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8

Als ich am nächsten … Nachmittag aufwachte, saß Adam am Fußende meines Bettes. Er lehnte an der Wand und las eine abgewetzte Ausgabe von Das Buch der Fünf Ringe. Das Buch lag auf Medeas Rücken auf, und sie schnurrte, während sie gleichzeitig mit ihrem kurzen Schwanz wedelte – den sie eher wie ein Hund benutzte, weniger wie eine Katze.

»Solltest du nicht eigentlich in der Arbeit sein?«, fragte ich.

Er blätterte um und sagte mit geistesabwesender Stimme: »Mein Boss ist flexibel.«

»Zieht dir für Schwänzen keinen Lohn ab«, sinnierte ich. »Wie kann ich einen Boss wie deinen bekommen?«

Er grinste. »Mercy, selbst als Zee dein Boss war, war er es eigentlich nicht. Ich habe keine Ahnung, wie du jemals jemanden finden sollst, auf den du hörst … außer du willst es.« Er markierte die Seite, schlug das Buch zu und legte es neben sich. »Es tut mir leid, dass dein Ausflug in die Kunst der Geisteraustreibung nicht gut lief.«

Ich dachte darüber nach. »Ich nehme an, das kommt auf die Sichtweise an. Ich habe ein paar Dinge gelernt … wusstest du zum Beispiel, dass Stefan die Zeichensprache beherrscht? Warum könnte deiner Meinung nach ein Vampir die Zeichensprache lernen müssen? Dass Geister nicht immer harmlos sind. Ich dachte immer, der einzige Weg, wie ein Geist jemanden töten kann, wäre, ihn zu Tode zu erschrecken.«

Erwartete, eine Hand auf die Erhebung unter der Decke gelegt, die meine Zehen bildeten. Mit der anderen Hand kraulte er Medeas Kopf, direkt hinter den Ohren. Adam kann besser zuhören als die meisten Leute. Also erzählte ich ihm, was ich ihm bis jetzt verschwiegen hatte.

»Ich denke, es könnte meine Schuld gewesen sein.«

»Wie meinst du das?«

»Bis ich kam, hat er nicht viel gemacht … einfach nur die übliche Poltergeist-Aktivität. Dinge bewegen. Beängstigend, ja, aber nicht gefährlich. Dann tauche ich auf, und alles ändert sich. Chad wird fast getötet. Geister tun so etwas nicht – selbst Stefan hat das gesagt. Ich denke, ich habe irgendetwas getan, um ihn zu verschlimmern.«

Er drückte meine Zehen fester. »Ist dir so etwas früher schon passiert?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Dann rechnest du dir vielleicht zu viel als Verdienst an. Vielleicht wäre es sowieso passiert, und wenn du nicht mit Stefan dort gewesen wärst, wäre der Junge gestorben.«

Ich war mir nicht sicher, ob er Recht hatte, aber meine Ängste zu gestehen hatte zumindest dafür gesorgt, dass ich mich besser fühlte.

»Wie geht es Mary Jo?«

Er seufzte. »Sie ist immer noch ein wenig … daneben, aber Samuel ist sich sicher, dass sie in ein paar Tagen wieder okay sein wird.« Er entspannte sich und lächelte mich leicht an. »Sie ist bereit, loszuziehen und die gesamte Siedhe allein anzugreifen. Sie hat auch Ben gesagt, dass sie, wenn er seinen Mund hielte, gerne mal mit ihm in die Kiste würde. Wir haben beschlossen, dass sie wieder ganz sie selbst ist, wenn sie aufhört, mit ihm zu flirten.«

Ich konnte nicht anders, ich musste lachen. Mary Jo war so emanzipiert, wie eine Frau nur sein konnte – und die Tatsache, dass sie ein Werwolf war, hatte daran kein bisschen geändert. Ben war ein Frauenhasser der höchsten (oder tiefsten, das kam auf den Blickwinkel an) Kategorie, der als zusätzlichen Bonus auch noch ein übles Mundwerk besaß. Die beiden waren wie offenes Feuer und Dynamit.

»Keine weiteren Probleme mit den Vampiren?«

»Keine.«

»Aber die Verhandlungen haben nicht viel gebracht.«

Er nickte geruhsam. »Mach dir nicht so viele Sorgen, Mercy. Wir können für uns selbst sorgen.«

Vielleicht war es die Art, wie er es sagte …

»Was hast du also getan?«

»Wir haben inzwischen ein paar Gäste. Keiner von ihnen scheint wie Stefan die Fähigkeit zu haben, nach Belieben zu verschwinden.«

»Und du wirst sie behalten, bis …«

»Bis wir eine Entschuldigung für die Geschehnisse im Onkel Mike’s haben und Schmerzensgeld an Mary Jo gezahlt wurde. Und eine Zusicherung, dass sie so etwas nicht nochmal probieren werden.«

»Glaubst du, das kriegt ihr?«

»Bran hat sie angerufen, um unsere Forderungen auszurichten. Ich bin mir sicher, dass wir alles bekommen werden.«

Mir wurde ein bisschen weniger eng um die Brust. Die eine Sache, um die sich Marsilia wirklich sorgte, war die Siedhe. Wenn Bran in einen Kampf eingriff, dann war Marsilias Siedhe tot. Die Vampire in den Tri-Cities hatten einfach nicht dieselbe Truppenstärke, wie Bran sie ins Feld führen konnte – und das wusste Marsilia.

»Also wird sie sich auf mich konzentrieren müssen.«

Er lächelte. »Die Abmachung besagt, dass sie das Rudel nicht angreifen wird, außer einer von uns greift sie nach dieser Vereinbarung zuerst an.«

»Sie weiß nicht, dass ich zum Rudel gehöre.«

»Sobald wir diese Entschuldigung und das Versprechen schriftlich von ihr haben, wird es mir ein Vergnügen sein, sie davon zu unterrichten.«

Ich setzte mich auf und kippte dann nach vorne, bis ich auf allen vieren war und mein Gesicht nur noch Zentimeter von seinem entfernt. Ich küsste ihn sanft. Er behielt seine Hände auf der Katze.

»Ich mag die Art, wie Sie vorgehen, Mister«, erklärte ich. »Kann ich Sie vielleicht für die Pfannkuchen begeistern, die ich machen werde, sobald ich geduscht habe?«

Er legte den Kopf schief und gab mir einen intensiveren Kuss, aber seine Hände blieben, wo sie waren. Als er sich zurückzog, atmete keiner von uns noch ruhig.

»Und jetzt kannst du mir erzählen, warum du riechst wie Stefan«, sagte er, fast zärtlich.

Ich hob meinen Arm und schnüffelte. Ich roch nach Stefan, und zwar mehr, als eine gemeinsame Heimfahrt hätte ausmachen sollen.

»Seltsam.«

»Warum riechst du wie ein Vampir, Mercy?«

»Weil wir Blut ausgetauscht haben«, sagte ich – und erklärte dann, was Stefan mir auf dem Rückweg von Spokane über Vampirbisse erklärt hatte. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, welcher Teil geheim sein sollte und welche Teile nicht – aber es war auch egal. Ich würde vor Adam nichts verheimlichen, nicht nachdem er mich zu einem Teil seines Rudels gemacht hatte. Stefan war sich sicher, dass weder er noch Blackwood fähig sein würden, über mich die Wölfe zu beeinflussen. Aber ich wusste nicht genug über Rudelmagie, um mir sicher zu sein – und ich nahm auch nicht an, dass Stefan über dieses Wissen verfügte. Adam würde dem, was ich getan hatte, zustimmen, obwohl ich wusste, dass er nicht gerade begeistert wäre.

Als ich endlich fertig war, hatte er Medea auf den Boden geschubst (was er wieder gutmachen musste, falls er sie heute nochmal berühren wollte), um im Raum hin und her zu tigern. Er zog noch ein paar Runden. Dann blieb er am anderen Ende des Raumes stehen und warf mir einen unglücklichen Blick zu.

»Stefan ist besser als Blackwood.«

»Das dachte ich auch.«

»Warum hast du mir nicht nach dem ersten Biss von Blackwood erzählt?«, fragte er. Er klang … verletzt.

Ich wusste es nicht.

Er stieß ein kurzes, amüsiertes Lachen hervor. »Ich bemühe mich. Tue ich wirklich. Aber du musst dich auch ein wenig beugen, Mercy. Warum hast du mir nicht erzählt, was los ist, bevor du bereits auf dem Rückweg warst? Als es zu spät war, etwas zu unternehmen.«

»Das hätte ich tun sollen.«

Er starrte mich mit dunklen, verletzten Augen an. Also bemühte ich mich ein wenig mehr.

»Ich bin es nicht gewöhnt, mich auf jemanden zu stützen, Adam«, begann ich langsam, aber die Worte kamen schneller, als ich fortfuhr. »Und … Ich habe dich in letzter Zeit so viel gekostet. Ich dachte – ein Vampirbiss. Bäh. Gruselig. Aber es schien mir nicht so gefährlich. Wie eine riesige Mücke oder … der Geist. Angsteinflößend, aber nicht gefährlich. Ich bin schon mal gebissen worden, du erinnerst dich, und nichts Schlimmes ist passiert. Wenn ich es dir erzählt hätte – hättest du mich nach Hause kommen lassen. Und da war Chad – du würdest ihn mögen –, dieser zehnjährige Junge mit mehr Mut als die meisten Erwachsenen, der von einem Geist terrorisiert wurde. Ich dachte, ich könnte helfen. Und ich konnte mich von Marsilia fernhalten, damit sie dir zuhörte. Erst als Stefan sich solche Sorgen machte – und das war direkt bevor wir nach Hause gefahren sind, nach dem zweiten Biss –, fiel mir auf, dass sie vielleicht doch etwas gefährlicher sein könnten.«

Ich zuckte hilflos mit den Achseln und blinzelte ein paar Tränen zurück, die ich nicht frei laufen lassen würde. »Es tut mir leid. Ich war dumm. Ich bin dumm. Ich kann mich nicht mal umdrehen, ohne alles viel schlimmer zu machen.« Ich wandte das Gesicht ab.

»Nein«, sagte er. Das Bett senkte sich, als er sich neben mich setzte. »Es ist in Ordnung.« Er stieß absichtlich mit seiner Schulter gegen meine. »Du bist nicht dumm. Du hast Recht. Ich hätte dich nach Hause geholt, und wenn ich dich selbst hätte holen müssen, in Seile gewickelt und geknebelt. Und dein Chad wäre gestorben.«

Ich lehnte mich gegen seine Schulter und er lehnte sich ein wenig dagegen.

»Du bist sonst nie in solche Schwierigkeiten geraten« – Belustigung färbte seine Stimme –, »mal abgesehen von ein paar denkwürdigen Gelegenheiten. Vielleicht ist es, wie diese Feenvolk-Frau, die in Onkel Mike’s, gesagt hat.« Er nannte Baba Yagas Namen nicht, und ich konnte es ihm nicht verdenken. »Vielleicht hast du ein wenig von dem Kojoten in dich aufgenommen, und das Chaos folgt dir.« Er berührte leicht meinen Hals. »Dieser Vampir wird das noch bereuen.«

»Stefan?«

Er lachte, und dieses Mal kam es von Herzen. »Er wahrscheinlich auch. Aber deswegen werde ich nichts unternehmen. Nein. Ich sprach von Blackwood.«

Adam blieb im Trailer, während ich duschte, und er aß die Pfannkuchen, die ich hinterher machte. Samuel kam rein, während wir aßen. Er sah müde aus und roch nach Desinfektionsmittel und Blut. Ohne ein Wort zu sagen, goss er einen Löffel Teig in die Pfanne.

Wenn Samuel so aussah, hieß das, dass er einen schlechten Tag gehabt hatte. Jemand war gestorben oder verkrüppelt worden, und er hatte es nicht ändern können.

Er nahm seine Pfannkuchen und setzte sich neben Adam. Nachdem er sein Essen in Ahornsirup ertränkt hatte, hörte er auf, sich zu bewegen. Er starrte nur auf die Pfütze aus flüssigem Zucker, als enthielte sie die Geheimnisse des Universums.

Dann schüttelte er den Kopf. »Ich nehme an, meine Augen waren größer als mein Appetit.« Er ließ das Essen in den Abfallzerkleinerer fallen und startete ihn, als würde er gerne eine Person zerhäkseln lassen.

»Also, was ist es diesmal?«, fragte ich. »›Johnny ist hingefallen und hat sich den Arm gebrochen‹ oder ›Meine Frau ist gegen eine Tür gelaufen‹?«

»Baby Ally wurde von ihrem Pitbull angefallen«, knurrte er und legte den Schalter wieder um, sodass der Zerkleinerer verstummte. »›Aber Iggy ist so brav. Sicher, mich hat er ein paarmal gebissen. Aber Ally hat er immer angebetet. Er passt auf sie auf, wenn ich in der Dusche bin.‹« Er stampfte ein paarmal durch den Raum, um Dampf abzulassen, dann sagte er, jetzt wieder mit seiner normalen Stimme: »Weißt du, es sind nicht die Pitbulls. Es sind die Leute, denen sie gehören. Die Leute, die einen Pitbull wollen, sind die Letzten, die überhaupt einen Hund besitzen sollten. Oder ein Kind haben. Wer lässt eine Zweijährige allein in einem Raum mit einem Hund, der schon einen Welpen zerfleischt hat? Und jetzt stirbt der Hund, das Mädchen muss sich kosmetischen Operationen unterziehen und wird wahrscheinlich trotzdem Narben zurückbehalten – und ihre idiotische Mutter, die das alles zu verantworten hat, kommt straflos davon.«

»Ihre Mom wird sich wahrscheinlich für den Rest ihres Lebens schlecht fühlen«, schränkte ich ein. »Es ist keine Zeit im Gefängnis, aber sie wird bestraft.«

Samuel warf mir einen finsteren Blick zu. »Sie ist zu sehr damit beschäftigt, alle wissen zu lassen, dass es nicht ihr Fehler war. Sobald sie fertig ist, werden die Leute auch noch Mitleid mit ihr haben.«

»Dasselbe ist vor ein paar Jahrzehnten mit Deutschen Schäferhunden passiert«, sagte Adam. »Dann Dobermänner und Rottweiler. Und wer leidet, sind die Kinder und die Hunde. Du wirst die menschliche Natur nicht ändern, Samuel. Jemand, der so viel gesehen hat wie du, sollte wissen, wann er aufhören muss zu kämpfen.«

Samuel drehte sich um, um etwas zu sagen, sah meinen Hals und erstarrte.

»Ich weiß. Nur ich konnte nach Spokane fahren und den einzigen Vampir in der Stadt dazu bringen, mich am ersten Tag zu beißen.«

Er lachte nicht. »Zwei Bisse bedeuten, dass er dich besitzt, Mercy.«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Zweimal Blutaustausch bedeutet, dass er mich besitzt. Also habe ich mich nochmal von Stefan beißen lassen, und jetzt gehöre ich Stefan und nicht dem Schwarzen Mann von Spokane.«

Er lehnte sich gegen die Arbeitsfläche, verschränkte die Arme vor der Brust und schaute Adam an. »Du hast dem zugestimmt?« Er klang ungläubig.

»Seit wann braucht Mercy meine Zustimmung … oder irgendjemandes Zustimmung, bevor sie etwas tut? Aber ich hätte ihr gesagt, dass sie es durchziehen soll, wenn sie mich gefragt hätte. Stefan ist ein ganzes Stück besser als Blackwood.«

Samuel starrte ihn böse an. »Sie ist jetzt die Zweithöchste in deinem Rudel. Das verschafft Stefan neben Mercy auch dein Rudel.«

»Nein«, erklärte ich ihm. »Stefan sagt Nein. Er hat gesagt, es wäre schon früher probiert worden und hätte nicht funktioniert.«

»Das Schaf eines Vampirs tut, was man ihm befiehlt.« Samuels Stimme wurde tiefer und rauer vor Sorge, also nahm ich es ihm nicht übel, dass er mich als Schaf bezeichnete. Was ich unter anderen Umständen getan hätte, selbst wenn es wahr wäre. »Wenn er dir befiehlt, die Wölfe zu rufen, hast du keine Wahl. Und wenn der Vampir, dessen Sklave du bist, etwas anderes erzählt – dann weiß ich, welche Geschichte ich anzweifeln würde. ›Alte Vampire lügen besser, als sie die Wahrheit sagen‹«. Das Letzte war ein altes Werwolf-Sprichwort. Und es stimmte, dass es bei einem Vampir schwer war, eine Lüge zu entdecken. Sie hatten keinen Puls und sie schwitzten nicht. Aber Lügen vermittelten trotzdem ein bestimmtes Gefühl.

Ich zuckte mit den Achseln und versuchte so zu tun, als würde sich Samuel gerade keine Sorgen um mich machen. »Du kannst Stefan heute Nacht fragen, wie es funktioniert, wenn du willst.«

»Wenn sie das Rudel ruft, muss sie meine Macht benutzen, um das zu tun«, sagte Adam. »Und das kann sie nicht, wenn ich sie nicht lasse.«

Ich bemühte mich, mir meine Erleichterung nicht anmerken zu lassen. »Gut. Lass mich für eine Weile das Rudel nicht rufen, okay?«

»Eine Weile?«, meinte Samuel. »Hat Stefan behauptet, er würde dich nach einer Weile wieder gehen lassen? Vielleicht, wenn Blackwood das Interesse verliert? Ein Vampir verliert niemals Schafe, außer an den Tod.«

Er hatte Angst um mich, das konnte ich sehen. Das hielt mich trotzdem nicht davon ab, ihn anzublaffen: »Hey! Ich hatte keine andere Wahl.« Ich verriet ihnen nicht, dass Wulfe die Verbindung zwischen Stefan und mir trennen konnte. Das war mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählt worden, und ich bemühte mich wirklich, nicht alles weiterzuerzählen, was mir als Geheimnis anvertraut worden war. Außer, vielleicht, an Adam.

Samuel schloss die Augen. Er sah krank aus. »Ja. Ich weiß.«

»Ein Vampir kann keinen Alpha-Wolf als Schaf halten«, sagte Adam. »Vielleicht können wir das als Ausgangspunkt nehmen, um Mercy zu befreien, wenn es nützlich erscheint. Was wir nicht wollen, ist unüberlegt loslaufen und Stefan loswerden, sodass der …«, er hob seine Augenbraue ironisch in meine Richtung, »… Schwarze Mann von Spokane wieder übernimmt. Ich stehe auf Mercys Seite. Wenn man schon auf einen Vampir hören muss, ist Stefan nicht die schlechteste Wahl.«

»Warum kann ein Vampir keinen Alpha übernehmen?« Es war Samuel, der mir antwortete: »Das hatte ich fast vergessen. Es liegt an der Art, wie das Rudel funktioniert, Mercy. Wenn ein Vampir nicht stark genug ist, um jeden einzelnen Wolf im Rudel zu übernehmen, alle gleichzeitig, dann kann er den Alpha nicht übernehmen. Das heißt nicht, dass es nicht passieren kann – es gibt in den Ländern der Vorväter ein paar Vampire … nein, ich glaube, die meisten von ihnen sind verschwunden. Auf jeden Fall gibt es hier keine, die das könnten.«

»Was ist mit Blackwood?«, fragte ich.

Samuel hob unglücklich die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Ich habe Blackwood nie getroffen und ich bin mir nicht sicher, ob Dad es je getan hat. Ich werde fragen.«

»Tu das«, meinte Adam. »In der Zwischenzeit macht das Stefan zur besseren Wahl. Er wird sie nicht übernehmen. Ich glaube, die meisten Sorgen mache ich mir um die enge Verbindung zwischen Blackwood und deiner Freundin Amber.«

Mir war der Appetit vergangen. Ich kratzte meinen Teller sauber und stellte ihn in die Spülmaschine. Mir ging es genauso wie Adam. Und Blackwood zu töten war die einzige Lösung, die mir einfiel. Ich setzte dazu an, auch mein Glas in die Maschine zu räumen, dann änderte ich meine Meinung und füllte es mit Cranberrysaft. Der saure Geschmack passte zu meiner Laune.

»Mercy?« Adam hatte mich offensichtlich etwas gefragt, was ich nicht gehört hatte. »Blackwood hat eine Beziehung sowohl zu Amber als auch ihrem Ehemann?«

»Das stimmt. Ihr Ehemann ist sein Rechtsanwalt, und Blackwood nährt sich von Amber und …« Es schien mir etwas zu sein, was ich geheim halten sollte. Aber ich hatte den Sex an ihr gerochen. »Jedenfalls glaube ich nicht, dass sie etwas davon weiß. Sie dachte, sie wäre einkaufen gewesen.« Ihr Ehemann? Ich wollte nicht, dass er Teil davon war. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass er nicht weiß, dass sein Klient seine Frau als Opfer ausgewählt hat. Aber ich weiß nicht, wie viel er sonst weiß.«

»Wann hat das Spuken angefangen?« Samuel sah grimmig aus. »Wie lange haben sie schon Probleme mit dem Geist?«

»Ungefähr von der Zeit an, wo der dämonenbesessene Vampir aufgetaucht ist«, sagte Adam.

»Und?« Diese Geschichte war nie in die Zeitungen gekommen.

Adam drehte sich zu Samuel um, mit einer Bewegung, die jeden Beobachter wissen lassen würde, dass er ein Raubtier war. »Was weißt du über Blackwood?«

Adams Haltung und Stimme waren ein kleines bisschen zu aggressiv für einen Alpha, der in Samuels Küche stand. An einem anderen Tag, zu einer anderen Zeit, hätte Samuel es durchgehen lassen. Aber er hatte einen schlechten Tag gehabt … und ich hatte das Gefühl, dass die Vampire es nicht besser gemacht hatten. Er knurrte und warf einen Arm nach vorne, um Adam zurückzustoßen.

Adam fing ihn ab und schlug den Arm beiseite, bevor er aufsprang.

Schlecht, dachte ich und achtete sorgfältig darauf, mich nicht zu bewegen. Das war richtig übel. Macht, geschwängert mit Moschus und Rudelgeruch, vibrierte durch das Haus und machte die Luft fast greifbar.

Beide waren angespannt. Sie waren dominant – Tyrannen, wenn ich es ihnen erlaubt hätte. Aber ihr stärkstes, dringendstes Bedürfnis war, zu beschützen.

Und ich war erst vor kurzem verletzt worden, als ich unter ihrem Schutz stand. Einmal von Tim, das nächste Mal von Blackwood – und zu einem geringeren Grad nochmal durch Stefan. Das machte sie beide gefährlich aggressiv.

Ein Werwolf zu sein bedeutete nicht, zu sein wie ein Mensch mit einem hitzigen Temperament – es war ein Gleichgewicht: eine menschliche Seele gegen den instinktiven Trieb eines Raubtieres. Unter zu großem Druck übernahm das Tier die Kontrolle – und dem Wolf war es egal, wen er verletzte.

Samuel war dominanter, aber er war kein Alpha. Wenn es zu einem Kampf kam, würde es keinem von beiden gut ergehen. In wenigen Augenblicken würde sich die Stille vor dem Sturm für einen Moment zu lang erstrecken – und jemand würde sterben.

Ich schnappte mir mein volles Saftglas und schüttete es über sie. So löschte ich einen Waldbrand mit ein bisschen Cranberrysaft. Sie standen fast Nase an Nase, also erwischte ich sie beide. Der Zorn in ihren Augen, als sie sich mir zuwandten, hätte eine schwächere Frau dazu gebracht, wegzulaufen. Ich wusste es besser.

Ich nahm mir ein Stück Pfannkuchen von Adams Teller, das sich sofort wie Leim an meinem Gaumen festsaugte. Dann griff ich über den Tisch, nahm mir Samuels Kaffeetasse und wusch mir den klebrigen Batzen aus dem Hals.

Man kann nicht so tun, als hätte man keine Angst vor Werwölfen. Sie wissen es. Aber man kann ihren Blick erwidern, wenn man zäh genug ist. Und wenn sie einen lassen.

Adam schloss die Augen und trat ein paar Schritte zurück, bis er mit dem Rücken an der Wand lehnte. Samuel nickte mir zu – aber ich sah mehr, als er mich sehen lassen wollte. Es ging ihm besser als früher, aber er war nicht der glückliche Wolf, mit dem ich aufgewachsen war. Vielleicht war er niemals so unbekümmert gewesen, wie ich gedacht hatte – aber es war ihm besser gegangen als jetzt.

»Entschuldigung«, meinte er zu Adam. »Ich hatte einen schweren Tag in der Arbeit.«

Adam nickte, öffnete aber nicht die Augen. »Ich hätte dich nicht drängen sollen.«

Samuel zog ein Küchentuch aus einer Schublade und machte es am Waschbecken nass. Er wischte sich den Saft aus dem Gesicht und rubbelte mit dem Lappen durchs Haar – was es dazu brachte, senkrecht in die Luft zu stehen. Wenn man seine Augen nicht hätte sehen können, hätte man ihn einfach für einen jungen Mann halten können.

Er schnappte sich ein zweites Handtuch und machte es ebenfalls nass. Dann sagte er: »Achtung«, und warf es zu Adam. Der es mit einer Hand fing, ohne hinzuschauen. Es wäre ein wenig eindrucksvoller gewesen, wenn ihn nicht eine nasse Ecke im Gesicht erwischt hätte.

»Danke«, sagte er … trocken, während Wasser über sein Gesicht lief, wo vorher noch Saft gewesen war. Ich aß noch ein Stück Pfannkuchen.

Als Adam mit seiner Reinigung fertig war, waren seine Augen klar und dunkel, und ich hatte neue Pfannkuchen aufgesetzt und Samuels Küchentuch dazu verwendet, den Boden aufzuwischen. Ich nahm an, dass Samuel es auch getan hätte – aber nicht vor Adam. Außerdem hatte ich den Dreck gemacht.

»Also«, sagte er zu Samuel, ohne ihn direkt anzusehen. »Weißt du irgendwas über Blackwood, außer dass er ein fieser Kerl ist und man sich aus Spokane fernhalten sollte?«

»Nein. Und ich glaube auch nicht, dass mein Vater etwas weiß.« Er wedelte mit einer Hand. »Oh, ich werde fragen. Er wird Daten haben – wie viel er besitzt, wo seine Geschäftsschwerpunkte liegen. Wo er wohnt und die Namen aller Leute, die er besticht, um die Welt davon abzuhalten, Vermutungen darüber anzustellen, was er ist. Aber er kennt Blackwood nicht. Ich würde sagen, es ist ziemlich sicher zu sagen, dass er mächtig und übel ist – andernfalls hätte er Spokane in den letzten sechzig Jahren nicht halten können.«

»Er ist während des Tages aktiv«, sagte ich. »Als er Amber genommen hat, war es Tag.«

Beide starrten mich an, und in Anbetracht ihrer Dominanzprobleme senkte ich den Blick.

»Was denkst du?«, fragte Adam, seine Stimme immer noch ein wenig heiserer als normal. Er hatte schon normalerweise ein aufbrausenderes Temperament als andere. »Weiß er, was Mercy ist?«

»Er hat sie von seinem Lakai in sein Territorium rufen lassen und er hat seine Ansprüche auf sie angemeldet – ich würde sagen, das ist ein großes Ja«, knurrte Samuel.

»Jetzt warte mal«, meinte ich. »Was sollte ein Vampir von mir wollen?«

Samuel zog die Augenbrauen hoch. »Marsilia will dich umbringen. Stefan will …«, für die nächsten drei Worte nahm er einen rumänischen Akzent an, »dein Blut trinken. Und Blackwood wollte dich anscheinend aus demselben Grund.«

»Du glaubst, diese ganze Geschichte wurde inszeniert, um mich nach Spokane zu kriegen?«, fragte ich ungläubig. »Erstens, es gab einen Geist. Ich habe ihn selbst gesehen. Keine dummen Vampirspielereien oder irgendwelche anderen Tricks. Das war ein Geist. Geister mögen keine Vampire.« Obwohl dieser länger in der Gegend geblieben war, als ich erwartet hatte. »Zweitens: warum ich?«

»Über den Geist kann ich nichts sagen«, meinte Samuel. »Aber auf die zweite Frage gibt es eine Unmenge möglicher Antworten.«

»Die erste, die mir einfällt« – Adam hielt seinen Blick immer noch auf den Boden gerichtet –, »ist Marsilia. Nimm an, sie hätte sofort gewusst, was mit Andre passiert ist. Sie weiß, dass sie dich nicht verfolgen kann, also tauscht sie Gefallen mit Blackwood. Er verwandelt Amber in sein Go-Go-Girl, und als sich die Gelegenheit bietet, schickt er sie aus, um dich zu holen – genau in dem Moment, wo Marsilia Stefan in deinem Wohnzimmer ablädt. Und nachdem du nicht gestorben bist, kommt Amber und bestellt dich nach Spokane. Ein paar Wölfe werden verletzt –«

»Mary Jo ist fast gestorben«, warf ich ein. »Und es hätte noch schlimmer kommen können.« Ich dachte an den Schneeelfen und sagte: »Viel schlimmer.«

»Hätte das Marsilia etwas geschert? Besorgt um deine Freunde hier – und informiert, dass die überkreuzten Knochen an deiner Werkstatttür bedeuten, dass all deine Freunde in Gefahr sind – ergreifst du die Sicherheitsleine, die Blackwood dir zugeworfen hat. Und so folgst du seinem Köder den ganzen Weg bis nach Spokane.«

Samuel schüttelte den Kopf. »Es passt nicht ganz«, meinte er. »Vampire kooperieren nicht auf die Weise, wie Werwölfe es tun. Blackwood hat nicht gerade den Ruf, anderen gerne Gefallen zu tun.«

»Hey, meine Hübsche«, sagte Adam in perfekter Imitation der Disney-Hexe, »würdest du gerne etwas Süßes kosten? Alles, was du tun musst, ist Mercy nach Spokane zu locken.«

»Nein«, meinte ich. »Das funktioniert oberflächlich gesehen, aber nicht, wenn man genauer hinschaut. Ich kann fragen, aber ich wette, dass die Beziehung zwischen Ambers Ehemann und Blackwood schon Jahre zurückreicht, nicht erst ein paar Monate. Also kannte er sie zuerst. Wenn Marsilia ihn angerufen und ihm meinen Namen gegeben hätte, wäre es unwahrscheinlich, dass er gewusst hätte, dass Amber mich kennt – wir haben uns nicht mehr gesprochen, seitdem ich das College verlassen habe.«

Ich hatte meine paranoiden Momente wegen des Timings von Ambers Bitte schon gehabt. Aber es gab einfach keine Möglichkeit, wie Marsilia Amber geschickt haben konnte, und mit der Wahrscheinlichkeit weiterer komplizierter Verschwörungstheorien ging es von da an bergab.

Ich holte tief Luft. »Ich nehme an, dass Blackwood mich für einen Menschen gehalten hat, zumindest, bis er mich zum ersten Mal gebissen hat. Bran sagt, ich rieche wie ein Kojote – hundeähnlich, außer man kennt Kojoten –, aber nicht nach Magie. Stefan hat mir gesagt, dass Blackwood wissen würde, dass ich nicht menschlich bin, nachdem er mich einmal geschmeckt hatte.«

Beide Werwölfe beobachteten jetzt mich.

»Unglücke passieren manchmal einfach so«, erklärte ich ihnen.

»Blackwood scheint mir einfach nicht der Typ zu sein, der anderen Vampiren Gefallen tut.« Samuels Stimme klang fast fröhlich.

Das war er tatsächlich nicht. Vampire waren bösartig, territorial, und … ich dachte an etwas.

»Was, wenn er den Plan hat, die Tri-Cities seinem Territorium hinzuzufügen«, fragte ich. »Sagen wir, er hat von dem Angriff auf mich gelesen – und gesehen, dass ich Adams Freundin bin. Vielleicht hat er Verbindungen und hat das Video gesehen, auf dem Adam Tims Körper zerreißt, also weiß er auch, dass unser Verhältnis nicht beiläufig ist. Vielleicht sieht Corban, wie er den Artikel liest, und erwähnt, dass seine Frau mich einmal kannte, und der Vampir sieht eine Möglichkeit, die Tri-Cities-Werwölfe dazu zu bringen, mit ihm darin zu kooperieren, sich gegen Marsilia zu wenden. Vielleicht weiß er nicht, dass er mich nicht dazu verwenden kann, das Rudel zu kontrollieren. Vielleicht hätte er mich als Geisel eingesetzt. Und der Geist ist nur ein Zufall. Einfach ein bequemer Grund für Amber, mich einzuladen.«

»Marsilia hat gerade ihre zwei wichtigsten Handlanger verloren«, meinte Samuel. »Andre und Stefan. Sie ist jetzt verletzlich.«

»Sie hat noch drei andere mächtige Vampire. Aber Bernard und Estelle scheinen zurzeit nicht glücklich mit Marsilia zu sein.« Ich hatte ihnen von der Konfrontation letzte Nacht erzählt. »Ich nehme an, es gibt noch Wulfe, aber er ist …« Ich zuckte die Achseln. »Ich würde mich nicht auf Wulfes Loyalität verlassen wollen – er ist nicht der Typ.«

»Vampire sind Raubtiere«, sagte Adam. »Wie wir. Wenn Blackwood Schwäche wittert, dann halte ich es für logisch, dass er mehr Territorium gewinnen will.«

»Gefällt mir«, meinte Samuel. »Blackwood ist kein Teamspieler. Das passt. Das heißt nicht, dass es richtig ist, aber es passt.«

Adam dehnte seinen Hals und ich hörte, wie ein Wirbel knackte. Er warf mir ein kurzes Lächeln zu. »Heute Abend rufe ich Marsilia an und erzähle ihr, worüber wir gerade gesprochen haben. Es ist nicht in Stein gemeißelt, aber es scheint glaubhaft. Ich wette, das wird Marsilia kooperativer stimmen.« Er schaute zu Samuel. »Wenn du zu Hause bist, dann gehe ich besser in die Arbeit. Ich werde auch Jesse rüberschicken, wenn die Schule vorbei ist – wenn es dir nichts ausmacht. Aurielle ist gebucht, Honey muss arbeiten und Mary Jo ist … nicht auf der Höhe.«

Nachdem Adam gegangen war, ging Samuel ins Bett. Wenn irgendwas passieren sollte, wäre er schnell genug wach – aber trotzdem verriet es mir, dass zumindest Samuel nicht glaubte, dass es tagsüber zu einem Angriff kommen würde.

Keiner von beiden hatte auch nur mit einer Silbe den Saft erwähnt, den ich über sie geschüttet hatte.

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Ein paar Stunden später fuhr ein Auto vor und Jesse stieg aus. Sie winkte dem abfahrenden Auto zu, dann sprang sie auf mich zu in einer Welle von Optimismus, schwarz-blau gestreiften Haaren und …

Ich legte mir eine Hand über die Nase. »Was ist das für ein Parfüm?«

Sie lachte. »Sorry, ich gehe gleich und wasche mich. Natalie hatte eine neue Flasche und hat darauf bestanden, jeden damit einzusprühen.«

Ich wedelte mit der Hand, die nicht meine Nase abdeckte, in Richtung Schlafzimmer. »Geh in mein Bad. Samuel versucht neben dem großen Badezimmer zu schlafen.« Und als sie einfach nur stehen blieb: »Beeil dich, um Himmels willen. Dieses Zeug ist widerlich.«

Sie schnüffelte an ihrem Arm. »Nicht für meine Nase. Es riecht nach Rosen.«

»Es gibt keine Rosen«, erklärte ich ihr, »die nach Formaldehyd stinken.«

Sie grinste mich an, dann sprang sie zum Bad davon, um sich zu waschen.

»Also«, meinte sie, als sie zurückkam, »nachdem wir beide unter Hausarrest stehen, bis die Vampire sich beruhigen, und ich heute eine erstklassige Schülerin war und meine Hausaufgaben schon in der Schule erledigt habe – wie wär es, wenn du und ich Brownies backen?«

Wir buken Brownies, und sie half mir dabei, bei meinem Van einen Ölwechsel zu machen. Es begann schon zu dämmern und wir schlossen gerade den Druckluftkompressor an meine winzige unterirdisch verlegte Bewässerungsanlage an, um für den Winter die Rohre leerzumachen, als Samuel knurrig, mit verschlafenen Augen und einem Brownie in der Hand in der Tür erschien.

Er grummelte etwas über schwätzende Mädchen, die zu viel Lärm machten. Ich schaute zum sich verdunkelnden Himmel auf und dachte, dass die späte Stunde vielleicht mehr mit seinem Erwachen zu tun hatte als das Röhren meines Kompressors.

Sein Knurren brachte Jesse zum Lachen. Er tat so, als wäre er beleidigt, und wandte sich an mich: »Bist du fertig?«

Er konnte sehen, dass ich Kabel und Schlauch aufrollte, also rollte ich noch meine Augen in seine Richtung.

»Respektlosigkeit«, meinte er zu Jesse und schüttelte traurig den Kopf. »Das ist alles, was mir entgegengebracht wird. Vielleicht wird sie anfangen, mich mit dem Respekt zu behandeln, den ich verdiene, wenn ich euch zum Essen ausführe.«

Aber gleichzeitig schnappte er sich den Kompressor, bevor ich ihn zurück in die Scheune rollen konnte.

»Was hast du im Sinn?«, fragte Jesse.

»Mexikanisch«, verkündete er selbstsicher.

Sie stöhnte und schlug ein russisches Café vor, das gerade in der Nähe aufgemacht hatte. Die beiden diskutierten den gesamten Weg zur Scheune und zurück und bis wir im Auto saßen über Restaurants.

Am Ende gingen wir Pizza essen, in einem Lokal an der Columbia, mit einem Spielplatz, viel Lärm und hervorragendem Essen. Als wir zurückkamen, wartete Adam auf uns und schaute währenddessen auf dem kleinen Gerät in meiner Küche fern. Er sah müde aus.

»Hat der Boss dich fertiggemacht?«, fragte ich mitfühlend und drückte ihm einen Brownie in die Hand.

Er schaute ihn an. »Hast du den gemacht oder Jesse?«

Ihr aufgebrachtes »Dad« rief nur ein überhaupt nicht schuldbewusstes Grinsen hervor. »Nur Spaß«, meinte er, dann biss er hinein.

»Ich war die letzten Nächte nicht im Bett«, erklärte er mir. »Mit den Vampiren und den hohen Tieren aus Washington werde ich noch anfangen müssen, wie ein Zweijähriger Schläfchen zu halten.«

»Ärger?«, fragte Samuel vorsichtig.

Er meinte, Ärger wegen mir – oder eher wegen dieses schicken Videos, das ich nie gesehen hatte, auf dem man Adam in halber Wolfsform sah, wie er die Leiche von Tim, dem Vergewaltiger, zerriss.

Adam schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich. Eigentlich immer wieder dasselbe alte Lied.«

»Hast du Marsilia angerufen?«, fragte ich.

»Was?« Jesse hatte gerade ein Glas Milch für ihren Vater gefüllt und stellte es nun ein wenig zu hart ab.

»Mercy«, knurrte Adam.

»Ein Grund dafür, dass du hier bist, ist die Tatsache, dass dein Dad zwei Vampire in seinen Zellen hat«, informierte ich sie. »Wir befinden uns in Verhandlungen mit Marsilia, damit sie ihre Versuche einstellt, alle umzubringen.«

»Ich erfahre immer nur die Hälfe von dem, was passiert.«

Adam bedeckte mit einer übertrieben verzweifelten Geste die Augen, und Samuel lachte. »Hey, alter Mann. Das ist nur die Spitze des Eisberges. Mercy wird dich bald schon am Gängelband führen.« Aber in seinen Augen stand etwas, das nicht Erheiterung war.

Ich glaubte nicht, dass irgendjemand anders es bemerkte oder den seltsamen, unglücklichen Unterton in seiner Stimme hörte. Samuel wollte mich nicht, nicht wirklich. Er wollte kein Alpha sein … aber ich nahm an, dass er das wollte, was Adam hatte, Jesse genauso sehr wie mich – eine Familie: Kinder, eine Frau, einen weißen Gartenzaun oder was auch immer das Pendant dazu gewesen war, als er ein Kind war.

Er wollte ein Zuhause, und sein letztes Zuhause war mit seiner letzten menschlichen Frau gestorben, lange, bevor ich geboren worden war. Er schaute in diesem Moment zu mir, und ich wusste nicht, was in meinem Gesicht lag, aber es ließ ihn erstarren. Löschte einfach jeden Gesichtsausdruck, und für einen Moment ähnelte er unglaublich seinem Halbbruder Charles – einem der unheimlichsten Typen, die ich je getroffen hatte. Charles kann tobende Werwölfe einfach nur anschauen, und sie verkriechen sich schon wimmernd in einer Ecke.

Aber es war nur ein Moment. Er tätschelte mir den Kopf und sagte dann etwas Unterhaltsames zu Jesse.

»Also«, sagte ich. »Hast du Marsilia angerufen, Adam?« Er beobachtete Samuel, sagte aber: »Ja, Ma’am. Ich hatte Estelle dran. Sie sollte Marsilia meine Nachricht ausrichten und sie dazu bringen, mich zurückzurufen.«

»Sie spielt ›Wer kann den anderen überflügeln‹«, bemerkte Samuel.

»Lasst sie«, antwortete Adam. »Das heißt nicht, dass ich dasselbe tun muss.«

»Weil du im Vorteil bist«, verkündete ich befriedigt. »Du hast einen größeren Hebel.«

»Was?«, fragte Jesse.

»Der böse Schwarze Mann von Spokane«, erklärte ich und setzte mich auf den Tisch. »Er kommt, um sie zu holen.«

Das war keineswegs sicher, aber das musste es auch nicht sein, solange wir Marsilia davon überzeugen konnten. Wenn ich Marsilia gewesen wäre, ich hätte mir Sorgen um Blackwood gemacht.

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Adam und Jesse gingen nach Hause. Samuel ging wieder ins Bett und ich tat dasselbe. Als mein Handy klingelte, war ich gerade mitten in einem Traum über Mülltonnen und Frösche – fragt nicht, und ich werde nicht antworten.

»Mercy«, schnurrte Adam.

Ich schaute auf meine Füße, wo Medea schlief. Sie blinzelte mir mit ihren großen grüngoldenen Augen zu und schnurrte noch einmal.

»Adam.«

»Ich habe dich angerufen, um dir zu erzählen, dass ich endlich Marsilia persönlich erreicht habe.«

Ich setzte mich auf, plötzlich überhaupt nicht mehr verschlafen. »Und?«

»Ich habe ihr von Blackwood erzählt. Sie hat sich alles angehört, mir für meine Sorge gedankt und aufgelegt.«

»Sie wird kaum am Telefon einen Panikanfall bekommen und schwören, dass ihr von nun an beste Freunde seid, oder?«

»Nein, das glaube ich auch nicht. Aber ich dachte, ich zeige meinen guten Willen und lasse ihre zwei Babyvampire gehen.«

»Außerdem könntest du Jesse, jetzt wo sie weiß, dass sie da sind, nicht mehr von ihnen fernhalten.«

»Dafür nochmal danke.«

»Jederzeit. Geiseln zu nehmen ist was für die Bösen.«

Er lachte wieder, diesmal ein wenig bitter. »Du hast die Guten offenbar noch nicht in Aktion gesehen.«

»Nein«, antwortete ich. »Vielleicht hast du dich auch nur darin geirrt, wer die Guten waren.«

Nach einer langen Pause sagte er mit sanfter, mitternachtsschwerer Stimme: »Vielleicht hast du Recht.«

»Du bist der Gute«, erklärte ich ihm. »Also musst du dich an die ganzen Regeln halten, die für Gute gelten. Glücklicherweise hast du einen außergewöhnlich talentierten und unglaublich begabten Gehilfen …«

»… der sich in einen Kojoten verwandelt.« Ich konnte das Lächeln in seiner Stimme hören.

»Also musst du dir um die Bösen keine großen Sorgen machen.«

Und dann vertieften wir uns in ernsthaftes, das Herz zum Rasen bringendes Flirten. Am Telefon rief Leidenschaft keine Panikattacke hervor.

Irgendwann legte ich auf. Wir mussten beide am Morgen aufstehen, aber das Telefonat hatte dafür gesorgt, dass ich unruhig und überhaupt nicht müde war. Nach ein paar Minuten stand ich auf und schaute mir die Nähte in meinem Gesicht genauer an. Sie waren winzig, ordentlich, einzeln gesetzt und so verknüpft, dass sie nicht zogen, wenn ich mich verwandelte. Man konnte sich darauf verlassen, dass ein Werwolf Nähte setzte, mit denen man auch die Gestalt verändern konnte.

Ich zog mich aus und öffnete meine Schlafzimmertür. Und als Kojote sprang ich dann durch die neu eingebaute Hundeklappe und lief in die Nacht hinaus.

Ich brachte ein paar Kilometer hinter mich, bevor ich Richtung Fluss auf meine Lieblingslaufstrecke abbog. Und erst, als ich anhielt, um etwas zu trinken, roch ich Vampir – und zwar nicht meinen Vampir. Ich blieb im flachen Wasser stehen und schleckte Wasser auf, als hätte ich nichts bemerkt.

Aber das war egal, weil der Vampir überhaupt nicht vorhatte, versteckt zu bleiben. Wenn ich ihn nicht gerochen hätte, hätte das klar erkennbare Geräusch einer Patrone, die in eine Schrotflinte eingelegt wurde, seine Absichten endgültig klargemacht. Er musste mir von meinem Haus aus gefolgt sein. Oder vielleicht konnte er so gut riechen wie ein Werwolf. Auf jeden Fall wusste er, wer ich war.

Bernard stand am Ufer und hielt die Flinte mit offensichtlicher Vertrautheit direkt auf mich gerichtet. Ein Vampir mit Schrotflinte – das schien mir ein wenig wie ein weißer Hai mit einer Kettensäge: einfach zu viel des Guten.

In diesem Fall hätte ich eine Kettensäge vorgezogen. Ich hasse Schrotflinten. Ich habe auf dem Hintern Narben von einem guten Treffer aus nächster Nähe, aber das war nicht das einzige Mal, dass ich beschossen worden war – nur das schlimmste. Die Rancher in Montana mögen keine Kojoten. Selbst Kojoten, die einfach nur laufen und niemals ein Lamm reißen oder ein Huhn jagen würden. Egal, wie viel Spaß es macht, Hühner zu jagen …

Ich wedelte den Vampir an.

»Marsilia war sich so sicher, dass er dich töten würde«, erklärte Bernard mir. Er klang immer wie einer aus der Kennedy-Familie, mit langen, flachen a’s. »Aber ich sehe, dass du sie reingelegt hast. Sie ist nicht so klug, wie sie denkt – und das wird ihr Untergang sein. Ich brauche deinen Meister, also ruf ihn, damit ich mit ihm sprechen kann.«

Es dauerte einen Moment, bis mir wieder einfiel, wer der Meister war, von dem er sprach. Und dann wusste ich nicht, wie ich es anstellen sollte. Ich hatte so viele neue Verbindungen, und ich wusste nicht, wie ich irgendeine davon benutzen konnte. Was, wenn ich versuchte, Stefan zu rufen und stattdessen Adam hier auftauchte?

Ich brauchte zu lange. Bernard drückte den Abzug. Ich denke, er wollte vorbeischießen – außer er war ein wirklich schlechter Schütze. Aber diverse dieser dämlichen Kugeln trafen und ich jaulte scharf auf. Er hatte die nächste Patrone eingelegt, noch bevor ich mit meiner Beschwerde fertig war.

»Ruf ihn«, sagte Bernard.

Gut. So schwer konnte es nicht sein, oder Stefan hätte mir genauer erklärt, wie es funktionierte. Das hoffte ich zumindest.

Stefan?, dachte ich so intensiv wie möglich. Stefan!

Wenn ich geglaubt hätte, dass ich ihn damit in irgendeine Gefahr brachte, hätte ich es nie versucht, aber ich war mir ziemlich sicher, dass Bernard, wie Estelle, versuchen würde, Stefan für seine Seite des Bürgerkrieges zu gewinnen, der in der Siedhe gerade hochkochte. Er würde im Moment nichts versuchen, und wenn ich an die Art und Weise dachte, wie Stefan mit Estelle fertiggeworden war, machte ich mir wegen Bernard keine Sorgen, solange es kein Überraschungselement gab.

Bernard trug Jeans, Laufschuhe und ein halblegeres Knöpfhemd – und er sah trotzdem aus wie ein Geschäftsmann aus dem neunzehnten Jahrhundert. Obwohl seine Schuhe sogar Leuchtstreifen hatten, war er niemand, der in einer Menschenmenge untertauchen konnte.

»Ich bedauere, dass du so starrköpfig bist«, sagte er. Aber bevor er das Gewehr für einen letzten, schmerzhaften – wenn nicht tödlichen – Schuss heben konnte, erschien Stefan von … irgendwo und riss ihm die Flinte aus den Händen. Er schlug das Rohr gegen einen Stein, dann gab er die nicht mehr brauchbaren Überreste an Bernard zurück.

Ich watete aus dem Wasser und schüttelte mich, sodass Wasser über beide spritzte – aber keiner reagierte darauf.

»Was willst du?«, fragte Stefan kühl. Ich tapste zu ihm und setzte mich zu seinen Füßen. Er schaute zu mir herunter, und noch bevor Bernard seine erste Frage beantworten konnte, sagte er: »Ich rieche Blut. Hat er dich verletzt?«

Ich öffnete mein Maul und warf ihm einen lachenden Blick zu. Ich wusste aus Erfahrung, dass das bisschen Vogelschrot in meinem Hintern nicht tief genug steckte, als dass ich es hätte herausholen müssen – ein Fell hat ziemliche Vorteile. Ich war nicht allzu glücklich darüber, aber Stefan verstand Körpersprache nicht so gut wie ein Wolf. Also zeigte ich ihm auf eine Weise, die er nicht missverstehen konnte, dass ich in Ordnung war – und mein Hintern tat ziemlich weh, als ich mit dem Schwanz wedelte.

Er warf mir einen Blick zu, der unter anderen Umständen als zweifelnd bezeichnet worden wäre. »Okay«, sagte er, dann schaute er wieder zu Bernard, der die zerbrochene Flinte durch die Luft wirbeln ließ.

»Oh«, meinte Bernard. »Bin ich dran? Bist du fertig damit, deine hübsche neue Sklavin zu verhätscheln? Marsilia war sich sicher, dass du deine letzte Herde so sehr gemocht hast, dass du keine Lust haben würdest, sie so schnell zu ersetzen.«

Stefan war sehr ruhig. So wütend, dass er sogar aufgehört hatte zu atmen.

Bernard stellte die Schrotflinte mit einem Ende auf den Boden und lehnte sich darauf, als wäre sie einer dieser Stöcke, mit denen Fred Astaire immer tanzte.

»Du hättest hören sollen, wie sie deinen Namen geschrien haben. Oh, ich habe ganz vergessen, das hast du ja.«

Er wappnete sich für einen Angriff, der niemals kam. Stattdessen verschränkte Stefan die Arme und entspannte sich. Er fing sogar wieder an zu atmen, wofür ich dankbar war. Habt ihr jemals in der Nähe von jemandem gesessen, der die Luft anhielt? Für eine Weile ist es einem egal, aber irgendwann hält man mit ihm die Luft an, während man sich wünscht, er würde wieder atmen. Das ist einer von diesen automatischen Reflexen. Glücklicherweise redet der einzige Vampir, mit dem ich öfter verkehre, gern – also atmet er.

Ich setzte mich neben ihn und bemühte mich, harmlos und gutgelaunt auszusehen – aber gleichzeitig hielt ich Ausschau nach anderen Vampiren. Einer versteckte sich in den Bäumen; er hatte den Fehler gemacht, kurz seine Silhouette vor dem Himmel erscheinen zu lassen. Es gab keine Möglichkeit, Stefan mitzuteilen, was ich gesehen hatte, wie es bei Adam möglich gewesen wäre. Er hätte das Schräglegen meines Kopfes und das Pfotenkratzen deuten können.

Bernards verbaler Angriff hatte nicht ganz den Effekt gehabt, den er erwartet hatte … oder auf den er zumindest vorbereitet gewesen war. Aber das schien ihn nicht zu beunruhigen. Er lächelte und zeigte dabei seine Reißzähne. »Sie hatte nur noch dich«, erklärte er Stefan. »Wulfe gehört uns schon seit Monaten und Andre ebenso. Aber er hatte Angst vor dir, also hat er uns nichts tun lassen.« In den letzten zwei Worten lag ein Abgrund von Frustration, und er riss die Flinte hoch, warf sie sich beiläufig über die Schulter und fing an, auf und ab zu wandern.

Zum ersten Mal wirkte er für mich wie das, was er war. Irgendwie hatte er vorher gewirkt wie ein Statist in einem Dickens-Film – voller Glanz und Gloria und sonst nicht viel. Jetzt, in Bewegung, sah er aus wie ein Raubtier, seine edwardianische Fassade nichts als eine dünne Haut, unter der sich sein wahres Gesicht verbarg.

Estelle hatte mich immer nervös gemacht, aber ich stellte gerade fest, dass ich vor Bernard bis jetzt keine Angst gehabt hatte.

Stefan schwieg, während Bernard weiter seine Tiraden losließ. »Er war am Ende schlimmer als Marsilia. Er hat dieses Ding … diese unkontrollierbare Abartigkeit in unsere Mitte gebracht.« Er schwieg kurz und starrte mich an. Ich senkte sofort die Augen, aber ich konnte fühlen, wie sein Blick sich in meine Haut brannte. »Es ist gut, dass dein Schaf das Ding getötet hat, obwohl Marsilia das nicht so sehen konnte. Es hätte unser Verderben über uns gebracht – und sie hat uns einen zweiten Gefallen getan, indem sie Andre tötete.«

Er schwieg wieder, aber sein Blick ruhte immer noch auf mir, grub sich durch mein Fell, um wirklich mich zu sehen. Es war ungemütlich und beängstigend.

»Wir würden sie leben lassen. Und wenn Marsilia ihren Willen bekommt, dann ist sie tot – genau wie deine letzte Herde.« Bernard wartete, um das einsinken zu lassen. »Marsilia hat Lakaien, die auch tagsüber arbeiten … Zur Hölle, mit den gekreuzten Knochen an der Tür ihrer Werkstatt, die sie als Verräter an uns allen ausweisen, wie lange, glaubst du, kann sie überleben? Goblins, die Aasfresser – es gibt viele von Marsilias Verbündeten, die tagsüber jagen.«

»Sie ist die Gefährtin des Alphas. Die Wölfe werden sie beschützen, wenn ich es nicht kann.«

Bernard lachte. »Es gibt ein paar unter ihnen, die sie noch schneller töten würden als Marsilia. Ein Kojote. Ich bitte dich.« Seine Stimme wurde sanfter. »Du weißt, dass sie sterben wird. Wenn Marsilia sie schon umbringen wollte, weil sie Andre getötet hat, was glaubst du, wie sie jetzt denkt, wo du den Kojoten zu dem Deinen gemacht hast? Sie will dich nicht, aber unsere Herrin war schon immer eifersüchtig. Und du hast diese hier jahrelang beschützt, während du uns eigentlich hättest sagen müssen, dass ein Walker unter uns lebt. Du bist für sie Risiken eingegangen – was wäre passiert, wenn ein anderer Vampir bemerkt hätte, was sie ist? Marsilia weiß, dass sie dir etwas bedeutet, mehr als die Schafe, von denen du dich genährt hast. Im Endeffekt wird Mercedes sterben, und das wird deine Schuld sein.«

Bei diesem Satz zuckte Stefan zusammen. Ich musste ihm nicht ins Gesicht sehen, um es zu bemerken, weil ich seine Bewegungen an meinem Körper fühlte.

»Marsilia muss sterben, oder Mercy wird es tun«, sagte Bernard. »Wen liebst du, Soldat? Diejenige, die dich gerettet hat, oder diejenige, die dich fallengelassen hat? Wem dienst du?«

Er wartete, und ich tat dasselbe.

»Sie war eine Närrin, dich am Leben zu lassen«, murmelte Bernard. »Es gab zwei, denen sie anvertraut hat, wo sie schläft. Andre ist tot. Aber du weißt es, oder? Und du erhebst dich eine volle Stunde vor ihr. Du kannst dafür sorgen, dass das kein blutiger Kampf mit vielen Toten wird. Wer wird sterben? Lily, unsere begabte Musikerin, das ist fast sicher. Estelle hasst sie, weißt du – sie ist talentiert und schön, und Estelle ist nichts davon. Und Marsilia liebt sie. Lily wird sterben.« Dann lächelte er. »Ich würde sie ja selbst umbringen, aber ich weiß, dass sie auch dir etwas bedeutet. Du könntest sie vor Estelle beschützen, Stefan.«

Und er nannte weitere Namen. Niedrigere Vampire, dachte ich, aber Leute, die Stefan wichtig waren.

Als er fertig war, schaute er in Stefans unbeugsames Gesicht und schüttelte verzweifelt den Kopf. »Stefan, in Gottes Namen. Was tust du? Du gehörst nirgendwohin. Sie will dich nicht. Sie hätte das nicht deutlicher machen können, wenn sie dich sofort getötet hätte. Estelle ist töricht. Sie glaubt, dass sie herrschen kann, wenn Marsilia nicht mehr ist. Aber ich weiß es besser. Keiner von uns ist stark genug, um die Siedhe zusammenzuhalten, außer wir arbeiten zusammen – aber das werden wir nicht. Es gibt keine Verbindungen zwischen uns, keine Liebe, und das ist der einzige Weg, wie zwei fast gleich starke Vampire für längere Zeit zusammenarbeiten können. Aber du könntest es. Ich würde dir so treu dienen, wie du es all die Jahre getan hast. Wir brauchen dich, wenn wir überleben wollen.« Er begann wieder damit, auf und ab zu wandern. »Marsilia wird uns alle umbringen. Das weißt du. Sie ist verrückt – nur eine Verrückte würde Wulfe vertrauen. Sie wird dafür sorgen, dass die Menschen uns wieder jagen, nicht nur diese Siedhe, sondern unsere gesamte Art. Und wir werden nicht überleben. Bitte, Stefan.«

Stefan ließ sich auf ein Knie niedersinken und legte einen Arm um meine Schultern. Er beugte den Kopf und flüsterte: »Es tut mir so leid.« Dann stand er wieder auf. »Ich bin ein alter Soldat«, erklärte er Bernard. »Ich diene nur einer, auch wenn sie mich aufgegeben hat.« Er streckte die Hand aus, und diesmal fühlte ich, wie er etwas aus mir zog, als das Schwert in seiner Hand erschien. »Willst du mich hier testen?«, fragte er.

Bernard gab ein frustriertes Geräusch von sich, dann warf er in einer theatralischen Geste die Hände in die Luft. »Nein. Nein. Bitte, Stefan. Bleib nur neutral, wenn der Kampf beginnt.«

Und er drehte sich um und lief. Es war nicht dasselbe wie die Art, wie Stefan verschwinden konnte, aber ich hätte mich schwer anstrengen müssen, um mit ihm Schritt zu halten – und ich bin schnell. Er war schnell genug, dass er wahrscheinlich nicht mehr hörte, wie Stefan sagte: »Nein.«

Er stand neben mir und beobachtete Bernard, bis der Vampir außer Sicht war. Und dann wartete er noch ein wenig länger. Ich beobachtete, wie die Frau sich aus den Bäumen löste, und fand noch einen anderen, als er seine Deckung verließ. Diesen grüßte Stefan mit einer Geste und bekam einen Salut zurück.

»Es wird ein Blutbad«, sagte er zu mir. »Und er hat Recht. Ich könnte es aufhalten. Aber ich werde es nicht tun.«

Ich fragte mich plötzlich, warum Marsilia ihn am Leben gelassen hatte. Wenn er wusste, wo sie schlief, was sonst niemand wusste, wenn er sich vor ihr erhob und auftauchen konnte, wo auch immer er wollte, dann war er eine Gefahr für sie. Sie wusste das sicherlich, wenn sogar Bernard es wusste.

Stefan setzte sich auf einen Steinbrocken und verschränkte die Hände über den Knien. »Ich wollte zu dir kommen, als es dunkel wurde«, sagte er. »Es gibt Dinge, die ich dir über diese Verbindung zwischen uns erklären muss …« Er warf mir ein Lächeln zu, das nur ein Schatten dessen war, was er sonst zeigte. »Nichts Schlimmes.«

Er schaute über das Wasser. »Aber ich dachte, ich sollte vorher ein wenig vor meiner Tür kehren. Die Zeitungen haben Stapel gebildet, jetzt, wo niemand dort wohnt.« Ich hatte das bange Gefühl, dass ich wusste, worauf das hinauslief. »Ich dachte, ich sollte den Verlag anrufen und die Zeitung abbestellen – und dann habe ich sie gelesen. Über den Mann, den du getötet hast. Also bin ich zu Zee gegangen und habe mir die ganze Geschichte geholt.«

Er schaute mich an. »Es tut mir leid«, sagte er.

Ich stand bedächtig auf und schüttelte mich, als wäre mein Fell nass.

Er lächelte wieder, nur ein kurzes Zucken der Lippen. »Ich bin froh, dass du ihn getötet hast. Ich wünschte nur, ich wäre da gewesen, um es zu sehen.«

Ich dachte daran, wo er gewesen war, gefoltert von Marsilia, und wünschte mir, ich könnte dabei zusehen, wie er sie umbrachte.

Ich seufzte, ging zu ihm und legte ihm mein Kinn aufs Knie. Wir beobachteten gemeinsam, wie das Wasser im silbernen Mondlicht an uns vorbeifloss. In der Nähe gab es Häuser, aber wo wir waren, gab es nur uns und den Fluss.