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5

Tolles Date«, murmelte Adam. Es war egal, wie leise er war; wir wussten beide, dass ein Großteil des Rudels im Haus war und jedem Wort lauschte, das wir auf der hinteren Veranda sprachen.

»Niemand könnte dich je beschuldigen, langweilig zu sein«, meinte ich unbeschwert.

Er lachte, aber seine Augen blieben ernst. Er hatte sich in der Toilette von Onkel Mike’s noch sauber gemacht und sich etwas anderes angezogen, sobald wir zurück beim Haus gewesen waren. Aber ich konnte immer noch das Blut an ihm riechen.

»Du musst nach Mary Jo schauen«, sagte ich zu ihm. »Ich muss ins Bett.« Ich ging davon aus, dass sie überleben würde. Aber sie würde besser überleben, wenn ich zu Hause war und das Rudel nicht störte, das sie dazu zwang, um ihr Leben zu kämpfen.

Er umarmte mich dafür, dass ich all das nicht laut aussprach. Er hob mich auf die Zehenspitzen – die jetzt in einem Paar von Jesses Flip-Flops steckten – und setzte mich wieder ab. »Säubere dir erst die Füße, damit keiner dieser Schnitte sich entzündet. Ich werde Ben rüberschicken, um dein Haus zu bewachen, bis Samuel mit Mary Jos Zustand zufrieden ist und nach Hause geht.«

Adam beobachtete mich von der Veranda aus, als ich nach Hause ging. Ich war noch nicht auf der Hälfte der Strecke, als Ben mich einholte. Ich lud ihn ins Haus ein, aber er schüttelte den Kopf.

»Ich bleibe draußen«, sagte er. »Die Nachtluft hält mich wach.«

Ich schrubbte meine Füße und trocknete sie ab, dann ging ich ins Bett. Ich war eingeschlafen, bevor mein Kopf das Kissen berührte. Aber ich wachte auf, als es noch dunkel war, weil ich wusste, dass jemand bei mir im Zimmer war. Obwohl ich genau lauschte, konnte ich niemanden hören – also war ich ziemlich sicher, dass es Stefan war.

Ich machte mir keine Sorgen. Die Vampire – abgesehen von Stefan – hätten meine Türschwelle nicht übertreten können. Und so gut wie jeder andere hätte Samuel geweckt.

Die Luft verriet mir nichts, was seltsam war – selbst Stefan hatte einen Geruch. Unruhig rollte ich mich auf die Seite und direkt auf den Wanderstab, der es sich angewöhnt hatte, jede Nacht bei mir zu schlafen. Meistens verursachte es mir Gänsehaut, wenn er das tat – Wanderstäbe sollten sich nicht von allein bewegen können. Aber heute Nacht beruhigte mich das warme Holz. Ich schloss die Hand darum.

»Es gibt keinen Anlass für Gewalttätigkeiten, Mercy.«

Ich musste erschrocken sein, weil ich mit dem Stock in der Hand auf den Füßen war, bevor ich verstand, wessen Stimme ich gehört hatte.

»Bran?«

Und plötzlich konnte ich ihn riechen. Minze und Moschus, was von Werwolf sprach, vereint mit einer besonderen süßen Salzigkeit, die sein eigener Geruch war.

»Hast du nichts Wichtigeres zu tun?«, fragte ich ihn und schaltete das Licht an. »Wie die Welt zu regieren oder irgendwas?«

Er bewegte sich nicht von seinem Platz auf dem Boden weg, wo er an der Wand lehnte. Er hob nur einen Unterarm vor die Augen, als Licht den Raum erhellte. »Ich war letztes Wochenende da«, sagte er. »Aber du hast geschlafen, und ich wollte nicht zulassen, dass sie dich wecken.«

Ich hatte es vergessen. In der ganzen Aufregung um Baba Yaga, Mary Jo, den Schnee-Elf und die Vampire hatte ich vergessen, warum er mich persönlich besuchen würde. Plötzlich machte mich der Arm, mit dem er seine Augen bedeckte, misstrauisch.

Dass Alphas in Bezug auf ihr Rudel einen starken Beschützerinstinkt haben, ist noch untertrieben – und Bran war der Marrok, der größte Alpha-Wolf überhaupt. Ich mochte ja momentan zu Adams Rudel gehören, aber Bran hatte mich aufgezogen.

»Ich habe schon mit Mom drüber geredet«, erklärte ich verteidigend.

Und Bran grinste breit und ließ den Arm sinken, sodass ich seine haselnussbraunen Augen sehen konnte, die in dem künstlichen Licht fast grün wirkten. »Darauf wette ich. Und sind mein Samuel und Adam überbesorgt und machen dir das Leben schwer?« Seine Stimme war voll (falschem) Mitgefühl.

Bran kann besser verbergen, was er ist, als jeder andere, den ich kenne, inklusive des Feenvolks. Er sieht aus wie ein Teenager – er hatte einen Riss in seinen Jeans, direkt über dem Knie, und irgendjemand mit Sinn für Ironie hatte einen Marker benutzt, um das Anarchie-Symbol auf seine Hüfte zu malen. Sein Haar war verwuschelt. Er war absolut dazu fähig, mit einem unschuldigen Lächeln irgendwo zu sitzen – und dann jemandem den Kopf abzureißen.

»Du schaust so böse«, sagte er. »Ist es so seltsam, dass ich hier bin?«

Ich ließ mich mitten auf dem Boden nieder. Es ist unangenehm für mich, längere Zeit mit Bran in einem Raum zu sein, wenn mein Kopf höher ist als seiner. Ein Teil davon ist Gewohnheit, und ein Teil ist die Magie, die Bran zum Anführer aller Wölfe macht.

»Hat dich jemand angerufen, weil Adam mich ins Rudel geholt hat?«, fragte ich.

Dieses Mal lachte Bran. Seine Schultern zuckten und ich konnte sehen, wie müde er war.

»Ich bin froh, dass ich dich amüsieren kann«, meinte ich schlechtgelaunt.

Hinter mir öffnete sich die Tür und Samuel meinte fröhlich: »Ist das eine Privatparty oder kann jeder mitmachen?«

Wie cool war das? Mit einem Satz, eigentlich einem Wort (Party), hatte Samuel seinem Vater mitgeteilt, dass wir nicht über Tim reden würden, oder darüber, warum ich ihn umgebracht hatte, und dass es mir gutgehen würde. Samuel war gut in solchen Dingen.

»Komm rein«, sagte ich. »Wie geht es Mary Jo?«

Samuel seufzte. »Ja, lass es mich dir lieber jetzt sagen. Wenn ich tot bin, und einer vom Feenvolk bietet an, mich zu heilen – ich würde es vorziehen, wenn ihr nein sagt.« Er schaute zu mir. »Ich glaube, dass sie irgendwann in Ordnung kommen wird. Aber sie ist momentan nicht besonders glücklich. Sie ist verstört und so sehr im Schock, wie ich es noch nie vorher bei einem Wolf gesehen habe. Zumindest weint sie nicht mehr. Adam hat sie schließlich dazu gezwungen, sich zu verwandeln, und das hat ziemlich geholfen. Sie schläft mit Paul, Alec, Honey, und ein paar anderen auf diesem Monstrum von Couch, das Adam in seinem Fernsehzimmer im Keller hat.«

Er warf seinem Vater einen scharfen Blick zu, dann setzte er sich auf den Boden neben mir – und das war auch eine Botschaft. Er befand sich nicht zwischen Bran und mir, nicht wirklich. Aber er hätte sich auch neben Bran setzen können. »Also, was bringt dich her?«

Bran lächelte ihn an. Er hatte die Botschaft verstanden, die Samuel ihm vermitteln wollte. »Du musst sie nicht vor mir beschützen«, sagte er leise. »Wir haben alle gesehen, dass sie sich ziemlich gut selbst beschützen kann.«

Bei den Wölfen läuft in einer Unterhaltung immer mehr ab als nur die reinen Worte. Zum Beispiel hatte Bran mir gerade mitgeteilt, dass er das Video von der Sicherheitskamera gesehen hatte, das zeigte, wie ich Tim getötet hatte … und auch alles andere. Und dass er meine Handlungen guthieß.

Das hätte mich nicht so freuen sollen; ich war kein Kind mehr. Aber Brans Meinung bedeutete mir eine Menge.

»Und ja«, sagte er nach einer Weile zu mir, »jemand hat mich angerufen, weil Adam dich ins Rudel geholt hat. Jede Menge Jemande. Lass mich dir die Antworten auf die Fragen geben, die mir gestellt wurden, und du kannst sie an Adam weiterleiten. Nein. Ich hatte keine Ahnung, dass es möglich ist, jemanden ins Rudel zu holen, der kein Werwolf ist. Besonders nicht dich, wo deine Magie zu unvorhersehbar sein kann. Nein. Einmal geschehen, können nur Adam oder du diese Bindung brechen. Wenn du willst, dass ich dir zeige, wie es geht, werde ich es tun.« Er hielt inne.

Ich schüttelte den Kopf … dann schränkte ich das Nein ein wenig ein. »Noch nicht.«

Bran warf mir einen amüsierten Blick zu. »Gut. Frag einfach. Und nein, ich bin nicht verrückt. Adam ist der Alpha seines Rudels. Ich sehe nicht, wie irgendwer dadurch geschädigt wurde.« Dann grinste er, eines der seltenen Lächeln, wo er nicht schauspielerte, sondern ehrlich amüsiert war. »Außer vielleicht Adam. Zumindest hat er keinen Porsche, den du um einen Baum wickeln kannst.«

»Das ist schon lange her«, sagte ich hitzig. »Ich habe dafür gezahlt. Und nachdem du mich quasi herausgefordert hast, ihn zu stehlen, verstehe ich nicht, warum du so wütend darüber warst.«

»Dir zu sagen, dass du ihn nicht stehlen sollst, war keine Herausforderung, Mercy«, erklärte Bran geduldig. Aber in seiner Stimme lag ein komischer Unterton.

Log er?

»Doch, war es. Und sie hat Recht – du wusstest es.«

»Also hattest du überhaupt keinen Grund, wütend zu sein, als ich das Auto zu Schrott gefahren habe«, verkündete ich triumphierend.

Samuel lachte laut. »Du hast es immer noch nicht verstanden, oder, Mercy? Er war niemals wütend wegen des Autos. Er war der Erste an der Unfallstelle. Er dachte, du hättest dich umgebracht. Das dachten wir alle. Das war ein ziemlich spektakulärer Unfall.«

Ich setzte dazu an, etwas zu sagen, und stellte fest, dass ich nicht konnte. Das Erste, was ich gesehen hatte, nachdem ich den Baum gerammt hatte, war das Gesicht des Marrok mit gefletschten Zähnen gewesen. Ich hatte ihn noch niemals so wütend gesehen – und ich hatte, immer mal wieder, eine Menge angestellt, um ihn wütend zu machen.

Samuel tätschelte mir den Rücken. »Es passiert nicht oft, dass man dich mal sprachlos sieht.«

»Also hast du Charles dazu gebracht, mir beizubringen, wie man Autos repariert und wie man sie fährt.« Charles war Brans älterer Sohn. Er hasste es, zu fahren, und bis zu diesem Sommer hatte ich gedacht, er könnte es nicht. Ich hätte es besser wissen müssen – Charles kann alles. Und was auch immer er tat, er machte es gut. Das ist nur einer der Gründe dafür, warum Charles mir – und so gut wie jedem anderen – Angst macht.

»Hat dich den gesamten Sommer beschäftigt gehalten, und damit brav«, meinte Bran selbstzufrieden.

Er neckte mich … aber er war gleichzeitig ernst. Eine der seltsamsten Sachen am Erwachsenwerden ist, dass man auf Dinge zurückblickt, von denen man dachte, man wüsste sie, und herausfinden muss, dass die Wahrheit völlig anders ist als das, was man immer geglaubt hatte.

Das gab mir den Mut für meinen nächsten Schritt.

»Ich brauche einen Rat«, sagte ich zu ihm.

»Sicher«, antwortete er locker.

Ich holte tief Luft und fing damit an, dass ich Marsilias beste Hoffnung, je nach Italien zurückzukehren, getötet hatte, sprang zu Stefans Erscheinen in meinem Wohnzimmer und dem unerwarteten Auftauchen der Nemesis meiner College-Tage, und beendete die gesamte Erzählung mit dem Abenteuer in Onkel Mike’s und der kleinen Tasche, die nach Vampir und Magie gerochen hatte. Ich erzählte ihm von Mary Jo und meiner Angst, dass es einen Krieg auslösen würde, wenn ich Adam von der Tasche erzählte.

»Ich werde mal vorbeischauen und sehen, ob ich Mary Jo helfen kann«, sagte Bran, nachdem ich fertig war. »Ich kenne ein paar Tricks.«

Samuel sah erleichtert aus. »Gut.«

»Also«, erklärte ich Bran, »es ist mein Fehler. Ich habe beschlossen, Andre zu jagen. Aber Marsilia greift nicht mich an.«

»Du hast von Vampiren erwartet, dass sie direkt vorgehen?« , fragte Bran.

Wahrscheinlich hatte ich das. »Amber gibt mir einen Grund, für eine Weile die Stadt zu verlassen. Ohne mich in der Gegend lässt Marsilia vielleicht alle anderen in Ruhe.« Und es würde mir genügend Zeit verschaffen, um über eine angemessene Reaktion nachzudenken. Ein oder zwei Tage, um etwas zu finden, was nicht zu noch mehr Toten führen würde.

»Und es gibt mir und Adam die Chance, eine angemessene Antwort zu organisieren«, knurrte Samuel.

Ich setzte zu Protest an … aber sie hatten das Recht, in die Offensive zu gehen. Das Recht, den Vampiren zu zeigen, dass auch sie Zielscheiben werden konnten.

Solange Mary Jo überlebte, würde Adam keinen Krieg mit Marsilia anfangen. Und wenn Mary Jo nicht überlebte … Vielleicht war Marsilia verrückt. Ich hatte diese Art von Wahnsinn im Rudel des Marrok gesehen, wohin die ältesten Wölfe kamen, um zu sterben.

»Wenn du gehst, wird Marsilia das als Sieg sehen«, meinte Bran. »Ich kenne sie nicht gut genug, um zu wissen, ob dir das letztendlich helfen oder schaden wird. Ich glaube allerdings, dass es keine schlechte Idee ist, für ein paar Tage von hier zu verschwinden.«

Mir fiel auf, dass er nicht sagte, dass das Marsilia auch davon abhalten würde, meine Freunde weiter ins Visier zu nehmen. Ich war mir ziemlich sicher, dass Onkel Mike sich zusammenreimen würde, dass die Vampire seine Bar benutzt hatten, um die Wölfe anzugreifen – und wenn ich davon ausging, würde sicher auch Marsilia damit rechnen. Sie musste verdammt sauer sein, wenn sie bereit war, Onkel Mike zu verärgern und Adam wütend zu machen, nur um an mich ranzukommen.

Ich hätte gewettet, dass sie warten würde, wenn ich ging, weil sie wollte, dass ich Zeugin der Schmerzen war, die sie über meinen Freunden heraufbeschwor. Aber ich war mir nicht sicher. Trotzdem, schaden konnte es nicht.

»Das Problem ist … irgendetwas stimmt nicht mit Ambers Angebot. Oder vielleicht, nach Tim …« Ich schluckte. »Ich habe Angst, zu gehen.«

Bran musterte mich mit scharfen gelben Augen und dachte nach. »Angst ist eine gute Sache«, sagte er schließlich. »Sie bringt dir bei, denselben Fehler nicht zweimal zu machen. Man sollte ihr mit Wissen begegnen. Wovor hast du Angst?«

»Ich weiß es nicht.« Was nicht die richtige Antwort war.

»Bauchprüfung«, meinte Bran. »Was sagt dir dein Bauchgefühl?«

»Ich glaube, dass es vielleicht wieder die Vampire sind. Stefan landet in meinem Schoß und erschreckt mich – und schau, hier ist ein Ausweg. Vom Regen in die Traufe.«

Samuel schüttelte bereits den Kopf. »Marsilia wird dich nicht nach Spokane schicken, um dich unter unserer schützenden Hand rauszuholen, bevor sie sich um dich kümmert. Das wäre zwar keine schlechte Idee, aber sie würde dich vielleicht nach Seattle schicken, da hat sie ein paar Verbündete. Aber in Spokane gibt es nur einen Vampir, und der erlaubt keine Besucher. Es gibt keine Rudel, kein Feenvolk, nichts außer ein paar machtlosen Kreaturen, die darauf achten, nicht aufzufallen.«

Ich fühlte, wie meine Augen sich weiteten. Spokane war eine Stadt mit fast einer halben Million Einwohner. »Das ist ein ziemlich großes Territorium für einen einzelnen Vampir.«

»Nicht für diesen einzelnen Vampir«, sagte Samuel, und gleichzeitig sagte Bran: »Nicht für Blackwood.«

»Also«, meinte ich langsam. »Was wird dieser Vampir tun, wenn ich für ein paar Tage in Spokane bin?«

»Woher sollte er es wissen?«, fragte Bran. »Du riechst wie ein Kojote. Aber ein Kojote riecht für jemanden, der nicht im Wald jagt – und ich versichere dir, das tut Blackwood nicht –, ziemlich ähnlich wie ein Hund, und die meisten Hundebesitzer riechen wie ihr Tier. Ich würde nicht wollen, dass du nach Spokane umziehst, aber ein paar Tage oder Wochen werden dich nicht in Gefahr bringen.«

»Also denkst du, dass es eine gute Idee ist, wenn ich gehe?«

Bran hob seine Hüfte und zog sein Handy aus der hinteren Hosentasche.

»Machst du sie so nicht kaputt?«, fragte ich. »Ich habe ein paar Telefone kaputtgemacht, indem ich mich draufgesetzt habe.«

Er lächelte nur und sagte ins Handy: »Charles, ich würde dich bitten, dass du etwas über eine Amber …?« Er schaute zu mir und zog eine Augenbraue hoch.

»Entschuldige, dass wir dich aufwecken, Charles. Chamberlain war ihr Mädchenname«, erklärte ich Samuels Bruder entschuldigend. »Ich weiß nicht, wie sie seit ihrer Ehe heißt.« Charles würde mich genauso deutlich hören wie ich ihn. Für Privatgespräche mit Werwölfen brauchte man Headsets, nicht einfach nur das Telefon.

»Amber Chamberlain«, wiederholte Charles. »Das sollte es auf ungefähr hundert Leute eingrenzen.«

»Sie lebt in Spokane«, fügte ich hinzu. »Ich bin mit ihr aufs College gegangen.«

»Das hilft«, erklärte er knapp. »Ich werde mich melden.«

»Bewaffne dich mit Wissen«, sagte Bran, als er auflegte. »Aber ich sehe nicht, warum du nicht gehen solltest.«

»Nimm eine Versicherung mit.«

»Es ist Stefan«, schrie ich. Bevor das letzte Wort meinen Mund verlassen hatte, hatte Bran Stefan bereits an der gegenüberliegenden Wand festgenagelt.

»Dad.« Samuel war auch auf den Füßen und hatte eine Hand auf die Schulter seines Vaters gelegt. Er versuchte nicht, Brans Hände von Stefans Hals zu lösen – das wäre dämlich gewesen. »Dad. Es ist in Ordnung. Das ist Stefan, Mercys Freund.«

Nach ein paar sehr langen Sekunden trat Bran zurück und löste seinen Griff. Der Vampir hatte nicht versucht, sich zu verteidigen, was gut war.

Vampire sind zäh, vielleicht sogar zäher als Wölfe, weil sie schon tot sind. Stefan war einer von Marsilias Leutnants gewesen, auch in sich selbst mächtig. Als er noch lebte, war er ein Söldner … und das war im Italien der Renaissance.

Aber Bran ist Bran.

»Das war dumm«, sagte Samuel zu Stefan. »Welchen Teil von ›Schleich dich nie an einen Werwolf an‹ verstehst du nicht?«

Der Stefan, den ich kannte, hätte sich jetzt elegant verbeugt und seine Entschuldigung mit einem humorvollen Unterton präsentiert. Dieser Stefan nickte nur knapp. »Ich habe hier kein Ziel. Es ist eine gute Idee, Mercy aus der Schusslinie zu bringen – sie ist die Schwächste. Schickt mich mit ihr nach Spokane, damit ich sie beschütze.« Er klang fast begierig … und ich fragte mich, was er getan hatte, seitdem er bei Adam verschwunden war. Was gab es für ihn zu tun? Vielleicht war ich nicht die Einzige, die versuchte, etwas zu tun zu finden, was nicht mich und alle, die mir etwas bedeuteten, umbringen würde.

Trotzdem, ich konnte ihn nicht damit durchkommen lassen, mich so zu nennen … »Schwach?«, sagte ich.

Samuel drehte sich mit einem Knurren zu Stefan um. »Dämlicher Vampir. Mein Vater hatte sie fast so weit, zu gehen, und du hast es versaut.«

Ich lachte. Ich konnte nicht anders. Ich hatte gehofft, dass der Trip nach Spokane meine Freunde schützen würde, und sie hofften, dass mein Trip nach Spokane mich in Sicherheit brachte. Vielleicht hatten wir ja beide Recht.

Brans Telefon klingelte, und wir alle hörten Charles zu, der uns erzählte, dass Amber mit Corban Wharton verheiratet war, einem ansatzweise erfolgreichen Firmenanwalt, der zehn Jahre älter war als sie. Sie hatten einen achtjährigen Sohn mit irgendeiner Art von Behinderung, die in verschiedenen Zeitungsartikeln angedeutet, aber nicht wirklich genannt wurde. Er betete ein oder zwei Adressen, mehrere Handynummern und Telefonnummern herunter … und auch Sozialversicherungsnummern und die neuesten Steuererklärungen, sowohl privat als auch geschäftlich. Für einen alten Wolf weiß Charles wirklich, wie man einen Computer Männchen machen lässt.

»Danke«, sagte Bran.

»Kann ich jetzt wieder schlafengehen?«, meinte Charles, aber er wartete nicht auf die Antwort, sondern beendete einfach die Verbindung.

Ich schaute zu Samuel. »Es wird euer Leben einfacher machen, wenn ich gehe.«

Er nickte. »Uns selbst können wir beschützen … aber du bist zu verletzlich. Und wenn du nicht hier bist, wenn Marsilia nicht weiß, wo du bist, können wir an den Verhandlungstisch treten.«

Bran musterte Stefan. »Ein Vampir könnte in Spokane zu viel Aufmerksamkeit erregen.«

Stefan zuckte mit den Achseln. »Ich habe durchaus Fähigkeiten. Ich war schon eine Viertelstunde in diesem Raum, und keiner hier hat mich bemerkt. Wenn ich mich gut nähre, wird niemand wissen, was ich bin.«

»Für mich riechst du immer wie ein Vampir«, erklärte ich ihm. Vampir und Popcorn. Die gute, gebutterte Variante. Nein, ich weiß nicht, warum. Ich habe ihn das Zeug niemals essen sehen – ich weiß nicht mal, ob Vampire das können.

Er hob die Hände. »Dann eben niemand, der nicht Mercys Nase hat. Wenn ich in einem Raum mit dem Monster bin, dann wird er es vielleicht bemerken. Sonst wird er niemals erfahren, dass ich da war. Ich habe das schon früher getan.«

»Das Monster?«

»James Blackwood.«

Vampire verleihen den Mächtigeren unter ihnen manchmal Titel. Stefan war Der Soldat, weil er ein Söldner war. Wulfe war Der Hexer … und ich wusste, dass er Magie wirken konnte. Ich beschloss, mich von einem Vampir fernzuhalten, den die anderen Vampire Das Monster nannten.

»Und da ist noch was«, meinte Stefan. »Ich kann von einem Ort an einen anderen springen – und ich kann Mercy mitnehmen.«

»Wie weit?«, fragte Bran mit gespannter Aufmerksamkeit.

Stefan zuckte mit den Achseln … und löste die Bewegung nie ganz auf, als wäre es einfach zu viel Mühe. »Überall hin. Aber eine andere Person mitzunehmen hat auch seinen Preis. Ich werde im Anschluss daran für einen Tag völlig nutzlos sein.« Er schaute mich an. »Ich habe die Adresse.« Er würde mitgehört haben, als Charles sie uns anderen gab. »Ich kann heute dorthin springen und einen sicheren Platz finden, an dem ich den Tag verbringen kann.«

Bran hob eine fragende Augenbraue in meine Richtung.

»Ich werde Amber morgen früh anrufen«, sagte ich. Es fühlte sich an, als würde ich weglaufen, aber Bran schien der Meinung zu sein, dass es das Richtige war.

Stefan schenkte mir eine perfekte Verbeugung und verschwand, noch bevor er sich aufgerichtet hatte.

»Früher hat er verborgen, dass er das kann«, erklärte ich den anderen. Es machte mir Sorgen, dass er nicht mehr damit hinter dem Berg hielt. Als würde es keine Rolle mehr spielen, was die Leute über ihn wussten.

Samuel lächelte mich an. »Du hast dich entschieden, nach Spokane zu gehen, weil er etwas zu tun braucht, richtig? Du warst entschlossen, zu bleiben, bis er anfing, pathetisch auszusehen.« Ich warf ihm einen bösen Blick zu und er hob in einer resignierten Geste die Hände. »Ich habe nicht gesagt, dass er keinen Grund hat, pathetisch auszusehen. Du solltest nur nicht vergessen, dass er, egal ob armer Trottel oder nicht, immer noch ein Vampir ist – und dir absolut gewachsen, sollte er beschließen, dass er nicht mehr nett sein will. Du hast ihn eine Menge gekostet, Mercy. Es könnte sein, dass er nicht dein Freund ist.«

Auf diese Art hatte ich das alles noch gar nicht gesehen. Jetzt tat ich es, ungefähr für eine Zehntelsekunde. »Wäre er wütend auf mich, hätte er mich getötet, als er verhungernd in mein Wohnzimmer fiel. Und außerdem hätte er auch heute Nacht jederzeit hier reinspringen und mich töten können. Du willst, dass ich verschwinde – also versuch jetzt nicht, Ärger zu machen.«

Samuel runzelte die Stirn. »Ich versuche nicht, Ärger zu machen. Aber du musst daran denken, dass er ein Vampir ist, und Vampire sind keine netten Kerle, egal, wie höflich und galant Stefan auch erscheint. Ich mag ihn auch. Aber du versuchst zu vergessen, was er ist.«

Ich dachte an die zwei toten Menschen, deren einziges Verbrechen es gewesen war, mich zu sehen, als ich einen Pflock durch Andres Brust schlug. »Ich weiß, was er ist«, beharrte ich starrköpfig.

»Vampir«, meinte Bran. »Ja, sie sind böse.« Er grinste und das ließ ihn aussehen, als sollte er noch auf die Highschool gehen. »Aber ich glaube, seine Herrin hat einen Fehler gemacht, als sie beschlossen hat, ihn wegzuwerfen.«

»Sie hat ihn gebrochen«, verkündete ich. Dann schaute ich Samuel in die Augen und flüsterte: »Passt auf euch auf, du und Adam. Ich werde Stefan damit beschäftigt halten, nach Geistern zu suchen.«

Wenn ich wirklich nach Geistern suchen wollte, wäre es natürlich dämlich, Stefan mitzubringen. Geister mögen keine Vampire, und sie erscheinen nicht, wenn welche in der Umgebung sind. Samuel wusste das, und er grinste mich mit ernsten Augen an. »Wir kommen schon klar.«

»Ruf mich an, wenn du mich brauchst«, sagte Bran – und meinte meiner Meinung nach uns beide. »Wenn ich noch drüben vorbeischauen und einen Blick auf Mary Jo werfen will, dann sollte ich jetzt gehen.« Er küsste mich auf die Stirn, dann tat er dasselbe bei Samuel (der sich dafür vorbeugen musste). Ich wusste nicht, ob er tatsächlich eine Ahnung hatte, wer Mary Jo war, oder ob es nur so wirkte. Aber ich hatte noch nie erlebt, dass er einen Wolf traf und seinen Namen nicht wusste.

Wo ich gerade daran dachte … »Hey, Bran?«

Halb auf dem Weg zur Tür drehte er sich um.

»Was ist mit dem Mädchen, das wir dir geschickt haben? Das Mädchen, das so jung verwandelt wurde und noch keine Kontrolle hatte. Ist sie in Ordnung?«

Er lächelte und wirkte auf einmal um einiges weniger müde. »Kara? Ihr ging es beim letzten Vollmond sehr gut. Noch ein paar Monate, und sie hat volle Kontrolle.« Er winkte uns beiläufig über die Schulter zu und trat hinaus in die Dunkelheit.

»Ruh dich auch mal aus«, rief ich ihm hinterher. Er schloss die Tür hinter sich, ohne zu antworten.

Wir lauschten einfach nur, als Bran davonfuhr – in einem ohne Frage gemieteten Mustang. Als er weg war, meinte Samuel: »Du hast noch ein paar Stunden. Warum schläfst du nicht nochmal? Ich glaube, ich springe über den Zaun zu Adam rüber und schaue mir an, was Dad für Mary Jo tut.«

»Warum hat er nicht einfach angerufen?«, fragte ich.

Samuel streckte die Hand aus und wuschelte mir durch die Haare. »Er wollte nach dir schauen.«

»Naja«, meinte ich. »Zumindest hat er mich nicht gefragt, wie es mir geht. Ich glaube, sonst hätte ich ihm etwas antun müssen.«

»Hey, Mercy«, meinte Samuel, und seine Stimme triefte von falscher Besorgnis, »geht es dir gut?«

Ich schlug ihn und traf nur, weil er es nicht erwartet hatte. »Jetzt schon«, verkündete ich, als er sich fallen ließ und über den Boden rollte, als hätte ich tatsächlich Schlagkraft hinter meiner Faust. Das hatte ich nicht.

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Spokane liegt ungefähr hundertfünfzig Meilen nordöstlich der Tri-Cities und man weiß, dass man näher kommt, wenn man plötzlich Bäume sieht.

Mein Handy klingelte, und ich ging dran, ohne an den Rand zu fahren. Normalerweise halte ich mich an Gesetze, aber ich war spät dran.

»Mercy?« Es war Adam, und er war nicht glücklich. Ich ging davon aus, dass Samuel ihm erzählt hatte, dass die Vampire an dem Debakel in Onkel Mike’s Schuld waren. Ich hatte ihm gesagt, dass er das tun konnte, sobald ich sicher aus der Stadt war.

»Hmmm.« Ich überholte ein Wohnmobil, während wir einen kleinen Hügel hochfuhren. Es würde mich auf dem Weg nach unten auch wieder überholen, aber ich musste Vergnügen suchen, wo es möglich war – Vanagons sind nicht gerade Geschwindigkeitswunder. In absehbarer Zeit würde ich einfach einen Sechszylinder-Subaru-Boxermotor einbauen und mal sehen, wie es lief. »Bevor du mich anschreist, weil ich dir nichts von den Vampiren erzählt habe, solltest du wissen, dass ich gerade einen Strafzettel riskiere, weil ich am Steuer telefoniere. Willst du wirklich, dass ich ein Knöllchen kriege, nur weil ich mich von dir habe anschreien lassen?«

Er lachte fast unfreiwillig, also konnte ich davon ausgehen, dass er nicht sooo sauer war. »Du bist immer noch unterwegs? Ich dachte, du wärst schon heute früh gefahren.«

»Ich habe an der Raststätte in der Nähe von Cornell noch ein Schaltgestänge an einem Ford Focus repariert«, erklärte ich ihm. »Eine nette Dame und ihr Hund waren gestrandet, nachdem ihr Schwager ihr die Kupplung repariert hatte. Er hatte ein paar Bolzen nicht wieder angezogen, und einer davon ist rausgefallen. Hat mich ungefähr eine Stunde gekostet, jemanden zu finden, der einen Bolzen mit Mutter in der richtigen Größe hatte.« Und als Beweis hatte ich Ölflecken auf meinen Schultern und Dreck im Haar. In meinem Golf hatte ich immer ein Handtuch, das ich unter mich legen konnte, sowie eine Sammlung von nützlichen Autoteilen. Aber es würde eine Weile dauern, bis mein Golf wieder fuhr.

»Wie geht’s Mary Jo?«

»Sie schläft jetzt endlich richtig.«

»Bran konnte helfen?«

»Bran hat geholfen.« Ich konnte das Lächeln in seiner Stimme hören. »Sei du bitte bei der Geisterjagd vorsichtig – und lass dich nicht von Stefan beißen.«

Beim letzten Satz war seine Stimme ein wenig schärfer.

»Eifersüchtig?«, fragte ich. Jau. Das Wohnmobil überholte mich bergab.

»Vielleicht ein bisschen.«

»Sei es nicht. Wir kommen schon klar. Geister sind nicht so gefährlich wie verrückte Vampirdamen.« Ich konnte die Furcht, die sich in meine Stimme einschlich, nicht kontrollieren.

»Ich werde auf mich aufpassen – und Mercy?«

»Hm?«

»Betrachte dich als angeschrien«, schnurrte er, dann legte er auf.

Ich grinste das Telefon an und klappte es zu.

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Ambers Wegbeschreibung zu ihrem Haus war sehr klar gewesen und ich konnte ihr leicht folgen. Die Erleichterung in ihrer Stimme, als ich sie am Morgen angerufen hatte, wollte mich glauben lassen, dass sie wirklich ein Geisterproblem hatte und nicht Teil einer geheimen Vampirverschwörung war, die mich an einen Ort bringen wollte, wo ich leichter umzubringen war. Trotz Brans Versicherung, dass es unwahrscheinlich war, dass Marsilia mich nach Spokane verschiffte, fühlte ich mich … nicht wirklich paranoid. Eher vorsichtig. Ich hatte das Gefühl, ich sollte vorsichtig sein.

Zee hatte zugestimmt, die Werkstatt zu führen, während ich weg war. Ich hätte ihn wahrscheinlich dazu kriegen können, für weniger zu arbeiten als seinen normalen Satz, weil er sich immer noch für Dinge schuldig fühlte, die nicht seine Schuld gewesen waren. Weniger würde bedeuten, dass ich für den Rest des Monats Erdnussbutter statt chinesischer Billignudeln hätte essen können, aber ich war eben nicht der Meinung, dass irgendetwas davon sein Fehler gewesen war.

Er hatte mit Onkel Mike über die überkreuzten Knochen an meiner Tür gesprochen. Definitiv die Arbeit von Vampiren, hatte er mir erklärt. Die Knochen bedeuteten, dass ich den Vampiren die Treue gebrochen hatte und nicht mehr länger unter ihrem Schutz stand – und dass jeder, der mir eventuell seine Hilfe anbot, sich auch ganz schnell als Zielscheibe der Vampire wiederfinden würde. Die weite Auslegung davon war furchterregend. Es hieß, dass auch Leute wie Tony oder Sensei Johanson in Gefahr waren.

Was wiederum bedeutete, dass es wahrscheinlich eine gute Sache war, dass ich für ein paar Tage die Stadt verließ und darüber nachdenken konnte, wie ich die Zahl der Opfer, die Marsilia fordern wollte, gering halten konnte.

Amber lebte in einem viktorianischen Herrenhaus, komplett mit zwei Türmen. Die geziegelte Veranda war frisch verfugt und das feingeschnitzte Fries, das sich um das Dach und die Fenster zog, war frisch gestrichen. Selbst die Rosen wirkten, als warteten sie nur auf ihren Auftritt in einem Lifestyle-Magazin.

Beim Anblick des Bleiglases, das in der Sonne funkelte, runzelte ich die Stirn und fragte mich, wann ich das letzte Mal die Fenster an meinem Haus geputzt hatte. Hatte ich die Fenster jemals geputzt? Vielleicht hatte Samuel es getan.

Ich dachte immer noch darüber nach, als die Tür sich öffnete. Ein überraschter Junge gaffte mich an, und mir ging auf, dass ich noch nicht geklingelt hatte.

»Hey«, sagte ich. »Ist deine Mom zu Hause?«

Er erholte sich schnell und warf mir aus einem Paar grüner Augen unter langen, dichten Augenbrauen hervor einen scheuen Blick zu, bevor er sich umdrehte und an der Tür klingelte, was ich ja nicht getan hatte.

»Ich bin Mercy«, erklärte ich ihm, während wir darauf warteten, dass Amber aus den Tiefen des Hauses erschien. »Deine Mom und ich sind zusammen zur Schule gegangen.«

Sein wachsamer Gesichtsausdruck wurde noch ausgeprägter und er sagte nichts. Also ging ich davon aus, dass sie ihm nichts erzählt hatte.

»Mercy, ich hatte schon gedacht, du kämst nicht mehr.« Amber klang gehetzt und überhaupt nicht dankbar, und das war noch, bevor sie registrierte, wie ich aussah – überzogen mit altem Öl und dem Dreck eines Parkplatzes.

Ihr Sohn und ich drehten uns zu ihr um.

Sie sah immer noch aus wie ein Ausstellungsstück, aber ihre Augen waren gestresst. »Chad, das ist die Freundin, die uns mit dem Geist helfen wird.« Während sie sprach, tanzten ihre Hände ein elegantes Ballett, und ich erinnerte mich, dass Charles etwas davon gesagt hatte, dass der Sohn irgendeine Art von Behinderung hatte: Er war taub.

Sie wandte mir ihre Aufmerksamkeit zu, aber ihre Hände bewegten sich weiter, damit ihr Sohn wusste, was sie zu mir sagte. »Das ist mein Sohn, Chad.« Sie holte tief Luft. »Mercy, es tut mir leid. Mein Ehemann bringt heute zum Abendessen einen Klienten mit. Er hat es mir erst vor ein paar Minuten gesagt. Es ist ein richtiges Dinner …«

Sie schaute mich an und ihre Stimme verklang.

»Was?«, meinte ich und ließ nach der Beleidigung meine Stimme auch scharf klingen. »Denkst du, ich wäre für ein Dinner nicht zu gebrauchen? Tut mir ja leid, aber die Fäden am Kinn werden frühestens nächste Woche gezogen.«

Plötzlich lachte sie. »Du hast dich kein bisschen verändert. Wenn du nichts Passendes mitgebracht hast, kann ich dir etwas von mir leihen. Der Kerl, der heute Abend kommt, ist für einen skrupellosen Geschäftsmann sogar ziemlich stubenrein. Ich denke, du wirst ihn mögen. Ich muss noch eine Einkaufsliste machen und kurz losfahren, um alles zu holen.« Sie wandte den Kopf so, dass ihr Sohn ihren Mund sehen konnte. »Chad, würdest du Mercy ihr Zimmer zeigen?«

Er warf mir noch einen wachsamen Blick zu, nickte aber dann. Als er zurück ins Haus ging und anfing, die Treppen hinaufzusteigen, erklärte Amber noch: »Ich sollte es dir lieber sagen: Mein Ehemann ist über den Geist ziemlich unglücklich. Er denkt, Chad und ich haben ihn uns nur ausgedacht. Wenn es dir möglich wäre, die Geschichte vor seinem Klienten beim Abendessen nicht zu erwähnen, wüsste ich das sehr zu schätzen.«

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Gegenüber von meinem Zimmer war ein Bad. Ich nahm meinen Koffer und ging erst Mal dort hinein, um mich sauber zu machen. Bevor ich mein dreckiges T-Shirt auszog, schloss ich die Augen und holte tief Luft.

Manchmal erscheinen Geister nur dem einen oder anderen Sinn. Manchmal kann ich sie nur hören – manchmal rieche ich sie. Aber das Bad roch nach Seife und Shampoo, Wasser und diesen komischen blauen Tabletten, die manche Leute ohne Haustiere in ihre Toiletten werfen.

Ich konnte auch nichts sehen oder hören. Aber das hielt die Haare in meinem Nacken nicht davon ab, sich aufzurichten, als ich das Hemd über den Kopf zog und in die Seitentasche meines Koffers stopfte. Ich schrubbte meine Hände, bis sie überwiegend sauber waren, bürstete mir den Dreck aus den Haaren und flocht sie neu. Und die ganze Zeit konnte ich spüren, dass jemand mich beobachtete.

Vielleicht war es ja nur die Macht der Suggestion. Aber ich machte mich trotzdem so schnell wie möglich fertig. Keine geisterhafte Schrift an der Wand, niemand erschien im Spiegel oder bewegte Dinge durch den Raum.

Ich öffnete die Badezimmertür und fand Amber, die direkt vor der Tür ungeduldig wartete. Ihr fiel nicht auf, dass sie mich erschreckt hatte.

»Ich muss Chad zum Softball-Training fahren, und dann ein bisschen für heute Abend einkaufen. Willst du mitkommen?«

»Warum nicht?«, meinte ich mit einem beiläufigen Achselzucken. Der Gedanke, allein in diesem Haus zu bleiben, übte keinerlei Reiz auf mich aus – was war ich nur für ein toller Geisterjäger. Nichts war passiert, und ich war jetzt schon nervös.

Ich nahm den Beifahrersitz. Chad warf mir einen finsteren Blick zu, stieg aber dann hinten ein. Ich hatte nicht das Gefühl, als hätte ich ihn tief beeindruckt. Niemand sagte etwas, bis wir Chad absetzten. Er wirkte nicht glücklich. Amber bewies mir, dass sie taffer war als ich, weil sie den Welpenblick völlig ignorierte und Chad der Sorge seines ziemlich unberührt wirkenden Trainers überließ.

»Also hast du dich entschlossen, nicht Geschichtslehrerin zu werden«, meinte Amber, als sie wieder anfuhr. Sie klang nervös. Der Stress kam von ihr, dachte ich – aber sie war nie besonders entspannt gewesen.

»Entschlossen ist nicht ganz das richtige Wort«, erklärte ich. »Ich habe einen Job als Mechanikerin angenommen, um mich über Wasser zu halten, bis eine Lehrerstelle frei würde … und eines Tages ging mir auf, dass ich selbst dann lieber weiter den Schraubenschlüssel schwingen würde, wenn mir jemand eine Stelle anbieten würde.« Und dann, weil sie mir die Vorlage geliefert hatte: »Ich dachte, du wolltest Tierärztin werden.«

»Ja, na ja, das Leben kam dazwischen.« Sie schwieg kurz. »Chad kam dazwischen.« Das war allerdings ein wenig zu viel Ehrlichkeit für sie, denn danach schwieg sie. Im Lebensmittelladen wanderte ich davon, während sie Tomaten testete – für mich sahen sie alle gleich gut aus. Ich kaufte mir einen Schokoriegel, einfach nur, um zu sehen, wie sehr sie sich verändert hatte.

Nicht sehr. Als sie mit ihrem Vortrag über die Schädlichkeit von raffiniertem Zucker zu einem Ende kam, waren wir fast zurück am Haus. Sie fühlte sich jetzt um einiges wohler – und erzählte mir endlich etwas über ihren Geist.

»Corban glaubt nicht, dass es spukt«, erklärte sie mir, während wir uns durch die Stadt schlängelten. Sie schaute kurz zu mir, dann wieder auf die Straße. »Ich habe eigentlich auch nicht wirklich etwas gesehen oder gehört. Ich habe ihm nur gesagt, ich hätte, damit er endlich Chad in Ruhe lässt.« Sie holte tief Luft und schaute wieder zu mir. »Er denkt, Chad würde es in einem Internat besser gehen – einer Privatschule für Kinder in Schwierigkeiten, die ihm ein Freund empfohlen hat.«

»Er sah für mich nicht so aus, als hätte er Schwierigkeiten«, meinte ich. »Sind ›Kinder in Schwierigkeiten‹ nicht normalerweise drogensüchtig oder verprügeln die Nachbarskinder?« Chad hatte ausgesehen, als würde er lieber zu Hause bleiben und ein Buch lesen, statt Ballspielen zu gehen.

Amber lachte nervös. »Corban kommt nicht sehr gut mit Chad aus. Er versteht ihn nicht. Es ist das alte Disney-Klischee vom Quarterback-Dad und dem Bücherwurm-Sohn.«

»Weiß Corban, dass er nicht Chads Vater ist?«

Sie trat so hart auf die Bremse, dass ich nähere Bekanntschaft mit der Windschutzscheibe gemacht hätte, wäre ich nicht angeschnallt gewesen. Sie saß für einen Moment still, anscheinend ohne sich des Hupkonzerts um uns herum bewusst zu sein. Ich war froh, dass wir in einem stabilen Mercedes saßen und nicht in dem kleinen Miata, mit dem sie zu meinem Haus gefahren war.

»Vergiss nicht«, sagte ich sanft. »Ich kannte Harrison auch. Wir haben immer Witze über seine Wimpern gemacht, und ich habe niemals wieder Augen wie seine gesehen. Bis heute.« Harrison war für ungefähr drei Monate ihre eine, wahre Liebe gewesen, bis sie ihn für einen Medizinstudenten hatte fallenlassen.

Amber gab wieder Gas und fuhr eine Weile, bis der Verkehr um uns sich wieder beruhigt hatte. »Ich hatte vergessen, dass du ihn kanntest.« Sie seufzte. »Lustig. Ja, Corban weiß, dass er nicht Chads Vater ist, aber Chad weiß es nicht. Es hat bis jetzt keine Rolle gespielt, aber inzwischen bin ich mir nicht mehr so sicher. Corban hat sich … in letzter Zeit verändert.« Sie schüttelte den Kopf. »Trotzdem, er ist derjenige, der vorgeschlagen hat, dass ich dich bitte, zu kommen. Er hat den Artikel in der Zeitung gesehen und gesagt: ›Ist das nicht das Mädchen, das gesagt hat, dass sie Geister sehen kann? Warum lässt du sie nicht mal kommen und sich das Ganze mal ansehen?‹«

Ich ging davon aus, dass ich penetrant genug gewesen war, also fragte ich jetzt etwas, das weniger aufdringlich war: »Was macht der Geist?«

»Bewegt Dinge«, erläuterte sie mir. »Ein- oder zweimal die Woche räumt er Chads Zimmer um. Chad sagt, er hat gesehen, wie sich die Möbel bewegt haben.« Sie zögerte. »Er zerstört auch Dinge. Ein paar Vasen, die der Vater meines Mannes aus China mitgebracht hat. Das Glas in dem Rahmen, in dem sein Diplom hängt. Manchmal nimmt er sich Dinge.« Sie warf mir einen kurzen Seitenblick zu. »Autoschlüssel. Ein paar wichtige Dokumente von Cor sind in Chads Raum aufgetaucht, unter seinem Bett. Corban war ziemlich sauer.«

»Auf Chad?«

Sie nickte.

Ich hatte ihn noch nicht mal getroffen, und ich mochte ihren Ehemann jetzt schon nicht. Selbst wenn Chad all das selbst tat – und ich hatte noch keine Beweise, die dagegen sprachen –, klang eine Besserungsanstalt nicht wie etwas, das die Probleme verschwinden lassen würde.

Wir sammelten einen mürrischen Chad auf, der nicht wirkte, als wolle er sich unterhalten, und Amber hörte auf, über den Geist zu reden.

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Amber arbeitete in der Küche. Ich hatte versucht, ihr zu helfen, aber sie hatte mich schließlich auf mein Zimmer geschickt, damit ich ihr nicht mehr im Weg umging. Sie mochte die Art und Weise nicht, wie ich Äpfel schälte. Ich hatte mir ein Buch von zu Hause mitgebracht – ein sehr altes Buch – mit echten Feengeschichten. Es war geliehen, und ich wollte es bald zurückgeben, also las ich, so schnell ich konnte.

Ich machte gerade ein paar Notizen zu Kelpies (die für ausgestorben gehalten werden), als jemand zweimal an meine Tür klopfte und sie dann öffnete.

Chad stand mit einem Notizblock und einem Stift in der Hand im Türrahmen.

»Hey.«

Er drehte den Notizblock um, und ich konnte lesen: »Wie viel zahlt Ihnen mein Dad?«

»Nichts«, antwortete ich.

Er kniff die Augen zusammen, riss die Seite ab und zeigte mir die nächste. Anscheinend hatte er hierüber schon eine Weile nachgedacht. »Warum sind Sie hier? Was wollen Sie?«

Ich legte mein Buch zur Seite und starrte zurück. Er war taff, aber er war nicht Adam oder Samuel; er blinzelte zuerst.

»Ich habe einen Vampir, der mich töten will«, erklärte ich ihm. Was ich natürlich nicht hätte tun sollen, aber ich wollte sehen, was passieren würde. Neugierde, das hatte mir Bran mehr als einmal gesagt, konnte für Kojoten genauso tödlich sein wie für Katzen.

Chad zerknüllte das Papier und formte mit dem Mund ein Wort. Mit dieser Antwort hatte er offensichtlich nicht gerechnet.

Ich zog eine Augenbraue hoch. »Sorry. Du musst dir was Besseres ausdenken. Ich kann nicht von den Lippen lesen.«

Er kritzelte wild. »Lükner«, verkündete sein Zettel.

Ich nahm seinen Bleistift, schrieb ›Lügner‹, dann gab ich ihm seinen Notizblock zurück und meinte: »Willst du wetten?«

Er presste sich den Block an die Brust und stampfte von dannen. Ich mochte ihn. Er erinnerte mich an mich.

Fünfzehn Minuten später platzte seine Mutter in den Raum. »Rot oder Purpur?«, fragte sie mich und klang immer noch hektisch. »Komm mit.«

Verblüfft folgte ich ihr den Flur entlang und in die Zimmerflucht, die offenbar von ihr und Chad bewohnt wurde. Sie hatte zwei Kleider auf dem Bett ausgelegt. »Ich habe nur fünf Minuten Zeit, bevor ich die Brötchen in den Ofen schieben muss«, verkündete sie. »Rot oder Purpur?«

Das purpurne Kleid besaß um einiges mehr Stoff. »Purpur. Hast du auch Schuhe, die ich mir leihen kann? Oder soll ich barfuß laufen?«

Sie schenkte mir einen wilden Blick. »Ich habe Schuhe, aber keine Nylonstrumpfhosen.«

»Amber. Ich werde für dich hochhackige Schuhe anziehen. Und ich werde ein Kleid tragen. Aber du zahlst mir nicht genug, um Strumpfhosen zu tragen. Meine Beine sind rasiert und gebräunt, das wird reichen müssen.«

»Wir können dich bezahlen. Wie viel willst du?«

Ich musterte ihr Gesicht, konnte aber nicht herausfinden, ob sie Witze machte oder nicht. »Kein Tarif«, erklärte ich. »Auf die Art kann ich verschwinden, wenn es gefährlich wird.«

Sie lachte nicht. Ich war mir ziemlich sicher, dass Amber mal Sinn für Humor gehabt hatte. Vielleicht.

»Schau«, meinte ich. »Hol tief Luft. Such Schuhe für mich und dann steck deine Brötchen in den Ofen.«

Sie holte tatsächlich tief Luft, und es schien auch zu helfen.

Als ich zurückkam in mein Zimmer, war Chad mit seinem Block wieder da. Er starrte den Wanderstab an, der auf meinem Bett lag. Ich hatte ihn nicht mitgebracht, aber er war trotzdem gekommen. Ich wünschte mir, ich könnte ihn einfach fragen, was er von mir wollte.

Ich hob den Stock hoch und wartete, bis Chad mich ansah, damit er von meinen Lippen lesen konnte. »Damit schlage ich Problemkinder.«

Er umklammerte seinen Block fester, also ging ich davon aus, dass er ganz gut Lippenlesen konnte. »Was wolltest du?«

Er drehte seinen Block und zeigte mir einen Zeitungsartikel, der ausgeschnitten und auf den Block geklebt worden war. »Freundin von Alpha-Werwolf tötet Angreifer«, verkündete er. Es gab auch ein Foto von mir, auf dem ich fertig und verwirrt aussah. Ich erinnerte mich nicht daran, dass Fotos gemacht worden waren, aber meine Erinnerung war ziemlich vage, was einige Teile dieser Nacht betraf.

»Ja«, sagte ich, als ob ich nicht plötzlich Magenschmerzen hätte. »Alte Kamellen.«

Er blätterte um, und ich sah, dass er noch etwas für mich vorbereitet hatte. »Es gipt keine Vampyre.« Ich ging davon aus, dass Rechtschreibung nicht gerade seine starke Seite war. Selbst mit zehn hatte ich schon ›gibt‹ schreiben können.

»Okay, danke«, antwortete ich. »Gut, das zu erfahren. Dann werde ich wohl morgen nach Hause fahren.«

Er ließ seine Arme an die Seiten sinken und sein Block wedelte dort irritiert vor und zurück, wie der Schwanz einer Katze. Er erkannte Sarkasmus, wenn er ihn hörte, selbst wenn er ihn nur von den Lippen ablas.

»Mach dir keine Sorgen, Junge«, meinte ich sanfter. »Ich bin kein Teil des Planes, dich ins Kindergefängnis zu stecken. Wenn ich nichts sehe, heißt das nicht, dass es nichts zu sehen gibt. Und das werde ich deinem Vater auch so sagen.«

Er blinzelte schnell und umarmte wieder seinen Block. Dann hob er sein Kinn – eine schmalere, weniger starrsinnige Ausgabe seiner Mutter. Und ging.

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Amber kam die Treppe nach oben, wobei sie jeweils zwei Stufen auf einmal nahm, und winkte mir zu, als sie vorbeischoss. Ich hörte ein Klopfen, dann öffnete sie eine Tür. »Du musst dich auch zurechtmachen«, erklärte sie ihrem Sohn. »Du musst nicht mit uns essen – in der Mikrowelle steht ein Teller für dich –, aber ich will auch nicht, dass du in der Gegend herumschleichst, während du versuchst, nicht gesehen zu werden. Du weißt, wie sehr das deinen Vater irritiert. Also kämm dir die Haare und wasch dir Hände und Gesicht.«

Ich zog meine Kleidung aus und das purpurne Kleid über. Es passte ziemlich gut – ein wenig eng an den Schultern und an der Hüfte etwas körperbetonter, als ich es mochte, aber als ich mich in dem großen Spiegel betrachtete, sah ich recht gut aus. Amber, Char und ich hatten schon immer Kleidung tauschen können.

Die Schuhe waren zu hoch, um noch bequem zu sein, aber solange wir im Haus blieben, sollte es eigentlich gehen. Chars Füße waren kleiner gewesen als Ambers und meine. Ich kämmte mir nochmal die Haare aus, dann flocht ich sie wieder. Noch ein Hauch von Lippenstift und Lidstrich, und ich war fertig.

Ich wünschte mir, es wäre Adam, mit dem ich gleich essen würde, und nicht Amber, ihr idiotischer Ehemann und irgendein wichtiger Klient. Tatsächlich war die Vorstellung schlimm genug, um mir zu wünschen, für mich stünde auch ein Teller in der Mikrowelle.