst, oder sie dich brauchen, wird das Rudel einfach nur … ein Schild in deinem Rücken sein, Wärme in einem Sturm. Unsere Gefährtenverbindung – wenn sie sich setzt – wird wahrscheinlich etwas ganz Eigenes dazu tun.«

»Was meinst du mit ›wenn sie sich setzt‹?«, fragte ich ihn.

Er zuckte mit den Achseln. »Schwer zu erklären.« Er warf mir einen amüsierten Blick zu. »Als ich lernte, ein Wolf zu sein, fragte ich meinen Lehrer, wie es sich anfühlen würde, eine Gefährtin zu nehmen. Er hat mir gesagt, dass es für jedes Paar anders ist – und Alpha zu sein gibt dem Ganzen nochmal eine kleine Wendung.«

»Also weißt du es nicht?« Denn das war keine Antwort – und Adam wich Fragen nicht aus. Er antwortete, oder er sagte einem, dass er nicht vorhatte, zu antworten.

»Jetzt schon«, antwortete er. »Unsere Verbindung« – er vollführte eine Geste, die den wenigen Platz zwischen uns in dem kleinen Bad einschloss – »fühlt sich für mich an wie eine Brücke, wie die Hängebrücke über den Columbia. Sie hat Fundamente und die Kabel und alles, was es braucht, um eine Brücke zu sein, aber noch überspannt sie den Fluss nicht.« Er schaute mir ins Gesicht und grinste. »Ich weiß, dass es dämlich klingt, aber du hast gefragt. Außerdem, wenn du bei Mary Jos Tod lediglich gefühlt hast, dass jemand verletzt wurde, dann ist es mein Fehler, dass du die paar gefühlt hast, die dich nicht als Teil des Rudels wollen. Du hast sie durch mich gefühlt. Allein wärst du dir dessen nicht mal bewusst, außer bestimmte Bedingungen werden erfüllt. Bedingungen wie Nähe, wie sehr du dich dem Rudel öffnest und ob der Mond voll ist.« Er grinste. »Oder wie sauer du auf sie bist.«

»Also soll es mir egal sein, dass sie mich nicht wollen, nur weil ich es nicht spüre?«

Seine Miene war neutral. »Natürlich spielt es eine Rolle – aber es wird dir nicht jede Minute am Tag reingewürgt werden. Ich nehme an, dass du überwiegend wissen wirst, wer keine Kojoten im Rudel will. So wie Warren die Wölfe kennt, die mehr hassen, was er ist, als schätzen, wer er ist.« Für einen kurzen Moment sah ich Trauer über Warrens Probleme in seinen Augen, aber er sprach weiter. »So wie Darryl weiß, welche Wölfe es übelnehmen, Befehle von einem Schwarzen annehmen zu müssen, der eine gute Ausbildung genossen hat.« Er lächelte, nur ganz leicht. »Du bist nicht allein. Die meisten Leute haben irgendwelche Vorurteile. Aber nach einer Weile ist die Ablehnung nicht mehr so scharf. Weißt du, wer Darryl am meisten gehasst hat, als er zu uns stieß, damals, als wir noch in New Mexico waren?«

Ich hob fragend die Augenbrauen.

»Aurielle. Sie hielt ihn für einen arroganten, aufgeblasenen Snob.«

»Was er auch ist«, stellte ich fest. »Aber er ist auch klug, schnell, und neigt zu kleinen Freundlichkeiten, wenn gerade niemand hinsieht.«

»Also.« Adam nickte. »Keiner von uns ist perfekt, und als Rudel lernen wir, diese Unvollkommenheiten zu nehmen und nur zu einem kleinen Teil zu dem zu machen, was wir sind. Lass uns dich vollkommen in unseren Schutz holen, Mercedes. Und die Wölfe, die dich ablehnen, werden damit umgehen, so wie du mit denen umgehst, die du nicht magst, aus was für einem Grund auch immer. Ich glaube, mit der Heilung, die du schon allein geschafft hast, kann das Rudel dir dabei helfen, deine Panikattacken zu beenden.«

»Ben ist unhöflich«, sagte ich, während ich darüber nachdachte.

»Siehst du, die meisten von uns kennst du schon. Und Ben betet dich an. Er weiß noch nicht genau, wie er damit umgehen soll. Ben ist es nicht gewöhnt, jemanden zu mögen … und eine Frau zu mögen …«

»Igitt«, meinte ich ausdrucklos.

»Lass es uns nochmal versuchen«, schlug er vor und streckte die Hand aus.

Als ich ihn dieses Mal berührte, fühlte ich nur Haut und Schwielen, keine Wärme, keine Magie.

Er legte den Kopf schief und musterte mich eindringlich. »Es ist schwer, gegen Instinkte zu argumentieren, selbst mit Verstand und Logik, oder? Darf ich klopfen?«

»Was?«

»Darf ich probieren, dich zuerst zu berühren? Vielleicht erlaubt dir das, dich dem Rudel zu öffnen.«

Das klang harmlos genug. Wachsam nickte ich … und ich fühlte ihn, fühlte seine Seele oder so etwas, fühlte ihn mich berühren. Es war nicht wie der Ruf an Stefan. Das war so intim gewesen wie eine stinknormale Unterhaltung – nicht besonders. Adams Berührung erinnerte mich mehr an die Gegenwart, die ich manchmal in der Kirche spürte – aber das hier war unverwechselbar Adam und nicht Gott.

Und weil es Adam war, ließ ich ihn ein, akzeptierte ihn in meinem Innersten. Etwas fand seinen Platz mit einer Richtigkeit, die in meiner Seele widerhallte. Dann öffneten sich die Schleusentore.

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Das nächste Mal, als ich mir irgendetwas bewusst wurde, war ich wieder in Adams Schoß, aber diesmal auf dem Schlafzimmerboden und nicht mehr im Bad. Ein Teil des Rudels stand in einem Kreis um uns herum und hielt sich dabei an den Händen. Mein Kopf tat weh wie bei dem einzigen und letzten Mal, das ich wirklich betrunken gewesen war, nur noch viel schlimmer.

»Wir werden an deinen Filterfähigkeiten arbeiten müssen, Mercy«, sagte Adam, und seine Stimme klang ein wenig rau.

Als wäre das ein Signal gewesen, brach das Rudel auseinander und wurde wieder zu einzelnen Individuen – obwohl mir nicht klar gewesen war, dass sie etwas anderes waren, bis es verschwand. Etwas hörte auf und mein Kopf tat nicht mehr so schrecklich weh. Mir war unbehaglich zumute, weil alle standen und ich auf dem Boden saß, also rollte ich mich nach vorne und versuchte, meine Hände so zu positionieren, dass ich aufstehen konnte.

»Nicht so schnell«, murmelte Samuel. Er war nicht im Kreis gewesen, ich hätte ihn bemerkt, aber jetzt drängelte er sich durch die Reihe nach vorne. Er gab mir eine Hand und zog, bis ich auf den Beinen stand.

»Es tut mir leid«, sagte ich zu Adam. Ich wusste, dass etwas Schlimmes passiert war, aber ich konnte mich nicht wirklich darauf konzentrieren, was es gewesen war.

»Nichts, wofür du dich entschuldigen musst, Mercy«, versicherte mir Samuel mit einer gewissen Schärfe in der Stimme. »Adam ist alt genug, um zu wissen, dass er besser nicht seine Gefährtin im selben Moment ins Rudel zieht, in dem er auch eure Gefährtenbindung besiegelt. Das ist ein wenig, wie einem Baby im Meer das Schwimmen beizubringen. Während eines Tsunamis.«

Adam war nicht aufgestanden, und als ich ihn ansah, war sein Gesicht unter der Bräune leicht gräulich. Er hielt die Augen geschlossen und saß da, als täte ihm jede Bewegung weh. »Nicht dein Fehler, Mercy. Ich habe dich gebeten, dich mir zu öffnen.«

»Was ist passiert?«, fragte ich ihn.

Adam öffnete seine Augen und sie waren gelber, als ich sie jemals gesehen hatte. »Totale Überlastung«, sagte er. »Jemand sollte wahrscheinlich Darryl und Warren anrufen und sicherstellen, dass es ihnen gutgeht. Sie haben sich ohne Vorwarnung eingeschaltet und dabei geholfen, dich zurück in deine eigene Haut zu ziehen.«

»Ich erinnere mich nicht«, meinte ich misstrauisch.

»Gut«, sagte Samuel. »Zum Glück für uns alle hat der Geist seine eigenen Mechanismen, um sich zu schützen.«

»Du bist von völlig geschlossen zu völlig offen gesprungen«, sagte Adam. »Und als du dich mir geöffnet hast, hat sich auch die Gefährtenbindung gesetzt. Bevor ich verstanden hatte, was passiert war …« Er wedelte unbestimmt mit den Händen. »Hast du dich irgendwie durch die Rudelbindung verteilt.«

»Wie Napoleon beim Versuch, Russland einzunehmen«, warf Samuel ein. »Es gab einfach nicht genug von dir, um überall zu sein.«

In dem Moment erinnerte ich mich. Ich war geschwommen, ertrunken in Gedanken und Erinnerungen, die nicht mir gehörten. Sie waren über mich geflossen, um mich, und durch mich, wie ein Fluss aus Eis – und hatten mich weiter aufgerissen, mit jeder Scholle, die vorbeidriftete. Es war kalt und dunkel gewesen; ich konnte nicht atmen. Ich hatte gehört, wie Adam meinen Namen rief.

»Aurielle hat geantwortet«, berichtete Ben aus dem Flur. »Sie sagt, Darryl geht es gut. Warren hebt nicht ab, also habe ich das Handy seines Lustknaben angerufen. Knäblein wird nach ihm sehen und mich zurückrufen.«

»Ich wette, du hast ihn in dem Gespräch nicht Lustknabe genannt.«

»Du kannst aber verdammt nochmal glauben, dass ich das getan habe«, antwortete mir Ben mit verletzter Würde. »Du hättest hören sollen, als was er mich bezeichnet hat.«

Kyle, Warrens menschlicher Freund, der in seinem Job ein über Leichen gehender Scheidungsanwalt war, hatte sowohl eine rasiermesserscharfe Zunge als auch einen ebensolchen Verstand. Ich würde Geld auf jedes verbale Gefecht zwischen Kyle und Ben setzen, und zwar nicht auf Ben.

»Geht es Dad gut?«, fragte Jesse. Die Wölfe gaben fast verlegen den Weg frei, um sie durchzulassen – und mir ging auf, dass sie sie ferngehalten haben mussten, als die Sache noch nicht sicher war. Nach Adams Augen zu schließen, hing seine Kontrolle jetzt noch an einem seidenen Faden – also war es eine gute Idee gewesen, seine verletzliche, menschliche Tochter von ihm fernzuhalten. Aber ich kannte Jesse – und ich hätte nicht diejenige sein wollen, die versuchte, sie hinter dem Rudel zu halten.

Adam stand hastig auf und lehnte sich fast unmerklich auf Mary Jo – die ihre Hand ausgestreckt hatte, als er schwankte.

»Mir geht’s prima«, sagte er zu seiner Tochter und umarmte sie kurz.

»Jesse ist diejenige, die Samuel gerufen hat«, erklärte ihm Mary Jo. »Wir sind nicht mal auf den Gedanken gekommen. Er hat uns gesagt, was wir tun sollen.«

»Jesse ist super«, erklärte ich überzeugt. Sie schenkte mir ein etwas zittriges Grinsen.

»Der Trick«, meinte Samuel zu mir, »ist, dich mit dem Rudel und mit Adam zu vereinen – ohne dich darin zu verlieren. Bei Werwölfen funktioniert es instinktiv, aber ich nehme an, du wirst daran arbeiten müssen.«

Am Ende ging ich zum Abendessen nach Hause. Ich schlich mich fast unbemerkt aus dem Haus, während des Treffens, das auf unsere Beinahekatastrophe folgte. Adam sah mich verschwinden, aber er versuchte nicht, mich aufzuhalten – er wusste, dass ich zurückkommen würde.

Im Kühlschrank gab es eine Schale mit Thunfisch, Essiggurken und Mayonnaise, also machte ich mir ein Sandwich und verfütterte die Reste an die Katze. Während sie mit zierlicher Eile fraß, rief ich auf Kyles Handy an.

»Mmmmmm?«

Das Geräusch war so entspannt, dass ich das Telefon nochmal vom Ohr nahm, um sicherzustellen, dass ich Kyles Telefonnummer gewählt hatte. Aber da stand es auf dem kleinen Display – Kyles Handy.

»Kyle? Ich rufe an, um zu fragen, wie es Warren geht?«

»Sorry, Mercy.« Kyle lachte und ich hörte Wasser plätschern. »Wir sitzen in der heißen Badewanne. Ihm geht’s gut. Wie ist es bei dir? Ben sagte, du wärst in Ordnung.«

»Bin ich. Warren?«

»Lag bewusstlos im Flur. Anscheinend war er mit einem leeren Glas in der Hand auf dem Weg in die Küche.«

»Als ich es in der Hand hatte, war es noch nicht leer.« Warrens warme Stimme mit dem leichten Südstaaten-Akzent klang amüsiert.

»Ah«, meinte Kyle. »Ich habe außer Warren nicht viel beachtet. Aber nach ein paar Minuten ist er aufgewacht –«

»Kaltes Wasser im Gesicht hat diesen Effekt«, merkte Warren gutgelaunt an.

»Aber er war steif und wund – deswegen die warme Badewanne.«

»Sag ihm, es tut mir leid.«

»Nichts, was dir leidtun müsste«, meinte Warren. »Rudelmagie kann manchmal knifflig sein. Dafür gibt es Adam, Darryl und mich, Süße. Ich fühle dich nicht mehr im Rudel. Probleme?«

»Wahrscheinlich nicht. Samuel sagt, der Stromkreis wäre einfach für eine Weile ausgebrannt. Ich sollte bald wieder online sein.«

»Anscheinend ist es nicht nötig, dass ich irgendetwas weitergebe«, meinte Kyle trocken.

Ein Auto fuhr in die Einfahrt – ich hielt es für einen Mercedes. Aber ich erkannte das Auto nicht. »Knuddel Warren stattdessen für mich. Und viel Spaß in der Badewanne.«

Ich legte auf, bevor Kyle als Antwort etwas Haarsträubendes sagen konnte, und ging zur Tür, um zu schauen, wer gekommen war.

Corban, Ambers Ehemann, kam die Stufen herauf. Er wirkte verdutzt, als ich die Tür öffnete, bevor er klopfen konnte. Er sah auch aufgeregt aus. Seine Krawatte hing schief und er war unrasiert.

»Corban?« Ich konnte mir nicht vorstellen, warum er hier war, wenn es doch viel einfacher war, zu telefonieren. »Was ist los?«

Er erholte sich von seinem kurzen Zögern und sprang fast die letzte Stufe hinauf. Er streckte eine Hand aus, und mir fiel auf, dass er lederne Handschuhe trug – und etwas Seltsames in der Hand hatte. Das war alles, was ich bemerken konnte, bevor er mich mit dem Taser traf.

Taser werden bei der Polizei inzwischen ziemlich allgegenwärtig, auch wenn ich selbst noch nie einen gesehen hatte. Irgendwo auf YouTube gibt es eine Handyvideoaufnahme, die zeigt, was einem Studenten passiert ist, der in der Universitätsbibliothek irgendeine der Regeln gebrochen hatte. Er wurde getasert, und dann nochmal getasert, weil er nicht aufstand, als man es ihm sagte.

Es tat weh. Es waren Schmerzen wie … ich wusste nicht was. Ich fiel auf den Boden und lag erstarrt dort, während Corban mich filzte. Er durchsuchte meine Taschen und ließ mein Handy auf die Veranda fallen. Dann schnappte er mich unter Schultern und Knien und versuchte, mich hochzuheben.

Ich bin schwerer, als ich aussehe – Muskeln haben diesen Effekt –, und er war kein Werwolf, nur ein verzweifelter Mann, der vor sich hin flüsterte: »Es tut mir leid. Es tut mir leid.«

Ich würde sicherstellen, dass es ihm leidtat, dachte ich in dem Nebel aus Schmerz. »Werde nicht wütend, sondern quitt« war für mich mehr ein Glaubensgrundsatz als ein Klischee.

Die Leute, bei denen ich gesehen hatte, wie tasern war, waren für ein paar Sekunden außer Gefecht gesetzt gewesen. Selbst der Junge in der Bibliothek hatte noch Geräusche von sich geben können. Ich war absolut hilflos, und ich wusste nicht, warum.

Ich versuchte, das Rudel oder Adam zu erreichen, um Hilfe zu rufen. Ich konnte fühlen, wo die Verbindung gewesen war, aber der Schmerz vom Taser war nichts gewesen gegen die Qual, als ich versuchte, einen Kontakt zu erzwingen. Mein Kopf schmerzte so heftig, dass ich das Gefühl hatte, ich sollte aus den Ohren bluten.

Es war immer noch Tag, also würde es nicht viel helfen, Stefan zu rufen.

Beim zweiten Mal gelang es ihm, mich hochzuheben und zum Auto zu bringen. Sein Kofferraum öffnete sich mit einem Piepen und er ließ mich hineinfallen. Mein Kopf knallte ein paarmal auf den Boden. Wenn ich hier rauskam, würde Amber Witwe werden.

Ungeschickte Finger zogen meine Hände hinter meinem Rücken zusammen und ich erkannte das Geräusch eines Kabelbinders. Mit einem zweiten fesselte er meine Knöchel. Dann öffnete er meinen Mund und stopfte eine Socke hinein, die nach Weichspüler schmeckte und leicht nach Amber roch. Anschließend wickelte er mir noch etwas um den Kopf, das sich wie Tape anfühlte.

»Es ist Chad«, erklärte er mir mit wilden Augen. »Er hat Chad.«

Ich erhaschte noch einen Blick auf das frische Bissmal an seinem Hals, bevor er den Kofferraumdeckel zuschlug.