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4

Ich wäre gerne ewig geblieben, aber nach ein paar Minuten spürte ich, wie mir kalter Schweiß auf die Stirn trat und sich meine Kehle zuschnürte. Ich wich einen Schritt zurück, bevor ich wegen der Aversion gegen Berührungen, die mir Tim hinterlassen hatte, noch heftiger reagierte.

Erst als ich nicht mehr an Adam gedrückt war, fiel mir auf, dass wir vom Rudel umgeben waren.

Okay, vier Wölfe sind noch nicht das Rudel. Aber ich hatte sie nicht kommen hören, und glaubt mir, wenn fünf Werwölfe (inklusive Adam) in der Gegend sind, dann fühlt man sich umzingelt und unterlegen.

Ben war da, mit einem fröhlichen Gesichtsausdruck, der auf seinem fein geschnittenen Gesicht völlig falsch aussah, das viel öfter wütend oder bitter war als glücklich. Warren, Adams dritter Mann, wirkte wie eine Katze, die Sahne geschleckt hat. Arielle, Darryls Gefährtin, machte einen neutralen Eindruck, aber in ihrer Haltung war etwas, das mir verriet, dass sie ziemlich erschüttert war. Der vierte Wolf war Paul, den ich nicht besonders gut kannte – aber was ich über ihn wusste, gefiel mir nicht.

Paul, der Anführer der ›Ich hasse Warren, weil er schwul ist‹-Fraktion in Adams Rudel, wirkte, als habe ihm jemand aus dem Hinterhalt einen Schlag verpasst. Ich hatte das Gefühl, dass er soeben einen neuen Lieblingsfeind im Rudel gefunden hatte.

Hinter mir legte Adam seine Hände auf meine Schultern. »Meine Kinder«, sagte er förmlich, »heißt Mercedes Athena Thompson willkommen, unser neuestes Mitglied.«

Es folgte große Verlegenheit.

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Wenn ich ihn vorher nicht gespürt hätte, hätte ich gedacht, dass Stefan immer noch bewusstlos war, oder tot, oder was auch immer. Er lag steif auf dem Bett im Käfig, wie eine aufgebahrte Leiche.

Ich schaltete das Licht an, um ihn besser sehen zu können. Die Nährung hatte einen Großteil der sichtbaren Schäden geheilt, obwohl er immer noch rote Male auf den Wangen hatte. Er wirkte fünfzig Pfund leichter als das letzte Mal, als ich ihn gesehen hatte – und für meinen Seelenfrieden zu sehr wie das Opfer eines Konzentrationslagers. Man hatte ihm neue Kleidung gegeben, um die dreckige, zerrissene und befleckte zu ersetzen, und zwar das allgegenwärtige Outfit, das in jeder Wolfhöhle herumlag – einen Trainingsanzug. Der, den er trug, war grau und hing an ihm herunter.

Adam hielt in seinem Wohnzimmer etwas ab, was sich ziemlich rasant zu einer vollen Rudelversammlung entwickelte. Er hatte erleichtert gewirkt, als ich mich entschuldigt hatte, um nach Stefan zu sehen – ich hatte das Gefühl, dass er sich Sorgen darum machte, dass jemand etwas sagen würde, was meine Gefühle verletzen könnte. Aber da unterschätzte er die Dicke meiner Haut. Leute, die mir etwas bedeuteten, konnten meine Gefühle verletzen, aber quasi vollkommen Fremde? Es war mir völlig egal, was sie dachten.

Wolfsrudel waren Diktaturen, aber wenn man es mit einer Gruppe Amerikaner zu tun hat, die mit der Bill of Rights aufgewachsen waren, musste man trotzdem ein wenig vorsichtig vorgehen. Neue Mitglieder wurden normalerweise als Anwärter vorgestellt, nicht als vollendete Tatsachen serviert. Und ein wenig Umsicht wäre besonders angebracht gewesen, wenn er etwas so Empörendes plante, wie einen Nicht-Werwolf ins Rudel zu integrieren.

Ich hatte noch nie gehört, dass jemand das getan hatte. Nicht-Werwolf-Gefährten waren nicht Teil des Rudels, nicht wirklich. Sie hatten einen Status als die Gefährten von Wölfen, aber sie gehörten nicht zum Rudel. Konnten auch nicht mit fünfzig Fleisch-und-Blut-Zeremonien zu Rudelmitgliedern gemacht werden – die Magie ließ einfach keine Menschen ein. Anscheinend war mein Kojotentum nah genug am Wolf dran, um die Rudelmagie davon zu überzeugen, mich einzulassen.

Wahrscheinlich hätte Adam meine Einführung auch mit dem Marrok besprechen sollen.

Autos fuhren vor dem Haus vor. Weitere Rudelmitglieder. Ich konnte ihre Anwesenheit spüren, ihre Unruhe und ihre Verwirrung. Und Wut.

Nervös rieb ich mir die Arme.

»Was läuft falsch?«, fragte Stefan mit einer ruhigen, normalen Stimme, die mich um einiges mehr beruhigt hätte, wenn er dazu auch die Augen geöffnet hätte.

»Außer Marsilia?«, fragte ich ihn.

Daraufhin schaute er mich an und seine Mundwinkel hoben sich leicht. »Das reicht, nehme ich an. Aber Marsilia ist nicht der Grund, warum das Haus sich mit Werwölfen füllt.«

Ich setzte mich auf den dicken Teppich auf dem Kellerboden und lehnte meinen Kopf gegen die Gitter des Käfigs. Die Tür war zu und verschlossen, und der Schlüssel, der manchmal neben der Tür zum Flur hing, war verschwunden. Adam würde ihn haben. Es war allerdings auch egal. Ich war mir ziemlich sicher, dass Stefan verschwinden konnte, wann immer er wollte – auf dieselbe Art, wie er in meinem Wohnzimmer erschienen war.

»Stimmt«, seufzte ich. »Naja, das ist auch irgendwie dein Fehler, nehme ich an.«

Er setzte sich auf und lehnte sich vor. »Was ist passiert?«

»Als du in meinen Kopf eingedrungen bist«, erklärte ich ihm, »hat Adam das übelgenommen.« Ich erzählte ihm nicht genau, was passiert war. Die Vernunft sagte mir, dass Adam nicht begeistert wäre, wenn ich Rudelangelegenheiten mit einem Außenseiter teilte. »Was er getan hat – und danach wirst du ihn selbst fragen müssen, denke ich –, hat ihm das Rudel auf den Hals gejagt.«

Er runzelte in offensichtlicher Verwirrung die Stirn, aber dann breitete sich langsam Verstehen auf seinem Gesicht aus. »Es tut mir leid, Marcy. Du solltest nicht … Ich wollte das nicht.« Er wandte den Kopf ab. »Ich bin es nicht gewöhnt, so allein zu sein. Ich habe geträumt, und da warst du, die Einzige mit einer Blutsverbindung zu mir, die noch übrig ist. Ich dachte, das hätte ich auch geträumt.«

»Sie hat sie wirklich alle umbringen lassen?«, flüsterte ich und erinnerte mich an einiges von dem, was er mit mir geteilt hatte, als er in meinem Geist gewesen war. »All deine …« ›Schafe‹ war nicht gerade politisch korrekt, und ich wollte ihn nicht beleidigen, selbst wenn das der Begriff ist, mit dem Vampire die banalen Menschen bezeichnen, von denen sie sich nähren. »Alle deine Leute?«

Ich kannte einige von ihnen, und hatte ein oder zwei gemocht. Aus irgendeinem Grund erinnerte ich mich aber nicht an die Gesichter der Lebenden, die ich getroffen hatte, sondern an den jungen Vampir Danny, dessen Geist sich in einer Ecke von Stefans Küche gewiegt hatte. Stefan hatte auch ihn nicht beschützen können.

Stefan warf mir einen Blick zu, der aussah, als wäre ihm schlecht. »Sie sagte, es wäre, um mich zu disziplinieren. Aber es war mehr Rache als irgendwas anderes. Und ich kann mich auch aus der Entfernung von ihnen nähren. Sie wollte, dass ich quasi am Verhungern bin, wenn ich vor deinen Füßen lande.«

»Sie wollte, dass du mich tötest.«

Er nickte abrupt. »Genau. Und wenn du nicht Adams halbes Rudel im Haus gehabt hättest, wäre es auch so gekommen.«

Ich dachte an seine störrische Miene zurück. »Ich glaube, sie hat dich unterschätzt«, erklärte ich ihm.

»Hat sie das?« Er lächelte, nur ein wenig, und schüttelte den Kopf.

Ich lehnte meinen Kopf an die Wand. »Ich bin …« Immer noch wütend auf dich traf es nicht ganz. Er war der Mörder Unschuldiger, und hier saß ich und sprach mit ihm, machte mir Sorgen um ihn. Ich wusste nicht, wie ich den Gedanken zu Ende führen sollte, geschweige denn den Satz, also sagte ich lieber etwas anderes.

»Also weiß Marsilia, dass ich Andre getötet habe, und dass du und Wulfe es vertuscht haben?«

Er schüttelte den Kopf. »Sie weiß irgendwas – sie hat nicht groß mit mir gesprochen. Sie hat nur mich bestraft, also glaube ich nicht, dass sie von Wulfe weiß. Und vielleicht nicht mal von mir …« Er sah mich unter den Ponyfransen hervor an, die seit gestern gewachsen waren – ich hatte gehört, dass heftige Nährung diesen Effekt haben konnte. »Ich hatte das Gefühl, dass ich wegen meiner Verbindung zu dir bestraft wurde. Ich war dein Kontakt zur Siedhe. Ich war der Grund dafür, dass sie dich um Hilfe gebeten hat und dir die Erlaubnis gegeben hat, Andres Spielzeug umzubringen. Ich war der Grund dafür, dass du Erfolg hattest. Du bist mein Fehler.«

»Sie ist verrückt.«

Er schüttelte wieder den Kopf. »Du kennst sie nicht. Sie versucht, das Beste für ihre Leute zu tun.«

Die Tri-Cities-Siedhe war größtenteils schon in der Gegend gewesen, bevor die Städte gegründet worden waren. Marsilia war als Strafe hierhergeschickt worden, weil sie mit dem Favoriten von jemand anderem geschlafen hatte. Sie war einmal eine Person von Stand gewesen, also hatte sie ein Gefolge mitgebracht; soweit ich wusste, bestehend aus Stefan, Andre – dem zweiten Vampir, den ich getötet hatte – und einer wirklich unheimlichen Gestalt namens Wulfe.

Wulfe, der aussah wie ein sechzehnjähriger Junge, war als Mensch ein Hexer oder Hexenmeister gewesen und kleidete sich manchmal wie ein mittelalterlicher Bauer. Ich nehme an, er könnte es nur vorspielen, aber ich ging davon aus, dass er älter war als Marsilia, die aus der Renaissance stammte, also passten die Klamotten.

Marsilia war zum Sterben hierhergeschickt worden, aber das hatte sie nicht getan. Stattdessen hatte sie dafür gesorgt, dass ihre Leute überlebten. Und als die Zivilisation sich ausbreitete, wurde das Leben in der Siedhe einfacher. Als der Kampf ums Überleben etwas war, was überwiegend in der Vergangenheit lag, hatte Marsilia sich in eine jahrzehntelange Phase der Apathie versenkt – ich würde es Schmollen nennen. Sie hatte gerade erst wieder angefangen, ein Interesse für die Geschehnisse um sich herum zu entwickeln, und ein Ergebnis davon war, dass die Hierarchie der Siedhe in Aufruhr war. Stefan und Andre waren loyale Gefolgsleute gewesen, aber es gab ein paar andere Vamps, die nicht so glücklich darüber waren, dass Marsilia wieder aufgetaucht war und die Kontrolle übernahm. Ich hatte sie getroffen: Estelle und Bernard. Aber ich wusste nicht genug über Vampire, um mir auszurechnen, wie groß die Bedrohung war, die von ihnen ausging.

Bei meiner ersten Begegnung mit Marsilia hatte ich sie irgendwie bewundert … zumindest, bis sie Samuel in ihren Bann gezogen hatte. Das hatte mir Angst gemacht. Samuel ist der zweitdominanteste Wolf in Nordamerika, und sie und ihre Vampire hatten ihn … allzu leicht übernommen. Und diese Angst hatte seitdem bei jedem Treffen zugenommen.

»Ich will nicht diskutieren, Stefan«, sagte ich. »Aber sie ist völlig bekloppt. Sie wollte noch eines von diesen … Dingern schaffen, wie das, das Andre gemacht hat.«

Seine Miene wurde ausdruckslos. »Du weißt nicht, wovon du redest. Du hast keine Ahnung, was sie aufgegeben hat, als sie hierherkam, und was sie für uns getan hat.«

»Vielleicht nicht, aber ich habe diese Kreatur gesehen, und du auch. Nichts Gutes kann jemals daraus entspringen, noch eine zu machen.« Besessenheit ist nichts Schönes. Ich holte tief Luft und bemühte mich, mein Temperament zu zügeln. Es gelang mir nicht. »Aber du hast Recht, ich weiß nicht, wie sie tickt. Dich kenne ich auch nicht.«

Er sah mich nur weiter ausdruckslos an.

»Du spielst den Menschen sehr gut, wie du in deiner Mystery Machine herumfährst wie Shaggy. Aber der Mann, von dem ich glaubte, ihn zu kennen, hätte niemals so einfach Andres Opfer umbringen können.«

»Wulfe hat sie getötet.« Es war eine Feststellung, keine Verteidigung. Das machte mich wütend; er sollte das Bedürfnis haben, sich zu verteidigen.

»Du hast zugestimmt. Zwei Leute, die bereits Opfer waren, und ihr habt ihnen das Genick gebrochen, als wären sie nicht mehr als Hühner.«

Ungefähr an diesem Punkt wurde auch er wütend. »Ich habe es für dich getan. Verstehst du nicht? Sie waren nichts, weniger als nichts. Obdachlose, die sich selbst überlassen sowieso gestorben wären. Und sie hätte dich umgebracht.« Als er fertig war, stand er.

»Sie waren nichts? Woher weißt du das? Es war ja nicht so, als hättest du dich mit ihnen unterhalten.« Ich stand auch auf.

»Sie hätten sowieso sterben müssen. Sie wussten von uns.«

»Und da gehen unsere Meinungen auseinander«, hielt ich dagegen. »Was ist mit eurer vielgerühmten Macht über den Geist des Menschen?«

»Das funktioniert nur, wenn der Kontakt zu uns sehr kurz ist – eine Nährung, nicht mehr.«

»Sie waren lebende, atmende Menschen, die umgebracht wurden. Von dir.«

»Woher wusstest du, dass Mercy in Andres Haus war?« Warrens ruhige Stimme wirkte wie ein Eimer eiskaltes Wasser. Er kam die Treppe herunter, ging an mir vorbei und benutzte den Schlüssel, um den Käfig zu öffnen. »Das frage ich mich schon seit einer Weile.«

»Was meinst du?«

»Ich meine, dass wir wussten, dass sie Andre gefunden hat, weil sie es Ben erzählt hat und dachte, er könne es niemandem sagen, weil er sich in der ganzen Zeit seit dem Tod des Besessenen nicht aus der Wolfsform zurückverwandelt hatte. Ben verwandelte sich, um es uns zu sagen, aber wir konnten ihr trotzdem nicht folgen, weil wir nicht wussten, wo Andres Haus war. Du hattest keine Möglichkeit zu wissen, was sie tat. Woher wusstest du, dass sie dabei war, Andre zu töten, sodass du rechtzeitig auftauchen konntest, um ihr Verbrechen zu vertuschen?«

Stefan machte keine Anstalten, aus dem Käfig herauszukommen. Er verschränkte stattdessen die Arme und lehnte sich gegen das Gitter, während er über Warrens Frage nachdachte.

»Es war Wulfe, oder?«, fragte ich. »Er wusste, was ich tat, weil eines der Häuser, das ich gefunden hatte, seins war.«

»Wulfe«, meinte Warren langsam, als Stefan nicht antwortete. »Ist er die Art von Mann, die darüber entrüstet wäre, dass Marsilia einen Dämonen rufen wollte, um einen Vampir in Besitz zu nehmen? Würde er das stoppen wollen, auch wenn es bedeutete, Andre zu zerstören? Würde er dich aufsuchen, um dich um Hilfe zu bitten?«

Stefan schloss die Augen. »Wulfe kam zu mir. Erzählte mir, dass Mercy in Schwierigkeiten stecke und Hilfe bräuchte. Erst danach fing ich an, mich zu fragen, warum er das getan hatte.«

»Du hast darüber schon nachgedacht«, sagte Warren. »Was ist deine Erklärung?«

»Spielt das eine Rolle?«

»Es ist immer gut, seine Feinde zu kennen«, antwortete Warren mit seinem gedehnten texanischen Akzent. »Wer sind deine?«

Stefan starrte ihn an wie ein gehetzter Bär, frustriert und wild. »Ich weiß es nicht«, presste er durch die Zähne hervor.

Warren lächelte kalt. Seine Augen waren hart. »Oh, ich glaube, das weißt du schon. Du bist nicht dumm; du bist kein Kind mehr. Du weißt, wie diese Sachen ablaufen.«

»Wulfe hat mich benutzt, um an dich ranzukommen«, sagte ich. »Und dann hat er Marsilia erzählt, was du getan hast.«

Stefan schaute mich nur an.

»Nachdem du und Andre aus dem Weg sind, bleiben noch Wulfe, Bernard und Estelle.« Ich rieb mir die Hände und fragte mich, ob es Stefan irgendetwas bringen würde, zu wissen, was geschehen war. Es würde nichts ändern, und zu wissen, dass er in Wulfes Falle getappt war, würde Stefan jetzt auch nicht helfen. Trotzdem, wie Warren gesagt hatte: Es war gut, seine Feinde zu kennen. »Und Bernard und Estelle, den beiden vertraut Marsilia nicht, richtig?«

Stefan nickte. »Sie arbeiten gegen sie, wo immer sie können, und das weiß sie. Sie sind die Schöpfungen eines anderen und wurden ihr von einem Vampir als Geschenk überreicht, das man nicht leicht ablehnen kann. Sie muss sich um sie kümmern, wie man es bei solchen Geschenken tut – aber das heißt nicht, dass sie ihnen vertrauen muss. Wulfe … Wulfe ist sogar sich selbst ein Rätsel, glaube ich. Du glaubst, Wulfe hat das alles arrangiert, als seinen Weg an die Macht.« Er schaute zur Seite und sagte für eine Weile nichts, während er offensichtlich über meine Worte nachdachte.

Schließlich umfasste er die Gitterstäbe des offenen Käfigs. »Wulfe hat bereits Macht … und falls er mehr haben wollte, könnte er sie jederzeit haben. Aber es sieht so aus, als hätte er eine Rolle in meinem Niedergang gespielt, aus welchem Grund auch immer.«

»Wenn Marsilia weiß, dass du geholfen hast, nachdem Mercy Andre umgebracht hat, wieso ist Mercy nicht tot?«, fragte Warren.

»Sie sollte es sein«, sagte Stefan wütend. »Warum, glaubst du, hat Marsilia mich ausgehungert, bis ich nichts mehr war als eine rasende Bestie, um mich dann in Mercys Wohnzimmer zu werfen? Ihr habt doch nicht geglaubt, dass ich es selbst gewesen bin, oder?«

Ich nickte. »Also dachte sie, sie würde alles bekommen, ohne Kosten für sich oder die Siedhe? Wenn du mich umgebracht hättest, hätte sie behaupten können, du wärst entkommen, während sie dich bestrafte. Zu dumm, dass du in meinem Haus aufgetaucht bist und mich umgebracht hast. Aber sie hat dich unterschätzt.«

»Sie hat mich nicht unterschätzt«, sagte Stefan. »Sie kennt mich.« Er schenkte mir einen Blick, der klarmachte, dass meine Stichelei von vorhin gesessen hatte. »Sie hat einfach nur nicht damit gerechnet, dass du den Alpha-Werwolf in deinem Trailer hast, der ihr die Tour vermasselt.«

Ich war da gewesen – und ich glaubte immer noch nicht, dass er es getan hätte.

Stefan grinste mich höhnisch an, als er mein Gesicht sah. »Verschwende nicht deine Zeit damit, romantische Vorstellungen von mir zu pflegen. Ich bin ein Vampir, und ich hätte dich umgebracht.«

»Er ist süß, wenn er wütend ist«, merkte Warren trocken an.

Stefan wandte uns den Rücken zu.

»Sie ist ganz allein, und sie weiß es nicht mal«, sagte er mit sanfter Qual in der Stimme.

Er sprach nicht von mir.

Er war in letzter Zeit böse verletzt worden, und ich fand, er verdiente eine Ruhepause. Also drehte ich mich zu Warren um und fragte: »Warum bist du nicht oben bei der Versammlung?«

Warren zuckte mit den Schultern, sein Blick war wachsam. »Der Boss kommt besser zurecht, wenn ich nicht da bin, um für Unruhe zu sorgen.

»Paul hasst mich mehr, als er dich hasst«, erklärte ich ihm selbstzufrieden.

Er warf den Kopf zurück und lachte – was meine Absicht gewesen war. »Willst du wetten? Ich habe seinen Arsch bis nach Seattle und zurück verdroschen. Er ist nicht gerade zufrieden mit mir.«

»Du bist ein Wolf. Ich bin ein Kojote – da gibt es keinen Vergleich.«

»Hey«, meinte Warren und spielte den Verletzten. »Du bist keine Bedrohung für seine Männlichkeit.«

»Ich verunreinige das Rudel«, erklärte ich ihm. »Du bist nur eine Anomalie.«

»Das kommt daher, dass du ihn … Stefan?«

Ich schaute mich um, aber der Vampir war weg. Ich hatte keine Chance gehabt, ihn über die gekreuzten Knochen an meiner Tür auszufragen.

»Schei-ße«, rief Warren. »Schei-ße.«

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»Hast du Bran angerufen?«, fragte ich Adam am nächsten Abend und zog den Saum meines grün-blauen Lieblingskleides nach unten, bis es meiner nackten Haut so viel Schutz wie möglich vor den Ledersitzen in Adams SUV gab.

Er hatte mir nicht gesagt, wo unsere Verabredung stattfinden würde, aber Jesse hatte mich angerufen, sobald er das Haus verlassen hatte, und hatte mir beschrieben, was er anhatte – so hatte ich gewusst, dass ich schwere Geschütze auffahren musste. Obwohl unsere Grundstücke hinten aneinandergrenzten, war die Entfernung mit dem Auto um einiges weiter. So hatte ich die Zeit gehabt, in das richtige Kleid zu schlüpfen, bevor er vor meiner Tür hielt.

Adam trägt Anzüge. Er trägt Anzüge in der Arbeit, zu Rudelversammlungen, zu politischen Treffen. Nachdem er genauso viel arbeitet wie ich, heißt das sechs Tage die Woche. Aber es gab trotzdem einen Unterschied zwischen seinen normalen Arbeitsanzügen und dem, den er heute trug. Die anderen waren angefertigt worden, um auszustrahlen, dass er das Sagen hatte. Dieser hier sagte: »Und er ist auch noch sexy.« Und das war er auch.

»Es gibt keinen Grund, Bran anzurufen«, erklärte er mir gereizt, als er den großen Wagen auf den Highway lenkte. »Wahrscheinlich hat ungefähr die Hälfte des Rudels Bran angerufen, kaum, dass sie zu Hause waren. Er wird mich anrufen, wenn er bereit ist.«

Er hatte wahrscheinlich Recht. Ich hatte nicht nachgefragt, aber seine verbissene Miene, als Warren und ich letzten Abend aus dem Keller gekommen waren – nachdem alle bis auf Samuel wieder gegangen waren –, hatte eine eigene Geschichte erzählt.

Samuel hatte mich auf den Mund geküsst, um Adam zu reizen, und mir durchs Haar gewuschelt. »Da hast du’s, kleiner Wolf. Immer noch von Natur aus begabt, Ärger zu machen.«

Das war unfair. Es waren Stefan und Adam gewesen, die das hier angerichtet hatten. Ich setzte Samuel davon in Kenntnis, aber erst, nachdem er mich nach Hause begleitet hatte.

Adam hatte mich einmal angerufen, am Nachmittag, um sicherzustellen, dass ich nicht vergessen hatte, dass er mich ausführen wollte. Ich hatte sofort Jesse angerufen und ihr aufgetragen, mich darüber zu informieren, was ihr Vater trug, wenn er aus dem Haus ging. Jetzt schuldete ich ihr fünf Dollar, aber Adams Lächeln zu sehen, als ich in seinen SUV stieg, war es wert.

Aber dann hatte mein Mundwerk die Kontrolle übernommen. Sein Explorer hatte immer noch eine Delle im Kotflügel, wo einer seiner Wölfe dagegengeknallt war – geworfen von einem wütenden Feenwesen. Mein Fehler. Also hatte ich ihn gefragt, ob er schon einen Kostenvoranschlag eingeholt hatte, und er hatte mich angeknurrt. Dann hatte ich ihn nach Bran gefragt.

Bis jetzt lief unsere Verabredung einfach super.

Ich spielte wieder an meinem Rock herum.

»Mercy«, sagte Adam, und seine Stimme klang noch knurriger als vorher.

»Was?« Dass ich ihn anblaffte, war sein eigener Fehler. Er war zuerst mürrisch geworden.

»Wenn du nicht aufhörst, an diesem Kleid herumzuspielen, dann werde ich es dir vom Körper reißen und wir werden kein Abendessen bekommen.«

Ich schaute ihn an. Er beobachtete die Straße, und seine Hände lagen auf dem Lenkrad … aber sobald ich darauf achtete, konnte ich sehen, was ich ihm angetan hatte. Ich. Mit Resten von Dreck unter den Fingernägeln und Fäden in meinem Kinn.

Vielleicht hatte ich unsere Verabredung gar nicht so schlimm in den Sand gesetzt. Ich strich meinen Rock wieder glatt und widersetzte mich nur deswegen erfolgreich dem Drang, ihn noch höher zu ziehen, weil ich mir nicht sicher war, ob ich mit dem, was dann vielleicht folgen würde, schon umgehen konnte. Ich vermutete, dass Adam nur scherzte, aber … Ich drehte schnell den Kopf zum Fenster und versuchte angestrengt, nicht zu grinsen.

Er fuhr uns zu einem Restaurant, das in der Boomtown, die sich in West Pasco bildete, gerade neu eröffnet hatte. Vor nur ein paar Jahren hatte es hier nur Wüste gegeben, aber jetzt standen hier Restaurants, ein Theater, ein großer Lowe’s-Heimwerkermarkt und ein … größengigantomanischer (Jesses Wort), riesiger Wal-Mart.

»Ich hoffe, du magst Thai.« Er parkte den Wagen im absoluten Niemandsland des Parkplatzes. Paranoia zeigt sich in seltsamen Momenten. Ich bekam Panikattacken und er parkte an Stellen, wo er schnell wieder abhauen konnte. Geteilte Paranoia – konnte ewiges Glück noch weit entfernt sein?

Ich sprang aus dem Wagen und verkündete in angemessen entschlossenem Tonfall: »Ich bin mir sicher, dass sie auch Hamburger haben.«

Dann knallte ich nach einem Blick auf sein erschüttertes Gesicht die Tür zu. Die Schlösser klickten, und schon war er da, mit einem Arm auf jeder Seite meines Kopfes … grinsend.

»Du magst Thai. Gib es zu.«

Ich verschränkte die Arme und ignorierte den kreischenden Idioten in meinem Hinterkopf, der schrie ›er hat mich in der Falle, ich bin gefangen‹. Es half, dass Adam ganz nah noch besser ist, als Adam eine halbe Autobreite entfernt. Und ein grinsender Adam … na ja. Er hat ein Grübchen, nur eines. Mehr braucht er auch nicht.

»Jesse hat es dir erzählt, oder?«, sagte ich miesepeterig. »Wenn ich sie das nächste Mal sehe, werde ich sie als das Plappermaul an den Pranger stellen, das sie ist. Tue ich wirklich.«

Er lachte … und senkte die Arme und trat zurück, was bewies, dass er meine anfängliche Panik bemerkt hatte. Ich schnappte mir seinen Arm, um zu beweisen, dass ich keine Angst hatte, und zog ihn um den Explorer herum Richtung Restaurant.

Das Essen war herausragend. Ich machte Adam darauf aufmerksam, dass sie wirklich Hamburger hatten. Keiner von uns bestellte sie, obwohl sie wahrscheinlich auch gut gewesen wären. Aber ich hätte genauso gut Algen und Staub essen können und hätte es trotzdem genossen.

Wir redeten über Autos – und dass ich der Meinung war, dass sein Explorer ein Haufen Schrott war, während er dachte, dass ich in meinem Autogeschmack in den siebziger Jahren steckengeblieben wäre. Ich machte ihn darauf aufmerksam, dass mein Golf aus den Achtzigern stammte, genauso wie mein Vanagon – und dass die Chance, dass sein SUV in dreißig Jahren noch fahren würde, gegen null ging. Besonders, wenn weiter Wölfe darauf geworfenwurden.

Wir sprachen über Filme und Bücher. Er las gern Biografien, ausgerechnet. Die einzige Biografie, die mir je gefallen hatte, war Carry on, Mr. Bowditch, und das hatte ich in der siebten Klasse gelesen. Er las keine Romane.

Wir gerieten in eine Diskussion über Yeats. Nicht über seine Gedichte, sondern über seine Besessenheit vom Okkulten. Adam hielt das für lächerlich … und ich fand es witzig, dass ein Werwolf so dachte, und jagte ihn immer wieder hoch, bis er mich dabei erwischte.

»Mercy«, sagte er … und dann klingelte sein Telefon.

Ich nippte an meinem Wasser und stellte mich darauf ein, seinem Gespräch zuzuhören. Aber es stellte sich heraus, dass es sehr kurz war.

»Hauptman«, meldete er sich barsch.

»Du kommst besser hierher, Wolf«, sagte eine unbekannte Stimme und legte wieder auf.

Er schaute auf die Nummer und runzelte die Stirn. Ich stand auf und ging um den Tisch herum, damit ich ihm über die Schulter schauen konnte.

»Es ist jemand von Onkel Mike’s«, sagte ich. Ich hatte mir die Nummer eingeprägt.

Adam warf Geld auf den Tisch und wir trotteten aus der Tür. Mit finsterer Miene fädelte er den Explorer durch den Verkehr, immer ein wenig über der zulässigen Höchstgeschwindigkeit. Wir hatten gerade die Interstate erreicht, als etwas passierte … Ich fühlte ein Aufblitzen von Wut und Entsetzen, und jemand starb. Einer aus dem Rudel.

Ich legte eine Hand auf Adams Bein und grub meine Nägel in seinen Oberschenkel, als ich die Trauer und Wut spürte, die sich im Rudel verbreitete. Er gab Gas und glitt durch den Abendverkehr wie ein Aal. Keiner von uns sprach ein Wort während der fünf Minuten, die es uns kostete, Onkel Mike’s zu erreichen.

Der Parkplatz war voller großer SUVs und Laster, die Art, wie die meisten Feenwesen sie fuhren. Adam hielt sich nicht mit Parken auf, sondern fuhr einfach direkt vor die Tür und hielt an. Er wartete nicht auf mich – aber das musste er auch nicht. Ich war direkt hinter ihm, als er sich an dem Türsteher vorbeischob.

Der Türsteher protestierte nicht.

Onkel Mike’s roch nach Bier, Chickenwings und Popcorn, was nicht anders war als in jeder anderen Bar in den Tri-Cities, hätte es nicht auch noch nach dem Feenvolk gerochen. Ich weiß nicht, ob sie sich selbst so einteilen, aber das Feenvolk riecht für mich immer nach den vier Elementen der alten Philosophen: Erde, Luft, Feuer und Wasser, mit einem guten Schuss Magie dabei.

Keiner dieser Gerüche störte mich im Geringsten … nur das Blut.

Onkel Mikes gebieterische Stimme drängte die Menge zurück, bis Adam und mir der Weg versperrt war. Das war der Moment, wo Adam die Kontrolle verlor und anfing, mit Leuten zu werfen.

Kein wirklich sicheres Vorgehen in Onkel Mike’s. Die meisten Angehörigen des Feenvolkes, die ich getroffen hatte, hatten einem Werwolf nichts entgegenzusetzen, aber es gibt auch Oger und andere Dinge, die aussehen wie alle anderen, bis sie wütend werden.

Aber erst als Adam anfing, sich zu verwandeln und sich seinen schwarzen Anzug vom Leib zu reißen, verstand ich, dass hier mehr vorging als Adam, der die Beherrschung verlor.

»Adam!« Es hatte keinen Sinn, meine Stimme ging im Lärm der Menge unter. Ich legte eine Hand an seinen Rücken, damit ich ihn nicht verlor, und dann spürte ich es.

Magie.

Ich riss meine Hand zurück. Es fühlte sich nicht an wie Feenvolk-Magie. Ich schaute mich nach jemandem um, der sich ein wenig zu sehr auf Adam konzentrierte, konnte aber in der Menge niemanden entdecken.

Was ich allerdings sehen konnte, war eine kleine Stofftasche, die ein Stück hinter uns in den Dachbalken hing. Ungefähr an der Stelle, an der Adam angefangen hatte, körperliche Gewalt einzusetzen, um vorwärtszukommen. Die Decke in Onkel Mike’s ist ungefähr vier Meter hoch. Ich konnte diese Tasche nicht ohne Leiter erreichen – und ich würde hier in der nächsten Zeit schwerlich eine Leiter finden.

Ein schmaler, fast weibischer Mann trat unter die Tasche, während ich sie beobachtete. Er kam plötzlich zum Stehen, dann warf er seinen Kopf zurück und brüllte. Das Geräusch war so mächtig, dass es jeden anderen Laut erstickte und die Deckenbalken zum Zittern brachte. Sein Schutzzauber, die Illusion, die ihn menschlich aussehen ließ, zerbrach und ich könnte schwören, dass ich sah, wie eine Wolke glitzernder Staub sich um ihn ausbreitete.

Er war riesig, eine unmögliche Masse aus Grau und Blau, immer noch ungefähr menschenförmig, aber sein Gesicht sah aus, als wäre es zerflossen und nur ein vager Hügel zurückgeblieben, wo die Nase hätte sein sollen. Sein Maul war ziemlich einfach zu erkennen – es wäre wirklich schwierig gewesen, all diese riesigen Zähne zu übersehen. Silbrige Augen, zu klein für dieses riesige Gesicht, starrten unter glitzernden blauen Augenbrauen hervor. Er schüttelte sich, und wieder verteilte sich glitzernder Staub, der schmolz, sobald er wärmere Oberflächen berührte. Er verlor Schnee.

In der folgenden Stille sagte eine kleine, verdrießliche Stimme: »Verdammter Schnee-Elf.« Ich konnte den Sprecher nicht sehen, aber es klang, als käme die Stimme irgendwo aus der direkten Umgebung des plötzlich aufgetauchten Monsters.

Es brüllte wieder, griff nach unten und hob eine Frau an den Haaren hoch. Sie war eher wütend als verängstigt, zog irgendwoher eine Waffe hervor und schnitt sich die eigenen Haare ab, sodass sie nach unten aus meinem Sichtfeld fiel. Das Ding – ich hatte noch nie von einem Schnee-Elf gehört – schüttelte das Haar in seiner Hand, dann warf er es hinter sich.

Ich schaute zurück zu Adam, aber in den paar Momenten, in denen ich ihn aus den Augen gelassen hatte, war er verschwunden und hatte nur eine Spur aus blutenden Körpern zurückgelassen. Die meisten ihrer Besitzer standen noch und waren ziemlich sauer. Ich schaute auf den Schnee-Elf und die Tasche über seinem Kopf.

Keiner beachtete mich, nicht mit einem tobenden Werwolf und einem scheußlichen Schneemenschen im Raum. Ich zog mir so schnell wie möglich mein Kleid und den BH aus, stieg aus meinen Schuhen und warf meine Unterhose von mir. Ich bin kein Werwolf. Meine Kojotenform entsteht in einem Moment und bringt ein Hochgefühl, keinen Schmerz. Der Schnee-Elf stand immer noch unter der Tasche, als ich nach oben sprang, auf irgendeiner Schulter landete und mich nach ihm umsah.

Die Menge stand so dicht wie bei einem Metallica-Konzert, und so hatte ich eine Straße aus Köpfen und Schultern, die von mir direkt zu dem Schnee-Elfen führte – der mindestens drei Meter groß war und eine ganze Menschenlänge über den Rest der Leute hinausragte.

Er sah mich kommen und griff nach mir, aber ich bin schnell und er verfehlte mich. Tatsächlich verfehlte er mich wahrscheinlich, weil er nicht wusste, dass ich auf seine Schulter springen und mich auf die kleine Tasche werfen würde, statt aufgrund irgendwelcher Schnelligkeit oder Geschicklichkeit von meiner Seite. Dieser verdammte Berg von Feenwesen war auch ganz schön schnell.

Die Magie brummte mich ärgerlich an, als ich die Tasche mit dem Maul schnappte. Für einen Moment baumelte ich, bis die Schnur, an der sie festgebunden war, zerriss. Ich fiel und wartete darauf, dass mich die riesigen Hände des Schnee-Elfen zerquetschen würden, aber es war Onkel Mike selbst, der mich auffing und Richtung Tür warf.

Sobald ich die Tasche geschnappt hatte, wusste ich, dass ich Recht damit hatte, dass sie irgendeinen bösartigen Zauber enthielt, der gegen die Wölfe gerichtet war. Ich wusste allerdings nicht, woher Onkel Mike es wusste, aber er knurrte: »Schaff dieses Ding hier raus«, bevor er wieder in der Menge verschwand.

Wie in einem Dr-Seuss-Gedicht kletterte ich unter, über und an Dingen vorbei, bevor ich es aus der Tür schaffte. Ich hätte mich besser gefühlt, hätte ich nicht gewusst, dass jemand, den ich kannte – denn ich kannte alle aus Adams Rudel zumindest vom Sehen –, tot war. Ich hätte mich auch besser gefühlt, wenn ich gewusst hätte, dass es Adam gutging. Ich hätte mich allerdings schon damit zufrieden gegeben, keinen riesigen Berg von wütendem … Schnee-Elfen in Hochgeschwindigkeit hinter mir zu haben.

Ich hatte noch nie jemanden getroffen, der sich selbst Elf nannte, also war meine Erwartung wahrscheinlich von Peter Jacksons’ Version von Tolkiens schönem Volk geprägt. Das Ding, das mir wie ein Güterzug folgte, passte absolut nicht zu meiner Deutung dieses Wortes.

Später, wenn ich das überlebte, würde ich mich wahrscheinlich über das Gesicht des Türstehers amüsieren, dem plötzlich aufging, was da auf ihn zukam – einen Moment, bevor er losrannte. Ich schoss an ihm vorbei und wir beide sprangen die kleine Stufe auf den Asphalt hinunter. Er blieb ein paar Schritte neben mir, bis er sich ausrechnete, wen der Schnee-Elf eigentlich jagte, dann bog er scharf rechts ab.

Der Türrahmen bremste das Monster kurz. Es traf ihn mit der Schulter und nahm die gesamte Wand mit, als es das Gebäude verließ. Dann warf es ein Wandstück nach mir, aber ich sprang ein zweites Mal durch die halboffene Tür, eine Sekunde, bevor sie zu Boden krachte. Ich überquerte die Straße mit voller Geschwindigkeit und entkam nur knapp dem Schicksal, von einem Sattelzug überfahren zu werden, der auf dem Weg zu dem Industriegebiet neben Onkel Mike’s war. Sicher auf der anderen Seite warf ich einen Blick über die Schulter und hielt dann an.

Der Mann, der der Schnee-Elf gewesen war, lag am Rand des Parkplatzes auf den Knien und schüttelte den Kopf, als wäre er leicht betäubt gewesen. Er schaute zu mir herüber. Die silbernen Augen waren immer noch die gleichen.

»Sind Sie in Ordnung?«, fragte er. »Es tut mir leid, so sehr leid. Ich habe mich nicht mehr so gefühlt seit … seit meinem letzten Kampf. Ich habe Sie nicht verletzt, oder?« Sein Blick wanderte zu den Brocken aus Wand und Tür, die von dem Geschoss übrig waren, das er nach mir geworfen hatte.

Die Wirkung der kleinen Tasche war offensichtlich in ihrer Reichweite beschränkt.

Ich ließ den Beutel zu Boden fallen, schüttelte mich und gab ein ›Alles okay‹-Jaulen von mir. Ich war mir nicht sicher, ob er die Botschaft verstanden hatte, aber er versuchte nicht, die Straße zu überqueren. Ich hätte mich ja zurückverwandelt, aber meine Kleidung – mein Lieblingskleid, ein paar (sogar im Schlussverkauf) teure italienische Sandalen und meine Unterwäsche – lag immer noch irgendwo in der Bar. Ich bin nicht prüde, aber der Schnee-Elf und ich kannten einander nicht gut genug, als dass ich vor ihm hätte nackt sein wollen.

Er versuchte verwirrt, das Chaos aufzuräumen, das er angerichtet hatte, während die Leute anfingen, die Bar zu verlassen. Einer von Onkel Mikes Leuten, von den Gästen leicht durch sein leuchtend grünes Wams zu unterscheiden –, stand am Rand des Parkplatzes und bedeutete mir mit Gesten, weiter zurückzuweichen. Ich glaubte, den Türsteher zu erkennen, aber ich hätte sein Gesicht nochmal in einer Maske des Terrors sehen müssen, um sicher zu sein.

Ich hob die Tasche hoch und wich fast zwölf Meter von der Straße zurück, bis ich mit dem Hintern gegen ein altes Lagerhaus stieß, das ungefähr fünfzig Meter von der Straße entfernt war.

Onkel Mikes Parkplatz leerte sich nach und nach. Die Angestellten der Bar regelten den Verkehr und halfen dem Schnee-Elfen bei seinen Aufräumbemühungen. Adams Auto blieb in einsamer Pracht zurück.

Genauso wie Mary Jos Jeep. Der, den ich umsonst ein wenig aufgemotzt hatte, als sie ihre Schicht in den Bewachden-schwächlichen-Kojoten-Pflichten übernommen hatte. Ich mochte Mary Jo. Sie arbeitete bei der Feuerwehr, ein Meter sechzig zähe Muskeln und noch zähere Nerven.

Einer aus dem Rudel war tot. In der plötzlichen Stille der Nacht konnte ich eine Welle der Trauer fühlen, die sich durch das Rudel ausbreitete, als einer nach dem anderen anerkannte, dass einer der Ihren fehlte. Sie wussten, wer es war, aber ich war mit der Rudelmagie nicht vertraut genug, um mir sicher zu sein. Ich hatte nur Mary Jos Auto.

Es standen nur noch sechs Wagen auf den Gästeparkplätzen, als Onkel Mike aus dem Loch trat, das einmal seine Tür gewesen war. Er legte eine Hand auf die Schulter des Schnee-Elfen und tätschelte ihn kurz, bevor er zu mir herüberkam. In seinen Händen hielt er mein Kleid.

Ich verwandelte mich, schnappte mir das Kleid und zog es über den Kopf. Kein BH, keine Unterhose, aber zumindest war ich nicht nackt. Ich trat die Tasche in Onkel Mikes Richtung. »Was ist passiert?«

Er beugte sich vor und hob den Beutel auf. Sein Gesicht spannte sich an und er gab ein tiefes, wütendes Geräusch von sich … es klang mehr wie ein Löwe oder irgendeine andere große Katze als etwas, was ich jemals vorher von ihm gehört hatte.

»Cobweb«, sagte er, »wärst du so nett, zu kommen und dieses scheußliche Stück Magie für mich in den Fluss zu werfen?«

Etwas Kleines, Helles, das ungefähr die Größe eines Glühwürmchens hatte (in den Tri-Cities gibt es keine), schwebte für einen Moment über der Tasche, dann verschwand es und mit ihm der Beutel.

»Es hat auch Sie beeinflusst?«, fragte ich.

Ich weiß nicht, welche Art von Feenvolkwesen Onkel Mike ist. Auf jeden Fall etwas, das mächtig genug ist, um sieben Nächte die Woche eine Bar voller betrunkener Feenwesen zu kontrollieren.

»Nein«, antwortete er. »Nur insofern, dass es in mein Territorium gebracht wurde und ich es nicht gespürt habe.«

Er wischte sich die Hände ab, und sein Gesicht nahm wieder seinen üblichen, fröhlichen Ausdruck an, aber ich hatte ein paarmal hinter die Fassade geschaut und so beruhigte mich die Maske des freundlichen Wirtes nicht so sehr, wie es hätte sein können. Man muss immer daran denken, dass man beim Feenvolk nichts von dem, was man sieht, glauben kann.

»Schlauer Kojote«, meinte er zu mir. »Ich habe nicht mal kontrolliert, ob es einen Grund für ihre Gereiztheit gab, sondern einfach angenommen, dass sie schlecht gelaunt sind, wie Werwölfe es eben sind – und habe es zu langelaufen lassen, bevor ich eingeschritten bin.«

»Was ist passiert?«, fragte ich wieder, aber als er nicht sofort antwortete, machte ich eine ungeduldige Geste und lief barfuß über die Straße, über den Parkplatz und in die Bar.

Drinnen, mit der zerstörten Wand im Rücken, sah es nicht so schlimm aus: wie eine riesige, leere Bar, nachdem mehrere Football-Teams sich betrunken und die ganze Nacht Party gemacht hatten. Teams mit richtig riesigen Spielern, dachte ich, und schaute zu dem Balken hoch, den der Schnee-Elf mit dem Kopf zerbrochen hatte – Elefanten vielleicht.

Adam, wieder in menschlicher Form, saß mit dem Rücken an der Bühne am anderen Ende des Raumes, mit vor der Brust verschränkten Armen. Jemand hatte eine kurze Hose für ihn gefunden. Er sah nicht wütend aus … nur verschlossen.

Neben ihm waren zwei seiner anderen Wölfe, Paul und einer von Pauls Kumpeln. Paul sah aus, als wäre ihm schlecht, und der andere, an dessen Namen ich mich gerade nicht erinnern konnte, war an eine gespenstisch ruhige Gestalt geschmiegt.

Ich konnte nicht sehen, wer es war, aber ich wusste es. Mary Jos Auto auf dem Parkplatz hatte es mir verraten. Sie waren alle voller Blut. Adams Hände waren davon überzogen, genauso wie Pauls Hemd. Der andere Mann war damit durchtränkt.

Die Wölfe waren nicht die Einzigen, die bluteten. Am anderen Ende des Gebäudes schien eine Art Sichtung stattzufinden. Ich erkannte die Frau, die sich ihre Haare abgeschnitten hatte, um zu entkommen, aber sie schien eher einer der Helfer zu sein als ein Opfer.

Adam schaute auf und entdeckte mich. Sein Gesicht war unendlich traurig.

Auf dem Boden lagen Scherben und ich war barfuß – aber es hätte mehr gebraucht als das, um mich von ihnen fernzuhalten.

Pauls Freund schluchzte. »Das wollte ich nicht. Ich wollte das nicht. Es tut mir leid.« Er wiegte die Leiche, die er hielt, Mary Jos Leiche, und entschuldigte sich dabei wieder und wieder.

Ich konnte nicht nah an Adam herankommen, ohne zwischen Paul und seinen Freund zu treten. Also blieb ich stehen, während ich noch außer Reichweite war. Es schien mir im Moment einfach keine gute Idee zu sein, Paul ein einfaches Ziel zu präsentieren.

Onkel Mike war mir nach drinnen gefolgt, aber er war zuerst zu der anderen Ansammlung von Wesen in diesem viel zu leeren Raum gegangen, und als er zu uns kam, folgte ihm die Frau mit den abgeschnittenen Haaren. Er hielt, wie ich auch, an, bevor er in ihren persönlichen Bereich eindrang.

»Meine Entschuldigung, Alpha«, sagte er. »Meine Gäste haben das Recht auf einen Abend in Sicherheit, und jemand hat diese Gastfreundschaft verletzt, um Ihre Wölfe zu verzaubern. Werden Sie zulassen, dass wir den Schaden beheben, so wir es können?« Er deutete auf Mary Jo.

Adams Miene verwandelte sich in einem Augenblick von trostlos zu angespannt. Er stand auf und nahm Mary Jo aus den Armen des Wolfes, der sie festhielt. »Paul«, sagte er, als der Mann nicht loslassen wollte.

Paul regte sich, nahm die Hände seines Freundes und zog sie weg. Der Mann … Stan, dachte ich, obwohl es vielleicht auch Sean war, zuckte einmal und fiel dann neben Paul in sich zusammen.

In der Zwischenzeit protestierte die Frau in einem Wasserfall aus Russisch. Ich konnte die Worte nicht verstehen, aber ich sah die Weigerung deutlich in ihrer Körpersprache und ihrem Gesicht.

»Wem werden sie es erzählen?«, blaffte Onkel Mike. »Sie sind Werwölfe. Wenn sie zur Presse gehen und offenlegen, dass es eine Angehörige des Feenvolks gibt, die tödliche Wunden heilen kann, können wir an die Presse gehen und den interessierten Menschen erzählen, wie viele Abscheulichkeiten die Werwölfe sorgfältig vor ihnen versteckt halten.«

Sie drehte sich, um die Wölfe anzusehen, Wut auf ihrem Gesicht – und dann verschwand das Gefühl einfach, als sie mich sah. Ihre Pupillen erweiterten sich, bis ihre gesamten Augen schwarz waren. »Du«, sagte sie. Dann lachte sie, ein keckerndes Geräusch, das die Haare an meinem Nacken aufstellte. »Natürlich würdest es du sein.«

Aus irgendeinem Grund hatte mein Anblick ihren Protest gestoppt. Sie ging zu Mary Jo, die schlaff in Adams Armen hing. Wie der Schnee-Elf vor ihr warf sie ihren Schutzzauber ab, aber ihrer floss von ihrem Kopf nach unten zu ihren Füßen, wo er sich kurz in einer Pfütze sammelte, als wäre er flüssig und nicht magisch.

Sie war groß, größer als Adam, größer als Onkel Mike, aber ihre Arme waren dürr wie Zweige, und die Finger, mit denen sie Mary Jo berührte, waren seltsam. Ich brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass jeder einzelne ein zusätzliches Gelenk hatte und ein kleines Kissen an der Unterseite, wie ein Gecko.

Ihr Gesicht … war hässlich. Als der Schutzzauber nachließ, schrumpften ihre Augen, und ihre Nase wuchs, bis sie über dem schmallippigen Mund hing wie der verwachsene Ast einer alten Eiche.

Von ihrem Körper stieg langsam ein sanftes violettes Licht auf, floss von ihren Füßen zu ihren Schultern und dann über ihre Arme zu ihren Händen. Ihre gepolsterten Finger drehten Mary Jos Kopf und berührten sie unter dem Kinn, wo jemand (wahrscheinlich Pauls reumütiger Freund) ihr die Kehle aufgerissen hatte.

Das Licht berührte mich nicht einmal … aber ich fühlte es trotzdem. Wie das erste Licht des Tages, oder die Gischt des Meeres auf meinem Gesicht. Es erfreute meine Haut. Ich hörte, wie Adam scharf den Atem einsog, aber er wandte den Blick nicht von Mary Jo ab. Nach ein paar Minuten begann Mary Jos Oberteil, in dem purpurnen Licht der Magie weiß zu leuchten. Das Blut, das im gedämpften Licht der Bar dafür gesorgt hatte, dass es dunkel wirkte, war verschwunden.

Die Frau aus dem Feenvolk riss ihre Hände zurück. »Es ist vollbracht«, erklärte sie Adam. »Ich habe ihren Körper geheilt, aber ihr müsst ihr Atem und Puls geben. Nur wenn sie noch nicht ganz von uns gegangen ist, wird sie zurückkehren – ich bin kein Gott, der Leben und Tod verteilen kann.«

»Herz-Lungen-Reanimation«, übersetzte Onkel Mike lakonisch.

Adam sank auf die Knie, legte Mary Jo auf den Boden, kippte ihren Kopf nach hinten und fing an.

»Was ist mit Hirnschäden?«, fragte ich.

Sie drehte sich zu mir um. »Ich habe ihren Körper geheilt. Wenn sie ihr Herz und ihre Lungen bald dazu bringen zu arbeiten, wird es keine Schäden geben.«

Pauls Freund saß neben Adam, aber Paul stand auf und öffnete den Mund.

»Nicht«, sagte ich eindringlich.

Seine Augen blitzten auf, weil ich ihm einen Befehl gegeben hatte. Ich hätte es Paul einfach tun lassen sollen, aber ich war jetzt ein Teil des Rudels, ohne Wenn und Aber – und das hieß, das Rudel zu beschützen.

»Du kannst dem Feenvolk nicht danken«, erklärte ich ihm. »Außer du willst den Rest deines langen Lebens als ihr Diener verbringen.«

»Spielverderber«, sagte die Frau.

»Mary Jo ist wertvoll für unser Rudel«, sagte ich zu ihr und senkte kurz den Kopf. »Ihr Verlust wäre für lange Monate eine Wunde gewesen. Eure Heilung ist ein wertvolles und wunderbares Geschenk.«

Mary Jo keuchte und Paul vergaß, dass er wütend auf mich war. Er hatte kein besonderes Verhältnis zu ihr, oder sie zu ihm. Sie stand auf einen sehr netten Wolf namens Henry, und Paul war mit einer Menschenfrau verheiratet, die ich nie getroffen hatte. Aber Mary Jo war Rudel.

Ich hätte mich ebenfalls zu ihr umgedreht, aber die Frau aus dem Feenvolk hielt meinen Blick fest. Ihre dünnen Lippen verzogen sich zu einem kalten Lächeln. »Das ist diejenige, richtig?«

»Ja«, stimmte Onkel Mike vorsichtig zu. Er war normalerweise ein Freund. Seine Vorsicht verriet mir zwei Dinge. Diese Frau könnte mich verletzen, und Onkel Mike hatte nicht das Gefühl, sie aufhalten zu können, selbst hier in der Bar, dem Zentrum seiner Macht.

Sie musterte mich von oben bis unten mit dem Blick eines erfahrenen Kochs auf dem Wochenmarkt, der Tomaten nach Druckstellen untersucht. »Ich dachte mir schon, dass es nicht noch einen Kojoten geben würde, der so unüberlegt auf einen Schnee-Elfen klettert. Du schuldest mir hierfür nichts, Grüner Mann.«

Ich hatte schon früher gehört, wie Onkel Mike Grüner Mann genannt wurde. Ich war mir immer noch nicht sicher, was genau es bedeutete.

Und als die Frau ihre langen Finger ausstreckte und mich berührte, machte ich mir eigentlich nur noch Sorgen um mein eigenes Fell.

»Ich habe es nicht für dich getan, Kojote. Weißt du, wie viel Chaos du angerichtet hast? Die Morrigan sagt, das wäre deine Gabe. Tollkühn, schnell und das Glück auf ihrer Seite, genau wie Coyote selbst. Aber dieser alte Gauner stirbt in seinen Abenteuern – doch du wirst nicht fähig sein, dich mit dem kommenden Morgen wieder zusammenzusetzen.«

Ich sagte nichts. Ich hatte sie einfach für eine weitere Angehörige des Tri-Cities-Feenvolks gehalten, (überwiegend) Bewohner von Feenland, dem Feenvolk-Reservat ein Stück außerhalb von Walla Walla, erbaut, um entweder uns vor dem Feenvolk oder das Feenvolk vor uns anderen zu beschützen. Ihre Heilung von Mary Jo hatte mir einen Hinweis gegeben – magische Heilung ist keine häufige Gabe im Feenvolk.

Onkel Mikes Vorsicht sagte mir, dass sie furchterregend mächtig war.

»Wir werden uns zu einem späteren Zeitpunkt unterhalten, Grüner Mann.« Sie schaute wieder zu mir. »Wer bist du, kleiner Kojote, dass du bei den Mächtigen solche Bestürzung auslösen kannst? Du hast unsere Gesetze gebrochen, doch deine Missachtung unserer Regeln war zu unserem größten Vorteil. Siebold Adelbertsmiter ist unschuldig und all der Ärger wurde von Menschen verursacht. Du musst bestraft werden – und belohnt.«

Sie lachte, als wäre ich ziemlich amüsant. »Betrachte dich als belohnt.«

Das Licht, das weiter um ihre Beine herumgewirbelt war, bewegte sich unruhig und verdunkelte sich, bis es einen dunklen Steinkreis von fast einem Meter Durchmesser, mit einer Dicke von fünfzehn Zentimetern, bildete. Er verfestigte sich unter ihren Füßen und hob sie ein Stück an, als wäre er Aladins Teppich. Die Seiten bogen sich nach oben und formten einen Teller – und die Erinnerung an eine alte Geschichte lieferte den Rest. Kein Teller, sondern ein Mörser – ein riesiger Mörser.

Und dann war sie weg. Nicht auf die Art und Weise, wie Stefan einfach verschwand, sondern nur so schnell, dass meine Augen ihr nicht folgen konnten. Ich hatte schon einmal einen vom Feenvolk durch feste Materie fliegen sehen, also war ich nicht überrascht, als sie es tat. Was gut war, weil ich gerade schon eine schreckliche Überraschung gehabt hatte. Ich brauchte keine weitere.

Die erste Regel über das Feenvolk ist, dass man ihre Aufmerksamkeit lieber nicht erregt – aber niemand sagt einem, was man tun soll, wenn es schon passiert ist.

»Ich dachte, die Baba Yaga wäre eine Hexe«, meinte ich dumpf zu Onkel Mike. Wer sonst würde in einem riesigen Mörser herumfliegen?

»Hexen sind nicht unsterblich«, erläuterte er. »Natürlich ist sie keine Hexe.«

Baba Yaga steht im Mittelpunkt von Geschichten aus ungefähr einem Dutzend osteuropäischer Geschichten. In den meisten davon ist sie nicht der Held. Sie frisst Kinder.

Ich schaute kurz zu Adam, aber er war immer noch auf Mary Jo konzentriert. Sie zitterte wie jemand am Rande der Unterkühlung, aber anscheinend war sie am Leben.

»Was ist mit der Tasche?«, fragte ich. »Was, wenn jemand sie aus dem Fluss fischt?«

»Ein paar Minuten in fließendem Wasser wird jede Magie aus einem Zauber waschen, der in das Gewebe eingebracht wurde.«

»Es war eine Falle für die Wölfe«, erklärte ich ihm. Ich wusste es, weil es nach Vampir geschmeckt hatte. »Niemand anders außer diesem beweglichen Berg war betroffen … Warum er und nicht der Rest? Und was um alles in der Welt ist ein Schnee-Elf? Ich habe noch nie von einem gehört.« Soweit ich bis jetzt informiert gewesen war, war ›Elf‹ einer dieser weltlichen Sammelbegriffe, der das Feenvolk bezeichnete.

»Die Regierung«, sagte Onkel Mike, nachdem er einen Moment darüber nachgedacht hatte, was er mir erzählen wollte (das Feenvolk dazu zu bringen, Informationen herauszugeben, ist schwerer als einen Tropfen Wasser aus einem Stein zu pressen), »Verlangt von uns, dass wir uns registrieren und ihnen sagen, was für eine Art Feenvolk wir sind. Also wählen wir etwas, das uns gefällt. Bei manchen ist es ein alter Titel oder Name, andere … erfinden einfach etwas, genauso wie die Menschen seit Jahrhunderten Namen für uns erfinden. Mein Lieblingsname ist der verruchte ›Jack-be-Nimble‹. Ich weiß nicht, was das ist, aber im Reservat leben mindestens ein Dutzend davon.«

Ich konnte nicht anders, ich musste grinsen. Unsere Regierung wusste nicht, dass sie einen Tiger am Schwanz hielt – und der Tiger würde es ihnen auch nicht allzu bald sagen. »Also hat er den Schnee-Elf erfunden?«

»Willst du mit ihm drüber diskutieren? Und zu der Frage, warum die Tasche gewirkt hat, die gegen die Wölfe gerichtet war …«

»Ich habe noch eine wahre Form«, schaltete sich eine sanfte Stimme mit nordischem Akzent hinter mir ein. Es gab nicht viele Leute, die sich an mich anschleichen konnten – meine Kojotensinne sorgen dafür, dass ich mir meiner Umgebung meistens ziemlich bewusst bin –, aber ich hatte ihn nicht gehört.

Es war natürlich der Schnee-Elf, oder was auch immer er war. Er war ein paar Zentimeter kleiner als ich – was er hätte beheben können, so einfach, wie Zee seine kahle Stelle hätte verschwinden lassen können. Ich nahm an, dass jemand, dessen wahre Form – zumindest eine davon – drei Meter groß ist, kein Problem damit hat, klein zu sein.

Er schaute mich an und verbeugte sich, eine dieser abrupten, steifen Bewegungen von Hals und Kopf, die einen an Kampfsportler denken lässt. »Ich bin froh, dass Sie schnell sind.«

Ich schüttelte die Hand, die er mir entgegenstreckte. Sie war kühl und trocken. »Ich bin auch froh, dass ich schnell bin«, antwortete ich aufrichtig.

Er schaute zu Onkel Mike. »Weißt du, wer es gelegt hat? Und ob es gegen die Werwölfe gerichtet war oder gegen mich?«

Adam hörte der Unterhaltung zu. Ich war mir nicht sicher, woher ich das wusste, weil es aussah, als wäre er völlig mit seinen zerschlagenen Wölfen beschäftigt. Aber da war eine gewisse Anspannung in seinen Schultern.

Onkel Mike schüttelte den Kopf. »Ich war zu sehr damit beschäftigt, es von dir wegzubekommen. Berserkerwölfe sind schlimm genug, aber einen Berserker-Schnee-Elf in der Innenstadt von Pasco will ich nicht sehen müssen.«

Ich wusste es. Der Beutel hatte nach Vampir gerochen.

Der Schnee-Elf kniete sich neben Mary Jo und berührte sie an der Schulter. Adam zog sie sanft weg, legte sie auf Pauls Schoß und positionierte sich zwischen ihr und dem Schnee-Elf.

»Meins«, sagte er.

Der Elf hob die Hände und lächelte milde, aber in seinen Worten lag eine gewisse Schärfe. »Nichts für ungut, Alpha. Ich will nichts Böses. Meine Tage des Herumwanderns in den Bergen, mit einem Wolfsrudel zu meiner Verfügung, gehören seit langem der Vergangenheit an.«

Adam nickte, hielt aber die Augen auf den Feind gerichtet. »Das mag sein. Aber sie gehört zu den Meinen. Und meine sind nicht eure.«

»Genug«, schaltete sich Onkel Mike ein. »Ein Kampf pro Nacht ist genug. Geh nach Hause, Ymit.«

Der kniende Elf schaute zu Onkel Mike hoch, und für einen Moment spannte sich die Haut um seine Augen, bevor er strahlend lächelte. Mir fiel auf, dass seine Zähne leuchtend weiß waren. Er stand auf und benutzte dafür nur die Oberschenkelmuskeln, wie ein erfahrener Kampfsportler. »Es war eine lange Nacht.« Er machte eine weite Armbewegung, die nicht nur Onkel Mike, die Wölfe und mich einschloss, sondern auch alle anderen im Raum – bei denen mir jetzt erst auffiel, dass sie uns beobachteten … oder vielleicht beobachteten sie auch den Schnee-Elf. »Natürlich ist es Zeit zu gehen. Auf Wiedersehen euch allen.«

Niemand sagte etwas, bis er das Gebäude verlassen hatte.

»Also«, sagte Onkel Mike und klang irischer als sonst. »Was für eine Nacht.«

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Mary Jo bewegte sich, aber sie war immer noch wie betäubt, als wir sie nach draußen brachten. Also beauftragte Adam Paul und seinen Freund (der übrigens Alec hieß und nicht Sean oder Stan), sie zu Adams Haus zu bringen. Paul packte sie mit Alec auf den Rücksitz ihres Autos und machte Anstalten einzusteigen.

Dann schaute er auf meine Füße. »Du solltest hier nicht barfuß rumlaufen«, sagte er zum Boden. Dann schloss er die Autotür, drehte den Schlüssel, schaltete das Licht ein und fuhr davon.

»Er meinte Danke«, sagte Adam. »Ich werde es auch sagen. Ich kann mir eine Menge Dinge vorstellen, die ich lieber täte, als Paul gegen die Baba Yaga zu verteidigen.«

»Ich hätte ihn ihr überlassen sollen«, erklärte ich Adam. »Das hätte dein Leben einfacher gemacht.«

Er grinste, dann dehnte er seinen Hals. »Das hätte eine wirklich, wirklich schlimme Nacht werden können.«

Ich schaute über seine Schulter zu seinem SUV. »Könntest du dich mit ein bisschen schlimm abfinden? Deine Versicherung hat keine Sonderklausel für Schnee-Elfen, oder?«

Es hatte anfänglich ganz gut ausgesehen, als ich noch gedacht hatte, er hätte einfach nur einen Platten. Aber jetzt konnte ich sehen, dass der rechte Hinterreifen im Fünfundvierzig-Grad-Winkel von der Achse abstand.

Adam zog sein Handy heraus. »Das erscheint heute Nacht noch nicht mal auf meiner Skala von schlimm.« Er legte seinen freien Arm um meine Schulter und zog mich an sich, als seine Tochter ans Telefon ging. Er trug kein Hemd.

»Hey, Jesse«, sagte er. »Es war eine wilde Nacht, und du müsstest uns bei Onkel Mike’s abholen.«