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7

Ich wartete, bis es dunkel war, dann schlich ich mich leise aus der Hintertür und in den Hof.

»Stefan?«, rief ich gedämpft, damit mich im Haus niemand hören würde.

Es war nun auch wieder nicht so dumm, ihn zu rufen. Er war hierhergekommen, um auf mich aufzupassen. Es machte Sinn, dass er irgendwo in der Nähe war. Und beobachtete.

Ich wartete allerdings eine halbe Stunde, und kein Stefan tauchte auf. Schließlich ging ich wieder nach drinnen und fand Amber vor dem Fernseher.

»Ich gehe ins Bett«, erklärte ich ihr.

Mir fiel auf, dass ihr Hals der Welt ohne den leisesten Kratzer präsentiert wurde – aber es gibt noch andere Stellen, an denen ein Vampir beißen kann. Um meinen eigenen Hals lag ein Halstuch, eines von mehreren, die ich am Nachmittag auf einer Einkaufstour mit Chad in einem Laden einer Wohlfahrtsorganisation gekauft hatte. Das einzig Lammähnliche, was ich gefunden hatte, war eine Haarspange mit einem Cartoon-Schaf darauf. Nicht gerade etwas, womit man den Schutz des Gottessohnes auf sich herabrief.

»Du siehst müde aus«, sagte sie mit einem weiten Gähnen. »Ich jedenfalls bin total erschöpft.« Sie stellte den Fernseher stumm und wandte sich zu mir um. »Corban hat mir von letzter Nacht erzählt. Selbst wenn du nichts anderes tun kannst – mir bedeutet es eine Menge, dass du ihn davon überzeugt hast, dass Chad nicht nur Dinge erfindet und sich aufspielt.«

Ich rieb den Vampirbiss, sicher verborgen unter roter Seide. Amber hatte ein viel größeres Problem als einen Geist, aber ich hatte auch dabei keine Ahnung, wie ich ihr helfen sollte.

»Gut«, antwortete ich. »Ich sehe dich morgen früh.«

Sobald ich in meinem Zimmer war, konnte ich mich nicht dazu zwingen, einzuschlafen. Ich fragte mich, ob Corban wusste, was sein Klient war, und ob er wusste, dass der Vampir sich von seiner Frau nährte, oder ob er betrogen wurde wie Amber auch. Ich dachte darüber nach, wie seltsam es war, dass Corban, der nicht an Geister glaubte, Amber vorschlagen sollte, mich zu bitten, zu kommen und ihnen mit ihrem Geist zu helfen. Aber wenn der Vampir beschlossen hatte, mich hierher zu holen … Ich hatte allerdings keine Ahnung, warum. Außer es gab eine geheime Verschwörung, einen Weg, wie Marsilia mich loswerden und mich für meine Sünden bestrafen konnte, ohne sich Sorgen um die Wölfe machen zu müssen. Aber ich glaubte einfach nicht, dass Marsilia scharf darauf wäre, einem anderen Vampir einen Gefallen zu schulden – und außerdem war ein Vampir, der so territorial war, dass er überhaupt keine anderen Vampire duldete, ein schlechter Kandidat für eine kooperative Problemlösung.

Wo ich gerade bei Blackwood war … er hatte Amber tagsüber zu sich gerufen. Ich hatte noch nie von einem Vampir gehört, der tagsüber lebendig war, obwohl meine Erfahrung zugegebenermaßen begrenzt war. Ich fragte mich, wo Stefan war.

»Stefan?«, sagte ich leise. »Komm raus, komm raus, wo auch immer du bist.« Vielleicht konnte er nicht reinkommen, weil er nicht eingeladen worden war. »Stefan? Komm rein.« Aber er antwortete immer noch nicht.

Mein Telefon klingelte und ich konnte nicht anders, ich hatte Schmetterlinge im Magen, als ich dranging.

»Hey, Adam«, sagte ich.

»Ich dachte, du würdest wissen wollen, dass Warren und Darryl es lebend aus der Vampirhöhle geschafft haben.«

Ich sog zischend die Luft ein. »Du hast nicht wirklich zugestimmt, dass das Treffen auf Marsilias Revier stattfand, oder?«

Er lachte. »Nein, es klang nur besser, als zu sagen, dass sie lebend wieder aus Denny’s rausgekommen sind. Das mag nicht romantisch sein, aber sie haben die ganze Nacht offen und es steht in der Mitte eines gut beleuchteten Parkplatzes ohne dunkle Ecken, in denen versteckte Gruppen einen Hinterhalt arrangieren können.«

»Haben sie irgendetwas erreicht?«

»Nicht wirklich.« Er klang nicht besorgt. »Verhandlungen brauchen ihre Zeit. In dieser Runde ging es überwiegend um Posen und Drohungen. Aber Warren hat gesagt, er habe das Gefühl, dass Marsilia hinter mehr her ist als nur deinem hübschen Fell – zumindest scheint Wulfe ein paar Andeutungen gemacht zu haben. Marsilia weiß, dass ich ihr bei dir keinen Zentimeter entgegenkommen werde, aber vielleicht ist sie bereit, über etwas anderes zu verhandeln. Wie läuft’s bei dir?«

»Der Wanderstab ist mir hierhergefolgt«, erzählte ich ihm, weil ich wusste, dass ihn das wieder zum Lachen bringen würde.

Ich hatte Recht. Und die raue Liebkosung seiner Belustigung ließ mir die Knochen im Körper schmelzen. »Kauf einfach keine Schafe, während du unterwegs bist, dann bist du in Sicherheit.«

Der Wanderstab, der mir nach Hause und in diesem Fall nach Spokane gefolgt war, hatte ursprünglich die Gabe, jedes Schaf, das seinem Eigentümer gehörte, Zwillinge austragen zu lassen. Wie die meisten Geschenke des Feenvolkes wandte er sich früher oder später gegen seinen menschlichen Besitzer. Ich wusste nicht, ob er immer noch auf diese Art funktionierte, und ich wusste auch nicht, warum er mir überallhin folgte, aber ich gewöhnte mich langsam an ihn.

»Glück gehabt mit deinem Geist?«

Jetzt, wo wir sicher aus dem Speicher entkommen waren, konnte ich ihm davon erzählen, ohne dass er sich auf die Straße warf, um mich zu retten. Auch wenn Blackwood mich ignoriert hatte – zumindest überwiegend –, den Alpha des Columbia-Basin-Rudels würde er nicht ignorieren.

Als ich fertig war, fragte er: »Warum hat er euch auf dem Speicher eingeschlossen?«

Ich zuckte mit den Achseln und wand mich auf dem Bett, um eine bequemere Position zu finden. »Ich weiß es nicht. Vielleicht hat sich einfach die Gelegenheit geboten. Es gibt Angehörige des Feenvolkes, die auf diese Art Unfug machen – Kobolde und Wichtelmännchen und Ähnliches. Aber das war ein Geist. Ich habe ihn selbst gesehen. Was ich nicht gesehen habe, ist irgendein Zeichen von Stefan. Ich mache mir ein bisschen Sorgen um ihn.«

»Er ist dabei, um sicherzustellen, dass Marsilia dir niemanden nachschickt«, meinte Adam.

»Stimmt. So weit, so gut.« Ich berührte die wunde Stelle an meinem Hals. Konnte es eine andere Erklärung geben? Könnte es einer von Marsilias Vampiren gewesen sein?

Aber das flaue Gefühl in meinem Magen verriet mir, dass es nicht so war. Nicht mit Blackwood, der Ambers Haus frei betreten konnte. Nicht mit Amber, die gerufen wurde, verführt und an der er sich nährte – am helllichten Tag.

»Man wird nicht so alt wie Stefan, ohne auf sich aufpassen zu können.«

»Du hast Recht«, antwortete ich, »aber er treibt völlig frei, und ich wäre glücklicher, wenn er sich nicht so rar machen würde.«

»Er wäre keine große Hilfe bei der Geisterjagd – meiden Geister nicht Vampire?«

»Geister und Katzen, sagt Bran. Aber meine Katze mag Stefan.«

»Deine Katze mag jeden, den sie davon überzeugen kann, sie zu kraulen.«

Etwas in der Art, wie er das sagte – eine Liebkosung in seiner Stimme –, machte mich misstrauisch. Ich lauschte genau und hörte ein leises Schnurren.

»Dich mag sie jedenfalls. Wie hat sie dich dazu überredet, sie wieder in dein Haus zu lassen?«

»Sie hat an der Hintertür gemaunzt.« Er klang verlegen. Ich hatte noch nie von einer Katze gehört oder eine gesehen, die sich an Werwölfe oder Kojoten anschloss, bis Medea ihre Anwesenheit an meiner Werkstatttür verkündet hatte. Hunde tun das – wie auch die meisten anderen Nutztiere –, aber nicht Katzen. Medea liebt jeden, der sie krault – oder wenigstens das Potential hat, sie zu kraulen. Ein bisschen wie manche Leute in meinem Bekanntenkreis.

»Sie spielt dich und Samuel gegeneinander aus«, informierte ich ihn. »Und Ihr, mein edler Herr, seid gerade ihrer List erlegen.«

»Meine Mutter hat mich davor gewarnt, irgendwem zu erliegen«, sagte er kleinlaut. »Du wirst mich vor mir selbst retten müssen. Wenn ich dich zum Kraulen habe, brauche ich sie nicht.«

Durch das Telefon konnte ich in der Ferne seine Türglocke läuten hören.

»Es ist ziemlich spät für Besucher«, meinte ich.

Adam fing an zu lachen.

»Was?«

»Es ist Samuel. Er hat gerade Jesse gefragt, ob wir deine Katze gesehen hätten.«

Ich seufzte. »Männer sind so einfach gestrickt. Du gehst besser und gestehst deine Sünden.«

Als ich aufgelegt hatte, starrte ich in die Dunkelheit und wünschte mir, ich wäre zu Hause. Würde ich mit Adam neben mir schlafen, könnte kein Vampir an meinem Hals kauen. Schließlich stand ich auf, machte das Licht an und holte mir das Feenvolk-Buch als Lektüre. Nach ein paar Seiten vergaß ich meine Vampir-Sorgen, zog die Decke höher über meine Schultern – Amber bevorzugte anscheinend bei ihrer Klimaanlage ungefähr dieselbe Einstellung wie Werwölfe – und verlor mich in der Geschichte vom Brüllenden Bullen von Bagbury und anderem Feenvolk, das Brücken bevorzugt.

Irgendwann später wachte ich zitternd auf, den Wanderstab in enger Umklammerung, den ich zuletzt an die Wand neben der Tür gelehnt gesehen hatte. Das Holz unter meinen Fingern war heiß – im Gegensatz zum Rest des Raumes. Die Kälte war so heftig, dass meine Nasenspitze taub war und mein Atem Wolken bildete.

Einen Moment, nachdem ich aufgewacht war, gellte ein hohes, atonales Heulen durch die Wände des Hauses, um dann abrupt zu verstummen.

Ich warf meine Decke auf den Boden. Das seltene alte Buch ereilte dasselbe Schicksal – aber meine Sorge um Chad war zu groß, um innezuhalten und es zu retten. Ich rannte aus meinem Schlafzimmer und machte die nötigen vier Schritte zum Zimmer des Jungen.

Die Tür ging nicht auf.

Der Türknauf drehte sich, also war sie nicht verschlossen. Ich drückte meine Schulter gegen die Tür, aber sie gab nicht nach. Ich versuchte, den Wanderstab – der immer noch wärmer war, als er sein sollte – als Brecheisen zu verwenden, aber es funktionierte nicht. Es gab keine Stelle, an der ich ihn einsetzen konnte, um Hebelwirkung zu bekommen.

»Lass mich«, flüsterte Stefan direkt hinter mir.

»Wo warst du?«, fragte ich, und die Erleichterung ließ meine Stimme scharf klingen. Mit dem Vampir hier würde der Geist verschwinden.

»Auf der Jagd«, sagte er und drückte nun seine Schulter gegen die Tür. »Du sahst aus, als hättest du alles unter Kontrolle.«

»Yeah. Also, manchmal trügt der Schein.«

»Das sehe ich.«

Ich hörte, wie das Holz auf den ersten Zentimetern zu splittern begann. Dann zog es sich plötzlich von dem Vampir zurück und knallte mit einem boshaften Geräusch gegen die Wand, was Stefan in den Raum stolpern ließ.

Mein Zimmer war schon kalt gewesen, aber in Chads war es eisig. Frost überzog alles im Zimmer wie irreale Spitze. Chad lag wie tot in der Mitte seines Bettes – er atmete nicht, aber seine Augen waren offen und verängstigt.

Sowohl Stefan als auch ich rannten zum Bett.

Der Geist war allerdings noch nicht weg, und Stefan verjagte ihn auch nicht. Wir konnten Chad nicht aus dem Bett bekommen. Die Decke war auf ihm und am Bett festgefroren und wollte ihn nicht freigeben. Ich ließ den Wanderstab auf den Boden fallen, griff mit beiden Händen nach der Decke und zog. Sie zuckte unter meinen Fingern, als wäre sie lebendig, feucht von dem Frost, der unter meinen Händen taute.

Stefan griff mit beiden Händen unter Chads Kinn und riss die Decke in zwei Teile. So schnell wie eine zubeißende Schlange hatte er Chad in seinen Armen und weg vom Bett.

Ich sammelte den Stab ein und folgte ihnen aus dem Raum in den Flur, während ich mir wünschte, ich hätte meine Erste-Hilfe-Fähigkeiten seit der Highschool mal aufgefrischt.

Doch sobald er sicher aus dem Raum war, fing Chad an, Luft in sich zu saugen wie ein Staubsauger.

»Du brauchst einen Priester«, erklärte mir Stefan.

Ich ignorierte ihn zugunsten von Chad. »Bist du in Ordnung?«

Der Junge nahm sich zusammen. Sein Körper war vielleicht dünn, aber sein Geist war pures Platin. Er nickte. Stefan stellte ihn auf die Füße und stützte ihn, als er ein wenig schwankte.

»Ich habe noch nie etwas Derartiges gesehen«, gab ich zu. Ich konnte in Chads Zimmer sehen, wie an den sich schnell wieder klärenden Fenstern Wasser hinablief. Ich schaute Stefan an. »Ich dachte, Geister gehen dir aus dem Weg.«

Er starrte ebenfalls in den Raum. »Das dachte ich auch. Ich …« Er schaute mich an und hörte auf zu sprechen. Dann kippte er mein Kinn nach oben und schaute meinen Hals an, auf beiden Seiten. Und mir ging auf, dass ich ein zweites Mal gebissen worden war. »Wer hat an dir gekaut, cara mia?«

Chad schaute Stefan an, dann zischte er und benutzte zwei Finger, um ein paar Vampirzähne anzuzeigen.

»Ja, das weiß ich«, sagte Stefan zu ihm – und übersetzte es auch in Zeichensprache. »Vampir.« Wer hätte das gedacht? Stefan konnte Zeichensprache; irgendwie schien mir das nicht etwas zu sein, was Vampire üblicherweise taten.

Chad hatte noch einiges mehr zu sagen. Als er fertig war, schüttelte Stefan den Kopf.

»Dieser Vampir ist nicht hier; sie würde die Tri-Cities nicht verlassen. Das hier ist ein anderer.« Er blickte zu mir und hielt den Kopf so, dass Chad nicht sehen konnte, was er sagte: »Wie kannst du in eine Stadt mit einer halben Million Einwohner gehen und den einzigen Vampir hier auf dich aufmerksam machen? Was hast du getan? Bist du nachts beim Joggen mit ihm zusammengestoßen?«

Ich ignorierte die aufsteigende Panik in meinem Bauch, die davon ausgelöst wurde, dass ich zweimal von irgendeinem Blödmann gebissen worden war, den ich nur einmal getroffen hatte. Ihn einen Blödmann zu nennen machte ihn weniger furchterregend. Oder zumindest hätte es diesen Effekt haben sollen. Aber James Blackwood hatte mich zweimal gebissen, während ich es verschlafen hatte … oder noch schlimmer, er hatte es mich vergessen lassen.

»Einfach Glück, nehme ich an«, antwortete ich. Ich wollte nicht darüber reden, während Chad direkt neben uns stand. Er wäre um einiges sicherer, wenn er nicht wusste, dass James Blackwood ein Vampir war.

Chad gab noch ein paar Handzeichen von sich.

»Sorry«, meinte Stefan. »Ich bin Stefan. Ein Freund von Mercy.«

Chad runzelte die Stirn.

»Er gehört zu den Guten«, erklärte ich ihm, und er warf mir einen ›schön, aber was macht er mitten in der Nacht in meinem Haus‹-Blick zu. Ich gab vor, nicht zu verstehen, was er meinte. Ich beherrschte die amerikanische Zeichensprache nicht, also konnte er nichts machen. Das war wahrscheinlich nicht fair, aber ich wollte ihn nicht anlügen – und ich wollte ihm bestimmt nicht die ganze Wahrheit sagen.

»Sie müssen von hier verschwinden«, sagte Stefan. »Und ich werde dich zurück in die Tri-Cities bringen.« Es sah aus, als wollte er noch etwas sagen, aber dann warf er einen schnellen Blick auf Chad und schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich noch etwas über Blackwood.

»Lass mich was anziehen«, meinte ich. »Ich kann besser denken, wenn ich nicht nur in Unterhose und T-Shirt herumlaufe.«

Ich zog mich im Badezimmer an – und schaute mir währenddessen eingehend den zweiten Biss an. Dann versteckte ich sie beide unter meinem neuen roten, seidenbestickten Schal.

Nach Hause gehen? Was sollte das bringen? Und was hatte ich hier eigentlich erreicht?

Ich war gekommen, um Amber zu helfen und eine Weile Marsilia nicht mehr unter die Augen zu kommen. Das hatte geklappt – oder zumindest hatte es Adams Verhandlungen nicht behindert. Ich wusste nicht, ob ich Amber auch nur ein bisschen geholfen hatte … noch nicht.

Ich starrte mein bleiches, müdes Gesicht an und fragte mich, wie ich das schaffen sollte. Blackwood kümmerte sich um sie.

Ich zitterte. Obwohl es nichts gab, was ich hätte benennen können – keine kalte Stelle, kein Geruch, kein Geräusch – , konnte ich fühlen, wie etwas mich beobachtete. »Lass den Jungen in Ruhe«, befahl ich meinem unsichtbaren Beobachter.

Und jedes Haar auf meinem Kopf kribbelte plötzlich.

Ich wartete auf einen Angriff, oder dass er sich zeigte. Aber nichts geschah, nur diese kurze Verbindung, die langsamer verblasste, als sie gekommen war.

Stefan klopfte. »Ist alles okay?«

»Prima.« Etwas war passiert, aber ich hatte keine Ahnung, was. Ich war müde und verängstigt und ich hatte Hunger. Also putzte ich mir die Zähne und öffnete die Badezimmertür.

Stefan und Chad lehnten an den gegenüberliegenden Wänden des Flurs und diskutierten etwas. Ihre Hände bewegten sich rasend schnell.

»Stefan.«

Er warf die Hände in die Luft und wandte sich an mich. »Wie kann er der Meinung sein, dass Dragon Ball Z besser ist als Scooby-Doo? Diese Generation weiß einfach die Klassiker nicht zu schätzen.«

Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. Ich hielt meinen Kopf von Chad abgewandt, als ich sagte: »Du bist ein netter Mann.«

Stefan tätschelte mir den Kopf.

Ich kontrollierte Chads Schlafzimmer, aber es sah aus, als wäre niemals etwas passiert; zurückgeblieben war lediglich ein wenig Feuchtigkeit vom Frost. Nur die zwei zerrissenen Teile von Chads Decke gaben einen Hinweis auf den Ärger.

»Es gibt ein paar Vampire, die solches Zeug können«, meinte Stefan und wedelte mit einer Hand in Richtung Chads Zimmer. »Dinge bewegen, ohne sie zu berühren, Leute umbringen, ohne im selben Raum zu sein. Aber ich habe noch niemals von einem Geist mit so viel Macht gehört. Sie sind normalerweise pathetische Dinger, die so tun, als wären sie am Leben.«

Ich roch keinen Vampir, nur Blut – und diese Duftnote verblasste wie zuvor der Frost. Ich hatte den Geist gesehen – nicht klar, aber er war da gewesen. Trotzdem drehte ich mich so, dass Chad nicht von meinen Lippen lesen konnte. »Glaubst du, dass Blackwood Geist spielt?«

Stefan schüttelte den Kopf. »Nein, das ist nicht das Monster. Falsches Erbe. Es gab einen indischen Vampir in New York. Er und die Seinen hätten etwas in der Art tun können, was wir heute Nacht gesehen haben … bis auf die Kälte. Aber nur die Vampire, die er direkt erschaffen hatte, konnten es – und er verwandelte nur indische Frauen in Vampire. Sie sind alle vor ungefähr hundert Jahren getötet worden, und ich glaube sowieso, dass Blackwood älter ist.«

Chad hatte Stefans Mund fasziniert beobachtet. Er machte ein paar Gesten, und Stefan gestikulierte zurück, während er gleichzeitig sprach: »Sie sind tot. Nein. Jemand hat sie umgebracht. Ja, ich bin mir sicher, dass es jemand anders war.« Er warf mir einen schnellen Seitenblick zu. »Würdest du dem Jungen bitte erklären, dass ich eher Spike bin als Buffy? Ein Bösewicht, kein Superheld?«

Ich klimperte mit den Wimpern. »Du bist mein Held.«

Er wich ein paar Schritte von mir zurück, als hätte ich ihn geschlagen. Ich fragte mich, was Marsilia wohl zu ihm gesagt hatte, während sie ihn gefoltert hatte.

»Stefan?«

Er drehte sich mit einem Zischen wieder zu uns um und hatte einen Ausdruck im Gesicht, der Chad dazu brachte, sich an mich zu pressen. »Ich bin ein Vampir, Mercy.«

Ich hatte nicht vor, ihn mit der Bösartiger-selbsthassender-Vampir-Tour durchkommen lassen. Er verdiente etwas Besseres. »Yeah, das haben wir kapiert. Die Reißzähne verraten dich – übersetz das bitte für Chad.« Ich wartete, während er genau das tat, mit Bewegungen, die aus Ärger oder etwas Ähnlichem abgehackt waren. Chads Körper an meinem entspannte sich.

Stefan gestikulierte weiter und sagte fast trotzig: »Ich bin niemandes Held, Mercy.«

Ich drehte meinen Kopf, bis ich direkt Chad ansah. »Meinst du, das heißt, dass wir ihn niemals in Elasthan sehen werden?«

Chad formte mit dem Mund eines der Worte, einen verwirrten Ausdruck auf dem Gesicht.

Stefan seufzte. Er berührte Chads Schulter, und als der Junge zu ihm aufsah, buchstabierte er Elasthan langsam mit den Fingern. Chad verzog angewidert das Gesicht.

»Hey«, meinte ich zu beiden, »gutaussehende Männer zu beobachten, die in engen Kostümen herumlaufen, steht ziemlich hoch auf meiner Liste von Dingen, die ich noch tun will, bevor ich sterbe.«

Stefan gab auf und lachte. »Ich werde es jedenfalls nicht sein«, erklärte er mir. »Also, was tun wir als Nächstes, Spukjägerin?«

»Das ist ein ziemlich langweiliger Superhelden-Name.«

»Scooby-Doo ist schon vergeben«, erklärte er würdevoll. »Und daneben klingt alles langweilig.«

»Ernsthaft«, meinte ich. »Ich denke, wir sollten besser seine Eltern finden.« Die hoffentlich friedlich schliefen, trotz Chads Schrei und Türen, die gegen Wände geknallt waren, ganz abgesehen von dem ganzen Gerede. Jetzt, wo ich darüber nachdachte, schien es mir ein übles Zeichen, dass sie nicht hier draußen waren und sich Sorgen machten.

»Wir? Du willst, dass ich mitkomme?« Stefan zog eine Augenbraue hoch.

Ich würde Chad nicht auffordern, seine Eltern anzulügen. Und wenn Amber und ihrem Ehemann irgendetwas passiert war, wollte ich Stefan bei mir haben. Ihr Schlafzimmer war von Chads und meinem Zimmer aus gesehen am anderen Ende des Hauses, ihre Tür war dick – und sie hatten kein so gutes Gehör wie Stefan und ich. Vielleicht schliefen sie. Ich umklammerte meinen Wanderstab.

»Yeah. Komm mit, Stefan. Aber, Chad?« Ich stellte sicher, dass er mein Gesicht sehen konnte. »Du wirst deinen Leuten besser nicht erzählen, dass Stefan ein Vampir ist, okay? Aus denselben Gründen, die ich dir schon genannt habe. Vampire mögen es nicht, wenn Leute über sie Bescheid wissen.«

Chad versteifte sich und schaute kurz zu Stefan, dann wieder zur Seite.

»Hey. Nein, nicht Stefan. Ihm macht es nichts aus. Aber anderen schon.« Und sein Vater würde ihm in diesem Punkt wahrscheinlich auch nicht glauben – und vielleicht sogar Blackwood davon erzählen. Und Blackwood, da war ich mir ziemlich sicher, wäre nicht glücklich, wenn Chad über Vampire Bescheid wusste.

Also marschierten wir zu Ambers Zimmer und öffneten die Tür. Drinnen war es dunkel, und ich konnte zwei ruhige Figuren auf dem Bett sehen. Für einen Moment erstarrte ich, dann ging mir auf, dass ich sie atmen hören konnte. Auf dem Nachttisch neben Corbans Bettseite stand ein leeres Glas, in dem einmal Brandy gewesen war – jetzt, wo ich nicht mehr panisch war, konnte ich es riechen. Und auf Ambers Seite stand ein Behälter mit verschreibungspflichtigen Medikamenten.

Chad glitt an mir vorbei, kletterte über das Fußende und neben ihnen ins Bett. Mit seinen Eltern im selben Raum musste er nicht mehr tapfer sein. Kalte Füße erreichten, was der ganze Lärm nicht geschafft hatte, und Corban setzte sich auf.

»Chad …« Er sah uns. »Mercy? Wer ist das neben Ihnen und was machen Sie in meinem Schlafzimmer?«

»Corban?« Amber rollte sich herum. Sie klang ein wenig benommen, wachte aber richtig auf, als sie erst Chad und dann uns sah. »Mercy? Was ist passiert?«

Ich erzählte es ihnen und ließ nur aus, dass Stefan ein Vampir war. Ich erwähnte ihn, um genau zu sein, so gut wie nicht, außer als Teil von ›wir‹. Sobald sie hörten, dass Chad nicht geatmet hatte, machten sie sich überhaupt keine Sorgen mehr um Stefan.

»Ich habe noch nie etwas Derartiges gesehen«, gestand ich ihnen. »Das ist mir eine Nummer zu groß. Ich denke, ihr solltet Chad für heute Nacht hier raus und in ein Hotel schaffen.«

Corban hatte sich alles mit einem Pokerface angehört. Jetzt stand er auf und schnappte sich fast in derselben Bewegung einen Bademantel. Ich hörte, wie er den Flur entlangging, aber er ging nicht in Chads Zimmer. Er blieb nur einen Moment lang davor stehen und kam dann zurück. Ich wusste, was er sah – nichts, außer einer zerrissenen Decke –, und ich war froh, dass er die kleine Spielzeugauto-Vorführung miterlebt hatte.

Er blieb im Türrahmen stehen und schaute uns an. »Punkt eins: Wir packen für ein paar Tage. Punkt zwei: Wir suchen uns ein Hotel. Punkt drei: Ich rede mit dem Schwager meiner Cousine, der ein Jesuitenpriester ist.«

»Ich fahre nach Hause«, verkündete ich, bevor er mir sagen konnte, dass ich verschwinden und mich nie wieder sehen lassen sollte. Ich musste ihnen helfen, etwas gegen Blackwood zu unternehmen, der Amber als Snack benutzte, aber ich wusste nicht, was ich tun konnte. Und so wie es klang, hatte noch nie jemand etwas gegen diesen Vampir unternehmen können. »Es gibt nichts, was ich für euch tun kann, und ich muss eine Werkstatt am Laufen halten.«

»Danke, dass du gekommen bist«, sagte Amber. Sie kletterte aus dem Bett und umarmte mich. Und ich wusste, dass sie mir am dankbarsten dafür war, dass ich ihren Ehemann davon überzeugt hatte, dass Chad nicht log. Ich hielt diesen Punkt für die geringste ihrer Sorgen.

Über ihre Schulter hinweg starrte Corban mich an, als vermutete er, dass ich irgendwie alles erst ausgelöst hätte. Ich fragte mich dasselbe. Etwas hatte ihren Geist um einiges schlimmer werden lassen, und ich war die naheliegendste Verdächtige.

Ich überließ sie ihren Vorbereitungen, packte meinen eigenen Koffer und umarmte Amber noch einmal, bevor ich ging.

Sie roch immer noch nach Vampir – aber das taten Stefan und ich auch.

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Stefan wartete, bis wir fast aus Spokane raus waren und gerade den Flughafen passierten, bevor er irgendetwas sagte. »Soll ich fahren?«

»Nö«, antwortete ich. Ich war vielleicht müde, aber ich mochte es nicht, wenn jemand anders meinen Vanagon fuhr. Sobald Zee und ich den Golf wieder zusammengebaut hätten, würde der Van wieder in der Garage verschwinden. Außerdem … »Ich glaube nicht, dass ich irgendwann im nächsten Jahrtausend nochmal schlafen werde. Wie konnte er mich zweimal beißen, ohne dass ich es gemerkt habe?«

»Manche Vampire können das«, erklärte Stefan mir mit derselben beruhigenden Stimme, die Ärzte anwenden, wenn sie jemandem sagen, dass er eine tödliche Krankheit hat. »Es ist keine meiner Gaben – oder von irgendwem aus unserer Siedhe, außer vielleicht Wulfe.«

»Er hat mich zweimal gebissen. Das ist schlimmer als nur einmal, richtig?« Auf meine Frage folgte Schweigen.

Etwas bewegte sich in meiner Hosentasche. Ich zuckte zusammen, dann wurde mir klar, was es war. Ich zog mein vibrierendes Handy aus der Tasche und ging dran, ohne die Nummer zu kontrollieren. »Ja?« Vielleicht klang ich unhöflich, aber ich war verängstigt und Stefan hatte mir nicht geantwortet.

Es folgte ein kurzes Schweigen, dann fragte Adam: »Was ist los? Deine Angst hat mich aufgeweckt.«

Ich blinzelte schnell und wünschte mir inbrünstig, ich wäre schon zu Hause. Zu Hause mit Adam statt mit einem Vampir in einem dunklen Auto.

»Es tut mir leid, dass ich dich gestört habe.«

»Ein Vorteil der Rudelbindung«, erklärte Adam mir. Dann, weil er mich kannte, fügte er hinzu: »Ich bin der Alpha, also empfange ich die Dinge zuerst. Kein anderer im Rudel hat es gefühlt. Was hat dir Angst gemacht?«

»Der Geist«, war meine erste Antwort und dann seufzte ich tief. »Und der Vampir.«

Er schmeichelte die ganze Geschichte aus mir heraus. Anschließend war es an ihm, zu seufzen. »Nur du konntest nach Spokane fahren und dort von dem einzigen Vampir in der ganzen Stadt gebissen werden.« Er konnte mich nicht zum Narren halten. Trotz der Erheiterung in seiner Stimme konnte ich auch die Wut hören.

Aber wenn er mir etwas vorspielte, dann konnte ich das auch. »Das ist so ziemlich dasselbe, was Stefan gesagt hat. Ich finde das nicht fair. Woher sollte ich wissen, dass der wichtigste Klient von Ambers Mann der Vampir ist?«

Adam lachte reumütig. »Die eigentliche Frage ist, warum wir nicht gleich vermutet haben, was passieren würde. Aber jetzt bist du in Sicherheit?«

»Ja.«

»Dann warte ich, bis du kommst.«

Er legte ohne Abschiedsworte auf.

»Also«, meinte ich. »Erzähl mir, was Blackwood mit mir anstellen kann, jetzt, wo er sich zweimal von mir genährt hat.«

»Ich weiß es nicht.« Dann seufzte Stefan. »Wenn ich mit jemandem zweimal Blut ausgetauscht habe, kann ich denjenigen immer finden, egal, wo er hingeht. Ich könnte ihn zu mir rufen – und wenn er in der Nähe ist, kann ich ihn zwingen, zu mir zu kommen. Aber das setzt einen echten Blutaustausch voraus – deins für mich, meins für dich. Letztendlich … ist es möglich, denjenigen, mit denen man Blut austauscht, ein Meister-Sklaven-Verhältnis aufzuzwingen. Eine Vorsichtsmaßnahme, nehme ich an, weil ein neu geschaffener Vampir ziemlich ekelhaft werden kann. Eine einfache Nährung ist weniger riskant. Aber deine Reaktionen sind nicht immer normal. Es könnte auch überhaupt keine negativen Auswirkungen auf dich haben.«

Ich dachte an Amber, die den Vampir schon seit was weiß ich wie langer Zeit genährt hatte, und an ihren Ehemann, der vielleicht in derselben Situation war, und mir wurde schlecht. »Vom Regen in die Traufe«, sagte ich. »Verdammt.« Okay. Positiv denken. Wenn ich überhaupt nicht nach Spokane gegangen wäre, dann hätte der Vampir immer noch Amber und ihren Ehemann, nur es wüsste niemand davon. »Wenn ich bewusstlos war, hätte er einen Blutaustausch erzwingen können?«

Stefan seufzte wieder und sank in seinem Sitz zusammen. »Du erinnerst dich nicht daran, dass er dich gebissen hat. Das heißt nicht, dass du bewusstlos warst.«

Ich sah es nicht kommen. Ich hatte keine gehabt, seitdem ich die Tri-Cities verlassen hatte. Aber es gelang mir, an die Seite zu fahren, aus dem Van zu springen und es zum Straßengraben zu schaffen, bevor ich anfing, mich zu übergeben. Es war keine Krankheit … es war reiner, purer Terror. Die Panikattacke, die alle anderen Panikattacken beendet. Mein Kopf tat weh, mein Herz tat weh, und ich konnte nicht aufhören zu heulen.

Und dann war es plötzlich vorbei. Wärme durchfloss mich und legte sich um mich: Rudel. Adam. So viel dazu, dass ich Adams Wölfe nicht mit meinen ganzen Problemen belästigen wollte, da sie bereits jetzt unglücklich über mich waren. Stefan wischte mir mit einem Taschentuch das Gesicht ab und ließ es auf den Boden fallen, bevor er mich hochhob und zurück zum Auto trug. Er setzte mich nicht auf den Fahrersitz.

»Ich kann fahren«, erklärte ich ihm, aber in meiner Stimme lag keine Kraft. Rudelmagie hatte die Panikattacke unterbrochen, aber ich konnte sie alle immer noch fühlen, bereit und abwartend.

Bereit, mich ein weiteres Mal zu retten.

Er ignorierte meinen schwachen Protest und legte den Gang ein.

»Gibt es irgendeinen Grund, warum er sich einfach von mir genährt haben könnte, ohne einen Blutaustausch zu erzwingen?«, fragte ich, wohl eher aus einem morbiden Drang, alles zu wissen, da ich keine echte Hoffnung hatte.

»Bei einem Blutaustausch könntest du auch ihn rufen«, meinte Stefan widerstrebend.

»Wie oft? Nach nur einem Austausch?«

Er zuckte mit den Schultern. »Das ist bei jedem anders. Bei deiner eigenwilligen Reaktion auf Vampirmagie könnte es genauso gut hundert brauchen wie nur einen.«

»Wenn du sagst, dass ich ihn rufen könnte. Heißt das, dass er zu mir kommen müsste?«

»Das Verhältnis eines Vampirs zu denen, von denen er sich nährt, ist kein gleichberechtigtes, Mercy«, blaffte er. »Nein. Er könnte dich hören. Das ist alles. Wenn man Blut mit jedem einzelnen Futtertier« – er stieß das Wort hervor – »austauscht, können die Stimmen im Kopf einen in den Wahnsinn treiben. Also tun wir es nur mit unseren eigenen Herden. Es gibt einige Vorteile. Die Schafe werden stärker, für kurze Zeit immun gegen Schmerzen – wie du aus eigener Erfahrung weißt. Der Vampir gewinnt einen Diener und letztendlich einen Sklaven, der ihn willig nährt und sich tagsüber um all seine Bedürfnisse kümmert.«

»Es tut mir leid«, erklärte ich ihm. »Ich wollte dich nicht wütend machen. Ich muss einfach nur wissen, womit ich es zu tun habe.«

Er streckte die Hand aus und tätschelte mir das Knie. »Das verstehe ich. Es tut mir leid.« Die nächsten Worte kamen langsamer. »Es beschämt mich, zu sein, was ich bin. Der Mann, der ich war, hätte niemals ein Leben auf Kosten so vieler anderer akzeptiert. Aber ich bin nicht er, nicht mehr.«

Er überholte einen Laster (wir fuhren bergauf). »Wenn er sich nur von dir genährt hat, weil du gerade da warst, dann hat er wahrscheinlich keinen Blutaustausch herbeigeführt … außer …«

»Außer was?«

»Ich glaube nicht, dass er dein Gedächtnis so gut hätte blockieren können, wenn es kein echter Austausch war. Bei einem Menschen, ja. Aber du bist willensstark.« Er zuckte die Achseln. »Die meisten Meistervampire nähren sich von den Ihren – anderen Vampiren. Blackwood lässt keine anderen Vampire in seinem Territorium zu, und ich glaube nicht, dass er ein Gefolge hat. Vielleicht gleicht er das aus, indem er Blut austauscht, wann immer er sich nährt.«

Ich ließ mir das, was er mir gesagt hatte, durch den Kopf gehen, dann döste ich ein wenig. Ich wachte plötzlich auf, als wir bei Ritzville auf den Highway 395 wechselten. Nur noch knapp siebzig Meilen bis nach Hause.

»Er kann dich zu nichts zwingen, wenn du einen anderen Vampir findest, an den du dich binden kannst«, sagte Stefan.

Ich schaute ihn an, aber er starrte konzentriert auf die Straße – als schlängelten wir uns durch die Berge von Montana und glitten nicht eine überwiegend leere, gepflasterte Straße entlang.

»Bietest du dich an?«

Er nickte. »Ich bin gefährlich knapp an Nahrung. Der Austausch wird mich besser nähren, und ich werde ein paar Nächte lang nicht mehr jagen müssen.«

Ich dachte eine Minute darüber nach. Nicht dass ich es tun würde, aber sein Angebot war vielschichtig – bei Vampiren, das lernte ich langsam, waren sie das meistens. Bei Stefan hieß das allerdings nicht automatisch, dass er einen Vorteil für sich verschwieg.

»Und du schaffst dir damit einen Feind«, riet ich. »James Blackwood hält Spokane, ganz allein, gegen alle übernatürlichen Völker, nicht nur gegen die Vampire. Das heißt, er ist zwanghaft besitzergreifend – und stark. Er wird nicht glücklich darüber sein, dass du mich von ihm fernhältst.«

Stefan zuckte die Achseln. »Er kann dich wahrscheinlich nicht den ganzen Weg nach Spokane rufen, wenn du in den Tri-Cities bist. Er würde es wahrscheinlich nicht mal versuchen, wenn er jedes Mal Blut austauscht, wenn er sich nährt. Aber wenn du an mich gebunden bist, wäre es sicher.« Er sprach langsam. »Wir haben schon einen Blutaustausch gehabt. Und ich kann sicherstellen, dass es nicht schlimm für dich wird.«

Wenn Blackwood mich zu sich rief, wenn er mich als eines seiner Schafe annahm, dann würde Adam das Rudel zusammenrufen, um mich zu retten. Mary Jo hätte beinahe schon den ultimativen Preis für meine Probleme gezahlt. Solange ich in den Tri-Cities blieb, würde Blackwood vielleicht nicht einmal merken, dass der Grund dafür, dass er mich nicht rufen konnte, Stefan war.

»Adam ist mein Gefährte«, sagte ich zu Stefan. Ich wusste nicht, ob ich ihm erzählen sollte, dass Adam mich zu einem Mitglied des Rudels gemacht hatte. »Kann Blackwood über mich an Adam herankommen?«

Stefan schüttelte den Kopf. »Ich kann es auch nicht. Es ist versucht worden … Unser alter Meister – Marsilias Schöpfer – mochte Wölfe und hat experimentiert. Bei einem Werwolfrudel funktionieren die Blutsverbindungen auf einer anderen Ebene. Er hat die Gefährtin eines Alphas in seine Menagerie aufgenommen, sie war auch eine Werwölfin, in der Hoffnung, durch sie den Alpha und sein gesamtes Rudel zu kontrollieren. Es hat nicht funktioniert.«

»Marsilia nährt sich gerne von Werwölfen«, meinte ich. Ich hatte es selbst gesehen.

»Nach dem, was ich bis jetzt gesehen habe, scheint es fast süchtig zu machen, sich von ihnen zu ernähren.« Er warf mir einen Seitenblick zu. »Ich selbst habe es nie getan. Nicht bis neulich Nachts. Und ich habe nicht vor, es zu wiederholen.«

Ich war gerade dabei, entweder die dümmste oder die klügste Entscheidung meines Lebens zu treffen.

»Ist es unwiderruflich?«, fragte ich. »Die Verbindung zwischen uns beiden?«

Er starrte mich durchdringend an und setzte dann an, etwas zu sagen, nur um den Mund wieder zuzuklappen.

Schließlich meinte er: »Ich habe dir heute Nacht Dinge erzählt, die selbst andere Vampire nicht wissen. Wenn ich wahrhaft zu Marsilias Gefolge gehören würde, oder wenn sie nicht meine Verbindungen zur Siedhe gebrochen hätte, hätte ich dir nicht mal das erzählen können.«

Er klopfte mit seiner Handfläche auf das Lenkrad, während uns ein Honda Accord überholte, der einen riesigen Wohnwagen zog. »Diese Dinger hier fahren sich wie blutarme Schulbusse«, meinte er. »Seltsam, dass es trotzdem so viel Spaß macht.«

Ich wartete. Wenn die Antwort ja gewesen wäre, wenn die Verbindung unwiderruflich wäre, dann wäre er nicht so unentschlossen gewesen. Wenn sie nicht dauerhaft war, konnte sie aufgelöst werden, sobald Blackwood eliminiert wäre. Eine zeitlich begrenzte Verbindung mit Stefan war nicht so furchteinflößend wie, sagen wir mal, die dauerhafte Verbindung zwischen Adam und mir.

»Marsilia kann die Verbindungen zwischen Meister und Schafen zerbrechen«, erklärte er. »Sie kann sie entweder selbst übernehmen, oder sie einfach nur auflösen.«

»Das ist nicht besonders hilfreich«, entgegnete ich. »Denn ich habe das starke Gefühl, dass sie uns töten würde, sobald sie uns sieht.«

»Das mag stimmen«, sagte er leise. »Ja. Aber ich glaube, dass Wulfe es auch kann. Er hat da ein paar Andeutungen fallen lassen.« Seine Stimme wurde kalt und klang überhaupt nicht mehr nach ihm selbst. »Und Wulfe schuldet mir genug, dass er meinen Wunsch nicht abschlagen könnte, selbst wenn Marsilia mich zum Feind der Siedhe erklärt hat.« Er entspannte sich wieder und schüttelte den Kopf. »Aber sobald die Verbindung zwischen uns aufgelöst wird, wärst du Blackwood gegenüber wieder verletzlich.«

Ich fand nicht, dass Wulfe eine bessere Lösung als Marsilia darstellte. Aber eigentlich hatte ich keine große Wahl, oder? Ich hatte Amber im Stich gelassen, bis ich mich erholt hatte, aber ich konnte sie nicht einfach wegen Blackwoods Launen sterben lassen.

Ich fragte mich, ob Zee sich immer noch schuldig genug fühlte, weil ich verletzt worden war, als ich versucht hatte, ihm zu helfen, um mir sein vom Feenvolk verzaubertes Messer und das Amulett zu leihen, das ich für die Vampirjagd verwendet hatte. Und vielleicht sogar noch einen magisch treffsicher gemachten Pflock.

Ich hatte niemals ernsthaft darüber nachgedacht, Marsilia umzubringen, um meine eigene Sicherheit zu gewährleisten. Erstens: Ich hatte die Siedhe besucht. Zweitens: Sie hatte zu viele Lakaien, die mich sofort danach umbringen würden.

Warum also glaubte ich, ich könne James Blackwood töten?

Ich wusste, wusste, dass der James Blackwood, den ich getroffen hatte, nicht das wahre Wesen des Vampirs gezeigt hatte. Aber ich hatte ihn getroffen, und allzu furchteinflößend war er nicht gewesen. Er hatte keine Lakaien. Und er benutzte Amber ohne ihre Erlaubnis oder ihr Wissen und verwandelte sie in seine Sklavin: eine Frau, die ihr Kind allein mit einem Geist und einer fast fremden Frau im Haus zurückließ. Ich konnte Amber nicht bei ihrem Geist helfen … vielleicht hatte ich sogar alles schlimmer gemacht. Aber bei ihrem Vampir konnte ich ihr helfen.

»In Ordnung«, sagte ich. »Ich …«, am nächsten Wort erstickte ich fast, »gehorche lieber dir, als auf ihn hören zu müssen.«

Stefan beobachtete mich für einen kurzen Moment. »In Ordnung«, stimmte er zu.

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Er fuhr auf einen Rastplatz. Dort stand eine Reihe von Sattelzügen für die Nacht, aber der Parkplatz für Autos war leer. Er schnallte sich ab und ging zwischen den Vordersitzen hindurch nach hinten. Ich folgte ihm langsam.

Er setzte sich auf die Bank hinten und klopfte auf den Platz neben sich. Als ich zögerte, sagte er: »Du musst das nicht tun. Ich werde dich nicht zwingen.«

Wenn ich nicht Stefan hatte, um seinen Einfluss zu überlagern, konnte mich Blackwood wahrscheinlich tun lassen, was auch immer er wollte. Ich hätte keine Möglichkeit, Amber zu helfen.

Falls mich Marsilia natürlich zuerst tötete, würde ich mir darum überhaupt keine Sorgen mehr machen müssen.

»Bringe ich Adam und sein Rudel dadurch noch mehr in Gefahr?«, fragte ich.

Stefan war so freundlich, darüber nachzudenken, obwohl ich seinen Eifer riechen konnte: Er roch wie ein Wolf, der einer heißen Spur zu einem Leckerbissen folgt. Ich fragte mich, ob er wohl wie ein Werwolf die Verfolgung aufnehmen würde, wenn ich davonlief?

Ich starrte ihn an und erinnerte mich bewusst daran, dass ich ihn schon lange Zeit kannte. Er hatte niemals etwas getan, was mich verletzt hatte. Das war Stefan, kein namenloser Jäger.

»Ich sehe nicht, wie«, meinte er dann. »Adam wird es nicht gefallen, da bin ich mir sicher. Denk an seine Reaktion, als ich dich aus Versehen gerufen habe. Aber er ist ein praktisch veranlagter Mann. Er weiß alles über verzweifelte Entscheidungen.«

Ich setzte mich neben ihn und war mir nur zu sehr der Kühle seines Körpers bewusst, noch kälter, hatte ich das Gefühl, als üblicherweise. Ich war froh, zu wissen, dass ihm das auch helfen würde. Ich war es wirklich, wirklich leid, all meinen Freunden nichts als Ärger einzubringen.

Er schob mir die Haare aus dem Nacken, doch ich stoppte seine Hand.

»Was ist mit dem Handgelenk?« Das letzte Mal hatte er mich ins Handgelenk gebissen.

Er schüttelte den Kopf. »Das tut mehr weh. Zu viele Nerven an der Oberfläche.« Dann schaute er mich durchdringend an. »Vertraust du mir?«

»Ich würde das hier nicht tun, wenn es anders wäre.«

»Okay. Ich werde dich ein wenig festhalten, denn wenn du zusammenzuckst, während ich noch an deinem Hals bin, könnte das dazu führen, dass ich das Falsche durchtrenne und du ausblutest.« Er übte keinen Druck aus, sondern saß nur auf der flauschigen Sitzbank, als könnte er den gesamten Rest meines Lebens dort bleiben.

»Wie?«

»Ich werde deine Arme über deinem Bauch falten müssen, und dann halte ich sie da fest.«

Ich hörte in mich hinein auf Panikreaktionen, aber Tim hatte mich nie auf diese Weise fixiert. Ich bemühte mich, nicht darüber nachzudenken, wie er mich nach unten gedrückt hatte, war dabei aber nur mäßig erfolgreich.

»Geh nach vorne«, sagte Stefan. »Der Schlüssel steckt im Schloss. Du wirst selbst nach Hause fahren müssen, weil ich nicht hierbleiben kann. Ich muss jetzt jagen. Ich werde …«

Ich schlang die Arme um mich und lehnte mich gegen ihn. »Okay. Tu es.«

Seine Arme glitten langsam um meine Schultern und über meinen rechten Arm. Als ich stillhielt, legte er die Arme so über mich, dass ich mich nicht befreien konnte.

»In Ordnung?«, fragte er ruhig, als ob sein Verlangen nicht dafür gesorgt hätte, dass seine Augen funkelten wie Diamanten. Im dunklen Van wirkten sie wie Weihnachtskerzen.

»In Ordnung«, antwortete ich.

Seine Zähne mussten rasiermesserscharf sein, weil ich nicht fühlte, wie sie meine Haut durchstießen. Ich fühlte nur die kühle Feuchte seines Mundes.

Wer nährt sich von meinem Tische?

Das Brüllen in meinem Kopf versetzte mich in Panik, was Stefans Biss nicht gelungen war. Aber ich hielt mich völlig still, wie eine Maus, die gerade die Katze sieht. Wenn man sich nicht bewegt, greift sie vielleicht nicht an.

Nach einer Weile vertiefte sich der Schmerz – und das inzwischen wortlose Grollen in meinem Kopf wurde gedämpfter. Mir wurde langsam kalt, als ob Stefan nicht nur Blut nähme, sondern auch meine gesamte Körperwärme. Dann bewegte sich sein Mund und er wusch die Wunde mit seiner Zunge.

»Wenn du in einen Spiegel sehen würdest, könntest du meine Male nicht sehen. Er wollte, dass du siehst, was er getan hat.«

Ich zitterte hilflos, und er hob mich auf seinen Schoß. Er war warm, sogar heiß an meiner kalten Haut. Er hob mich ein wenig an und zog ein Klappmesser aus der Hosentasche. Dann benutzte er das Messer, um sich das Handgelenk aufzuschneiden, auf die Art, wie man es bei einem Selbstmord tut, wenn man es richtig machen will.

»Ich dachte, das Handgelenk täte zu sehr weh?«, gelang es mir trotz meines schwerfälligen Denkens und zitternden Kiefers hervorzupressen.

»Bei dir. Trink, Mercy. Und halt die Klappe.« Ein leises Lächeln glitt über seine Lippen, dann lehnte er den Kopf so zurück, dass ich seinen Gesichtsausdruck nicht mehr sehen konnte.

Vielleicht hätte es mich mehr stören sollen. Vielleicht, wenn das hier eine normale Nacht gewesen wäre, hätte es das auch getan. Aber sinnlose Zimperlichkeit lag hinter mir. Ich hatte den Großteil meines Lebens als Kojote gejagt, und ich hatte niemals innegehalten, um das Essen zu kochen. Der Geschmack von Blut war für mich nichts Neues oder Schreckliches, nicht, wenn es Stefans Blut war – und er starb ja nicht gerade vor Schmerzen oder etwas in der Art.

Ich legte meine Lippen an sein Handgelenk und schloss sie über dem Schnitt. Stefan gab ein Geräusch von sich – es klang nicht nach Schmerz. Er legte seine freie Hand sanft auf meinen Kopf und zog sie dann wieder zurück, als wolle er mich nicht einmal dieses bisschen zwingen. Es war meine Entscheidung, mich selbsttätig zu nähren.

Sein Blut schmeckte nicht wie das einer Maus oder eines Hasen. Es war eher bitter – und irgendwie gleichzeitig viel süßer. Aber überwiegend war es heiß, kochend heiß, und mir war kalt. Ich trank, während der Schnitt unter meiner Zunge sich langsam schloss.

Und ich erinnerte mich an diesen Geschmack. Als würde man zweimal an einem Tag bei McDonalds dasselbe Menü bestellen. Ich hatte einen kurzen Erinnerungsflash, nur diesmal hörte ich Blackwoods Stimme in meinen Ohren.

Ich erinnerte mich nicht daran, was er gesagt oder getan hatte, aber dieses kurze Aufblitzen sorgte dafür, dass ich mich auf der Bank zusammenrollte, meine Stirn auf Stefans Oberschenkel, und weinte. Stefan zog sein Handgelenk zurück und benutzte die andere Hand, um mir leicht den Kopf zu streicheln.

»Mercy«, sagte er sanft. »Er wird das nicht nochmal tun. Jetzt nicht mehr. Du gehörst mir. Er kann dir nicht das Hirn vernebeln oder dich zu irgendetwas zwingen.«

Meine Stimme wurde von dem Stoff seiner Jeans gedämpft, als ich fragte: »Heißt das, dass du meine Gedanken lesen kannst?«

Er lachte kurz. »Nur während du trinkst. Das ist nicht meine Gabe. Deine Geheimnisse sind sicher.« Sein Lachen wischte Blackwoods Stimme aus meinem Gedächtnis.

Ich hob den Kopf. »Ich bin froh, dass ich mich nicht an mehr von dem erinnere, was er getan hat«, erklärte ich Stefan. Aber ich vermutete auch, dass mein Verlangen danach, Blackwoods Körper brennen zu sehen wie Andres, vielleicht einen persönlicheren Grund hatte als nur das, was er Amber antat.

»Wie fühlst du dich?«, fragte er.

Ich holte tief Luft und checkte mich einmal durch. »Wunderbar. Als könnte ich schneller von hier in die Tri-Cities laufen, als wir fahren können.«

Er lachte wieder. »Ich glaube nicht, dass das zutrifft. Außer wir haben einen Platten.«

Er stand auf und sah besser aus, als ich es gesehen hatte seit … seit der Zeit, bevor er bei mir auf dem Wohnzimmerboden gelandet war und ausgesehen hatte wie etwas, das seit hundert Jahren vergraben war. Ich stand auf, musste mich aber sofort wieder hinsetzen.

»Gleichgewicht«, meinte er. »Es ist ein wenig wie betrunken sein. Das wird schnell vergehen, aber ich fahre uns besser nach Hause.«

Ich hätte mich schrecklich fühlen sollen. Eine kleine Stimme in meinem Kopf jammerte, dass ich meinen Alpha hätte fragen müssen, bevor ich etwas so … Endgültiges tat.

Aber ich fühlte mich gut, besser als gut – und es war nicht nur das Vampirblut. Ich fühlte mich zum ersten Mal seit Tims Angriff so, als hätte ich mein Leben wieder absolut unter Kontrolle. Was unter den gegebenen Umständen ziemlich seltsam war.

Aber ich hatte die Entscheidung getroffen, mich unter Stefans Kontrolle zu begeben.

»Stefan?« Ich beobachtete die Rücklichter, die auf der Straße an uns vorbeiglitten.

»Hmmm.«

»Hat irgendwer mit dir über das gesprochen, was man auf die Tür zu meiner Werkstatt gemalt hat?« Ich hatte immer wieder vergessen, ihn danach zu fragen – obwohl spätere Ereignisse es um einiges deutlicher gemacht hatten, dass es irgendeine Art Drohung von Marsilia gewesen war.

»Niemand hat mir irgendwas gesagt. Aber ich habe es selbst gesehen.« Scheinwerfer spiegelten sich rot in seinen Augen. Wie der Blitz einer Kamera, nur unheimlicher. Mich brachte es zum Lächeln.

»Marsilia hat es machen lassen?«

»Fast sicher.«

Ich hätte es damit gut sein lassen können. Aber wir mussten Zeit totschlagen, und in meinem Kopf hörte ich Brans Stimme, die sagte: »Wissen ist wichtig, Mercy. Finde alles heraus, was du kannst.«

»Was genau bedeutet es?«

»Es ist das Zeichen für einen Verräter. Es bedeutet, dass eine der Unseren uns verraten hat, und dass sie und alle, die zu ihr gehören, Freiwild sind. Eine Kriegserklärung.«

Das war nicht mehr, als ich erwartet hatte. »Es enthält irgendeine Form von Magie. Was tut sie?«

»Hält dich für längere Zeit davon ab, es zu übermalen«, erklärte er. »Und wenn es länger dort bleibt, werden sich auch üble Subjekte sammeln, die nicht mit Vampiren in Verbindung stehen.«

»Wunderbar.«

»Du könntest die Tür austauschen lassen.«

»Yeah«, meinte ich bedrückt. Vielleicht würde die Versicherung sie austauschen lassen, wenn ich ihnen erklärte, dass die Knochen nicht übermalt werden konnten, aber viel Hoffnung machte ich mir da nicht.

Wir fuhren für eine Weile schweigend weiter, und ich ging gedanklich noch einmal die letzten paar Tage durch, in dem Versuch, herauszufinden, ob da etwas war, was ich übersehen hatte, oder etwas, was ich hätte anders machen sollen.

»Hey, Stefan? Wie kommt es, dass ich Blackwood nicht riechen konnte, nachdem er mich gebissen hatte? Heute Nacht war ich ein wenig abgelenkt, aber gestern, beim ersten Biss, da habe ich versucht, ihn zu wittern.«

»Er muss in dem Moment, wo er dich gebissen hat, gewusst haben, was du bist.« Stefan streckte sich und der Van schwankte leicht von seiner Bewegung. »Ich weiß nicht, ob er es getan hat, um dich glauben zu lassen, er wäre menschlich, oder ob er immer auf diese Art hinter sich aufräumt. Es gab Dinge im Land unserer Vorfahren, die uns über ihren Geruchssinn jagten – nicht nur Werwölfe – oder mithilfe von Dingen, die wir zurückließen. Haare, Speichel, oder Blut. Viele der älteren Vampire entfernen immer jede Spur von sich aus ihrer Heimstatt und aus ihrem Jagdgebiet.«

Ich hatte fast vergessen, dass sie das konnten.

Ich wachte davon auf, dass das Motorengeräusch sich veränderte, weil wir für den Stadtverkehr langsamer wurden.

»Willst du zu dir nach Hause oder zu Adam?«, fragte Stefan.

Gute Frage. Obwohl ich mir ziemlich sicher war, dass Adam verstehen würde, was ich getan hatte, war ich trotzdem nicht gerade scharf drauf, es mit ihm zu diskutieren. Und ich war zu müde, um genau darüber nachzudenken, was ich erzählen wollte und was ich lieber ausließ – und wie ich Blackwood töten würde. Ich wollte mit Zee reden, bevor ich mit Adam sprach, und ich wollte erst Mal ausgiebig schlafen, bevor ich mit irgendwem sprach.

»Zu mir.«

Ich war wieder eingedöst, als der Van plötzlich anhielt. Ich schaute auf und sah warum: In der Mitte der Straße stand eine Frau und schaute nach unten, als hätte sie etwas verloren.

»Kennst du sie?« Wir waren in meiner Straße, nur ein paar Grundstücke von meinem Haus entfernt, also war Stefans Frage logisch.

»Nein.«

Er hielt ungefähr zwölf Meter vor ihr an, und endlich sah sie auf. Das Brummen des Motors verstummte. Stefan warf einen Blick hinter sich, dann öffnete er die Tür und stieg aus.

Ärger.

Ich zog mir die Kleider aus, schob die Tür auf und verwandelte mich, als ich heraussprang. Ein Kojote ist vielleicht nicht groß, aber er hat Reißzähne und erstaunlich effektive Krallen. Ich glitt unter den Van und dann unter der vorderen Stoßstange hinaus, wo Stefan sich an die Motorhaube lehnte, die Arme entspannt über der Brust verschränkt.

Das Mädchen war nicht länger allein. Drei Vampire standen neben ihr. Die ersten zwei hatte ich schon früher gesehen, obwohl ich ihre Namen nicht kannte. Die dritte war Estelle.

In Marsilias Siedhe hatte es mal fünf Vampire gegeben, die einen Grad von Macht erreicht hatten, in dem sie für ihr Überleben nicht von der Herrin der Siedhe abhängig waren: Stefan; Andre, den ich getötet hatte; Wulfe, der total unheimliche Hexer im Körper eines Jungen; Bernard, der mich an einen Kaufmann in einem Dickens-Roman erinnerte; und Estelle, die Mary Poppins der Untoten. Ich hatte noch nie gesehen, dass sie nicht gekleidet war wie eine edwardianische Gouvernante, und heute Abend war keine Ausnahme.

Als hätte er darauf gewartet, dass ich an seiner Seite erschien, schaute Stefan kurz zu mir runter, dann sagte er: »Estelle, wie schön, dich zu sehen.«

»Ich hatte gehört, dass sie dich nicht zerstört hat«, verkündete Estelle in ihrer förmlichen englischen Art. »Sie hat dich gefoltert, ausgehungert, verbannt – und dich dann ausgeschickt, um deine kleine Kojotenhündin zu töten.«

Stefan streckte die Hände aus, als wolle er sein lebendes … untotes Fleisch präsentieren. »Es ist, wie du gehört hast.« In seiner Stimme lag ein musikalischer Ton, und er klang italienischer als sonst.

»Dennoch bist du hier, mit der Hündin.«

Ich knurrte sie an und hörte Stefans Lächeln in seiner Antwort. »Ich glaube nicht, dass sie gern als Hündin bezeichnet wird.«

»Marsilia ist verrückt. Sie war verrückt, seit sie vor zwölf Jahren erwacht ist, und die Zeit hat es nicht besser gemacht.« Estelles Stimme wurde weicher und sie trat einen Schritt nach vorne. »Wenn sie nicht verrückt wäre, hätte sie dich niemals gefoltert – dich, ihren Liebling.«

Sie wartete offensichtlich auf eine Antwort von Stefan, die aber nicht kam. »Ich habe dir einen Vorschlag zu machen«, erklärte sie ihm. »Schließ dich mir an, und wir erlösen Marsilia von ihrem Leid – du weißt, dass sie dich dazu gedrängt hätte, wenn sie wüsste, zu was sie geworden ist. Sie wird uns mit ihrer Besessenheit, nach Italien zurückzukehren, noch alle umbringen. Dies ist unser Heim – unsere Siedhe verneigt sich vor keiner anderen. Italien hat nichts, was es uns geben kann.«

»Nein«, sagte Stefan. »Ich werde mich nicht gegen die Herrin wenden.«

»Sie ist nicht länger deine Herrin«, zischte Estelle. Sie schritt nach vorne, bis sie sich an Stefans Bein schmiegte. »Sie hat dich gefoltert – ich habe gesehen, was sie getan hat. Dich, der du sie liebst – sie hat dich hungern lassen und dir die Haut vom Körper gepeitscht. Wie kannst du sie jetzt noch unterstützen?«

Stefan antwortete nicht.

Und ich wusste mit absoluter Sicherheit, dass ich Recht damit hatte, darauf zu vertrauen, dass er mich beschützen und nicht in einen geistlosen Sklaven verwandeln würde. Stefan wandte sich nicht gegen diejenigen, die er liebte. Egal, was passierte.

Stefan stieß sich von der Motorhaube ab und spuckte betont deutlich auf den Boden.

Estelle verspannte sich, wutentbrannt wegen der Beleidigung, und er lächelte grimmig. »Tu es«, sagte er – und hielt plötzlich, mit einem Schütteln des Handgelenks und der Magie einer Highlander-Folge, ein Schwert in der Hand. Es sah eher effizient aus als schön: tödlich.

»Soldat, das wirst du bereuen«, sagte Estelle.

»Ich bereue vieles«, antwortete er, seine Stimme jetzt scharf und erfüllt von einer kalten, wogenden Wut. »Dass ich dich heute Abend gehen lasse, mag bald auch dazugehören. Vielleicht sollte ich es nicht tun.«

»Soldat«, entgegnete sie. »Erinnere dich daran, wer dich betrogen hat. Du weißt, wie du mich erreichen kannst – warte nicht, bis es zu spät ist.«

Die Vampire verschwanden mit unnatürlicher Schnelligkeit und ihr menschlicher Köder lief hinter ihnen her. Stefan wartete mit dem Schwert in der Hand, während ein Auto ansprang und die Scheinwerfer an einem schwarzen Mercedes der Siedhe aufleuchteten. Er brauste an uns vorbei und verschwand in der Nacht.

Er schaute sich um, dann fragte er mich: »Riechst du irgendetwas, Mercy?«

Ich testete die Luft, aber außer Stefan waren alle Vampire verschwunden … oder im Windschatten. Ich schüttelte den Kopf und trottete zurück zum Van. Stefan, ganz der Gentleman, der er einst gewesen war, blieb draußen, bis ich angezogen war.

»Das war interessant«, sagte ich, als er einstieg und den Gang einlegte.

»Sie ist ein Narr.«

»Marsilia?«

Stefan schüttelte den Kopf. »Estelle. Sie ist Marsilia nicht gewachsen. Bernard … er ist zäher und stärker, obwohl er jünger ist. Zusammen könnten sie vielleicht etwas erreichen, aber auf jeden Fall ohne mich.«

»Es klang nicht, als würden sie zusammenarbeiten«, meinte ich.

»Sie werden zusammenarbeiten, bis sie ihre Ziele erreicht haben, und es dann auskämpfen. Aber sie sind Narren, wenn sie wirklich denken, dass sie überhaupt an diesen Punkt kommen werden. Sie haben vergessen, oder niemals gewusst, was Marsilia sein kann.«

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Er fuhr in meine Einfahrt und wir beide stiegen aus dem Van.

»Wenn du mich brauchst, wenn du wieder hörst, dass Blackwood dich ruft – denk einfach meinen Namen, während du dir wünschst, ich wäre an deiner Seite, und ich werde kommen.« Er blickte grimmig. Ich hoffte, weil er an die Begegnung mit Estelle dachte, und nicht, weil er sich um mich Sorgen machte.

»Danke.«

Er strich mir mit dem Daumen über die Wange. »Warte noch eine Weile, bevor du mir dankst. Du änderst deine Meinung vielleicht noch.«

Ich tätschelte seinen Arm. »Die Entscheidung ist gefallen.«

Er verbeugte sich leicht und verschwand.

»Das ist ja so cool«, sprach ich in die leere Luft. Plötzlich war ich so müde, dass ich kaum die Augen offen halten konnte. Ich ging nach drinnen und packte mich ins Bett.